Balder Olden
Das Herz mit einem Traum genährt
Balder Olden

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierzehntes Kapitel

Es war spät, im Biedermeierzimmer spielte ganz leise das Grammophon, Camillo und Cilli übten feierlich und schön die Schritte eines neuen Tango. Sie verbesserten sich manchmal, warteten ein paar Takte ab und taten eine mißglückte Wendung zum zweitenmal. Es war eine ernste Kunstübung mehr als Tanz.

Praxmarer lag mit halbgeschlossenen Augen auf dem Lotterbett, wollte nicht aufbrechen, weil Camillo glauben könnte, er solle gehen, trank langsam vom roten, Träume beschwingenden Terlaner und tat seinen Dienst, wenn eine Grammophonplatte abgelaufen war. Weit offen standen die Fenster, nach diesem glutheißen Sommertag atmete man die Nacht mit allen Poren.

So gut war diese Nacht, so gut der Sommer! Im Halbtraum ging Praxmarer jetzt seine Felder ab, streifte durch Beete und Ställe, – das war ein Weg, der immer glücklich machte. So viel war schon 206 getan, aus Schmutz und Verfall hob sich der Hof und wurde neu, seit Caspari ihn mit der kalten Verwünschung im Blick verlassen hatte. »Es ist vielleicht kein Abschied für immer«, hatte er unten im Dorf gesagt. Daß ein Laie als Bauer verloren war, daß die Scholle ihm feindselig den Lohn für jede Mühe weigert, wußte er ja aus eigener Erfahrung; von Praxmarer, der ihm wie ein verliebter Narr den Hof weit überzahlt hatte, ohne an Handeln zu denken, wußte man schon beim Kauf, daß er Laie war. An diesem tückischen Wuchererblick war man vorbei. Praxmarer hatte blutiges Lehrgeld bezahlt, jetzt aber stand der Feldberghof auf soliden Füßen, obwohl noch so viel hier zu schaffen blieb, daß alles Geschaffene daneben fast gering war. Praxmarer träumte von seinem Hof, wenn er nicht tätig war, dichtete an ihm, wenn er nicht knetete.

Kein Kuhkalb wird mehr verkauft, überlegte er und dachte wehmütig an zehn Kuhkälber, die schon zum Metzger gegangen waren. Er sah statt der zwanzig Schwarzen ihrer vierzig, in einem vergrößerten Stall, von Gesundheit dampfen und wiederkäuen. Eine elektrische Melkeinrichtung war bald erschwinglich; hatte er sie, dann konnte dasselbe Personal, das heut nur zwanzig Kühe pflegte, die doppelte Zahl sauber und satt halten. Zwischen Schweinepark und Waldrand lag eine tiefe Mulde, die nach Regenfällen zum Teich wurde, nicht weit davon hatte der 207 Rutengänger eine Quelle vermutet. Wenn diese Mulde betoniert, die Quelle gefaßt und dorthin geleitet wird, kann man Enten und Gänse halten. Enten und Gänse, das ist eine andere Konjunktur als Hühner! Frische, riesige Enteneier, wenn unten die Sommergäste alle Häuser füllten! . . . Aber vor allem diente die Mulde als Stauwasser für die Gärtnerei, die er dann kühn über die große Wiese bis zum südlichen Waldkranz dehnte. Heu kaufen und Artischocken verkaufen, so ging der Weg! Wenn selbst im trockensten Sommer das Wasser nicht ausgehn konnte, – mit dem Gärtner Kavalirek hatte er seinen besten Griff getan – ließ sich eine Gemüseplantage schaffen, die ganz Echtach versorgte. Er machte Programm für Jahrzehnte immer neuer, immer schönerer Arbeit. Mähmaschinen, Brutofen, Heu-Silo, elektrische Gartenbeete, Trockendunganlage statt des mittelalterlichen Misthaufens, elektrisch durchheizte Gartenbeete.

Der Bauer Praxmarer lächelte vor sich hin, wie ein Glücklicher im Schlaf lächelt: er hatte das Geld ausschalten wollen hier oben, hatte Brust an Brust mit der Natur ein Tauschen zwischen Schweiß und Frucht erhofft. Recht hatten Knudsen und Caspari gehabt, ihn dafür zu verspotten. Nein. Geld, Zahlenkolonnen, Bücher, die von Ordnung glänzten, – das war die Basis, dort ruht das Auge des Herrn, wenn die Kühe satt werden sollen. 208

Er hatte plötzlich Sehnsucht nach seinen Kühen, Pferden, Schweinen, nach den vielen Glühlampen, die er im Hof und in den Stall gelegt; wenn er zehnmal im Tag und in der Nacht seinen Besitz abschritt, jeder Gang brachte eine neue landwirtschaftliche Erkenntnis.

