Friedrich von Oppeln-Bronikowski
Der Rebell
Friedrich von Oppeln-Bronikowski

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2.

Herr von Brieg ging des Abends, seinen Vater zu besuchen, und klingelte im dritten Stock, bei dem Türschild »von Carsten«. Ein kleiner Junge, der etwas in den Schultern steckte, öffnete ihm und führte ihn in seines Vaters Zimmer. Bei Tisch lernte er die ganze Gesellschaft kennen. Den Ehrenplatz hatte natürlich der General rechts neben Frau von Carsten, die allein auf der Schmalseite saß und an alle Anwesenden gelegentlich ein artiges Wort richtete; im übrigen hatte sie ihre Augen auf die Bedienung und ihre drei Kinder, die am unteren Tischende saßen. Sie hatte ein sanftes, frauliches Wesen und traurige Rehaugen; der Schnitt und der Ausdruck ihres Kopfes erinnerten Brieg nicht wenig an seine verstorbene Mutter.

Weit auffälliger war ihre Partnerin, die sich »Frau Rittmeister Hüppe« nennen ließ, eine hübsche Blondine, die einen sinnigen Augenaufschlag hatte und sich von dem Artillerieleutnant Ehlert, der neben ihr saß und die Stellung eines Hausfreundes zu bekleiden schien, sehr unverblümt den Hof machen ließ. Brieg kannte ihn oberflächlich aus der Kneipe und vom Tanzsaal her; er trug gegen den Ulanen eine rebellische Geringschätzung zur Schau, als wollte er sagen: »Wir sitzen ebensogut zu Pferde!« Um auch sonst den Sportsmann zu markieren, hielt er sich krumm wie ein Rückenmärker. Sein Hauptbestreben schien zu sein, sich hervorzudrängen und mit seinen Talenten zu protzen; er war hochmütig und doch wieder würdelos, und die Art, wie er sich mit den beiden jungen Engländerinnen gemein machte, erinnerte Herrn von Brieg unwillkürlich an den Ton, den er neulich bei Korner vernommen.

Außer diesen zwei jungen Damen, denen Brieg vergeblich ein paar Höflichkeitsphrasen zu drechseln suchte, zählte die Pension augenblicklich nur noch einen Logiergast, ein älteres Fräulein, das anscheinend die komische Figur des Hauses bildete. Sie war korpulent und schwatzsüchtig und behauptete von zwei zu zwei Stunden mit derselben Hartnäckigkeit das Gegenteil des noch eben Verteidigten. Ihre Hauptfurcht, von der sie selbst die Hundstagsglut nicht befreite, war die, sich zu erkälten; sie suchte sich davor durch einen dicken, wollenen Shawl, ein bis zwei Schleier und Kopftücher, eine gestrickte Untertaille, und ein halbes Dutzend wollene Röcke und Unterbeinkleider zu schützen, die ihre blühende Erscheinung nur noch mehr aufschwellten. Ihren geistigen Mittelpunkt aber bildete ein schwarzes Hündchen, klein wie eine Ratte, mit feigen, mißtrauischen Blicken, das sich vor jedermann kläffend in ihre Dessous verkroch. Bei Tisch durfte diese Perle allerdings nicht mehr erscheinen; die jungen Engländerinnen hatten sich das als shocking verbeten und das vergaß sie ihnen nie. Was sie sonst redete, betraf lediglich ihr liebes Ich. Ihrer zahlreichen Leiden wegen hatte sie diverse Ärzte, einen Naturdoktor, einen Homöopathen, einen Allopathen, zwei Spezialisten und einen Zahnarzt, auf die sie abwechselnd schimpfte oder große Stücke hielt. Ihre gegenwärtige Hauptsorge bildete ihr krankes Bein, von dem sie gerade dem General vorklagte; doch rückte dieser ostentativ von ihr ab. Gegen hübsche und junge weibliche Wesen – wie Frau Hüppe oder die beiden Engländerinnen – war der alte Herr sehr galant; aber alte Weiber konnte er auf den Tod nicht ausstehen, und nun brummte er gar halblaut über die »gräßliche Trutsche,« sodaß Frau Hüppe und die jungen Mädchen laut herausplatzten. Übrigens war Fräulein Schamroth sehr kunstsinnig und verwertete ihre Ersparnisse hauptsächlich zu Kunstzwecken. So hatte sie sich als Wandschmuck zwei Bronzeteller mit Thorwaldsens Nacht und Morgen erstanden, wie sie stolz verkündete; doch stellte es sich bei näherer Prüfung heraus, daß es zwei bronzierte Gipsteller aus dem Dreimarkbasar waren. Auch die nahe städtische Gemäldegalerie pflegte sie täglich, während ihr Zimmer gelüftet wurde, ein halbes Stündchen aufzusuchen, und infolge dieser anhaltenden Besuche hatte sie plötzlich eine große Begabung zum Malen in sich entdeckt. Aber die teuren Preise der Mallehrerinnen und ihre häufige Migräne ließen sie nie zur Ausführung ihrer Pläne kommen, und sie fand mit ihrem Kunstsinn nicht nur kein Verständnis bei dem schönheitsliebenden General, sondern sogar Hohn von seiten Frau Hüppes und des schnöden Herrn Ehlert, der sie anscheinend zur Zielscheibe seines Spottes erkoren hatte und sogar ihren Hund nicht verschonte, denn er wünschte ihn in irgend einem Kochtopf enden zu sehen. Auch gegen sie selbst kannte er kein Erbarmen; sie nannte ihn einen rohen Menschen, weil er sie mit ihren »kleinen« Leiden aufzog, und er behauptete, sie habe ihm einmal ihr schlimmes Bein gezeigt, und er hätte sich überzeugt, daß ihr gar nichts fehlte, als wöchentlich eine Tracht Prügel. Auch die Kinder, die am unteren Ende des Tisches unter den Augen der quervorsitzenden Bonne miteinander wisperten, pflegten sie nach diesem Vorbild zu necken, ihr Spinnen ins Bett zu setzen und dergleichen mehr. Es waren ihrer jetzt fünf, da auch Frau Hüppes Sohn, ein Potsdamer Kadett, gerade Ferien hatte. Dieser war ein kleiner, pausbäckiger Flachskopf mit abstehenden Ohren, dem das Glück, Kadett zu sein, aus den Augen leuchtete, während ihre Tochter Klara ein aufgeschossenes Ding mit bleichem Gesicht voller Mitesser war. Von den zwei Töchtern der Frau von Carsten, die der Mutter recht ähnlich sahen, war die älteste ein scheues Kind, die kleinste ein Wildfang, während der Junge sehr wenig von der Mutter zu haben schien; er machte Brieg mit seiner vorspringenden Stirn und den kleinen, stechenden Augen einen unangenehmen Eindruck.

