Friedrich von Oppeln-Bronikowski
Der Rebell
Friedrich von Oppeln-Bronikowski

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9.

Unterdes hatte Herr van Brieg längst seines Vaters Zimmer betreten. Das Herz pochte ihm vor der Entscheidung, wie damals, als er seine letzte Spielschuld gebeichtet hatte; aber er zwang sich zum Mute und klopfte an. »Herein!« rief drinnen die gallige Stimme. Als er die Tür öffnete, fand er seinen Vater mit Trampeln beschäftigt, da unten im Hause Klavier gespielt wurde. Die Melodie brach mit schrillem Akkord ab.

Brieg drückte seinem Vater mit niedergeschlagenen Augen die Hand; es war das erstemal, wo er nicht den Rücken beugte, um sie zu küssen; ebensowenig wartete er auf den offiziellen Gegenkuß auf die Stirn.

»Nun, mein Sohn, schade, daß du gestern nicht kamst, aber viel Dienst, viel Ehre,« sagte der alte Herr.

»Ich werde überhaupt nicht mehr so oft kommen können, Papa,« antwortete Ferdinand. »Der Kasinoälteste hat mich aufgefordert, den Statuten gemäß wenigstens dreimal wöchentlich im Kasino zu essen.«

»Dann eß' ich mit dir zusammen im Kasino,« entschied der Vater.

»Aber Papa,« wandte der junge Offizier ein, »du kannst doch nicht immer mit im Kasino essen. Das ist ungemütlich für die Kameraden und peinlich für mich.« »So,« brummte der General, »hat dir das der Kasinovorstand auch gesagt?«

»Das nicht. Aber er hat mich im Namen des Kommandeurs aufgefordert,« stieß er zu Boden blickend hervor, »daß ich endlich meine Schuld im Kasino bezahlen soll.«

»Aber wo soll denn das hin, mein Sohn!« unterbrach ihn der Vater, mit der Hand auf den Schenkel schlagend. »Was soll denn das Geldverläppern! Wie oft hab' ich dir gesagt: Nimm dich zusammen! Widerstehe den Kameraden und ihren Versuchungen! Geh ihnen mit gutem Beispiel voran, übe guten Einfluß auf sie aus, statt ihnen nachzugeben! – Es werden doch auch solide Elemente in eurem Offizierkorps sein; an die schließ' dich an und dringe mit ihnen darauf, daß auch die andern einfach leben; sonst setze dir den Helm auf und melde sie dem Kommandeur!«

»Aber Papa,« sagte Brieg kopfschüttelnd, »glaubst du, daß ich meine Stellung im Offizierkorps durch Moralpredigten oder Angeberei aufbessere? Unmöglich mach' ich mich dadurch. Sonst sagst du: sei höflich gegen sie, dann zeigen sie dir ihre beste Seite. Und nun soll ich sie dem Kommandeur melden!«

»So widersprich doch nicht immer,« brauste der Vater auf, »das ägriert mich. Wenn du den Kameraden gegenüber korrekt auftrittst, deinen Dienst eifrig versiehst und dich stets à quatre épingles kleidest, kannst du sie reden lassen, was sie wollen ... Aber das ist eben der Luxus und das Wohlleben, die überall einreißen: Rennpferde und Frauenzimmer halten, den vornehmen Herrn spielen und nichts tun. Einer macht's dem andern nach, statt ihn zur Mäßigkeit anzuhalten, und dadurch werden die Ansprüche immer mehr in die Höhe geschraubt. Da wird geborgt und gespielt, und nächstens wird noch mal der ganze Krempel zusammenbrechen. Dann werden die Juden Offizier werden, weil die allein noch Geld haben! – Nein, mein Sohn, die Welt ist kein lieu de plaisir! Danke Gott, daß du nicht mehr Zulage hast! Wer viel hat, der gibt auch viel aus und lebt über seine Verhältnisse, oder er wird lasch und weibisch und hängt sich an Nichtigkeiten. Und wenn dann der Ernst des Lebens kommt, dann sitzt er vis-à-vis de rien. – Aber ihr wollt eben die Hände in den Schoß legen und alles soll euch auf dem Präsentierteller serviert werden.«

»Oh, ich wollte schon etwas tun,« wallte der junge Offizier auf, »wenn ich nur kein Kasino und keine Kameraden mehr habe und meine Talente frei entfalten kann!«

»Deine Talente werden dich gerade in deiner Laufbahn Fortune machen lassen,« wies ihn der Vater zurecht. »Was willst du denn sonst anders ergreifen?«

