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16. Endlich Klarheit

Es war eine seltsame Veränderung gewesen, die mit Werner Mansfeld vorgegangen war, seitdem er an der Seite seiner Schwester das Justizgebäude verlassen hatte. Der eben noch so Aufrechte, Ruhige und Sichere war draußen in sich zusammengesunken wie ein Schwerkranker, der Mühe hat, sich weiter zu schleppen; hartnäckig suchten seine düster brennenden Augen den Boden, und es war sicherlich nicht der gelinde Frost des windstillen Wintertages, der seine Schultern unter dem dicken Ueberrock so oft erbeben machte.

Minutenlang waren die beiden nebeneinander hergegangen, ohne ein Wort zu sprechen. Es war, als hätten sie einander nach dem, was da oben gesprochen worden war, nichts mehr zu sagen, oder als hätte der lähmende Druck der auf ihnen lastenden Ereignisse jedes Mitteilungsbedürfnis erstickt.

Zuletzt aber – sie waren eben in eine ganz einsame und menschenverlassene Straße eingebogen – brach Werner Mansfeld doch das dumpfe Schweigen.

»Wenn man Theodor Neuhoff jetzt freiläßt – und ich hoffe, daß man es tut – wie wirst du dich dann ihm gegenüber verhalten?«

Die junge Frau war bei dem Klang seiner Stimme zusammengefahren, als hätte man sie aus erdenfernen Regionen in die Wirklichkeit zurückgerufen.

»Ich verstehe dich nicht, Werner,« sagte sie. »Das einzige, was ich tun könnte, wäre doch, daß ich seine Verzeihung erbäte. Aber ich werde niemals den Mut dazu finden, denn was ich auch bis jetzt geduldet habe und noch weiter werde dulden müssen, den Ausdruck der Verachtung, den er mir mit Recht ins Gesicht schleudern würde, vermöchte ich nicht zu ertragen.«

»Bist du so sicher, daß er nichts anderes für dich haben würde als Verachtung? Hast du denn nicht zu seiner Errettung alles getan, was ein Weib zu tun vermag, das sich an höhere und heiligere Pflichten gebunden glaubt?«

Aber sie schüttelte traurig den Kopf.

»Daß ich kein anderes Auskunftsmittel zu finden wußte, als eine schimpfliche und törichte Lüge, es würde mich gewiß in seinen Augen nur noch erbärmlicher und verdammenswerter machen. Und selbst wenn es anders wäre, ich darf ihm doch in diesem Leben nie mehr begegnen!«

»Du darfst nicht? – Etwa nur deshalb nicht, weil du bis zu dieser Stunde nicht aufgehört hast, ihn zu lieben?«

»Sprich nicht davon, Werner! – Ich bin an der Grenze meiner Kraft.«

»Aber ich muß davon sprechen,« beharrte er düster. »Glaube mir, daß ich es muß! Du liebst ihn, und wenn du heute frei wärest – wenn der Tod das Band zerrissen hätte, das dich an einen ungeliebten Gatten fesselt, dann wäre es zwischen dir und ihm vielleicht doch noch geworden, wie es einst hatte werden sollen?«

Herta blieb stehen, und mit einem flehenden Blick voll unaussprechlich tiefen Wehs erhob sie die Augen zu seinem Gesicht.

»Warum quälst du mich mit solchen Fragen? Bin ich nicht ohne das elend genug?«

»Eben weil ich sehe, wie elend du bist, eben deshalb muß ich dich damit quälen. Kennst du den Ingenieur Hartog aus Eberstadt?«

»Gewiß! Er war ja Neuhoffs vertrautester Freund, und als Theodor sich damals von seinem Vater getrennt hatte, ging Hartog mit ihm nach Berlin.«

Werner Mansfeld nickte.

»Das wußte ich. Und da Hartog einst auch zu meinen näheren Bekannten gehörte, da ich seine Ehrenhaftigkeit kenne und gewiß bin, daß nichts in der Welt ihn bestimmen könnte, wissentlich eine Unwahrheit auszusprechen, darum habe ich mich an ihn mit dem brieflichen Ersuchen gewendet, mir auf Ehre und Gewissen zu sagen, wieviel Wahres an den dir hinterbrachten Gerüchten von Neuhoffs leichtfertigem Leben gewesen sei.«

Mit einem krampfhaften Druck umklammerte Herta den Arm ihres Stiefbruders.