 

Allmählich lernte er sie alle näher kennen, denn er aß öfter mit in der Pension und sein Vater sah dies sehr gern. »Komm nur öfter in das Haus von den beiden netten Frauen,« sagte er ihm einmal beim Abschied.

 

Übrigens sollte er bald auch den liebenswürdigen und korrekten Hauptmann Althoff in diesem Kreise sehen. Die beiden Damen gaben an einem der Abende eine kleine Gesellschaft, zu der außer Althoff und Ehlert auch ein kleiner Infanterieleutnant erschienen war, ein bescheidenes Kerlchen, das sich vielleicht einmal sattessen und mit hübschen Mädchen harmlos plaudern wollte. Er behauptete, mit Brieg schon seit der und der Felddienstübung bekannt zu sein, was dieser aber wieder vergessen hatte. Frau Hüppe saß an diesem Abend zwischen Althoff und Ehlert und hatte einen besonders sinnigen Augenaufschlag. Vor ihr stand ein Bukett, das Herr Ehlert ihr verehrt hatte, während ein zweites, eine Spende Althoffs, an ihrem Busen prangte. Dieses Arrangement hatte bei dem Leutnant Ehlert ein muffiges Gesicht und ein paar schnodderige Redensarten zur Folge; aber seine üble Laune sollte noch zunehmen, als er sah, wie sehr die lebenslustige Witwe den gestirnten Achselstücken des Hauptmanns den Vorzug gab. Er begann also Miß Carrie ein paar grobe Schmeicheleien zu sagen, und alsbald taute die junge Engländerin, die Herrn von Brieg bisher die kalte Schulter zugedreht hatte, aus ihrem starrsinnigen Schweigen auf, während sich der kleine Infanterieleutnant mit ihrer jüngeren Schwester, einem wohlerzogenen Backfisch, in ein gesittetes Gespräch einließ und der General sich geräuschvoll mit dem höflich lächelnden Hauptmann unterhielt. Brieg schätzte sich glücklich, als diese Mahlzeit vorüber war, ohne daß sein Vater ihn durch unangebrachte Fragen in Verlegenheit gesetzt hatte; denn er pflegte solche bisweilen, gleichgültig wo, mit schallender Stimme an ihn zu richten.

Alles reichte oder küßte sich die Hände; dann ergoß sich der Schwarm in Frau von Carstens Wohnzimmer, ein geräumiges Erkerzimmer, in dem neben einigen gediegenen Möbeln, die bessere Tage gesehen hatten, allerhand billiger Kram stand, um die Wände und Ecken zu füllen. Auch das anstoßende Zimmer, das im Winter als Fremdenlogis diente, war den Gästen geöffnet; hier standen Ramschmöbel aus einem Abzahlungsgeschäft, deren glänzender Firnis die schlechte Furnitur und den wackligen Bau verdecken sollte. Über der Chaiselongue spannte sich als Wandschmuck ein japanischer Schirm aus dem Dreimarkbasar.

Frau Hüppe hatte sich gleich ans Klavier gesetzt, das in diesem Zimmer stand, und ein paar Akkorde angeschlagen.

