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4

Eine atemlose Stille folgte diesem offenen Geständnis des Totschlages. Die junge Dame lehnte, einer Ohnmacht nahe, gegen den Schreibtisch, während Mark den Sprecher erschreckt anstarrte. Er glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen, aber der entsetzliche Beweis lag greifbar vor ihm. Elegante Lackschuhe lugten unter dem Teppich hervor, mit dem man den Körper oberflächlich zu verbergen gesucht hatte.

Ein schmaler Rand der seidenen Strümpfe, mit elegantem Monogramm versehen, zeigte sich; die sorgfältig gebügelten modernen Beinkleider – alles wies darauf hin, daß der Erschlagene den begüterten Klassen angehört haben mußte. Endlich hatte van Stratton sich wieder soweit in der Gewalt, daß ihm die Zunge gehorchte:

»Wollen Sie – sind Sie wirklich«, stotterte er. »Nein, Sie haben ihn vielleicht nur verletzt; er kann doch gar nicht tot sein!«

»Ich sagte Ihnen doch, daß er tot sei«, entgegnete Dukane mit rauher Stimme. »Ich wollte ihm keinen so derben Schlag versetzen, aber – er hat mich aufs äußerste erzürnt. Ich muß, als ich ihm einen Faustschlag hinter das rechte Ohr versetzte, etwas zu kräftig zugeschlagen haben. Jedenfalls stürzte er wie ein vom Blitz getroffener Baumstamm zusammen. Es ist das zweite Mal gewesen, daß er Erpressungen an mir versuchte. Einmal muß der Mensch doch seine Selbstbeherrschung verlieren.«

»Ja, aber was soll nun werden, Sir?« fragte Mark verzweifelt. »Haben Sie einen Arzt bestellt? Oder die Polizei angerufen?«

Der andere runzelte verächtlich die Stirn:

»Was hätte das für einen Zweck?« fragte er. »Der Arzt könnte mir nur bestätigen, was ich allein schon weiß: Daß der Mann tot ist. Und die Polizei? Sie wird die letzte sein, die ich mit dieser Sache behellige. Glauben Sie vielleicht, ich sehnte mich danach, verhaftet und wegen Mordes angeklagt zu werden?«

»Aber, welchen anderen Ausweg gibt es?«

»Viele«, lautete die Entgegnung. »Wenn der Mann, den zu suchen ich meine Tochter fortsandte, nicht heute nachmittag zufällig nach Paris gefahren wäre, würde er alles veranlaßt haben, was hier nottut. Jetzt fragt sich nur, ob Sie genug Mumm haben, um seinen Platz hier einzunehmen.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

Plötzlich faßte Dukane den jungen Mann mit einem schmerzhaften Griff am Arm; es schien, als brächen die Knochen unter diesen erbarmungslosen Fingern.

»Schauen Sie dort hinaus, van Stratton«, befahl er mit heiserer Stimme. »Sehen Sie, was dort heraufzieht?«

Der junge Mann warf einen Blick zum Fenster hinaus.

Wie ein großes, gelbes Leichentuch senkten sich die Schwaden eines typischen Londoner Nebels auf die Stadt und den Fluß herab. Schon brannten trotz der frühen Nachmittagsstunde allerorts die Gaslaternen und ihre Strahlen konnten sich kaum mehr durch die Schwaden bahnbrechen. Über den Dächern hing der Nebel wie ein undurchdringlicher Vorhang.

»In einer halben Stunde wird man kaum noch die Hand vor den Augen sehen können«, fuhr Dukane fort. »Bedenken Sie das! Sie können den Wagen meiner Tochter nehmen und durch die Stadt irgendwohin fahren. Wer wird etwas bemerken? Sie sind stark und kräftig, könnten ein Ding, wie das dort« – er zeigte auf den Toten – »mit einer Hand aufheben. Der Fluß wartet auf ihn, von jeder Brücke können Sie ihn hinunterwerfen.«

»Meinen Sie das im Ernst?« entfuhr es van Stratton.

»Natürlich! Glauben Sie, ich scherze? Soll ich vielleicht zur Polizei laufen, mich verhaften und auf eine Anklagebank setzen lassen? Und alles nur wegen einer Kreatur wie jener dort? Vielleicht würde ich freigesprochen, denn der Mann hat sein Schicksal mehr als verdient, aber – ich befinde mich inmitten wichtiger Verhandlungen, von deren Ausgang Europas Sicherheit und Zukunft abhängt. Ruin starrt Tausenden ins Gesicht, wenn ich diese Verhandlungen unterbrechen muß oder nicht zu Ende führen kann; meine eigene Lebensarbeit hängt davon ab. Jede Stunde meiner Tage ist ausgefüllt. – Dann, bedenken Sie: Was wird, wenn man mir nicht glaubt, was ich zu meiner Verteidigung vorbringen könnte? Kurz, ich kann das Risiko nicht auf mich nehmen, mich wegen dieser Tat zu verantworten.«

Unbewußt wandte sich van Stratton der Richtung zu, wo Estelle Dukane stand. Nun kam sie auf ihn zu. Ein warmes Leuchten war in ihren Augen aufgeglommen und verbreitete sein Licht, wie Strahlen der Morgensonne, über ihr Gesicht. Nur die Lippen zuckten, als halte sie nur mit Mühe die Tränen zurück, die sich in die herrlichen braunen Augen drängten:

»Ich kann Ihr Widerstreben begreifen«, sagte sie leise, »aber – helfen Sie uns, Mr. van Stratton, helfen Sie, wenn es Ihnen nur irgendwie möglich ist.«

»Wie gern würde ich Ihnen dienlich sein«, versicherte er, und die Worte waren aufrichtig gemeint.

