Friedrich von Oppeln-Bronikowski
Der Rebell
Friedrich von Oppeln-Bronikowski

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5.

Der Leutnant von Brieg hatte an diesem Morgen seine Rappstute geritten, die sich von dem nächtlichen Schaden zwar wieder erholt hatte, aber für diesmal zum Distanzritt verdorben war. Der Kommandeur hatte einen älteren Oberleutnant, der auf Reitschule gewesen war, mit der Ausführung des Rittes betraut, und Brieg war gar nicht so unglücklich darüber; seit einiger Zeit war ihm selbst die Reitpassion geschwunden. Er hatte Augenblicke, wo alles, was er tat, ihm so fremd vorkam, – und doch waren es die altbekannten Gesichter und Pferde, die er auch heute erblickte, als die Schwadron, die Lanze im Arm, durch den Hochsommermorgen über das Vorstadtpflaster klapperte; voran der Rittmeister von Treuenfels, ernster denn je, auf seiner großen Dunkelbraunen, neben ihm der Oberleutnant Freiherr von Birstein auf seinem mächtigen Goldfuchs und der kleine Graf Limburg auf seiner Falben mit der großen Blässe, den Glasaugen und der dicken, strähnigen, nach rechts gekämmten Mähne.

Brieg stand ganz gern bei seiner Schwadron und hätte das Manöver, wo die Offiziere doppelt aufeinander angewiesen sind, nirgends so gern mitgemacht wie bei der Vierten. Den Rittmeister verehrte er; er war weder ein Streber noch ein Ignorant, weder ein Leuteschinder nach ein Pferdeschoner, und wie er seine Offiziere einmal erkannt hatte, so blieb er auch gegen sie und hielt ihnen gegen die Grillen des Kommandeurs die Stange; und das war manchmal nicht leicht, zumal sein Oberleutnant, ein früherer Gardedragoner, ein Mann von bestem Willen, aber wenig praktischem Blick war, der sich in der Instruktionsstunde mehr bewährte als vor dem Zuge und in der Reitbahn. Es war oft rührend zu sehen, mit welcher Engelsgeduld er dessen Schwächen ertrug und zum Beispiel zum Mittelreiter des Richtungszuges, den der älteste Leutnant zu führen hatte, einen erprobten Gefreiten auf einem bombensicheren Pferd erkor, damit der Herr Zugführer nicht die Schwadron oder gar das ganze Regiment umschmiß, wenn er mit seinem Goldfuchs plötzlich vor dem rechten Flügel, statt vor der Mitte seines Zuges ritt. Aber schließlich gab es auch Fälle genug, wo ein gesunder Eingriff von oben nicht hinreichte, um die mangelnden Reitergaben des Freiherrn zu verdecken, zum Beispiel bei der Ausbildung der alten Remonten, deren Vorstellung im Frühjahr mit einem Fiasko abzuschließen pflegte, das letzten Endes nicht auf den Reitlehrer, sondern auf seinen Rittmeister zurückfiel. Auch als Herr von Brieg zum erstenmal fünfundfünfzig Rekruten vorstellte, fehlte es dem jungen Offizier noch zu sehr an Erfahrung, als daß die Besichtigung glatt abgelaufen wäre, und ein Hauptteil der Schuld fiel wieder auf den Rittmeister zurück, der aber zu vornehm dachte, um es ihn entgelten zu lassen; denn er wußte ja, daß der junge Offizier eher zu eifrig war als das Gegenteil. Dazu kam noch, daß er den Bureauscherzen und den ewigen Einmischungen des Obersten in die Behandlung der Pferde einen passiven Widerstand entgegensetzte und zum Beispiel ein Pferd ohne dessen Einwilligung hatte brennen lassen. Auch eine Quartalseingabe, die Herr von Rössing erfunden hatte: »Vorschläge zur Vereinfachung des Schreibwesens«, beantwortete er stets negativ; und doch hatte gerade diese Eingabe bei den höheren Stellen solchen Beifall gefunden, daß sie auf das ganze Armeekorps ausgedehnt wurde! »Das nächste Mal,« sagte er verdrossen zu dem Freiherrn von Birstein, mit dem er sich darüber gerade unterhielt, »schreibe ich: Abschaffung dieser Eingabe!«