»Ei, so musikalisch,« lächelte Althoff süß.

»Leidenschaftlich, Herr Hauptmann!« schwärmte Frau Hüppe. »Ich singe und ich spiele Klavier ... Was soll man in den vielen einsamen Stunden auch anders treiben? Sie als Männer sind besser dran,« seufzte sie; »Sie haben Ihren Dienst und Ihre Kameraden.«

»Wenn man älter wird,« bemerkte Althoff ebenfalls seufzend, »wird man bequemer, da zieht man die Häuslichkeit vor.«

»Warum heiraten Sie nicht?« fragte Frau Hüppe unschuldig. »Ein Mann in Ihren Jahren, angehender Major, nicht wahr?« ...

»Freilich, freilich,« nickte er in seiner schwerfälligen Art. »Aber die Ansprüche sind heute so groß, gnädige Frau ... Die Diners und Gesellschaften ... Und die Kleider für die Gattin ...«

»Es gibt auch gute Hausfrauen mit bescheidenen Ansprüchen, die sich ihre paar alten Sachen geschickt zu garnieren wissen. Von denen glauben die Herren dann, sie seien putzsüchtig,« sagte sie, die Stimme etwas senkend, mit einem Blick auf ihr neues Sommerkleid.

In diesem Augenblick wurde die Bowle hereingebracht und Ehlert stürzte sich mit Galgenhumor darauf, um Frau Hüppe ein Glas zu bringen. Der korrekte Hauptmann stieß eben mit Frau von Carsten an, und Ehlert benutzte die Frist.

»Marie,« sagte er spöttisch, dicht an sie herantretend, »machen Sie doch dem Hauptmann nicht so die Kur. Sie kriegen ja Herzerweiterung.«

»Oh bitte, Ehlert,« entgegnete sie schnippisch, »Herr Hauptmann Althoff ist heute unser Gast; da muß ich doch die Pflichten der Gastfreundschaft wahren.«

»Gewiß,« entgegnete Ehlert; »ich gehe hin und tue desgleichen.« Damit ergriff er ein Glas Bowle und stieß mit Frau von Carsten an. »Prost, meine Gnädigste,« schnarrte er laut; »eigentlich braucht man gar nicht erst auf Ihr Wohl zu trinken: Sie schauen ja immer so lächelnd drein; es ist ein Staat!«

»Wenn's nur so aussieht, Herr Ehlert,« lächelte Frau von Carsten. Aber Ehlert ließ nicht nach, er schnitt ihr die Cour möglichst auffällig und erst nach einiger Zeit wandte er sich den jungen Engländerinnen zu. Diese hatten sich mit dem Infanterieleutnant in eine Ecke gesetzt und emanzipiert zu rauchen begonnen; Miß Carrie perlten bereits dicke Schweißtropfen auf der Stirn. »Ach, ich find es stupid,« erklärte sie eben, als Ehlert dazutrat, »daß ein Herr kann nicht in die Straße mit eine bekannte Dame gehen, ohne, wie sagen Sie, es wird geklatscht. In England ist das nicht so.«

»Ja, Miß Carrie, wir sind nun mal nicht in England,« mischte sich Ehlert ein. »Gott sei Dank! Denn offen gesagt: ich kann die Engländer nicht ausstehen!«

»Oah, you are insolent!« fauchte die Miß.

»Aber die Engländerinnen bet' ich an!« setzte Ehlert hinzu und beobachtete die Wirkung seiner Worte.

»Oah, ich mache mir gar nichts aus Ihr Anbeten,« kaute Miß Carrie mit ihren mundfaulen Kinnladen. »Wenn zehn von Ihre Officers mit mir flirten und kommt ein Engländer, laß ich sie alle stehen.«

»Wenn wir das nur ertragen werden!« stöhnte Ehlert. »Aber was soll Ihr Vater von der deutschen Bildung denken, wenn Sie ohne preußischen Leutnant zurückkommen? Dann war ja alles Lehrgeld vergebens! Es gibt hier in Germany doch noch nette Männer, nicht wahr Frau Hüppe?« drehte er sich zu der am Klavier Sitzenden um, obwohl sie gerade mit Althoff sprach.

»Gewiß, Herr Leutnant,« entgegnete diese mit ernstem Augenaufschlag. »Man muß sie nur geprüft haben, ob sie echt sind.«

»Ich bin sicher, Miß Carrie hat als praktische Engländerin einen scharfen Blick für alles, was echt ist,« antwortete Ehlert laut. »So'n Mann zum Beispiel, wie der Hauptmann da ... der ist echt, nicht wahr, Miß Carrie,« fuhr er leiser fort, so daß Frau Hüppe ihn gerade noch hören konnte. »Dem würd' ich den Hof machen, Miß Carrie ...«

»Oah, aber ist zu alt,« entschied diese lakonisch.

