Friedrich von Oppeln-Bronikowski
Der Rebell
Friedrich von Oppeln-Bronikowski

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Dritter Teil

»Wer trüge wohl der zeiten Spott und Geißel,
Des Bedrückers Unrecht, des Stolzen Nichtachtung,
Die Qual verschmähter Liebe und die Schmach,
Die Unwert schweigendem Verdienst erweist,
Wenn er sich selbst die Rechnung schließen könnte
Mit einem Nadelstich ...«
Shakespeare, »Hamlet«.

1.

Die Sommerleutnants waren mit den letzten, vom Felde eingebrachten Garben verschwunden, mit Ausnahme von zweien, die erst jetzt ihre Übung ableisteten und das Manöver mitmachen sollten.

Brieg hatte den scheidenden Werdeck zu seinem Entschlusse beglückwünscht, die Staatskarriere aufzugeben und sich als Rechtsanwalt niederzulassen. Es schien ihm dies eine Bejahung seines eignen Vorsatzes, den bunten Rock abzulegen. Herr von Schmitt hatte freilich, als Werdeck ihm seinen Plan anvertraute, entsetzt ausgerufen: »Mensch, Sie wollen doch nicht Rechtsanwalt werden!« So etwa, als wollte er sagen: »Sie werden doch nicht stehlen!« Janitschek dagegen hatte seinem aktiven »Freund« eine »glänzendere« Abschiedsfreude bereitet: er hatte ihm einen Ehrensäbel verehrt oder vielmehr verehren müssen, wie der neidische Meyring behauptete ...

Übrigens herrschte im Kasino noch regeres Leben als im Sommer. Das Offizierkorps der Grävenitzer Dragoner speiste während des Brigadeexerzierens, wo das Regiment in der Provinzialhauptstadt einquartiert war, bei den Ulanen, und das Kasino machte glänzende Geschäfte.

Als Brieg am Montag Mittag dort frühstückte, sah er Waldburg inmitten einer tuschelnden und wispernden Gruppe todesruhig sitzen, als ob ihn das alles nichts anginge. Erst bei längerem Hinhören entnahm er aus den Reden der Herren den Zusammenhang. Waldburg war am Sonnabend ohne Urlaub nach Berlin gefahren, um dort im Klub den Harmlosen zu spielen, und am Montag mußte er sehr betreten melden, daß er mit seinen Kumpanen von der Berliner Kriminalpolizei überrascht worden sei! Der Oberst suspendierte ihn sofort vom Dienst, bis von allerhöchster Seite der schlichte Abschied kam. Er hätte seinem gescheiterten Kameraden gern ein Wort der Teilnahme gesagt, und auf den Tod gern hätte er erfahren, wie Waldburg über seine Zukunft dachte. Aber die Gegenwart der andern schloß ihm mehr denn je den Mund und allein mit ihm zu reden, gelang ihm nicht. Daß er nun die Schauspielerin heiraten würde, war nur eine maliziöse Vermutung Meyrings, der ja immer alles zuerst wusste. Aber immerhin schien Brieg dies nicht ausgeschlossen. Waldburgs Herzensschicksal dünkte ihn seinem eigenen so verwandt; warum sollten da nicht beide den gleichen Entschluß fassen?

In solchen Gedanken ging er nach dem Nachmittagsdienst zu Frau von Carsten, um sich nach ihrem Befinden und der Laune seines Vaters zu erkundigen; auch wollte er ihren Freundesrat einholen, wie er sich gegen ihn nun stellen und was er sonst beginnen sollte. Es war ihm ein so ungewohntes, freudiges Gefühl, einen Menschen zu haben, der ihm freundschaftlich riet!

Wieder war es der kleine Adolf, der ihm öffnete. Frau von Carsten sah noch immer blaß aus und versicherte ihm, daß sein Vater in der übelsten Laune sei. Er wäre heute nachmittag zum Dämmerschoppen ins Stadtkasino gegangen, was er bisher nur sehr selten getan hätte. Für seinen Sohn hätte er nichts hinterlassen.

Brieg begann hastig zu erzählen, welchen Auftritt er mit seinem Vater und dann mit dem Hauptmann Althoff gehabt hätte. Dabei blickte er ängstlich nach der Tür, als ob Frau Hüppe dahinter horchen müßte, und wirklich tat sich jene mit einem Male auf und der kleine Adolf kam mit lauernder Miene herein, um zu fragen, welche Stiefel er für Berlin einpacken sollte.