»Um Gotteswillen, Werner – warum – warum hast du das getan?«

»Weil es für mich von der höchsten Bedeutung war – aus Gründen, die ich dir jetzt nicht nennen kann – die du aber vielleicht bald genug erfahren wirst. Unmittelbar bevor man mich vor den Untersuchungsrichter führte, habe ich Hartogs Antwort erhalten, und sie ist so ausgefallen, wie ich es nach meiner Kenntnis von Theodor Neuhoffs Charakter von vornherein erwartet hatte. Der Verleumder, der dich damals an die Treulosigkeit deines Verlobten glauben machte, er hat dich schändlich belogen.«

Von den Lippen der jungen Frau kam es wie ein Stöhnen, und ihre Hände preßten sich unwillkürlich auf die nach Atem ringende Brust.

»Margot!« stieß sie hervor. »O mein Gott! So hat mich die furchtbare Ahnung nicht getäuscht, von der ich unablässig verfolgt werde, seitdem ich die Gewißheit habe, daß auch sie ihn liebt.«

»Deine Freundin Margot also war es, die damals die gefällige Zuträgerin machte?«

»Ja – sie! Sie hatte einen Vetter in Berlin, der zu Theodor Neuhoffs Umgangskreisen gehören sollte. Und aus seinen Briefen teilte sie mir jedesmal mit, was er über das beinahe verbrecherisch leichtfertige Leben meines Verlobten zu erzählen wußte.«

»Daß du es ohne Prüfung für Wahrheit genommen hast – du hast schwer genug dafür büßen müssen. Aber du bist Theodor Neuhoff jetzt die Genugtuung schuldig, es ihm zu sagen.«

»Nein – nein – nein! Ich will ihn nicht wiedersehen – ich darf nicht – es geht über meine Kraft.«

»Und wenn er nun selbst zu dir käme, um sich über jene vergangenen Zeiten mit dir auszusprechen – würdest du ihm auch das verweigern?«

»O, er wird niemals kommen! Was sollte ihn dazu veranlassen, da ich längst das Weib eines anderen geworden bin, und da auch sein Herz einer anderen gehört!«

»Daran glaube ich nicht. Die wilde Eifersucht, die Margot nicht einmal vor einem offenbaren Verbrechen zurückschrecken ließ, um dich zu vernichten, sie beweist am besten, wie wenig sicher sie sich Neuhoffs fühlt, und wie sie davor zittert, ihn an dich zu verlieren.«

»Nicht weiter, Werner! Ich bitte dich um des Himmels willen: halt ein! Du weißt ja garnicht mehr, was du sprichst. Bin ich nicht Paul Leonhardts Frau? Und wird er nicht seine Rechte auf mich geltend machen, wenn er wiederkommt?«

»Aber er wird nicht wiederkommen – verlaß dich darauf! Nie – niemals wird er kommen!«

»Und wenn er für immer fortbliebe, die Treue, die ich ihm am Altar zugeschworen habe, ich werde sie ihm halten, so lange ich ihn unter den Lebenden weiß.«

»So lange du ihn unter den Lebenden weißt!« murmelte er. »Und würdest darüber grenzenlos unglücklich werden – nicht wahr?«

»Ich leide für das, was ich gefehlt habe, daran wird keines Menschen Macht etwas zu ändern vermögen, Werner!«

Sie waren aus der stillen Seitengasse wieder in eine der lebhaften Verkehrsstraßen gelangt, und unter den Blicken neugieriger Vorübergehender wäre an die Fortsetzung einer solchen Unterhaltung nicht mehr zu denken gewesen.

»Kommst du noch auf eine Stunde zu mir herauf?« fragte Herta hastig, als fürchte sie, daß ihr Stiefbruder dennoch die Absicht haben könnte, bei dem Thema zu verharren. »Eine fröhliche Gesellschaft ist es freilich nicht, die ich dir versprechen könnte.«

Aber er entschuldigte sich wieder mit dringenden Geschäften, und an der nächsten Straßenkreuzung schon nahmen sie Abschied von einander.