»Ich will etwas Ordentliches lernen, solange ich noch jung genug bin,« erklärte er, dem alten Herrn fest ins Gesicht sehend, »und sollte ich mich noch mal auf die Schulbank setzen!«

»Mein Sohn, mach' mir keinen Kummer,« klagte der General, den diese Sprache verblüffte. »Du mußt doch nicht alles forcieren wollen. Qui trop embrasse, mal etreint. Wenn du in Berlin auf die Akademie kommst, lernst du genug und kannst auch die Universität nebenher besuchen, wenn dich das lockt. Aber mach erst mal das Examen zur Akademie. Als Kavallerist und Edelmann hast du die größten Chancen, hinzukommen. Es ist ja leider so wenig Streben in eurer Waffe und sie wird trotzdem so bevorzugt, daß du nur einigermaßen au fait zu sein brauchst, um zur Akademie einberufen zu werden. Und ich habe ja Gott sei Dank auch noch soviel Konnexionen, um höheren Orts nachzudrücken. Treibe Mathematik und Französisch, wie dein Vater es getan hat, und schaffe dir gute Bücher an, das ist besser als deine Saufschulden im Kasino. Arbeitest du denn überhaupt zu Hause?«

»Zu Hause arbeiten?« wiederholte er. »So lange du hier bist, verbot sich das ja von selbst. Und so lange ich Rekruten habe, bin ich überhaupt nicht dazu imstande. Ich komme abends todmüde vom Dienst heim und kann dann nicht noch ernste Bücher lesen. Und das bißchen, was ich mir später nebenbei noch so aneignen soll, kann mir auch nicht genügen: das ist doch nur Stückwerk. Nein Papa,« und hier erhob er die Stimme, »ich kann und will nicht länger meine Natur niederzwingen, meinen Geist abtreiben, ich will nicht zum vorschriftsmäßigen, korrekten Dutzendoffizier herabsinken!«

Er hatte diese Worte mit gesenktem Kopf hervorgestoßen und war dabei auf und abgegangen, die Arme auf dem Rücken verschränkt. Dann blieb er plötzlich stehen und sagte: »Ich will hinaus, in die Freiheit!«

Nach dieser Explosion fühlte er sich etwas erleichtert. Der Vater hatte ihm starr zugehört, als ob ein Gespenst aus dem Schoß der Vergangenheit aufstiege, und seine dicken, geröteten Augen quollen noch mehr vor als sonst.

»Aber, mein Sohn,« erwiderte er beklommen, »was sind denn das für waghalsige Allgemeinheiten und Illusionen! Wie willst du denn das bleiben, was du bist, und werden, was du willst, wenn du dich aus deinem Mutterboden, deinem Element herauslöst! Deine Familie dient seit zweihundert Jahren dem König von Preußen. Dein Vater ist in Ehren grau geworden. Er hat in drei glorreichen Kriegen sein Blut für den König eingesetzt, und seine Verdienste sind noch nicht vergessen,« setzte er hinzu, auf seine silberne Schnupftabaksdose trommelnd. »Willst du dem Handwerk deiner Vorfahren und meinen grauen Haaren die Schmach antun, für etwas andres besser zu passen als zum Offizier? Willst du vom Pferde steigen, die schöne Uniform ausziehen und den Juden dienen um Profit? Ach, mein Sohn, mein Sohn, was machst du deinem Vater für Sorgen! Womit hab' ich das in meinem harten und arbeitsreichen Leben verdient, daß mein einziger Sohn so aus der Art geschlagen ist!«

»Ich scheine allerdings aus der Art geschlagen,« erwiderte Ferdinand spöttisch, »denn ich kann mir noch andre Lebensberufe denken, in die der Mensch paßt und in denen er vor allem glücklich ist! Unglücklicher als hier kann ich mich nirgends fühlen!«

»Mit diesem Lamento hast du mich schon als Kadett beglückt,« krittelte der Vater. »Du willst eben immer, daß für dich besonders Kuchen gebacken wird und daß dir gebratene Tauben in den Mund fliegen. Du bist zu schlaff, mein Sohn. Erst diene mal deine zehn Jahre, bis du dich an ein einfaches, ruhiges und arbeitsames Leben gewöhnt hast, und dann ist es noch Zeit genug zum Lernen.«

»Du hättest mich lieber in meiner Kindheit etwas Ordentliches lernen lassen sollen,« platzte Brieg heraus, »statt mich darauf zu vertrösten, wenn ich zu alt dazu bin.