»Der Teufel ist alt, Miß Carrie,« meckerte Ehlert. »Verdrehen Sie ihm den Kopf ... Das ist sicher nicht schwer. An Ihrer Stelle hätte ich längst Klavierspielen gelernt und ein enges Korsett angelegt – Sie tun aber keins von beiden.«

»Oh, you are shocking!« kreischte die Engländerin rot werdend.

»Sonderbarer Ton, den dieser Herr zu haben scheint!« krittelte der Hauptmann mit einem strafenden Blick, und Frau Hüppe blickte ihn mit wehmütigem Augenaufschlag an, als wollte sie sagen: »Erlöse mich von dem Übel!«

Dann schlug sie, wie um ihren Schmerz in Wohllaut zu ertränken, ein paar volle Akkorde an und begann eines jener faden deutschen Lieder vorzutragen, deren abgestandene Romantik mit fader Sentimentalität vertont ist.

Mit einem hörbaren Seufzer verklang das Lied, und Frau Hüppe wartete auf den Beifall. »Traurig, aber tief,« sagte Althoff.

Ehlert hatte ihrem pathetischen Fingersatz und dem nachtigallenhaften Flöten des zurückgeworfenen Kopfes wortlos zugeschaut. Er hielt sich ein Taschentuch vor die Augen und schluchzte: »Mein Bursche hat mir leider nur eins eingesteckt.«

»Sie sind unausstehlich boshaft,« zischte Frau Hüppe.

Exzellenz von Brieg war mit den ersten Musikklängen aufgesprungen. Er konnte Klavierspiel und Gesang auf den Tod nicht hören, außer vielleicht einen Militärmarsch oder Gassenhauer, und sein Sohn war froh, daß er nicht gleich Herrjeh! schrie und mit beiden Händen vor den Ohren hinauseilte, sondern leutselig gute Nacht sagte. Als er in Fräulein Schamroths Nähe kam, fuhr plötzlich deren Hündchen wie ein kleiner Teufel unter den wollenen Röcken hervor und kläffte die Beinkleider wütend an.

Frau Hüppe und die Engländerinnen lachten laut auf und die Kinder quietschten vor Vergnügen; sie mußten aber trotz ihres Quälens gleichfalls zu Bette.

Auch zu Fräulein Schamroth schien der Sandmann bereits gekommen. Sie hatte sich auf mehreren Sofas herumgelangweilt, und da sich keiner um ihre verkannte Größe kümmerte, so zog sie gähnend ein winziges silbernes Ührchen, das an einer Kette von wallnußgroßen Jettperlen befestigt war, und erklärte, daß sie Migräne hätte und zur Ruhe gehen müßte.

»Wollen Sie nicht auch etwas singen?« rief Ehlert boshaft. Da verlor sie für einen Augenblick ihre Migräne und erklärte weitschweifig, daß sie allerdings gern sänge und viel Talent für Musik besäße, aber sie hätte augenblicklich eine starke Erkältung und müßte ihre Stimme schonen.

Exzellenz von Brieg war inzwischen schon auf sein Zimmer gegangen und sein Sohn hatte ihm das Geleit gegeben.

»Gott sei Dank, hier hört man wenigstens nichts von dem verfluchten Geklapper,« brummte er, als der junge Herr ihm nach einer Weile gute Nacht sagte, um wieder zu der Gesellschaft zurückzukehren.

In dem Salon war seit Fräulein Schamroths Verschwinden eine reinliche Scheidung eingetreten. Ehlert hatte sich mit den beiden jungen Mädchen in den Erker gesetzt, während Frau von Carsten, auf dem Sofa sitzend, mit dem kleinen Infanterieleutnant plauderte.

Frau Hüppe hatte das Klavier mit der im Nebenzimmer stehenden Chaiselongue vertauscht und Althoff zu sich genötigt.

»Ein unangenehmer Mensch, dieser Leutnant Ehlert,« tadelte Althoff, als Ehlert hustend hereingeguckt hatte.

»Nicht wahr,« bestätigte Frau Hüppe mit festem Blick. »Aber was soll eine alleinstehende Frau machen? Der Mensch kommt immer ins Haus gelaufen ...«

»Sagen Sie's mir nur, wenn er Ihnen zu nahe tritt,« richtete Althoff sich auf. »Ich werde ihm schon den Standpunkt klar machen. So'n dummer Leutnant ...«

»Ach, wie danke ich Ihnen für Ihre Ritterlichkeit, Herr Hauptmann!« entgegnete Frau Hüppe seelenvoll. »Es gibt immer schon Klatsch genug unter den Leuten, daß solche jungen Offiziere ohne ernste Absichten hier im Hause aus und eingehen, Ach, Herr Hauptmann, wenn Sie wüßten, was unsereins schon so durchgemacht hat ... Und nun muß ich hier enden in dieser hergelaufenen Gesellschaft ... Es wird ja nie anders werden, nie ...«

»Sie sehen wirklich zu schwarz,« wandte Althoff ein.