»Seid mir nicht bös, ich schau nur nach den Allgäuern.«

Cilli lächelte aus ihren schweren rhythmischen Exerzitien:

»Grüß sie schön von mir, besonders die Cilli-Kuh.«

Draußen – das hatten sie gar nicht gewußt – lag eine Vollmondnacht über dem verzauberten See. Bis Johannes am Stein, wo er Cilli gefunden, und weiter, bis Annegrab, ließ der Mond seine schmale Silberbrücke über eine Perlmutterfläche gleiten. Die Woergelkette war illuminiert, ihre Zacken glasklar im tiefblauen Himmel, das Gletscherfeld hatte sich bläulich gekleidet. Man sah wie bei Tag, hätte wie unter Mitternachtssonne einen Brief lesen können. Aber es gab nirgends auf Erden einen Menschen, der Praxmarer andere als Geschäftsbriefe schrieb.

Im Astralschimmer dieser Nacht war gar kein Leben, kein Uhu, keine Fledermaus, kein Gesang. Nur gedämpft der Tango im Rücken, außer den Tänzern schien kein Mensch und schien kein Tier zu wachen. Praxmarers Herz ganz allein vernahm das große Pathos dieser Nacht. 209

Zwei Alpenzüge, die Woergelkette und die Niedern Zinken, schlossen spitzwinklig das Toblacher Tal ein, riesige Schutzwände nach Norden, Westen, Osten. Das war, als hätte ein genialer Baumeister alles erdacht, ein phantastischer Künstler diesen großen See mit zierlich gewundenen Ufern in die fruchtbare Ebene gebreitet, eine Landschaft zu bauen, ohnegleichen auf der ganzen Erde. Hier war Praxmarers gelobtes Land, Ruhe, Reichtum, unerhörte Schönheit!

Jetzt schlug die Kirchenuhr von Echtach mit guter Stimme herauf, ein Glöckchen von Tutznach am Berg gab Antwort, es wurde Mitternacht. Praxmarer wandte sich um, Cilli und Camillo sollten eine Brustvoll dieser Sommernacht trinken, ihre Augen, solang die Glocke schlug, mit diesem Astrallicht füllen.

Im offenen Fenster standen sie beide, groß, wohlgetan an Wuchs und Antlitz, in leichten, schönen Kleidern, und begleiteten mit den Schultern in langsamer Bewegung die letzten Takte der Musik. Das war, in dieser Stunde, wie ein schöner, heidnischer Gottesdienst. Draußen die Nacht im vollen Mond, davor zwei feierliche Tempeltänzer.

Jetzt verstummte die Musik, ganz im Profil stand Kopf an Kopf, so scharf beleuchtet, daß man Camillos müde Traurigkeit und Cillis ewigen Herzensdurst von ihren Lippen, ihren Stirnen las. Kein drittes 210 Gesicht auf Erden kannte Praxmarer wie diese beiden: das war der schöne Männerkopf, den er an Niëves' Krankenbett auf Trost durchforscht hatte. Das war der schöne Mädchenkopf, der ihm Trost gebracht, als er sich weiß gegrämt hatte. Camillos Kopf beugte sich wie in schmerzlicher Ueberwindung zurück, aber das blühende Gesicht der jungen Frau folgte ihm nach, sie küßten, trennten sich, dann, als sein Mund vor Gram fast krank schien, war Cilli nicht mehr in dem offenen Fenster. Sie mochte vor ihm knien, er beugte sich herab, sie mochte ihm die Knie küssen, da verschwand auch er.

Praxmarer kehrte zurück an den Rand seines Rosengartens, trat in den Schatten der Ligustersträuche. Noch immer schlug die Kirchenuhr, hatte ihre zwölf Schläge noch nicht zu Ende getan.

Als das Mondlicht verblaßt war, kam Ernst zurück; Camillo und Cilli hatten keine Musik mehr, sie saßen in den weichen Sesseln, volle Gläser mit rotem Wein standen vor ihnen. Es war, als hätten sie in diesen alten Sesseln aus großer Tiroler Zeit geschlafen, so müde und verstummt lag es im Zimmer. Wie lang Ernst fort gewesen, ahnten sie kaum. Sie winkten ihm nur mit den Augen, er möchte sich zu ihnen setzen.

Praxmarer tat es, starrte in eine Ecke, trank ein volles Glas leer, fragte, ob es nichts zu essen gäbe. Unberührt stand nicht weit eine Platte mit guten, 211 kalten Bissen. Die beiden hatten keinen Hunger gefühlt, jetzt reichte Cilli die Platte herum.