»Wie heiß deine Hand ist!« sagte Herta. »Trotz deiner Versicherungen kann ich die Angst nicht los werden, daß du krank bist. Und du mußt mir unter allen Umständen erlauben, morgen nach dir zu sehen, wäre es auch nur zu meiner Beruhigung. Ich zittere ja beständig vor einem neuen Unheil, das mich treffen muß!«

»Das sind törichte Besorgnisse, Herta – wenigstens soweit es sich um mich handelt. Und morgen – nein, morgen würdest du mich nicht daheim finden. Aber ich werde dir eine Nachricht zugehen lassen, wenn ich nicht selbst zu dir kommen kann. Gewiß, ich werde es tun.«

Mit dringenden Worten legte sie ihm die Erfüllung seines Versprechens an das Herz, aber der kummervolle Blick, mit dem sie dem rasch Davoneilenden nachsah, offenbarte deutlich genug, wie wenig seine letzten Worte imstande gewesen waren, ihre bangen Befürchtungen zu zerstreuen.

*

»Nein – es ist aus – es muß sein – ich bin diesem Kampf nicht gewachsen!«

Mit lauter Stimme hatte es Werner Mansfeld gesprochen, als er die Tür seines bescheidenen Wohnzimmers hinter sich ins Schloß geworfen. Einigemal durchmaß er das Gemach von einem Ende zum anderen, dann ließ er sich in einen Stuhl fallen und saß in dumpfem Brüten, bis die Schatten der abendlichen Dunkelheit ihn mit dichten Schleiern umhüllten. Erst ein Anschlagen der Hausglocke veranlaßte ihn, sich zu rühren. Aber er ging nicht hin, um nach dem Begehr des Einlaß Heischenden zu fragen. Mitten im finsteren Zimmer blieb er lauschend stehen.

»Wenn sie schon kämen, mich zu holen!« murmelte er. »Aber es ist ja Unsinn, niemand hat einen Verdacht – niemand! Ich könnte das Spiel bis ins Unendliche fortsetzen, wenn ich den Mut dazu hätte.«

Das Klingeln wiederholte sich noch einmal, dann hörte man den Klang eines sich entfernenden Schrittes. Es war vielleicht nur der Briefträger gewesen, oder jemand, der eine belanglose geschäftliche Bestellung hatte ausrichten wollen. Auf keinen Fall aber mußte Werner Mansfeld fürchten, seine Anwesenheit zu verraten, wenn er die Lampe anzündete, denn die Fenster der Wohnstube öffneten sich nicht nach der Straßenseite des Hauses hin, und in dem halbwüsten Gelände hinter dem verwahrlosten Gebäude hielt sich niemals ein menschliches Wesen auf.

In dem milden Lichtschein, der jetzt an Stelle der unheimlichen Finsternis den Raum erfüllte, schien auch die Erregung des einsamen Menschen sich zu sänftigen. Sein Gesicht war zwar leichenfahl und seine Augen lagen so tief in ihren Höhlen, daß sein Kopf dadurch etwas von dem Aussehen eines Totenschädels erhielt. Aber seine Bewegungen waren frei von der fahrigen Hast und nervösen Unsicherheit, die sie vorher charakterisiert hatte, und sein Tun hatte das Gepräge eines wohlbedachten und zielbewußten Handelns.

Er stellte die Lampe auf die Platte des Sekretärs und setzte sich zum Schreiben nieder. Langsam und sorgfältig, mit der Genauigkeit eines Kalligraphen malte er in tadelloser Rundschrift zierlich gleichmäßige Buchstaben auf einen Briefbogen, der keinerlei Aufdruck oder sonstiges Kennzeichen aufzuweisen hatte ... Und lange betrachtete er prüfend die wenigen Zeilen, die er auf solche Art endlich zustande gebracht hatte. Er nickte zufrieden, als er die Ueberzeugung gewann, daß sie nichts von dem individuellen Charakter seiner gewöhnlichen Handschrift hatten, und wie er heute überdies die Gewohnheit hatte, halblaut vor sich hinzusprechen, so wiederholte er noch einmal mit vernehmlichem Murmeln das Geschriebene:

»Jemand, der das Bedürfnis fühlt, begangenes Unrecht wieder gut zu machen, bittet Sie, die einliegende Summe anzunehmen, ohne jemals nach ihrem Absender zu forschen. Dies ist die einzige Form der Dankbarkeit, auf die der Spender sich Rechnung macht.«

Der kleine Brief erhielt so wenig eine Unterschrift, als er eine Anrede zeigte. Auf den Umschlag aber schrieb Werner in denselben gekünstelten Zügen und Schnörkeln die Adresse:

»Frau Therese Heßling, Hier, Gartenstraße 9, Rückgebäude, 3. Stock.«

Dann öffnete er das Geheimfach seines Schreibtisches, nahm das Kuvert mit dem wertvollen Inhalt heraus und steckte die Kassenscheine, die er ihm bis auf den letzten entnommen hatte, in den an Frau Heßling adressierten Brief.

»Nein, es ist kein Diebstahl, den ich damit an Herta begehe,« murmelte er, wie um damit eine vorwurfsvolle Stimme zum Schweigen zu bringen, die sich in seinem Innern erhoben hatte, »auch für sie würde bei dem erlisteten Notgroschen der Witwe kein Segen gewesen sein.«

Er hatte die Scheine noch einmal durch seine Finger gleiten lassen, ehe er sie in den Umschlag unterbrachte, und als er dreitausendfünfhundert Mark gezählt, hatte er genickt, wie zum Zeichen, daß alles seine Richtigkeit habe.

Nun legte er sich einen zweiten Briefbogen zurecht, und diesmal glitt seine Feder in fliegender Hast über das Papier. Vier eng beschriebene Seiten waren es, die sie füllte, und mit energischem Zuge setzte er am Schlusse seinen Namen darunter. Ohne Zögern auch und Besinnen schrieb er die Adresse:

»An den Architekten Herrn Theodor Neuhoff, zurzeit im Untersuchungsgefängnis dahier. Sofort zu behändigen. Sehr dringend.«

»Wenn er sie noch liebt, muß es genug sein, sie wieder zusammenzuführen,« sprach er vor sich hin. »Und wenn sie glücklich geworden ist, wird Herta einem Toten seinen Vertrauensbruch verzeihen.«

Er verschloß die beiden Briefe, versah sie mit den erforderlichen Marken und blickte nach seiner Uhr.

»Wenn ich sie jetzt in den Kasten werfe, werden sie morgen mit der ersten Post an ihrem Bestimmungsort sein. Gut denn! Brechen wir die Brücken hinter uns ab!«

Ohne daß er sich erst Zeit genommen hätte, seinen Ueberrock anzulegen, verließ er das Haus. Und als er nach Verlauf von kaum zehn Minuten mit leeren Händen zurückkehrte, stand es leserlich auf seinem Gesicht geschrieben, daß er zufrieden war mit dem, was er getan. –

Sein Tagewerk war aber ersichtlich noch nicht vollendet. Denn wieder nahm er vor dem alten Schreibsekretär Platz, und seine hastende Feder arbeitete von neuem. Nicht ohne Unterbrechungen freilich, denn manchmal sank seine Hand wie entkräftet von der Platte herab, und seine tiefliegenden, düster brennenden Augen starrten dann wohl Viertelstunden lang unverwandt in das Flämmchen der Lampe.

Weiter und weiter rückten die Zeiger der Uhr über dem Schreibtisch. Sie wiesen Mitternacht – sie wiesen die erste und die zweite Morgenstunde, und noch immer kreischte Werner Mansfelds Feder über das Papier. Aber immer häufiger und häufiger wurden die Pausen, die vergebliches Ringen nach dem Ausdruck oder versagende Kraft ihm abnötigte. Ein paarmal schon war ihm der Kopf tief auf die Brust herabgesunken, und seine Lider hatten sich auf die Dauer von Minuten geschlossen. Immer wieder zwar hatte er sich im Kampfe gegen die bleierne Müdigkeit aufgerafft, die ihn zu überwältigen drohte. Zuletzt aber ließ die seit Tagen mißhandelte Natur sich nicht länger um ihr Recht betrügen. Und während der Docht der nahrungslosen Lampe langsam schwelend verglimmte, fiel Werner Mansfeld noch vor ganz vollbrachtem Werke in tiefen, ohnmachtähnlichen Schlaf.

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