»Bedenken Sie, was ein Skandal wie dieser für meinen Vater für Folgen hätte«, fuhr das junge Mädchen fort. »Wem würde etwas damit genützt? Der Mann ist tot und kann nicht wieder lebendig gemacht werden. Auch Ihr Risiko würde kaum groß sein. Wenn man Sie ertappt, können Sie immer noch behaupten, Sie hätten sich auf dem Weg in ein Krankenhaus befunden. Würden wir befragt, werden wir die Wahrheit gestehen. Sie retten meinen Vater aus einer großen Gefahr und schädigen niemand. Ich weiß, es ist viel verlangt, aber – als ich Sie eben auf der Mall traf, erinnerte ich mich an das Gespräch, das wir vor zwei Stunden im Ritz führten. Ich dachte daran –«

Sie unterbrach sich, und die kurze Pause war so sprechend, daß ihn ein warmes Gefühl durchrieselte. Nichts hatte sie ihm versprochen, mit keiner Bewegung, keinem Blick ihm etwas verheißen – und doch trieb ihn ein inneres Gefühl an, ihr zu helfen, ihren Wunsch zu erfüllen.

»Wenn Sie wirklich ein van Stratton sind«, sagte nun Dukane, »dann werde ich Sie für Ihren Dienst nicht bezahlen können. Sie haben viel mehr Geld, als Sie jemals im Leben verbrauchen können, aber vielleicht kann ich –«

»Sei ruhig, Vater«, wehrte Miß Dukane ab. »Mit Versprechungen läßt sich ein Mann wie Mr. van Stratton nicht bestechen. Wenn er uns helfen will, dann wird er es meinetwegen tun. Würden Sie mir diesen Dienst erweisen, Mr. van Stratton, und dadurch für immer mein Freund werden? Ich habe Fehler – viele –, aber – Undankbarkeit gehört nicht zu ihnen.«

Ihre Hand hatte sich von seiner Schulter, wo sie bisher geruht hatte, in seine Rechte gestohlen und ihre zarten warmblütigen Finger hielten sie umfaßt. Die Augen hatten den tränenvollen Blick verloren und blickten ihn – flehend und verheißend – voll an. Jedes Zögern, jeder Zweifel verschwand.

»Ich werde Ihren Wunsch erfüllen«, sagte van Stratton und nahm ihre andere Hand in die seine. »Aber, bitte, nicht in den Fluß! Der Gedanke, die Erinnerung daran wäre zu entsetzlich! Ich werde einen Platz ausfindig machen, wo ich den Körper absetzen kann.«

»Sie werden es niemals zu bereuen haben«, flüsterte sie.

»Kann ich Ihren Wagen nehmen?«

»Sicherlich. Sie sagten ja, daß Sie mit ihm umzugehen verstehen, und wir brauchen keine Zeit zu verlieren, einen andern zu holen. Ich habe eine Menge Decken unten, und die Sitze meines Wagens sind sehr niedrig. Niemand wird etwas bemerken.«

»Und wie bringen wir ihn« – er zeigte auf den Toten – »auf die Straße hinunter?«

»In unserm Privataufzug«, warf Dukane ein. »Kein andrer darf ihn außer uns benutzen. Den Portier werde ich vorher wegschicken. Sie haben weiter nichts zu tun, als den Körper hinunterzutragen, ihn in den Wagen zu setzen und mit Decken zu verhüllen. Kein Mensch wird Sie bei diesem Nebel bemerken.«

Mark warf einen Blick durch die beschlagenen Fenster; der Nebel hatte sich tiefer in die Straßen hinabgesenkt und lag wie ein dicker, gelber Brei zwischen den Häusern. Der Lärm des Straßenverkehrs drang nur noch gedämpft herauf und klang immer dumpfer. Sogar durch die dichtschließenden Fenster des Raumes drängten sich Nebelschwaden in das Zimmer und erfüllten es mit leichtem Dunst.

»Nicht allein mir zuliebe verlangte ich Ihre Hilfe, Mr. van Stratton«, wiederholte Dukane. »Millionen warten auf mein Wort, um endlich einmal glücklich zu werden. Ich darf meine Aufgaben nicht unvollendet lassen.«

»Erledigen Sie die Sache mit dem Pförtner«, sagte Mark. »Je schneller ich fertig bin, desto besser ist es. Wenn der Nebel zu dicht wird, kann ich überhaupt nicht fahren. Haben Sie genügend Benzin im Tank, Miß Dukane?«

»Er ist voll!« beruhigte sie ihn.