»O Sie Bester, ich danke Ihnen,« sagte sie, ihm die Hand reichend. »Das war ein Ton von Herzen!«

»Übertreiben Sie nicht,« wehrte Althoff verdutzt ab; dem schwerfälligen Manne kam diese Herzensfreundschaft doch ein bißchen plötzlich.

»Durchaus nicht, Herr Hauptmann,« versicherte Frau Hüppe. »Sie ahnen nicht, wie wohl mir diese Anteilnahme tut. Ich habe so selten Gelegenheit, mich mal auszusprechen, und niemand versteht mich recht, kommen Sie nur öfter her; Ihre Gegenwart ist mir stets eine Freude. Und wenn ich eben ein hartes Wort fallen ließ, legen Sie's mir bitte nicht schlecht aus, Sie wissen. Unglück macht bitter ...«

Der Infanterieleutnant hatte sich auf Frau von Carstens ausdrücklichen Wunsch auch zu der Gruppe in den Erker gesetzt, wo Ehlert ungestört weiter flirtete. Als Herr von Brieg den Salon wieder betrat, fand er Frau von Carsten allein auf dem Sofa. Er mußte sich wohl höflichkeitshalber mit ihr unterhalten.

»Ich hoffe,« sprach diese ihn freundlich an, »Ihr Herr Vater hört nichts von diesem Lärm. Das Zimmer ist ja das letzte. Jedenfalls ist eine Abendgesellschaft wie diese bei uns eine Seltenheit: es ist nur, damit die jungen Mädchen mal etwas Zerstreuung haben.«

Für Brieg hatte die erste Unterhaltung mit einer fast fremden Dame immer etwas Gezwungenes, besonders wenn er mit ihr allein war. In seiner Ängstlichkeit drückte er sich lieber in den Ecken herum oder besah sich die Bilder an den Wänden, als Konversation zu machen. Aber Frau von Carsten hatte so freundlich das erste Wort an ihn gerichtet, daß der Bann schon gebrochen war, und er begann ohne Zaudern zu reden. Dabei sah er sich die Herrin des Hauses zum ersten Male genauer an. Sie hatte eine elegante Figur, kastanienbraunes Haar und einen feuchten Schimmer in den Augen. Über ihr ganzes Wesen schien ein stiller Liebreiz ausgegossen. Er wunderte sich selbst, daß er ihr gegenüber gar nicht verlegen war. Sonst hatte er gewöhnlich die größte Angst, daß ihm der Gesprächsstoff ausgehen könnte, oder er wußte überhaupt nicht, was er sagen sollte. Aber hier hatte er zum Glück ja eine Menge Anknüpfungspunkte! Er erkundigte sich also zunächst nach ihrer Partnerin und erfuhr, daß sie die Witwe eines Rittmeisters Hüppe war, der mit ihrem früheren Gatten in Grävenitz bei den Dragonern gestanden hatte. Er hatte auf sehr traurige Weise geendet und die Frau mit zwei Kindern ohne andre Mittel als ihre kleine Witwenpension zurückgelassen, und Frau von Carsten, die schon mehrere Jahre am Orte wohnte, hatte ihr darum vorgeschlagen, ihr Mobiliar zu vereinigen und zusammen eine Pension anzufangen, um die Erziehung der Kinder dadurch zu bestreiten.

Brieg schien es unwürdig, daß eine so liebenswürdige und anmutige Dame, die für die vornehme Welt erzogen war, sich so durchquälen mußte. »Aber helfen Ihnen denn Ihre Freunde und Verwandten nicht?« fragte er. Frau von Carsten schüttelte leicht den Kopf. »Ach,« seufzte sie, »die, welche mir helfen möchten, können nicht, und die Verwandten verweisen mich immer einer an den andern und geben mir höchstens Vorschriften, wie ich's machen soll. Es ist ja immer so: die am meisten auszugeben haben, wissen immer am besten, wie billig man leben kann und wie man mit wenigem haushält.«

»Vielleicht haben Sie ihnen Ihre Lage nicht deutlich genug gemacht, gnädige Frau,« sagte Brieg teilnahmsvoll, ohne eigentlich zu wissen, was ihn zu diesen Worten berechtigte. »Es gibt Menschen, die zu stolz sind ...«

Frau von Carsten blickte erstaunt auf, als wollte sie sagen: »Woher wissen Sie das?« Dieser junge Herr stellte so ganz andre Fragen als die zudringlichen Schmeichler vom Schlage Ehlerts, die sich seit ihrer Scheidung an sie heranmachten und deren merkwürdige Reden sie in ihrer innern Keuschheit oft gar nicht verstand, »Ach nein,« seufzte sie, »ich habe mich überwunden; meiner Kinder wegen. Ich habe meinen Verwandten dargestellt, wie falsch es sei, ein Unternehmen wie dieses mit unzureichenden Mitteln anzufangen. Sie sehen, wie ich mich quäle, wieder ins Reine zu kommen. Aber seitdem ich im Unglück bin,« fuhr sie mit plötzlicher Bitterkeit fort, »kümmern sie sich nicht mehr um mich und sind beleidigt, wenn ich mir mein bißchen Selbständigkeit wahre ... Selbst den Rest von Lebenslust, der mir geblieben ist, neiden sie mir, als ob mir das nicht immer wieder hochgeholfen hätte. Du lieber Gott, wenn ich wirklich leichtsinnig gewesen wäre – wo ständ' ich dann jetzt?« Frau von Carsten hatte die letzten Worte kaum vernehmbar gesagt, als spräche sie zu sich selbst.