Der Freiherr war ein mit Gott und der Welt zerfallener Mann, dessen Gardestern endgültig erloschen war, seit er zur Begleichung seiner Schulden eine reiche Jüdin geehelicht hatte, die nicht zu den ersten Finanzkreisen Berlins zählte. Die häuslichen Verhältnisse waren um so trauriger, als sie keine Kinder hatten; die Frau warf dem Manne vor, daß er sie ihres Geldes wegen geheiratet hätte, und der Mann ihr, daß sie ihm die Karriere verdürbe. Er ließ sich mit ihr auch nie in Gesellschaften blicken, zumal sie weder hübsch war, noch überhaupt gesellschaftlich auftreten konnte, und sie wachte haßerfüllt über alle seine Schritte, voller Mißtrauen, daß der schöne Offizier, den sie rasend geliebt hatte und den sie noch liebte, sich anderorts schadlos hielte. Außerdem hatte er als Soldat wenig Glück; seine guten akademischen Kenntnisse wogen den Mangel an Augenmaß und praktischem Blick nicht auf; er wurde um jener willen nur noch mit allerhand theoretischen Nebenaufgaben beglückt, ganz wie Herr von Brieg.

»Wissen sie schon das Neuste?« fragte er diesen jetzt, »Wir zwei sollen die Prüfungsarbeiten zur Reserveoffizierprüfung durchsehen. Man ist wirklich nur noch Schulmeister in Uniform! Wenn ich Kinder hätte, ich ließe sie lieber Briefträger oder Droschkenkutscher werden; da weiß man doch, was man ist ...«

Herr von Birstein war der einzige, den Brieg je so hatte reden hören. Die meisten, aktive wie pensionierte, schimpften zwar ebenso gotteslästerlich über ihren Beruf, aber diese einzig logische Schlußfolgerung zog außer ihm keiner; und wenn man sie fragte, was ihre Söhne werden sollten, so sagten sie: »Selbstverständlich Offizier!« Immer siegte das Standesvorurteil über die bösen persönlichen Erfahrungen.

Sogar der kleine Graf Limburg, der diese Brandreden des Oberleutnants kannte, hatte nur ein Lachen und ein paar Ulkworte dafür, obwohl er sonst einer der Vorurteilslosesten war und jedem sein Recht werden ließ, von ihm hatte der junge Herr dankbar gelernt, wie man Menschen behandelt und ihnen ein Vorbild ist, und die Ulanen hingen an ihm, nicht nur, weil er in ihrer groben Art mit ihnen scherzen konnte, sondern auch, weil er es ihnen in allen ritterlichen Künsten zuvortat. Er war das Muster eines flotten Reiteroffiziers und ein allgemein beliebter Kamerad. Natürlich war er auch stark in Frauenzimmergeschichten verwickelt, denn die Mädchen liefen dem schneidigen, kleinen Grafen buchstäblich ins Haus, aber er war dadurch doch nicht blasiert geworden, und er hatte eine Art, über den Schmutz wegzuhüpfen, ohne sich selbst zu beflecken, die ihm keiner nachmachte. Übrigens ging er in diesen Dingen nicht auf. Er war musikalisch, ein flinker Tänzer und ein glänzender Gesellschafter, der immer mit den meisten Kotillonorden bestirnt vom Balle kam, ein schneidiger Rennreiter, ein leidenschaftlicher Jäger – und bei alledem ein Mensch mit offenen Sinnen und warmem Herzen.

Nach seinem Vorbild hatte Brieg seinen Rekruten jede Übung am Reck und jede Lanzendeckung, das Springen über das Pferd und das Nehmen des Sprunggartens auf ungesatteltem Pferd selbst vorgemacht, ehe er es von ihnen verlangte, und auch ihm war dafür die Liebe und Hochachtung der Leute zuteil geworden. Er faßte sie manchmal nicht mit seidenen Handschuhen an, und bisweilen hatte auch die Reitpeitsche dem Verständnis eines besonders dummen Bauernjungen nachgeholfen, der bisher nur vor der Mistforke der Mutter Respekt gezeigt hatte; aber es hatte sich deswegen noch nie einer über ihn beschwert und er fühlte sich nie sicherer als vor dem Lanzenwall der Schwadron; mit ihm, das wußte er, würden seine Ulanen durch Dick und Dünn reiten.