Den Blick immer noch in seine Ecke gerichtet, sprach Ernst, heiser, als sei er erkältet:

»Wenn ihr euch küssen wollt, braucht ihr nicht zu lauern, bis ich den Rücken kehre. Aber dann braucht ihr's auch nicht scharf beleuchtet zu tun, im offenen Fenster.«

Die große Platte glitt aus Cillis Händen, Ernst wollte sie fangen, griff vorbei, da klirrten auch Flaschen und Gläser zu Boden, und über den Teppich, über geschälte Eier und Brötchen mit kaltem Braten, floß dunkel der Terlaner. Cilli schlug die Hände vors Gesicht, beugte sich vor wie eine Sünderin. Camillos Gesicht wurde Stein, er hatte nicht gewußt, was er getan. Praxmarer sagte nur: »Wir wollen doch noch etwas trinken« und ging, ein müder Bauer, in den Keller. Als er zurückkam, weinten beide. Er setzte sich nieder, goß ein; mit schwerem Ruck kam Ayala in die Höhe, warf sich vor ihm in die Knie.

»Es wäre mir auch sonst nichts übriggeblieben, als mich zu töten, Ernesto. Du kannst nicht wissen, wie verloren ich bin. Du hast uns geholfen, aber zu retten waren wir nicht. Du wirst mir verzeihen, wenn ich's getan hab.«

Er sprach spanisch. Seltsam, als kehrte auch er 212 sieben Jahre weit zurück ins Vergangene, sprach er spanisch . . .

Praxmarer sah an dem vor ihm knienden Mann mit Unbehagen vorbei. »So macht man das in Spanien«, dachte er. »Häßlich . . .«

Cilli fand mitten im Schluchzen Fassung und ihre klare Stimme:

»Ich weiß, daß er morgen sterben geht, wenn du nicht hilfst, Ernst! Aber du sollst wissen, daß ich dann auch nicht länger leben bleib.«

Praxmarer schien plötzlich zu bemerken, daß sie da war.

»Misch dich nicht drein«, sagte er, da fuhr sie auf wie eine verwundete Katze. In dieser Stellung erstarrten sie alle drei.

Ueber die hölzernen Stufen, die vom Rosengarten zur Veranda und ins Haus führten, kamen harte, schnelle Schritte. Eine Tür zur Veranda knarrte, die Praxmarer offen gelassen, die Zimmertür sprang heftig auf, ohne daß geklopft wurde. Felicitas blieb auf der Schwelle stehen, die Hände auf dem Rücken. Sie war vier Stunden lang, hungrig und keuchend, durch die Nacht marschiert, erst im Vollmondlicht, dann den Feldberg hinauf durch tiefes Dunkel tastend. Jetzt sah sie Camillo auf Knien vor Praxmarer. Praxmarers Gesicht vereist, Cillis drohend erhobene Hände, auf dem Teppich Scherben und eine rote 213 Flut. Sie sah mit einem Blick, was vorgegangen, und rief:

»Da!«

Ihre rechte Hand kam hervor, zwei Schüsse krachten, Kalk rieselte, Glas klirrte von den Wänden; sie wollte das ganze Magazin leerfeuern, aber vor dem dritten Knall fiel sie selbst zu Boden, steif wie Holz. Ihr Schädel dröhnte auf die Bohlen, das Treppenhaus gab dumpf ein Echo.

 

Bromschwer lag Felicitas auf dem schmalen Bett des Fremdenzimmers, nasse Tücher um Kopf und Pulse. Sie schlief noch immer nicht, sie war stolz, aber abgekämpft wie nach einer Liebesnacht.

»Diesmal hab ich nur geschossen. Das nächstemal treff ich!«

Im Nebenzimmer, Praxmarers Arbeitszimmer, wachte Camillo. Sie rief ihn streng. »Ich will nicht sprechen von dem, was geschehen ist. Nur eins: Praxmarer wird dich fordern?«

»Ich hoffe es.«

»Dann wirst du dich hinstellen wie eine Scheibe und deinen Kindern den Vater totschießen lassen?«

»Ja.«

»Laß mich allein, du Schuft!«

 

Bromschwer lag Cilli im riesigen, altfranzösischen Ehebett unter damastenem Himmel, nasse Tücher 214 um Stirn und Pulse. Im Badezimmer nebenan ließ Praxmarer die Wanne vollrauschen, nahm ein Dauerbad, heiß, kalt, heiß, kalt, es nahm kein Ende. Cilli kämpfte mit dem Schlaf, sie wollte noch sprechen.

»Endlich kommst du!«

Er war im Pyjama, einen Bademantel darüber, hatte eine Zigarette im Mund. Er war bleicher als sonst und noch ruhiger. Glassplitter hatten ihm die Stirn verletzt, dort glänzte ein roter Jodfleck, er war als einzig Verwundeter aus dem Feuerangriff hervorgegangen.