»Sie sollten in eine größere Stadt ziehen, gnädige Frau,« schlug Brieg vor. »Da bringt man es weiter.«

»Ach, Herr von Brieg,« entgegnete die Dame kopfschüttelnd, »ich kenne diese guten Ratschläge, dies sollte und könnte! Wer nicht in den Verhältnissen zu leben braucht, in denen ich leben muß, der hat leicht raten. Ich bitte Sie, was soll ich in einer großen Stadt anfangen, als einzelnstehende Frau mit drei Kindern, wenn ich keinen Pfennig habe, etwas zu beginnen. Wenn ich gekonnt hätte, ich hätte schon etwas getan! Aber wir wollen nicht weiter davon reden, Herr von Brieg, dazu sind Sie doch nicht hergekommen. Hören Sie, wie vergnügt unsre jungen Mädchen lachen? Gehen Sie und lachen Sie mit! Das wird Sie auf andre Gedanken bringen.«

Der junge Offizier blickte auf. Ihm war, als müßte er sich mit dieser Frau verstehen, als bestände zwischen ihnen eine geheime Seelenverwandtschaft und es bedürfte nur eines Wortes, sie zu enthüllen.

»Die sind für sich allein viel vergnügter,« wehrte er ab, »ich will sie nicht stören, gnädige Frau.«

»Da habe ich Sie also schon angesteckt,« warf Frau von Carsten sich vor. »Sie gehören doch wahrlich dahin, wo man glücklich und froh ist.«

»Mir liegt das Weinen manchmal auch näher als das Lachen,« sagte er tonlos.

»Aber ich bitte Sie, Herr von Brieg, wenn sie das schon sagen ... Bei Ihrem schönen Beruf! Und wie stolz Ihr Herr Vater auf Sie blickt; ich hab' es bei Tisch so recht beobachtet.«

»Ja, auf meine Uniform,« lachte Brieg bitter, »ich bin nur das Zubehör dazu.«

»Aber Sie stehen sich doch gut mit ihm,« sagte Frau von Carsten in überzeugtem Tone.

»Ich bin für ihn eigentlich gar nicht vorhanden,« entgegnete Brieg. »Mein Vater hat seine Pläne mit mir und danach hat er mich in Verhältnisse hineingesetzt, denen ich nicht gewachsen bin. Nicht mal zu ordentlichen Pferden verhilft er mir, damit ich nicht den Versuchungen des Rennplatzes erliege; und überhaupt, was ich kann und möchte, danach fragt er wenig, oder es gibt Skandal. Das war schon früher zu Hause so,« plauderte er in kindlicher Offenheit weiter; »meine Mutter hat es auch durchgemacht. Sie kennen gewiß auch solche alten Soldaten; sie wollen im Hause kommandieren wie auf dem Exerzierplatz, rücken an allen Bildern und Möbeln herum und sind unfehlbar. Haben sie den Schnupfen, so ist ihre Laune lebensgefährlich, und wenn man selbst krank wird, lügt man sich lieber gesund, sonst wird man vor Fürsorge umgebracht. Man sagt überhaupt nichts mehr, und aus dem Schweigen wird Entfremdung und Mißverständnis. Und dazu muß man dann noch dankbar sein für die liebevolle Fürsorge. Schließlich bringt man einen Menschen aus lauter Fürsorge und Liebe ins Tollhaus und verlangt noch Dank dafür!« Er hatte aus Taktgefühl in der dritten Person gesprochen; sein Vater wohnte schließlich im Hause und er kannte Frau von Carsten doch kaum.

»Sie urteilen zu schroff, Herr von Brieg,« begütigte sie sanft. Der Klang dieser Stimme hatte eine wohltuende Wirkung auf ihn. Sonst fühlte er sich immer wie unter Feinden, und dann war auch alles, was er sagte, geschraubt oder absprechend. Aber dieser Tonfall beruhigte ihn, und er antwortete weich und natürlich:

»Ich wollte, es wäre so; aber es ist ja nicht der eine, der so denkt und handelt, es ist der ganze Menschenschlag, unter dem wir leben. Der Mensch gilt im Heere nichts; der General, das ist der höchste Mensch. Das ewige Zu-Befehl-stehen erstickt die Persönlichkeit. Wenn ein Vorgesetzter andrer Meinung ist, so hat man lieber keine Meinung ... Wie können sich da Charaktere bilden und Achtung vor ihnen, wie kann ein Mensch zu sich selbst kommen? Aber wo gerate ich da hin ...« hielt er plötzlich inne, über seine eignen Worte erschrocken.