Allmählich trabte die Schwadron der Schwimmstelle entgegen; der feuchte Wasserdunst schlug den Reitern schon entgegen, vergangnes Jahr war Brieg in voller Uniform ins Wasser geritten und hatte sich, als er den Grund verlor, an die Mähne geklammert und durch die silbernen Strudel hinüberziehen lassen. Dann, sobald die Hufe wieder Boden faßten, saß er mit einem Ruck im Sattel und kam triefend herausgeritten. Der Oberst, der mit dem Brigadekommandeur der Übung beiwohnte, hatte ihn wie ein grämlicher Schulmeister angeguckt, als hätte er einen leichtsinnigen Streich begangen; aber der General, der gern ein Husarenstücklein sah, hatte ihm freundlich zugenickt, als er mit seiner Patrouille pudelnaß forttrabte. Er hatte den jungen Offizier im Manöver schon mehrfach wegen guter Meldungen belobt; ja, einmal, als er mit seinem Stabe in einem Dorfwirtshaus saß und Brieg staubbedeckt mit einer Handvoll Reitern durch die Dorfstraße kam, hatte er ihn angerufen und ihm eigenhändig ein Glas Schaumwein zum Fenster hinaus kredenzt.

Dieses Jahr kam Brieg das alles so vergangen und abgetan vor, und er ließ sich, am Schwimmplatz angekommen, auf einem der mit Sätteln und Waffen schwerbepackten Faltboote übersetzen, während die Pferde rudelweise ins Wasser getrieben wurden. Einige wasserscheue band man an dieses und andre Boote fest, und spritzend patschten sie hinterdrein, um allmählich bis auf den Kopf zu versinken. Überall sah man prustend geblähte Nüstern; das kühle Wasser rauschte an den glatten Leibern vorbei, die schwer atmend und stöhnend sich durch die Strömung durcharbeiteten; dann tauchten sie wieder empor, entrannen dem kalten Bade und schüttelten sich wiehernd, während ihre zurückgebliebenen Numeralien ihnen vom andern Ufer antworteten. Einzelne begannen zu grasen und ließen sich nur mit Mühe fangen und satteln; andre rissen schon im Wasser aus oder trieben stromab, während ein paar gute Schwimmer, die sich entkleidet hatten, ihnen mit gewaltigen Schwimmstößen nachsetzten. »Daß mir keiner von euch ersäuft!« schrie der Wachtmeister vom Boot aus; »nachher hat man die ganze Schreiberei auf'm Hals!«

Ein Schützenschwarm hatte derweil schon die nächsten Büsche und Hohlwegränder mit dem Karabiner besetzt und Brieg saß in ihrem Schutze auf, um dem Feinde entgegen zu reiten. Er warf noch einen Blick zurück auf das bunte Vordergrundbild und den gewundenen Fluß mit den sanft geschwungenen Uferhügeln, der im Mittagszauber unter ihm zurückblieb. Ein feiner silbriger Duft, wie an einem verfrühten Herbsttage, lag auf der ganzen Landschaft, so daß sich der finstere Tann nur in zartblauen Tönen heraushob.

Bald hatte er mit seinen sechs Pferden die Uferhöhe erreicht und suchte mit seinem Glase den Horizont ab. Über die Bodenwellen zogen Baumreihen wie Truppen und ein gleichmäßiger Sommerwind strich über die Feldbreiten, die meist schon in gelblicher Stoppel dalagen; nur hier und da reifte noch ein Weizen- oder Haferfeld der Mahd entgegen. Die Pferde prusteten wohlig und griffen frisch aus; hin und wieder zuckten sie mit der Haut oder schlugen mit dem gestutzten Schweif und klappten mit den Ohren, um eine der lästigen Stechfliegen zu verscheuchen. Die wohltuende Elastizität der Bewegung, die sich dem Reiter mitteilt, und der weite, lichte Horizont wirkten auf Brieg stets beruhigend und klärend. In der Natur löste sich der ewige Krampf seines Wesens und er sah alles mit erlösten Augen an. Hin und wieder kamen Waldparzellen mit knorrigen Eichen oder rotschäftigen Föhren, Hohlwege mit Hagebuttensträuchern, und drunten im Grunde stach ein Dorf mit seinem Kirchturm und seinen roten Ziegeldächern aus einem Kranz grüner Gärten hervor, wie eine große Schüssel Krebse, mit Petersilie garniert. So hatten alle Dinge ihr besonderes Gepräge und wehrten sich stumm gegen die Willkür der Karte, die das Laubholz eirund und das Nadelholz dachförmig, jede Kirche als Kreuz und jedes Häuserquadrat als schraffierte Fläche angab.