Als er wieder heraus war, begegneten sich die Blicke der beiden wie in stiller Übereinstimmung. Brieg schlug einen gemeinsamen Ausgang vor. »Die Wände haben hier Ohren,« sagte er, »und man kann über nichts sprechen.«

»Und was wird Althoff dazu sagen?« wandte Frau von Carsten ein. »Nach seinen gestrigen Vorhaltungen ...«

»Weißt du,« unterbrach Brieg, »gerade wegen dieser Vorhaltungen! Er soll sehen, daß ich mich von ihm am wenigsten kommandieren lasse! Außerdem: geht er mit seiner Frau Hüppe nicht tagtäglich aus?«

»Ja, aber mit Klara oder dem Kadetten,« entgegnete Frau von Carsten. »Und ich möchte weder die Mädchen von ihren Schularbeiten fortnehmen, noch Adolf ...«

»Wir können ebensogut allein gehen!« schnitt Brieg ihre Worte mit einer Handbewegung ab, als wehrte er sich gegen des Knaben Begleitung. »Wozu brauchen wir uns von einem Kinde beaufsichtigen zu lassen? Wir gehen offen durch die Straßen, ich in Uniform, das ist doch Kontrolle genug.«

Frau von Carsten fand schließlich auch nichts dabei und ging hinaus, um sich einen Hut aufzusetzen. Brieg studierte indessen die Photographien an der Wand. Ein älterer Herr zu Pferde fiel ihm durch seinen schlechten Sitz auf. Er saß großspurig da, als wollte er sagen: »Da seht mich an,« und sah viel gewöhnlicher aus als der galonnierte Reitknecht, der den teuren Vollblüter wie zur Vorsicht am Zügel hielt. Es mußte wohl der Kommerzienrat von Carsten sein. Daneben steckte eine Photographie von Frau von Carsten als ganz junge Frau. Sie saß neben ihrem ältesten Kindchen, das pausbäckig und tiefernst dreinschauend auf einem Tischchen stand, den Kopf an das Körperchen anlehnend und die Arme herumschlingend, wie um es zu schützen. Ein so madonnenhaft zarter Liebreiz lag auf diesem Bilde, daß wer sich an dieser Frau versündigt hatte, ihm schlimmer deuchte als ein Tempelschänder! Er zog die Photographie rasch aus dem Bilderfächer und wollte sie zu sich stecken, aber schon trat Frau von Carsten ins Zimmer. Sie erlaubte ihm seinen Diebstahl lächelnd, doch nur unter der Bedingung, daß er die Photographie durch die seine ersetzte, und das versprach er mit Freuden.

Dann schlugen beide den Weg nach dem Fürstengarten ein. Brieg war das Spießrutenlaufen durch die Straßen eine Qual; das Herz klopfte ihm, wenn er irgendwo eine Ulanenuniform erblickte. Trotzdem wünschte er in geheimem Trotz, Herrn von Meyring zu begegnen. Doch kreuzte ihren Weg nur der Rittmeister a.D., der in der Kneipe präsidierte und jetzt nachlässig an ihnen vorbeischob, ein wohlhabender, beschäftigungsloser Junggeselle, der sich vielleicht Appetit zum Mittagessen erging oder die Frühstückskneipe mit dem Dämmerschoppen vertauschte. Brieg mußte ihn grüßen und er blickte der Dame erstaunt nach.

In den Parterrewohnungen der altmodischen Stadthäuser, die mit sauberen, weißen Gardinen verhängt waren, saßen auf einem Podium alte Dämchen mit Spitzenhäubchen und Brille und schielten über ihre Häkelarbeit weg in die Fensterspiegel, die ihnen alle Vorgänge auf der Straße ins Zimmer warfen. Auf dem großen, kiesbedeckten Paradeplatz spielten ein paar Jungens mit Murmeln und ein Köter jagte mit angelegtem Maulkorb die Spatzen. Es sah alles so eingeschlafen und veraltet aus. Eine tote Mittelstadt mit langweiligen, geradlinigen Plätzen und Straßen, die pedantische Fürstenwillkür vor anderthalb Jahrhunderten geschaffen hatte und in die seither kein frischer Hauch gedrungen war; keine Industrie, die belebend wirkte, keine Universität, die das geistige Niveau hob. Nur Soldaten, Beamte und abgedankte Offiziere, die mit ihren Familien billig hinvegetierten und aus Neid oder Mangel an Beschäftigung im Klatschen aufgingen.