»Bitte, reden Sie nur weiter,« bat Frau von Carsten. »Ich denke manchmal auch so, nur findet man selten einen Gleichgesinnten. Aber ich sehe, Sie beurteilen die Menschen und Verhältnisse anders als der Durchschnitt ...«

»Ach ja,« seufzte Brieg, durch die seltene Gelegenheit kühn gemacht. »Dafür stehe ich aber auch ganz allein. Spreche ich mal von etwas andrem als von den ödesten Trivialitäten, so sitzen sie da wie Klötze, oder suchen sich durch schlechte Witze herauszureißen und man schämt sich, einen heiligen Schrein geöffnet zu haben ... Es ist um herauszulaufen und sich zu geloben – nun, sie können sich ja denken, was: keine Perlen mehr vor die Säue zu werfen ... Bestenfalls kriegt man seine eigenen Worte entstellt und mißverstanden zur Antwort, als ob es ihre Weisheit wäre, und dabei halten sie sich noch für die Überlegenen und fahren einem über den Mund, wenn man etwas ganz Richtiges sagt ... Das ist der schöne Beruf ... Einen schönen bunten Kragen, ein Pferd, und hier innen ist man glücklos ... Sie haben Sorgen und Gram, gnädige Frau, aber gegen mich sind Sie doch zu beneiden, Sie haben wenigstens etwas, woran Ihr Herz hängt, wofür Sie arbeiten und entbehren – Ihre Kinder.«

»Das ist auch das Einzige, was mich noch am Leben erhält,« entgegnete sie, durch Briegs Vertrauen ermutigt, »sonst hätte ich schon längst Gift genommen.«

»Aber gnädige Frau ...«

»Bei mir getragen hab' ich's schon,« entgegnete Frau von Carsten, als er sie erschrocken anblickte.

Jetzt drang Brieg in sie, ihm mehr zu erzählen. »Ich werde Sie verstehen,« sagte er treuherzig, »denn ich habe auch gelitten. Was Sie mir sagen – die Hand aufs Herz – soll mir heilig sein. Zürnen Sie mir nicht für dieses Ansinnen; weiß ich doch selbst kaum, was mich dazu berechtigt.«

»Ich zürne Ihnen nicht,« antwortete sie, »aber ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme.«

»So sagen Sie mir alles. Sie waren unglücklich verheiratet – daher kommt alles.«

Frau von Carsten nickte.

»War Ihr Mann Ihnen untreu?«

»Seine Treue war noch seine einzige gute Eigenschaft.«

»So hat er Sie mißhandelt ...?«

»Ärger als eine Küchenmagd. Da in meinem Schreibtisch liegen die Akten meiner Scheidung, wie er mich gewürgt und mit dem Säbel angegriffen hat und noch andres mehr, was ich gar nicht sagen kann.«

»Entsetzlich. Und weshalb?«

»Weshalb? Aus Verrücktheit, weil er betrunken war, oder sich ärgerte. Die Tür hat er mir eingetreten, wenn er nachts betrunken aus dem Kasino kam und ich mich vor ihm einschloß. Gezwungen hat er mich, halbe Nächte aufzusitzen, wenn er seine Winterarbeiten machen mußte. Meine Agathe hat er gequält, daß das Kind ihn anlachen sollte, denn sie hatte von jeher einen Widerwillen gegen ihn und schrie, wenn sie ihn nur sah. Stundenlang hat er sich mit ihr in sein Zimmer eingeschlossen, und ich stand draußen an der Tür in meiner Todesangst und horchte. Das Kind ist noch lange ganz blöde davon geblieben und auch jetzt noch ist es so menschenscheu!«

»Und diese Qual haben Sie so lange ertragen?«

»Was sollte ich tun? Sie wissen ja, was eine geschiedene Frau bedeutet, wenn sie auch zehnmal recht bekommt, sie ist doch immer im Unrecht ... Und ich war damals noch so blutjung, so unerfahren und unselbständig, und schämte mich, das alles einzugestehen. Ich war ja auch aufs Heiraten erzogen, wie unsre meisten jungen Mädchen, und wußte, daß ich mir mit der Scheidung das Rückgrat bräche und daß der Mensch mit dem Augenblick ganz unterginge ... Damals hatte er schon den schlichten Abschied bekommen, weil er einem Soldaten in der Wut den Arm zerbrochen hatte ... Dann ging er nach Südamerika; sein eigner Vater hoffte, er käme nie wieder, aber eines schönen Tages war er wieder da, angeblich, weil er das Klima nicht vertrug. Da hab' ich mich mit den Kindern geflüchtet und die Scheidung erzwungen.«

»Wollte er Sie denn nicht gutwillig freigeben?« fragte Brieg mit wachsender Teilnahme.