Jetzt saß er auf dem Bettrand, kramte seine Abendlektüre: »Das Problem zeitgemäßer Aufstallung der Kühe« von Professor Mittler, das »Wochenblatt des Tiroler Landwirts«, Zigaretten und Streichhölzer zusammen, nahm ein Kopfkissen unter den Arm und wollte gehen.

»Es ist besser, ich schlaf heut auf dem Diwan, Cilli. Gute Nacht.«

Sie schleuderte die nassen Tücher von sich.

»Du bist rachsüchtig, du behandelst mich schlecht.«

»Ich bin nur müd.«

»Nicht ein Wort gönnst du mir. Und es ist doch ein Wunder, daß ich am Leben bin, am Ohr vorbei hat mir die Kugel gepfiffen.«

»Du sollst jetzt schlafen, Cilli. Morgen sieht das ganz anders aus, wahrscheinlich etwas lächerlich.« 215

»Gut, Ernst, diese Schießerei wird lächerlich aussehn, Felicitas ist eine hysterische Person, die gar nicht treffen wollte. Sie hatte solche Angst vor dem Revolver, daß sie sich naß gemacht hat, glaub ich. Aber davon will ich doch nicht sprechen.

Von ihm, von ihm will ich sprechen! Von ihm, der morgen wirklich den Revolver in die Hand nimmt, der nur mit einem Faden noch am Leben hängt, weil er ausgesaugt ist wie eine Fliege im Spinnennetz.«

»Auch davon wollen wir erst morgen sprechen. Gute Nacht.«

Cilli wand sich vor Angst, daß er gehen könnte. Sie schluchzte auf:

»Dann wollen wir von mir sprechen, drei Minuten deiner Nachtruhe opferst du mir, ich flehe darum!« Sie trank Wasser, trocknete die Augen, saß aufrecht und klar im Bett.

»Ich hab mir jedes Wort zurechtgelegt, das ich sprechen muß, Ernsterl, schon tagelang, wochenlang. Es ist meine Feigheit, daß ich nicht früher damit heraus bin, das verzeih mir, wenn du kannst. Sonst wäre dieser Abend nicht so schrecklich geworden. Ich wollte alles anständig und so schonend machen, wie es nur möglich ist, damit du später ohne große Bitterkeit an mich denkst.«

»Daß du ihn liebst, hätte ich längst wissen müssen. Jetzt weiß ich's eben.«

»Ernsterl, es ist so grausam, das zu sagen: ja, ja, 216 ich weiß jetzt erst, was Liebe ist. Vor dir will ich immer auf Knien liegen, aber fort muß ich, denn deine Güte ertrag ich nicht mehr. Ich hab sie nie verdient, aber jetzt zerdrückt sie mich. Ja, ja, ja, ich liebe ihn, ich hab ihn gesucht, wie ich zum Theater und wie ich ins Kloster gegangen bin, ich hab ihn geliebt, wie ich das Aennchen von Tharau empfangen und getragen hab, ich denke an ihn, sogar wenn du bei mir bist. Wenn ich die Augen zumach, liebe ich ihn und sehe ich ihn, und alles, alles war nur Umweg zu ihm. Du bist ja so weise und so überlegen, Ernsterl! Du weißt, warum ich dir kein Kind hab schenken wollen, obwohl du's gewünscht hast und ich mir vorkam wie eine undankbare Kanaille. Gott sei Dank, daß du alles verstehst. Es wäre Lüge gewesen, ein Kind von dir, es hätte ausgesehen wie Camillo, seine Augen und sein trauriger Mund, und du hättest mich gehaßt. Ich hab dich nie betrogen, Ernst, der Kuß, den du gesehen hast, war unser erster Kuß, und wenn du es befiehlst, dann bleibt es der letzte, und wir gehen beide zugrund. Ich liebe ihn, ich liebe ihn so irrsinnig, mit jedem Gedanken und mit jeder Faser. Uns trennen, heißt mich zerschneiden, ich hab ihn geträumt, wie ich noch ein Kind war, ich hab ihn gespürt, so oft ich entflammt war, und wenn ich dir meine Liebe gesagt hab, dann war's ein Irrtum. Ich hab's nicht gewußt, ich hab nicht gelogen, aber alle heißen Worte haben ihm 217 gegolten. Wenn ich vorm Kreuz gekniet hab, hab ich vor ihm gekniet, und wenn ich deine Hand geküßt hab, hab ich seine Hände geküßt.«

Praxmarer rauchte, lauter irrsinnig fremde Dinge fielen ihm ein, die er nicht los wurde. Es kostete Mühe, nicht plötzlich zu sagen:

»Die Mittlersche Aufstallung hat alles für sich«. Oder: »Bei uns geht sinnlos viel Jauche verloren, Jeder Liter Jauche ist einen Goldheller wert«.