Allmählich schoben sich moderne Villen mit Gartenanlagen zwischen die alten Mietshäuser und schließlich ging die Straße in eine neuentstehende Villenkolonie über. Aus den Gärten drang der fröhliche Schall von Krockethämmern und hier und da sprühte eine Turbine ihren blinkenden Wasserstaub auf den durstigen Rasen. Duftige Kühle schlug den Vorbeigehenden durch die Gitterstäbe entgegen. Hier wohnte Graf Kinsky in einer reizenden Villa, und dort in dem dreistöckigen Hause hatte der Major eine Etage. Brieg schielte herauf, ob er niemand am Fenster erblickte.

Dann kamen sie an das Eingangstor des Fürstenparks. Ein alter Invalide, das Ordensband in dem schäbigen, blauen Rock mit dem roten Klappkragen, stand auf seinen Stock gelehnt und musterte grämlich die Eintretenden wie unabweisliche Friedensstörer, aber mehr noch die Austretenden, ob sie keine Zweige und Blumen ausführten. Während an den Baumreihen der Straßen schon die Blätter vergilbten, standen hier die alten Roßkastanien noch im vollsten Grün und alles schien den nahen September zu mißachten. In den schrägen Sonnenstrahlen spielten die Mücken. Der ganze Park war in milde Nachmittagssonne getaucht.

Es war eine fürstliche Schöpfung aus der Rokokozeit. Die strengen Grundlinien der im französischen Geschmack geschaffenen Anlage waren gebrochen und überwuchert durch den englischen Parkstil, der in den Einzelheiten vorherrschte und durch die Naturverwilderung eines Jahrhunderts noch mehr hervortrat. Die ungestutzten alten Bäume hatten sich prächtig ausgelegt und belebten durch ihre schönen Gruppen die eintönigen Alleen und langen, regelmäßigen Wasserbecken. Nach dem Gebirge zu war ein breiter Durchschlag geschaffen, der die blauen Höhenzüge wie aus einem grünen Rahmen hervortreten ließ, und davor ebnete sich eine Hügellandschaft mit buschbesetzten Wasserläufen und einzelnen ragenden Pappeln, deren lichtumsäumte Formen sich kräftig gegen den bläulichen Hintergrund absetzten. Ein leiser herbstlicher Hauch verlieh dem ganzen Bilde den Ton eines alten Gobelins ...

Brieg bot Frau von Carsten den Arm und sie legte willig die Hand hinein. Er hatte sich immer danach gesehnt, einmal ganz mit ihr allein zu sein, ungestört durch lästige Rücksichten und neugierige Blicke. Mit ihr zu leben, aus allen Fesseln und Schranken erlöst, in einem feinen Traumland, an den Märchengestaden des Mittelmeeres: das schien ihm ein seliges Glück und ein unendlich süßer Gedanke. Schon der bunte Rock, den er trug, war ihm in ihrer Gegenwart peinlich; er paßte so gar nicht zu dem, was er ihr sagen wollte; er schulmeisterte ihn und verdrehte ihm seine eigenen Worte im Munde. Er schämte sich, als Ulanenoffizier sein Gefühl so überschwellen zu lassen; ihm war, als erlaubte dieser mahnend an seine Hüfte schlagende Säbel nur schnarrende, schneidige Redensarten, als klirrten diese scharfen Sporen Hohn auf sein zartes Empfinden ... Aber schließlich mußte er sich vorerst mit dem Möglichen begnügen, und wenn seine Worte auch hinter seinem Gefühl zurückblieben, so genoß er doch die ganze Süße, diese Frau »Du« zu nennen und neben ihr schreitend in das zarte Blau ihrer Augäpfel zu blicken, in denen zwei lichte Wölkchen schwammen ...

Auch die wohlbekannte Landschaft schien sich ihm heute neu zu beleben. Alle diese Wege, die ihr Fuß schon oft betreten hatte, waren ihm plötzlich geheiligt; jeden Kiesel, den ihre Sohlen berührten, hätte er aufheben und am Herzen tragen mögen.