Frau von Carsten schüttelte wehmütig den Kopf. »Er hat es auf alle Weise zu hintertreiben versucht,« antwortete sie. »Er hat meine alte Minna mit Gewalt gezwungen, mir einen Absagebrief zu schreiben, hat den Wirt aufgestachelt, mir zu kündigen, die gemeinsten Lügen um mich verbreitet ... Er hat behauptet, meine Zeugen seien bestochen – alles, um mich zu isolieren und mich so oder so zurückzuzwingen ...« Frau von Carsten hatte aufgehört zu reden. Ihr Busen ging hoch vor innerer Erregung.

»Ich wünschte, ich wäre mit meinen schwachen Kräften einmal in der Lage, Ihnen zu helfen,« seufzte Brieg erschüttert und schwieg dann gleichfalls. Er war keines Wortes mehr mächtig. Aber in seinem Innern wogte es von Bewunderung für diese Frau und von Empörung gegen ihren Peiniger.

»Ich danke Ihnen für Ihr Mitgefühl,« schloß Frau von Carsten nach einer Weile, als das Schweigen ihr auffiel. »Aber lassen Sie uns jetzt etwas mit den andern reden; es sieht so sonderbar aus, wenn wir hier ganz allein sitzen ... Mein Gewissen ist rein, aber die Klatschsucht ist groß, und ich bin immer noch zu arglos. Ich hoffe, Sie werden diese Stunde in gutem Andenken behalten.«

»Im allerbesten,« versprach Brieg begeistert, indem er ihre Hand an seine Lippen zog, wie um sich zu verabschieden.

In diesem Augenblick erschien Frau Hüppe mit dem Hauptmann in der Tür. »Ah, so allein!« bemerkte sie spöttisch.

»Wir hatten etwas geplaudert,« lächelte Frau von Carsten.

Die Jugend war ebenfalls aufgestanden und Ehlert verabschiedete sich. »Gute Nacht, allergnädigste Frau,« sagte er zu Frau Hüppe. »Suchen Sie mich zu vergessen, ich werde es nie können. In acht Tagen gehe ich zur Schießübung.« Dann schüttelte er den jungen Mädchen die Hand. »I like skaking hands with pretty young ladies,« sagte er in seinem besten Englisch. »Wissen Sie übrigens, warum die Engländer so große Füße haben?«

»Oah, you are insolent!« fauchte die Miß.

»Ich will's Ihnen sagen, Miß Carrie: damit sie im Stehen sterben können. Die Anwesenden sind natürlich ausgenommen ...«

Damit verschwand er. Auch Brieg und der kleine Infanterieleutnant verabschiedeten sich, und der Hauptmann tauschte mit Frau Hüppe einen mannhaften Händedruck, als hätten sie ein Bündnis geschlossen.

Brieg war bereits die Treppe heruntergegangen und trennte sich von dem forschen Artilleristen, der zum Glück den entgegengesetzten Weg hatte. Er ging wie im Traume. Er hörte seine feinen Stahlsporen auf den Steinfliesen des Bürgersteigs klirren und die Laternen schimmerten aus dem Grün der blühenden Linden. Die ganze Luft hing voll von ihrem Duft. Zum erstenmal in seinem Leben hatte er einen Einblick in das tiefe Leid einer Frauenseele gewonnen, und sein eigner Schmerz kam ihm dagegen so beschämend klein, so eingebildet und gegenstandslos vor! Und doch hatte er sich über seine Lage nie so menschlich ausgesprochen! Er empfand diese Aussprache als eine seltne Gnade des Schicksals. Dem Reserveleutnant Werdeck hatte er ja auch manches gebeichtet, aber der Jurist schien ihm ein wenig zu trocken, um solche Gefühlswerte zu schätzen: darum hatte er sich ihm gegenüber auch mehr auf das Gegenständliche, die militärischen Institutionen beschränkt. Er erstaunte selbst, wie klar er diesen Abend über sich selbst geworden war, und daß er sich so unverhofft und so schnell mit einem Menschen verständigt hatte. Und plötzlich begriff er, daß er nicht mehr allein auf Erden war, daß er mit dieser unglücklichen Frau etwas gemein hatte: das Leid. Jedes ihrer Worte zitterte in seiner Seele nach: das war kein Ballgespräch unwissender Gänschen, die ihre fade Töchterpensionssentimentalität mit schnoddrigen, ihren Kavalieren abgelauschten Bemerkungen würzten. Und Frau von Carsten hatte ihn nicht verachtet, wie jene Ballgänschen oder seine Kameraden, weil er einen ernsteren Ton anschlug. In ihren Augen hatte er nichts als Teilnahme gelesen. Und es drängte ihn, mehr von ihr zu erfahren und ihr sein eignes Herz besser auszuschütten. Er freute sich, daß man seinem Vater zu dieser Pension geraten hatte; so würde er doch öfter Gelegenheit haben, sie ungezwungen zu sehen.


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