Nicht einmal für meinen Reiterberuf hab' ich in dieser Infanterieschule was profitiert. Eine vergeudete Zeit – das war eine Erziehung. O, ich möchte weinen darüber!«

»Mein Sohn, den Ton verbitt' ich mir,« fuhr der alte Brieg gereizt auf. »Willst du mir Lehren geben, wie ich dich zu erziehen habe, und klüger sein als dein alter Vater? Danke Gott, daß er mich dir zu Schutz und Rat erhält, statt mir ungerechte Vorwürfe zu machen! Als ich diesen Winter die Influenza bekam, da dacht' ich, ich würde nicht wieder aufstehen. Gott hat seine Hand noch mal über mich gehalten, damit ich dir weiter beistehen kann. Aber vielleicht werd' ich doch bald sterben. Gottes Wege sind unerforschlich. Wer wird über siebzig Jahre alt? Dann stehst du allein, auf eignen Füßen, und ich kann dich nicht mehr leiten und ermahnen. Das macht mir die meiste Sorge. Du hast ein heftiges Temperament und heißes Blut, und alles Neue und Unbekannte scheint dir gut. Aber wenn du nicht beim erprobten Alten bleibst, wie es einem altpreußischen Edelmann geziemt, dann wird sich dein toter Vater im Grabe umdrehen,« setzte er mit hohler Stimme hinzu. »Mein Bruder, der war auch so ein vaurien, der hatte eben solche verrückten neuen Ideen im Kopf, gerade in der Revolutionszeit, und Gedichte machte er auf die Freiheit, und da ist er natürlich um die Ecke gegangen und schließlich auf den Barrikaden geendet als Aufrührer ... Und ich, sein leiblicher Bruder, mußte gegen ihn kämpfen ...«

Der alte Herr hielt einen Augenblick inne, als ob Tränen seine Stimme erstickten. Dann schloß er gefaßter: »Das ist die Tendenz nach unten – und solch ein Mensch wirst du auch noch mal werden ...«

»Zu der Behauptung geb' ich dir wohl kaum einen Grund,« entgegnete sein Sohn spitz.

»Gewiß, mein Sohn,« bestätigte der General, »denn du willst alles besser wissen und schlägst die Erfahrungen, die dein Vater in einem langen Leben gesammelt hat, in den Wind. Ich kenne diese Kerle, die Liberalen, besser als du. Jetzt schreien sie nach Kanonen und Bajonetten gegen den Umsturz, aber damals, da haben sie auf den Staat und die Armee geschimpft, genau wie heute die Sozialdemokraten. Freiheit des Geistes, Freiheit der Wissenschaft, und wie das Zeug alles hieß ... Und das Ende vom Lied war der ödeste Materialismus und offener Aufruhr ...« Der alte Herr schwieg eine Weile, in Erinnerung versunken. Dann begann er plötzlich zu Briegs Erstaunen einen Vers herzusagen:

»Was ist der Mensch? Ein Erdenkloß,
Gefüllt mit roter Tinte,
Hat hinten ein Kanonenrohr
Und vorne eine Flinte ...«

»Das sangen unsre Gardegrenadiere schon anno 43, wenn sie vom Exerzierplatz nach Hause rückten, die ganze lange Friedrichstraße 'runter,« setzte er erklärend hinzu; »und mehr haben die Kerle seitdem auch nicht herausgebracht mit all ihrer Weisheit ... Dampf und Industrie haben sie in die Welt gesetzt und weiter nichts! Versoffenes und verkommenes Kroppzeug ohne Vaterlandsliebe und Königstreue: das ist daraus gekommen! – Aber du wirst wahrscheinlich das Gegenteil gelesen haben in einem deiner verfluchten neuen Bücher. ›Kraft und Stoff‹ von Büchner, oder ›Jenseits von Gut und Böse‹ von dem neuesten Kerl – wie heißt er doch gleich? Ja doch, der Herr Nietzsche mit seinem Zarathustra,« ergänzte er mit absichtlicher Verdrehung. »Ein kalter Schwätzer ist das« ...

Der Name, an den sich die letzte geistige Flutwelle des ausgehenden Jahrhunderts knüpfte, hatte in der Offizierwelt noch kaum ein Echo gefunden. Brieg war ihm nur ein oder zweimal in der neuen »Zukunft« begegnet.

»Hast du denn etwas von ihm gelesen?« fragte er mißtrauisch.

»Gott behüte mich,« rief der General und streckte beide Hände zur Abwehr aus. »Ich habe nur in der ›Kreuzzeitung‹ einen Aufsatz von Hammerstein über ihn gelesen – das genügte mir! Der Kerl beschimpfte nicht nur unser Deutschtum, er leugnet sogar unsern Herrn und Heiland. Und wer kein guter Christ ist, der ist auch kein guter Soldat« ...