Der hintere Teil des Parkes ging mehr und mehr in den englischen Stil und schließlich ganz in die Landschaft über. Man wußte auf den ersten Blick gar nicht mehr, ob man hier noch im Banne kunstgärtnerischer Absicht war; und doch gab es bei näherem Zusehen kein Gebüsch, keine Weglinie, keine Rasenfläche, die nicht mit bewußter Kunst angelegt waren. Wie mit geronnenem Blut übergossen, stach dort eine Gruppe Rotbuchen aus dem Buschgrün hervor; hier flossen die Zweige einer Trauerbuche wie schwere, grüne Draperien von einem gekrümmten Mastbaum, und dort spiegelten sich die gelbgrünen Äste einer Trauerweide in der Schwermut eines schilfumsäumten Teiches. Weiße Birkenstämme stiegen aus düsterem Eibengebüsch hervor, während ihr zierliches, dünnes Blattwerk wie leichtes Lockengekräusel herniederrieselte und bei jedem Lüftchen wallte. Lärchenbäume mit ihrem moosgrünen, weichen Nadellaub ragten neben den gespreizten, symmetrischen Araukarien und den alten Edeltannen mit ihren anmutig hängenden, lichtumsäumten Riesenfächern. Grünschaftige Zitterpappeln zeigten beim leisesten Windhauch die silberne Unterseite ihrer Blätter und knorrige Kiefern standen still mit ihren pinienartigen Kronen. Hohe Pappeln reckten sich um die Wette mit pyramidal aufgeschossenen amerikanischen Eichen; Silbertannen und Silberahorn widersprachen sich trotz der gleichen Farbe.

Die beiden Spaziergänger waren stehen geblieben und genossen schweigend den Reiz der Landschaft und der kunstvollen Gegensätze. Einen Augenblick war er ganz in diese Gartenanlage vertieft; er hatte ihren Sinn noch nie so deutlich empfunden. Aber bald kehrten seine Gedanken zu seiner Gefährtin zurück und er murmelte die Klopstockschen Verse:

»Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht,
Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht,
Das den großen Gedanken
Deiner Schöpfung noch einmal denkt!«

Und in seinem Geiste knüpfte sich das geheime Band zwischen Kunst und Liebe, das er damals im Stadtgarten entdeckt hatte, immer fester. Er fühlte, daß nur die Liebe ihn befreien und zu sich selbst führen könnte, daß alle Schönheit, die er in sich trug, erst durch sie zum Wort werden könnte, daß alles, was er bisher gedichtet, nur ein erster Geh- und Schreiversuch war, und daß das wahrhaft Gute und Reife erst in der Zukunft bevorstünde. Und ihm schien mehr denn je, daß ihr Schicksal sie beide zusammenführte. Sie hatten sich beide das Rückgrat gebrochen, wie Frau von Carsten es genannt hatte. Sie hatten die Lüge und das Scheinleben ihres jetzigen Daseins erkannt. Sie waren aus einer langen Krankheit genesen und strebten einem neuen, selbsteigenen Leben zu. Jetzt hieß es beweisen, daß sie ihrem Schritte gewachsen waren!

Brieg fühlte sich in einer kampffrohen Stimmung und zu allen Opfern bereit. Er hatte seine Schiffe hinter sich verbrannt wie Cortez und mußte nun ein Neuland erobern oder zugrunde gehen. Dieses Gefühl gab ihm Kraft und erfüllte ihn mit jugendlichem Selbstgefühl.

Sie waren vorhin an einem Buchladen, dem größten am Platze, stehen geblieben und hatten einen Blick auf die ausgelegten Werke geworfen. Die meisten Autornamen waren ihm unbekannt, und neben den Romanen und Gedichten standen geschichtliche, medizinische, volkswirtschaftliche und chemikalische Bücher. In diesen Konkurrenzkampf sollte er also hinaustreten und sich darin hervortun. Dazu bedurfte es vieler Arbeit und Kenntnisse, und an diesen gebrach es ihm noch ganz ... Doch er scheuchte die Zweifel fort und vertraute auf die Kraft seines Willens.

Sie nahmen ein Boot bei dem Bootpächter des »Großen Bassins« und er zog die Riemen leicht an. Der gleichmäßige Taktschlag und das Plätschern des Kielwassers versetzten sie in eine träumerische Stimmung. Er ließ die Ruder sinken und der Kahn schnitt noch ein paar Längen durch die goldige Spiegelfläche, um schließlich an einem Inselchen zu stranden. Wie lange Goldbarren rollten die letzten Wellen bis ans Ufer und verebbten in lautloser Stille ...