Ihm deuchte, als hätte er einen besonderen Sinn, die Eigenart aller Dinge zu erfassen. Diese Straßenraine und Hohlwege, diese Dorfzeilen und Wiesengründe hatten für ihn jedes sein eigenes Antlitz. Er kannte nichts Schöneres, als mit der Feldmütze im Nacken im Grase zu liegen, ganz vergessend, wer und wo er war, und in den blauen Himmel hinauf zu schauen, wo die Schwalben sich jagten; er folgte den wandernden Gebirgen der Wolken und dem Flug eines Falters; er sah durch die Grashalme zu, wie eine Ameise sich mit einem riesigen Holzspan abmühte, oder betrachtete die Sandwellen auf dem Grunde des ockerbraunen Bachbetts ... Ja, er war ein Träumer und Dichter, der den Dingen ihr geheimes Leben ablauschte, dem die Formen und Farben im Grund über den Inhalt gingen. Er liebte seine deutsche Landschaft in ihrer versonnenen Anmut, ihrer herben Innigkeit; er meinte ihre Seele zu verstehen, und er war gern Soldat, solange er in ihr sich tummeln konnte. Das Bunte und Malerische seines Berufs, das der Natur zur Staffage bedarf, die kraftvolle Anmut der Pferde, die schillernde Romantik des Reitergefechts, das stolze Ungestüm einer Attacke, wo die Lanzen und Fangschnüre flogen, die Hufe und Säbel blitzten und die Trompeten Signale hineinschmetterten: das alles liebte er am Soldatenstand ... Aber beileibe nicht das, was die Kameraden daran liebten oder dadurch zu erstreben hofften, noch das, was sein Vater ihm aufzwingen wollte ...

Er sah sich als Fähnrich früh morgens übernächtig im trüben Schwadronstall, wie er als Berittführer das Putzen und Futtern überwachte, während der faulige Gestank der ausgemisteten Stände vor ihm aufwallte; und er gedachte der Heineschen Verse von dem Wunderland mit den großen, sprechenden Märchenblumen und den klingenden Quellen, das vor der Morgensonne zerfließt wie eitel Schaum ... Er sah sich als Leutnant früh morgens um sechs Uhr in der trüben Reitbahn frieren und die Pferde in dem frostigen Bahnstaub wie Gespenster an der Bande entlanghuschen – und in seinem Herzen lebte noch das Zauberbild des gestrigen Balles ...