Was heute nacht geschah, würde Praxmarer noch lang nicht fassen. Die harten Schläge seines Lebens trafen ihn viel später, als sie ihn zeichneten, aber sie brannten sich ein. Er war der einzige, der kein Schlafmittel bekommen hatte, das wollte er nachholen, sonst wußte er nichts. Die erste Spritze, seit Ayala ihn vom Morphium geheilt, die sollte heut gut tun.

»Jetzt weiß ich alles, Cilli. Gute . . .«

»Noch nicht alles. Bleib nur eine Sekunde, wenn ich doch bitte, du bist mein Vater, mein angebeteter Vater, ich kann nicht schlafen, ehe du alles weißt. Für jeden Menschen gibt es die eine Erfüllung, die er suchen muß, mit jedem Opfer suchen, und wenn er sie findet, muß er tapfer sein. Das ist mir Camillo, das bin ich Camillo, ich ihm, er mir. Weißt du, was er gelitten hat, sieben Jahre, sieben Jahre lang jede Stunde mit einer Frau, die ihm entsetzlich ist, jede Nacht mit ihr, jede Mahlzeit mit ihr, jedes Wort 218 in ihrer Gegenwart? Nur ein ganz großer Mensch kann so leiden, wie er gelitten hat, ohne schlecht zu werden. Nur durch mich kann er befreit werden. Jetzt wird er wieder Arzt, wir gehen nach Spanien oder Argentinien zusammen, ich bin nicht eifersüchtig, ich laß ihn gern zu den kranken Frauen, gönne ihm die gesunden auch, ich spiele nicht an der Roulette gegen ihn. Frei und unabhängig soll er sein. Du mußt dich um Felicitas und um die Kinder kümmern. Ein ganz klein wenig hast du auch gesündigt, das kannst du gutmachen.«

»Weil ich Graukopf dich liebgehabt hab? 2. 2.«

»Nein, Ernst, sei ehrlich, sei vor dir selbst kein Heuchler. Heute nacht ist die Nacht der Wahrheit, einmal müssen wir tapfer sein. Ernst, du hast mich nie im Arm gehalten, sondern Niëves, du hast mich wach geküßt, denn ich war ein Kind, wenn auch ein schwangeres Kind, aber eigentlich hast du dir Niëves lebendig geküßt, hast sie aus ihrem armen Grab heraus in dein breites, warmes Bett genommen.«

»Glaubst du?«

»Jetzt kannst du gehn, Ernst, nimm Morphium, einmal schadet's nichts, trink Wein, soviel du magst. Jetzt kommen die Mädchen die Treppe herunter, ich werde sagen, daß sie dich und Felicitas nicht stören. Sobald du unten die Tür zumachst, läute ich, und dann wollen wir schlafen, denn morgen brauchen wir alle Kraft. Oder soll ich dir erst ein 219 Frühstück bestellen, Ernst? Solang ich hier im Haus bin, will ich dir eine treue Dienerin sein.«

»Ja, bitte. Kaffee, Eier, Schinken, Morphium, gute Nacht!«

 

Als Praxmarer ins Biedermeierzimmer kam, hatte das Mädchen die Spuren einer vermeintlichen Orgie schon fortgeräumt. Es roch säuerlich von verschüttetem Wein, sonst war alles verweht. Aber er saß kaum und wartete auf heißen Kaffee, der alles klarer machen würde, als Camillo klopfte, groß und beherrscht hereinkam.

»Verzeihst du mir, wenn ich dich heut noch störe?«

»Es ist mir lieb, du hast mein Morphium behalten, ich hätte dich sonst noch bitten müssen.«

»Ich behalte es auch weiter, ich bin Arzt und . . . Aber eine Spritze will ich selbst dir geben.«

Er hatte die Spritze, Alkohol und Watte bei sich, aber erst kam das gute, kräftige Frühstück.

»Felicitas will wissen, ob du dich mit mir schlagen willst. Ich bin zu deiner Verfügung, übers Taschentuch, wenn du befiehlst. Ich kann keine Rücksicht auf meine Kinder nehmen, und sie verlieren auch nicht viel.«

»Täte man das unter Basken?«

»Unbedingt.«

»Ich bin aber kein baskischer Caballero, sondern Eisenbahningenieur aus Emmendingen im 220 Schwarzwald und jetzt ein Bauer. Solchen Blödsinn versteh ich nicht.«

»Man duelliert sich auch bei euch . . .«

»Ja, als drittes Semester kratzt man sich mit langen Messern die Gesichter kaputt. Aber auch das hab ich nur einmal mitgemacht.«

»Dann ist es also nichts . . .«, sagte Camillo in bitterem Ton. »Dann bleibt nur das andere.«

Als Praxmarer nach dem anderen nicht fragte, sondern aß und trank, stand Camillo auf.