Sie stiegen für einen Augenblick aus. Frau von Carsten war hier als junges Mädchen oft Schlittschuh gelaufen und kannte alle Inseln und Verstecke. Unwillkürlich begann sie von ihren Bällen und Schlittschuhfahrten zu erzählen, und wenn sie stillschwieg, bat Brieg sie, weiter zu plaudern. Ihm schien das alles so schlicht und natürlich und ihre Stimme verlieh ihm doch solch einen melodischen Zauber! Sie blühte mit ihren Erinnerungen zusehends auf; sie erschien ihm frischer und jugendlicher denn je! Der rosige Schein fiel auf ihr Gesicht und in dem Halbschatten des Sommerhutes auf ihrer Stirn spielten goldene Spiegellichter des Teiches wie frohe Gedanken ... Wie schön mußte es sein, mit dieser Frau auf solch einer stillen, schönen Insel zu leben, fern von neidischen und boshaften Blicken und ohne stimmungraubende, bedrückende Rücksichten ... Nur ein wenig inneres und äußeres Glück, und sie würde sein wie damals, als sie in die Hand ihres Peinigers fiel, von jener zarten Anmut, die sie auf jenem alten Bildchen hatte ... Und der Gedanke, ihre Jugend zurückzuerobern und sie vor jenem Quälgeist zu schirmen, der Gedanke der Selbsthingabe an ein liebebedürftiges Wesen erfüllte ihn mit zärtlichen Gefühlen.

Traumversunken waren sie Hand in Hand einhergeschritten, ohne zu sprechen. Nach einer Weile fiel ihnen das Schweigen auf. Sie kehrten wieder zu ihrem Boote zurück und Brieg griff zu den Rudern, um das Ufer zu gewinnen. Dann bot er ihr den Arm und sie traten den Rückweg an. Ein leichter Abendwind fröstelte in den Birken und die Rotbuchen flammten feuerrot. Von der Stadt herüber klang das Geläut der Abendglocken fern und getragen. Die Schatten der Bäume wurden lang und länger und an den Baumschäften kletterte die Dunkelheit empor. Sie schritten als letzte Parkbesucher durch das Tor, das der Invalide schon halb geschlossen hatte. Beim Anblick der Uniform unterdrückte er mürrisch seinen Zorn über die beiden Nachzügler nach Sonnenuntergang; aber er warf den eisernen Torflügel krachend zu.

Aus den hohen Fensterfluchten der ersten Villen brach es wie Feuerschein und hier und dort zuckte in der Stadt der Widerschein der Sonne in einer Scheibe auf, wie ein roter Blitz. Die großen Backstein-Gevierte der Infanteriekaserne standen glührot und der ganze Himmel brannte wie von weltenweiter Feuersbrunst! Noch nie war Brieg ein Sonnenuntergang so tragisch erschienen.

Bald sanken harte, blaue Schatten über die Häusermassen: aus den Fenstern quoll gelber Lampenschein und auf der Straße flackerten die ersten Laternen durch den bläulichen Abenddunst. Die Augen schmerzten Brieg von dem grellen Zwielicht und er blickte empor in den verbleichenden Himmel. Das Kreuz auf dem Kirchturm der Pfarrkirche glühte noch in grellem Golde. Er wandte die Augen wieder auf das Dunkel, aber überall folgte ihm das dunkle Nachbild des Kreuzes. Es schien ihm wirklich noch das wahrste Symbol! Achtzehn Jahrhunderte stand es nun aufgerichtet, und die Menschen hatten sich seitdem noch nicht soviel Glück erkämpfen können, um ein lebensfroheres an seine Stelle zu setzen. Noch immer herrschten die Pharisäer, noch immer verurteilte Pontius Pilatus das göttliche Streben, noch immer verriet Judas seinen Meister, noch immer bat die Menge den Barnabas frei und kreuzigte Jesus ...

Brieg blickte unverwandt in den Himmel hinauf. Sein Gesicht glühte im letzten Abendschein. Er sah so trunken und verzückt aus, wie sie ihn noch nie gesehen hatte, und seine Augen blickten wie in eine höhere Welt.

»Nun kommt schon der Abendstern heraus,« sagte Frau von Carsten.

»Ja,« nickte er lächelnd, »der Stern der Liebe.«

In der Altstadt trennten sie sich.

Er sah die elegante Silhouette seiner Freundin im Laternenschein entschweben, dann unterzog er sich pflichtschuldigst dem leidigen Kasinozwang.

Schon am nächsten Mittag war es stadtbekannt, daß der Leutnant von Brieg mit einer Dame spazieren gegangen wäre; sie hatte aber ganz anständig ausgesehen.


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