Und der gleiche Träumer war er noch; im Grunde ehrte und liebte er nichts, als die Schönheit, was er sich auch jahrelang vorgelogen hatte! Der Tag mit seinen dringenden Ansprüchen, der sein Empfinden in Atome zerhackte, mochte ihn wohl von sich selbst abbringen; aber im Augenblick, wo er sich wiederfand, fiel das alles von ihm ab wie Spreu, und er wußte mit einem Male, daß er nicht zwei Herren dienen konnte ... wozu also seine Kräfte hier vergeuden und das tun, wozu er keinen innern Antrieb spürte, wo ihn doch keiner für voll nahm und alles, was ihm am Herzen lag, ihm in den Augen der Kameraden zum Spott gereichte? Nein, es war ein Wahnsinn, sich zu opfern, ein Wahnsinn, tausend fruchtbare Kräfte am Altar des Moloch hinzuschlachten. Der Patriotismus verlor für ihn seinen letzten Nimbus. Er malte sich den Gang einer Schlacht aus, er sah all dies junge, zukunftsreiche Leben nach ungeheuren Anstrengungen und Milliarden von Geldopfern verbluten, als wäre das Morden der Sinn und das Ziel des Lebens! Und wenn es noch wenigstens zu einem Kriege kam! Wenn man rüstete und dann losschlug, um vor Krieg und Kriegslasten einmal für fünfzig Jahre sicher zu sein. Ein Krieg als Mittel zum Frieden, um diese Reformen durchführen zu können: das schien ihm nach ein Kulturziel. Solch ein Krieg war immer noch ein Glück gegen diesen bewaffneten Frieden, der die Kriegsgefahr nur mehrte, diese Schraube ohne Ende, die dem Volke immer mehr Blut und Steuern abpreßte, ohne daß es wußte, wozu? Vom Thron herab wurde immer die Friedensschalmei geblasen und dabei rüstete man sich bis an die Zähne. Wozu ewig den Frieden im Munde und den Krieg im Blick?

Und wie eine Offenbarung ging es ihm auf, daß man in sich klar sein mußte und daß nur die Tat befreit! Daß es nicht genügt, zu nörgeln, sondern daß man auch die Folgerungen aus seinen Gedanken ziehen muß. Seine eignen Torheiten, die er begangen, erscheinen ihm jetzt als ein unklarer Drang nach Betätigung, als Sturmzeichen einer Wandlung, die sich ihres Ziels noch nicht bewußt war. Aber jetzt war es ihm aufgegangen wie eine Sonne, und das Leben erschien ihm auf einmal als ein großes Glück! Ein Leben voller Möglichkeiten, voller Hoffnungen! Ja, wie schön mußte es sein, seinen Instinkten zu folgen, im Einklang mit sich selbst zu leben! Wo alle Hemmungen ausgeschaltet waren: welche Schaffenskraft mußte da frei werden!

Sein Pferd wieherte plötzlich und er blickte auf. Ein paar Reiter mit grauleinenem Czapka-Überzug – also Feind – kamen ihm entgegen. Brieg winkte seinen Leuten und zog blank, um sie zu attackieren, und der kleine Reiterpulk fegte über den Sommerweg neben der Straße. »Schritt! Schritt!« schrie Herr von Schmitt ihm schon von weitem zu. »Stecken Sie Ihren Krötenspieß ein und sagen Sie mir lieber, wo stehen Sie und wieweit sind Sie mit dem Pferdeschwemmen? Wir sind im Vormarsch auf Kirchfeld; die Tete wird schon drin sein. Wollen uns die Sache doch vereinfachen und das gegenseitig zurückmelden ...«

Brieg zauderte kaum einen Augenblick. »Wozu das alles noch?« fragte er sich. Es kam ihm so unnütz und nichtssagend vor.

Dann trennten sich die beiden Patrouillen, um etwas rückwärts eine Beobachtungsstellung einzunehmen. Der Feind ließ nicht lange auf sich warten. In dicken Staubwolken trabten die drei Schwadronen allmählich heran, während die vierte zum Schutz der noch schwimmenden fünften sich ihnen entgegenwarf. In den Uferbergen kam es zur Attacke. Die Schützen, die im Buschwerk versteckt waren, unterstützten die Reiter und der Feind mußte weichen; dann brach noch ein Reiterzug zum Nachhauen vor. Die Übung endete wie gewöhnlich mit einer langen Kritik, worauf der Heimritt angetreten ward.

Briegs Gedanken schlugen auf ihm einen etwas nüchternen Gang ein. Er nahm sich vor, seinem Vater zu sagen, welcher Entschluß in ihm gereift sei; er sollte ihn freigeben und ihm sein mütterliches Erbteil auszahlen. Er war jetzt dreiundzwanzig Jahre und wollte sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Er wollte keine Unterstützung und auch kein Nein: er wollte Freiheit. Die Schulden, die ihm die Verhältnisse aufgezwungen hatten, wollte er aus dem Erlös für sein Pferd bezahlen, sie konnten kaum höher sein als die Verkaufssumme; und dann hatte er sich vorgenommen, Frau von Carsten aus ihrem Elend zu befreien, indem er ihr die dringendsten Schulden abnahm und sie instand setzte, ein neues Leben zu beginnen. Wenn er selbst Geld verdienen konnte, durfte er auch welches ausgeben, noch dazu für diese zu Tode gehetzte Frau, der niemand half, und der er soviel schuldete ...