»Gib mir noch einmal die Hand, wenn du kannst, und muchas gracias in aeternitate. Du hast uns unendlich viel Gutes erwiesen. Laß es Cilli nicht entgelten, daß sie mich . . .«

»Ja, seid ihr wahnsinnig, bist du auch gestört, Ayala? Zum Nachtessen Mord, zum Frühstück Selbstmord, bin ich im Irrenhaus?«

»Du begreifst also nicht? . .«

»Ich begreife das: Cilli ist eine schöne, blühende Frau von neunzehn Jahren und liebt dich. Du bist neun Jahre jünger als ich und liebst sie. Wo da ein Grund zum Selbstmord steckt, herrgottnochmal, das möcht ich wissen. Gratulieren tu ich dir, du machst dich frei und fängst wieder an und schaffst was und dankst Gott, daß dies Luderleben mit lauter Zirkuskünsten ein Ende hat. Wenn du ein Kerle wärst, hättest du keine Cilli gebraucht, sei endlich ein Kerle. Da, iß und trink, damit du was wirst.« 221

»Du gibst sie frei?«

»Die Bauern hier machen die Viecherei, daß sie Eulen lebendig an die Stalltür nageln, das soll Glück bringen. Aber ich bin ein aufgeklärter Bauer, daß du's weißt. Ich duelliere mich nicht und mach keinen Weiberzwinger aus meinem Haus, ich denk an meine Jauchengrube, die muß erweitert und zementiert werden, darauf kommt's an. Das ist das Unglück vom ganzen Feldberg, bis zu hundert Stück Säue haben wir manchmal, fünfundzwanzig Stück Großvieh und keine zehn Tonnen Jauche im ganzen Jahr.«

 

Gegen Abend hatten alle ausgeschlafen. Die Sonne stand tief, aber sie brannte noch, ein Sommertag ist lang. Es war ihnen wie Kindern, die sich gerauft haben, jetzt wollten sie brav und vernünftig sein. So zogen sie steifbeinig über die Halde zum Wald hinauf, sahen wie Touristen gedankenvoll ins Gletscherfeld mit Abendbeleuchtung. Praxmarer trug seine Schrotflinte und hoffte, einen Hasen zu schießen, oder den Fuchs, der immer wieder bei seinen Hühnern eindrang.

»Alles Wild muß vergrämt werden. Füchse, Rehe und Hasen sind für mich die gleichen Verbrecher.«

Im Wald trennten sie sich, nachdem Felicitas, ohne Worte zu suchen, Cilli auf beide Wangen geküßt hatte. Ganz natürlich kam es danach, daß sie sich 222 an Praxmarer hielt und zwei Paare in weitem Abstand friedfertig durch den einsamen Sonntagswald zogen.

»Ich hab das Gefühl, als könntest du mir verzeihen, Ernst?« fragte, ihren Kopf mit der starken Nase und dem schmalen Mund gebeugt, finster aber sachlich die Revolverheldin. Sie hatte zehn Stunden lang wie eine Tote geschlafen, wußte nichts von den Beschlüssen dieser Nacht.

»Verzeihen, Felicitas, auf das kommt's nicht an. Auf das kommt's an, daß wir jetzt unser Haus in Ordnung bringen, aber gleich vom Keller bis zum Dach.«

Sie bebte:

»Nun wirst du schreckliche Dinge sagen.«

»Ich mach dir klar, was ich für nötig halt.«

Cilli und Camillo von einander zu reißen, – das sah sie wohl ein – war unmöglich; ganz falsch, ihnen auch nur Widerstand zu leisten, wenn es sie so zueinander zog. Der würde ihre Leidenschaft nähren, das Ende mußten Katastrophen sein.

»Und da soll ich mit gefalteten Händen zusehn?«

»Ich auch. Wenn man Menschen lieb hat, muß man sein Opfer bringen können.«

»Du hast es leicht, du bist ein Philosoph.«

Praxmarer fuhr fort, daß Cilli hier verankert sei und sich immer nach ihrem Aennchen von Tharau 223 sehnen würde. Dafür hatte Felicitas eine zornige Lache.

»Doch, so ist es! Ich hab sie erlebt, wie sie das Kind tot geglaubt hat. Sie ist launenhaft und scheint jetzt, in ihrer Verliebtheit, eine gleichgültige Mutter. Aber hättest du das gesehn, wie der alte Frauenarzt und die Hebamme geweint haben . . .« Camillo hing auch an Frau und Kindern. Sieben Jahre gemeinsames Leben mit so viel Sorgen schüttelt man nicht ab.