Brieg hatte bisher die Fäuste in der Tasche geballt, um während dieser Tiraden an sich zu halten. Aber schließlich übermannte ihn die Ungeduld und er empörte sich gegen dies königlich preußische Christentum. »Wenn man Christus ins Feld führt,« entgegnete er unbesonnen, »dann sollte man auch nach seinen Lehren handeln und Krieg und Duell unterlassen. ›Liebe deine Feinde,‹ lehrt Christus, aber nicht, schieße auf deine Brüder in Christo! ›So dir jemand einen Schlag gibt auf den rechten Backen, so halte den linken auch dar,‹ heißt es, aber nicht, duelliere dich. Wenn ein Offizier aber so spräche, dann bekäme er den schlichten Abschied, und wenn ein Soldat sich weigerte, auf seine Feinde zu schießen, dann würde er selbst erschossen ... Ja, ihr redet immer vom Christentum, aber ihr handelt wie die Türken! Das nennt ihr dann ›praktisches Christentum‹! Nein, Vater, mit mir wirst du nicht fertig; ich habe meinen Kopf auf dem rechten Fleck, und ebenso wenig, wie ich mir bange machen lasse mit diesem Kommißchristentum, ebensowenig glaube ich noch an die Tradition und die Standesvorurteile. Was der Mensch ohne sie sein kann, das soll er zeigen!« Und seine Stimme erhebend: »Zum Teufel mit diesen Schranken, die den Menschen an seiner Zukunft hindern, mit diesen Fesseln, die ihm die Seele einschnüren, mit diesen Fallstricken von Pietät und erprobtem Alten! Unsre Welt ist eine andre geworden als vor fünfzig und hundert Jahren, und wir müssen unsre Erfahrungen für uns selber machen und nach unsrer Façon selig werden, statt immer den alten Brei nachzukauen! Zum Teufel mit all dem Anstand, mit all dem ›geht nicht‹ und ›paßt sich nicht‹! Ich brauche keine Gesellschaft, ich fühle mich derselbe, ob ich zu Hofe gehe oder Steine klopfe!«

Brieg hatte seinem Vater den Fehdehandschuh hingeworfen; er wollte es auf einen Bruch ankommen lassen, und er war nicht wenig erstaunt, als der Alte, statt ihn zu verfluchen, die Hände himmelnd zusammenschlug und zu klagen begann: »O Gott, verzeihe meinem Sohn diesen Frevel an seinem alten Vater, der ihm zeitlebens nur Liebe und Güte erwiesen hat, der an nichts weiter denkt als an ihn! In dem weiten, schutzlosen Leben, wo er jeder Niedertracht ausgesetzt ist, wo er mit verstocktem Herzen seinen erträumten Wahnbildern nachrennt, muß er ja untergehen!«

»Dann ist es besser, ich gehe für die Sache unter, die ich mir erkoren habe, als daß ich ohne sie glücklich lebe!« gab Ferdinand zurück. »Kennst du den Dürerschen Stich: Ritter, Tod und Teufel? Da hast du, was ich will. Zwischen Tod und Teufel auf den Marktplatz des Lebens reiten und da meine Ritterschaft erproben, aber nicht hinter Schranken und Zäunen!«

»Aber was hast du denn im Sinne, mein Sohn?« fragte der Vater erschrocken. »Was willst du denn werden? Sozialistischer Redner oder Zeitungsschmierer, der sich für seine Gesinnung bezahlen läßt?«

»Fürs erste will ich fort von hier – in die Einsamkeit. Ich bitte mir ein paar Wochen Bedenkzeit aus, um mich zu prüfen und umzusehen. Denn ich will nicht von einem Zwang in den andern stürzen, und hier kann ich zu keinem vernünftigen Gedanken kommen.«

»Dann kommst du natürlich zu mir nach Berlin,« entschied der Vater etwas beruhigt. »So etwas muß langer Hand vorbereitet werden.«

»Ich bitte dich, laß mich allein,« wehrte der Sohn ab. »Ich kann keinen Menschen gebrauchen. Nicht einmal« ...

In diesem Augenblick klopfte es energisch an die Tür.

»Die gnädige Frau läßt zum Essen bitten. Die Suppe wird kalt. Ich habe schon zweimal geklopft,« quärrte die Stimme des neuen Dienstmädchens.

Der Vater warf einen kritischen Blick auf seine Fingernägel und ließ Ferdinand vorangehen. »Ich verstehe dich nicht, mein Sohn,« sagte er, als er die Tür verließ.


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