Ihr festes und doch so frauliches Wesen wirkte auf ihn zugleich besänftigend und ermutigend. Der Gedanke, dieser Frau etwas zu gelten, machte ihn stolz und sicher gegen die Kameraden; er fühlte sich im Besitz einer geheimen Kraft, deren Quelle ihm keiner verschütten konnte. Er zählte die Kilometersteine, die ihn noch von ihr trennten, und der Anblick der Türme der Stadt, die aus der Niederung auftauchten und immer größer wurden, erfüllte ihn mit ungekannter Rührung. Er fragte sich, was sie wohl jetzt triebe, und als er durch die Straßen ritt, klopfte ihm das Herz an jeder Ecke, sie möchte ihm im Herumbiegen begegnen. Aber sie erschien nicht; nur das dicke Fräulein Schamroth mit den gläsernen Ohrringen watschelte in ihren Pelzschuhen daher, von ihrem Affenpintscher gefolgt. Doch auch dieses Zerrbild verklärte sich in seinen Augen wie vom Schein einer verborgenen Sonne: kam sie doch von ihr!

Im Kasino achtete niemand auf ihn. Da er sich seit seines Vaters Anwesenheit noch rarer machte als sonst, schien man ihn bereits vergessen zu haben. Herr von Meyring blickte nur flüchtig von der Rangliste auf, in deren Studium er sich vertieft hatte, und erwiderte seinen Gruß kaum. Auer las aus dem Annoncenteil einer illustrierten Zeitung vor: Heiratsgesuche, Broschüren über das Liebesleben der Menschen, Chiffrekorrespondenzen zwischen Liebespaaren und dergleichen mehr. Dann kamen die Familiennachrichten aus der »Kreuzzeitung« dran und schließlich der Polizeibericht aus dem Käseblättchen.

Das war der geistige Dunstkreis, in dem er es nun seit vier Jahren ausgehalten hatte! Er hatte sein Schicksal dumpf hingenommen, als wäre es ihm verhängt und es gäbe kein Entrinnen aus seinen Kreisen. Mumienhaft hatte er hingelebt, ohne zu wissen, was ihn noch weitertrieb, oder sich in allerhand Torheiten verzettelt, um seine innere Stimme zu betäuben, oder gar sich mit Selbstvorwürfen gepeinigt. Aber nun war Klarheit in ihm und er fühlte sich so glücklich darüber wie an einem Maitage, wenn der Flieder blühte und die Sonne alles mit Sicht überschüttete. Ja, selbst den Kameraden konnte er nicht mehr gram sein!

Er wollte eben das Kasino verlassen, als Graf Kinsky, der als ältester unverheirateter Rittmeister Kasinovorstand war und mit dem Sergeanten, über einen Papierstoß gebückt, eifrig rechnete, ihn anrief und ihn zeremoniös zu ein paar Worten ins Nebenzimmer bat.

»Hören sie mal!« sagte er hier, nach gewohnter Art die rechte Augenbraue runzelnd, »ich soll Ihnen vom Kommandeur bestellen, daß Sie endlich Ihre Kasinoschuld bezahlen. Sie ist jetzt auf achthundert Mark angeschwollen! Der Herr Oberst ist wütend über die hohe Summe und droht, Ihrem Herrn Vater zu schreiben, wenn Sie die Sache nicht innerhalb dreier Tage von selbst erledigen. Majestät hat erst vor kurzem einen neuen Erlaß gegen den Luxus der Offiziere gerichtet und namentlich das Schuldenmachen im Kasino streng untersagt; dieser Erlaß ist den Herren bekannt gegeben, damit sie sich nach ihm richten. Im übrigen muß ich als Kasinovorstand auf § 2 der Statuten aufmerksam machen, worin es dem unverheirateten Offizier vorgeschrieben ist, mindestens dreimal wöchentlich im Kasino zu speisen. Sie sind neuerdings sehr oft nicht erschienen; ich weiß, weshalb, und finde es durchaus verständlich; aber die Kasinovorschriften gehen vor und Sie machen nur böses Blut unter den Kameraden, wenn Sie sich so geflissentlich von ihnen fernhalten. Das ist es, was ich Ihnen zu sagen hatte.« Graf Kinsky machte eine höfliche Verbeugung, ließ seinen jüngeren Kameraden vorangehen und fragte, als sie das Kasino wieder betraten, verbindlich:

»Nun, wie gefällt es Ihrem Herrn Vater bei Frau von Carsten? Sie ist eine liebenswürdige Dame, nicht wahr?«

»Kennen Herr Graf sie?« fragte Brieg, sich halb umdrehend, voller Staunen über diese freundliche Gesinnung.

»O gewiß. Ich lernte sie bei ihrem Onkel, dem Herrn von Meins, kennen. Es ist traurig für die arme Frau, daß sie solches Unglück in ihrer Ehe hatte.«

Brieg hätte mit dem Grafen gern noch weiter über sie gesprochen, aber dieser brach die Unterhaltung mit feinem Lächeln ab und begab sich wieder an den Rechentisch.

Obwohl einer der reichsten Großgrundbesitzer Schlesiens, hielt er es nicht unter seiner Würde, die kleinsten Pflichten des Dienstes und Ritterstandes mit peinlicher Gewissenhaftigkeit zu erfüllen. Er war eigentlich zum Hofmann geboren und hatte unter dem alten Kurs auch eine Rolle bei Hofe gespielt; trotzdem trug er diese Verbannung in ein Provinzialkavallerieregiment mit Grandezza, als ob er sich nie etwas Höheres ersehnt hätte. Brieg hatte stets eine besondere Sympathie für ihn empfunden, und der weltmännische Blick des Grafen sah in dem begabten, jungen Offizier anscheinend auch mehr als das stumpfe Auge seiner Kameraden. Wie einfach und bescheiden war doch die Vornehmheit des Grafen im Vergleich zu dem geschwollenen, unfreien Dünkel eines Althoff; seine Ulanen durften ihn im Dienst nie anders als »Herr Rittmeister« nennen (statt »Herr Graf«), und gegen jedermann war er leutselig, ohne sich je etwas zu vergeben. Wie fein hatte er ihm selbst erst eben die Beschämung erspart, mit betretenem Gesicht von der geheimen Zwiesprache zurückzukommen; es sah eher aus, als hätten die beiden Herren sich etwas Scherzhaftes mitgeteilt...

Scherzhaft erschien es Herrn von Brieg allerdings auch, daß man ihm einerseits verbot, Kasinoschulden zu machen, und ihn andrerseits zwang, im Kasino zu essen und Wein zu trinken! – Und dazu dann noch die Vorwürfe seines Vaters, er kümmerte sich nicht um ihn, und die Rücksicht, die er Marie schuldete, – kurz, er wußte nicht mehr, wo ihm der Kopf stand! Nein, er wollte diesem Zwitterzustand ein Ende machen, je eher, je lieber. Er wollte nicht um seiner knappen Zulage willen seinem Vater das Opfer seiner Persönlichkeit bringen und den Kameraden ein katzenfreundliches Gesicht machen: ihm kam das alles heute so lächerlich vor.

»Roten Kragen, nix im Magen,
Goldne Treffen, nix zu fressen,«

summte er vor sich hin, wie die Potsdamer Gassenjungen, wenn sie den Kadetten nachliefen.