Ihr Blick wurde feucht, das klang so wahr, obwohl sie es nicht glaubte.

»Was befiehlst du also, Ernst?«

»Befehlen?«

»Ja, wir sind Schiffbrüchige auf einem Wrack, du bist der Kommandant. Du weißt nicht alles – oder willst es aus Noblesse nicht wissen. Meine Bilder hast du dreifach und mehr überzahlt, den Bäcker-Carl hätte kein Mensch gekauft, unsere Kinder essen dein Mehl und deine Aepfel, unsere Pferde deinen Hafer, unsere Gläubiger lassen uns nur atmen, solang sie dich nahe wissen. Im vollen Strom kommt das Leben von dir zu uns. Jede Stunde Musik und jedes Glas Wein in diesen Jahren, alles Lichte war bei dir. Deshalb werde ich Camillo nie verzeihn . . . Deshalb bin ich deine Sklavin, du befiehlst, wir gehorchen.«

»Laß das, bring die Dinge nicht ineinander. Wir 224 zwei sind Bundesgenossen, aus Not. Kommt Cilli zu mir zurück und Camillo zu dir, dann soll's wieder schön bei uns werden. Tun sie's nicht, dann wollen wir uns keinen Vorwurf machen müssen. Laß die beiden verreisen, erst ihn, dann sie, daß es nicht auffällt. Irgendwo sollen sie sich treffen und, so lang sie wollen, ganz ungestört ihre Aussprache haben.«

In Felicitas' Kopf klang es exakt und absolut: das wird nicht geschehen. Tage, Wochen ohne ihn, die Andere ihm so nah, wie sie wollte, die Neunzehnjährige, die Blühende mit dem großen Elan ihres Herzens? Dafür hatte man Kinder geboren? »Und wenn ich ihm zum Abscheu bin, keine berührt ihn als ich!« Aber diesem altruistischen Narren mußte sie andere Antworten geben.

»Wenn die beiden fort sind, weiß die ganze Welt, daß sie beisammen sind.«

»Selbst wenn man es ahnt, – das ist nicht das schlimmste.«

»Kein Mensch verkehrt mehr bei euch und uns.«

»Dann müssen wir's tragen.«

»Und wovon, da wir die Milch für unsere Kinder nicht zahlen können?«

Praxmarer dachte an die schwere Not, durch die er selbst sich kämpfte. Sein Hof hielt sich, aber das Leben war mit Gutsprodukten nicht geführt. Kleider und Reisen, das Reitpferd, die Gastereien 225 – all das ging über seine Tragkraft hinaus. Praxmarer saß tief im Debet seiner Bank, solang Caspari nicht abgelöst war, solang Knudsen nicht vollends liquidiert hatte. Zwei Prozent monatlich kostete die Bankschuld. Freilich war das eine Frage von Monaten, solange war die Sorgenlast zu schleppen.

»Ich werd's aufbringen«, sagte er. »Noch einmal Kuhkälber, noch einmal halb gemästete Schweine verkaufen.«

»Dann wirst du ein Mann sein, der den Liebhaber seiner Frau aushält.«

Und das Später: wohin die beiden sich wenden sollten, falls ihre Leidenschaft standhielt?

»Spanien, die Basken-Provinz, wo Camillo zuhause ist und praktizieren darf, Verwandte hat, Freunde hat.«

»Hatte!«

Die Provinz Guipùzcoa hatte er einmal abgegrast, um seiner verfluchten Roulettesucht zu fröhnen, Studiengenossen um ein paar Hunderter und entfernte alte Basen um ein paar Zehner angepumpt, Bauern und Bäcker gebrandschatzt, nie einen einzigen Centavo zurückgegeben. »Die Basken sind wie alte Aristokraten. Halten zusammen wie Pech und Schwefel. Aber werfen sie einen über Bord, dann keinen Blick mehr nach ihm. Für Guipùzcoa ist Camillo erledigt.« 226

»Also Argentinien.«

»Dort hat er seine Existenz auch am Roulettetisch verspielt. Ein Land von zehn Millionen Menschen! . . . Da kennt jeder jeden, auch wenn man weit auseinander sitzt. Als Arzt ohne Kapital, seit Jahren ohne Praxis, mit nackten Händen und schlechtestem Ruf, verhungert man dort auf der Straße. In Argentinien gibt's keine Kassen und Armenhäuser. Friß oder krepier heißt's, für ihn wie für Cilli.«

»Dann geht er nach Mexiko oder Paraguay, wenn nicht als Arzt, dann als Krankenwärter oder als Pferdetrainer; zwei Menschen, die arbeiten wollen, kommen nicht um.«

»Wer sagt dir, daß er arbeiten will? Er will's nicht und tut's nicht, ich weiß das besser. Und Cilli – arbeiten! Du schickst sie auf die Straße mit deinen Plänen, exportierst sie kürzesten Wegs ins Bordell. Willst du das, dann sag's offen.«

Praxmarer ging allein die Halde hinab, durch seine gelben Felder, am Rande der Gärtnerei hin, zum weidenden Vieh, zu den Schweinen, die sich schimpfend und grunzend in ihre Koben treiben ließen. Wie lang hatte er all das nicht gesehen? – Es schien Jahre her, seit diese Welt seine Welt gewesen.