»Wo soll ich später Ihren Wagen hinbringen?« fragte er. »In irgendeine Garage, wo ich ihn jederzeit abholen lassen kann.«

Mark bückte sich und nahm den Toten vom Boden auf. Es war ein blonder, hagerer Mensch mit von allerlei Ausschweifungen zerstörten Gesichtszügen. An der Stelle, auf die Dukane hingewiesen hatte, befand sich eine blutunterlaufene, große Beule. Ihre Lage hinter dem Ohr deutete auf die Todesursache hin. Van Stratton folgte seiner Führerin, während Dukane sich schon nach unten begeben hatte, um den Pförtner wegzuschicken.

»Niemand wird Ihnen auf dem Weg zum Wagen begegnen«, flüsterte sie ihm zu, »denn dieser Teil des Hauses ist von dem übrigen völlig abgeschlossen.«

Mark betrat den Aufzug; der dankbare Blick Estelles unterdrückte das Gefühl des Ekels, das ihn angesichts der eng an seinen Körper gedrückten Leiche beschleichen wollte. Auf der Straße war alles so, wie Dukane es gesagt hatte; der Korridor lag leer und der kleine Wagen stand mit brennenden Lampen, die verzerrte Schatten in den dichten Nebel warfen, vor der Tür. Mark legte die Leiche auf dem Sitz neben dem Steuer nieder und bedeckte sie mit Decken. Dann nahm er seinen Platz am Steuer ein. Dukane hatte ihn bis zum Wagen begleitet. Nun trat er zurück:

»Sie können mich immer unter meiner Privatnummer 1000 Y Gerrard erreichen«, sagte er. »Es ist möglich, daß Sie mir etwas mitzuteilen haben. Bitte, notieren Sie sich die Nummer.«

»Ich werde sie nicht vergessen.«

»Sie werden Ihren Dienst niemals bereuen, Mr. van Stratton, genau so, wie ich ihn Ihnen niemals vergessen werde.«

Und nun begann die Fahrt, die Mark van Stratton unvergeßlich wurde. Vorsichtig die kleinen und schmalen Seitenstraßen benützend, kroch der Wagen durch den dichten Nebel in die Northumberland Avenue hinein. Ein Durcheinander von Fahrzeugen aller Art hatte sich dort wegen des Nebels zusammengeballt und schien undurchdringlich. Wie er sich einen Weg bahnte, vermochte Mark später nicht mehr zu sagen. Endlich gelangte er über die Mall auf den Piccadilly. Er hatte sich entschlossen, die Leiche, nicht, wie Dukane vorgeschlagen hatte, dem Fluß anzuvertrauen. Der Gedanke flößte ihm zu großen Widerwillen ein. Langsam fuhr der Wagen durch West Kensington, wo sich endlich der Nebel genügend hob, um ihm den Weg durch Hammersmith und über die Hammersmith-Brücke zu weisen. Hinter Ranelagh und Barnes war die Dunkelheit wieder undurchdringlich geworden, so daß van Stratton nur Schritt für Schritt, geleitet von der Bordkante, seine Fahrt fortsetzen konnte. In der Nähe von Roehampton Lane bog er links nach dem Richmond Park ab, dessen Tor glücklicherweise noch offen stand. Noch etwa eine Meile fuhr er durch die dunklen Gänge hin und her, bis er endlich knapp vor Kingston Gate anhielt. Alles war still, kein lebendes Wesen zeigte sich; es war, als befände er sich in einem undurchdringlichen Urwald, der nur von fremdartigen, geheimnisvollen Wesen bevölkert war. Van Stratton war jung und stark, das Wort »Nerven« kannte er nicht; hier aber konnte er sich eines schaudernden Gefühls nicht erwehren. Sein Unternehmen kam ihm wie ein Alpdruck vor, aus dem er jeden Augenblick erwachen konnte. Aber er hatte sich damit abzufinden: Er hatte den Auftrag übernommen und mußte ihn ausführen. Er zerrte die Leiche aus dem Wagen, trug sie einige Schritte über den Rasen und lehnte sie gegen eine dicke Eiche. Trotz der geringen Anstrengung, die ihm das Tragen des Toten verursacht hatte, standen ihm dicke Schweißtropfen auf der Stirn. Mit zitternder Hand langte er sich eine Zigarette aus der Tasche und brannte sie an. Eben wollte er seinen Wagen wieder besteigen, als ein Laut sein Ohr erreichte. Aus wenigen Schritten Entfernung erklang aus der Dunkelheit hinter ihm eine schwache Stimme:

»Bitte, verlassen Sie mich nicht! Geben Sie mir etwas zu trinken! Oh, Gott, mein armer, schmerzender Kopf.«


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