Die einzige Beklemmung bereitete ihm der Gedanke an Marie. Da er entschlossen war, Beruf und Wohnort zu wechseln, so war das Abbrechen ihrer Beziehungen ja eigentlich selbstverständlich. Er hatte ihr noch ein- oder zweimal geschrieben und sein Bedauern ausgedrückt, daß sein Vater ihn ganz mit Beschlag belegte, aber selbst diese Briefe waren merkwürdig kühl ausgefallen und zwischen jeder Zeile war ihm das Bild Frau von Carstens vor Augen getreten; er wußte eigentlich nicht warum; betrog er doch niemanden, wenn er neben einem neuen Freundschaftsbund ein altes Liebesverhältnis bestehen ließ. Andrerseits hatte er nicht das Herz wie seine Kameraden, Marie ohne weiteres den Laufpaß zu geben. Sie wußte zwar, daß es eines Tages so kommen müßte; er hatte ihr nie ein Hehl daraus gemacht, daß er sie nicht heiraten könnte, und die Perspektive, an eine kleine Näherin für sein ganzes Leben gekettet zu sein, erschien ihm jetzt doppelt unerträglich. Ein Gedanke an Frau von Carsten sagte ihm, welcher Art eine Frau sein müsse, die er sich zur Lebensgefährtin erkor – und doch setzte ihn Maries Zukunft in Sorge. Er konnte sich nicht sagen: wenn ich sie nicht verführt hatte, so wäre es ein andrer gewesen; denn eben dieser andre wäre einem so anständigen Mädchen nicht leicht begegnet. Das hatte sich neulich erst wieder gezeigt, als sie ihrem jüdischen Prinzipal, der sich Ungebührliches herausgenommen hatte, den Dienst aufkündigte ... Aber wenn sie nun ins Unglück geriet? Das Andenken der unglücklichen Emmy beunruhigte ihn in seinem Gewissen ... Immerhin war es ein Trost für ihn, daß sie mit ihren geschickten Fingern nie auf Sündenlohn angewiesen war, und daß sie sich mit Glück selbständig gemacht, ja sogar, wie sie ihm stolz geschrieben hatte, schon ein Lehrmädchen angenommen hatte, um die einlaufenden Bestellungen zu bewältigen ... Sie würde also mit aller Wahrscheinlichkeit vorwärts kommen! Trotzdem blieb es ein Unrecht, sie zu verlassen. Sie konnte irgend etwas verzweifeltes tun und ihr Blut kam über ihn und seine Zukunft ... Und mit bittrer Wehmut erkannte er, daß er seine Ketten nicht brechen konnte, ohne ungerecht zu sein.

Einstweilen entschloß er sich, sie heute abend noch einmal zu sehen und das weitere dem Zufall zu überlassen.

Auch über das, was ihn selbst betraf, war er sich noch im unklaren. Sein allgemeiner Plan stand ja fest, aber wie er am besten in die Wirklichkeit zu übersetzen war, darüber war er sich noch keineswegs schlüssig. Das Manöver hätte er ja wohl noch mitmachen mögen, aber der Gedanke der Heimkehr in die Winterquartiere, die Entlassung der Reservisten, die, den Reservistenstock schwingend, in die Freiheit zurückkehrten, die Neuausbildung der frisch vom Pflug und von der Werkstatt kommenden Rekruten, die wieder mit den ersten Anfangsgründen beginnen mußten, der bleifarbene Herbsthimmel mit seinen Regengüssen, die den Reitplatz in einen spritzenden Morast verwandeln, das welke Laub, das matt an den Ästen hing oder durch Straßen und Plätze umhertrieb, diese ganze Melancholie des Zuendegehens und Neuanfangens, die nur durch ein paar bunte Parforcejagden belebt ward, und dann den langen, rauhen Winter mit seinem kalten Bahnstaub und seiner Kasernenluft, seinem gesellschaftlichen Strohdreschen und seinen langen, langweiligen Kasinoabenden: das alles wollte er nicht noch einmal ertragen.

Am liebsten wäre er nach dem Manöver auf Urlaub gegangen, um sich in einer größeren Stadt, etwa in Berlin, nach einem neuen Beruf umzusehen; denn in dieser Sphäre, das fühlte er, bei den gebieterischen Pflichten des Alltags und der Bevormundung seines Vaters, konnte er keine Entschlüsse fassen. Er begnügte sich also einstweilen damit, an ein Berliner Auskunftsbureau, dessen Namen er in einer Annonce gelesen hatte, feine glänzenden Zeugnisse und einen kurzen Lebenslauf einzusenden, in dem er seine literarischen Neigungen hervorhob. In seinem Begleitschreiben bat er um Auskunft, welche Berufe ihm unter seinen Bildungs- und Vermögensverhältnissen freistünden.


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