Das Bündel schnüren und den dreien den Feldberg zu Füßen legen? Aber das Aennchen von Tharau? 227 Und die drei würden einander hier das Herzblut abzapfen.

Den Feldberg verkaufen und das Geld in drei Teile teilen? Für ihn gab's noch die tausend Kilometer Eisenbahnbau. Aber wenn er heut verkaufte, bekam er soviel, die Feldbergschulden zu zahlen, da blieb kein Heller Rest. Noch sah die Pfirsichplantage wie eine Spazierstockallee aus, steckte die Großgärtnerei in selbstgezüchtetem Samen, waren die Kühe nicht auf der Höhe – noch steckte alles im Boden, wofür er gezahlt hatte. Er konnte mit leeren Taschen ins alte Leben zurückgehen, aber die Kinder am weißen Stab . . .

Nein, wie eine Ratte in der Falle saß er. Geld gibt Flügel, Grundbesitz ist ein Klotz am Bein.

Oder diese drei in ihr Elend stoßen und hier mit verbissenen Zähnen schuften, das Kind aufziehn, bis es groß genug war, ihm das Herz zu wärmen? Aber so lang lebte er nicht, wenn hier die Mauern kalt wurden, vom Jammer der Verstoßenen widerhallten und in den vielen Zimmern niemand wohnte. Er wanderte mit Bauernschritten seinen Hof ab, sah nicht das Grüßen seiner Knechte, die sich anschickten zu tun, als machten sie Arbeit, nach einem ganzen Tag ohne Herrn. Er starrte ins Ferne, – während Felicitas, plötzlich allein gelassen, oben am Waldrand dachte:

»Jetzt weiß ich, wer mein Feind ist.« 228

Was sie in diesen letzten Wochen gelitten, alles kam über sein Haupt. Ihm schuldete sie nichts mehr, nicht Dank, noch Hilfe, nur Haß. Hätte er Camillo wie einen Rehbock auf die Decke gestreckt, Cilli die Kleider vom Leib gerissen, daß sie nackt vor ihm stand, und ihr mit der Hundspeitsche eine Lektion gegeben, dann könnte sie ihn wenigstens achten; hätte er Camillo mit Fußtritten aus dem Haus gejagt und Cilli zur Stallmagd kommandiert, aus dem Trog fressen lassen . . . Camillo wäre zu ihr zurückgekehrt, und Cilli hätte zu seinen Füßen gewinselt. Das wäre Hilfe gewesen, so renkt man Schicksale ein, die sich verludert haben, so schafft man Ordnung in die geile Wirrnis.

Aber er war ein kalter Schuft, ein Kuppler, der nur ihr, der Leidenden, Betrogenen ans Leben wollte, ans Leder wollte. Mit den beiden wurde sie fertig, wenn er erledigt war.

»Gottseidank«, dachte Felicitas. »Jetzt hat mein Herz seinen Fraß, jetzt hab ich einen Feind!«

Sie warf den Kopf zurück, ihre starke Nase bebte, und um ihre schmalen Lippen grub sich ein neuer Zug der Verruchtheit. Dann ging sie mit Schritten einer Erinnye ins Dunkel hinein, den Berg hinab, am See hin, vier Stunden weit zu Fuß – und war nicht müde, als sie heimkam. Sie besaß einen Wegspruch, der hätte sie auch vierzig Stunden weit 229 getragen. Sie betete laut vor sich hin: »Gegen diesen Feind gilt jede Waffe.«

Cilli und Camillo suchten und riefen, sie fanden die beiden nicht, die über ihr Schicksal berieten. Im Haus war niemand, in den Ställen, nirgends war ein Mensch; sie liefen die Halde wieder hinauf und suchten im Wald. Unheimliche Stunden waren so mit Warten vorübergezogen.

Sie hatten sich nichts zu sagen als Zweifel: »Glaubst du, er wird? . . .« »Glaubst du, sie will? . . .« Was nur, was nur? Was soll geschehn, was wird beschlossen? Sie liefen ja wie verirrte Kinder im Dunkel herum. »Hörst du sie nicht, Camillo?«

»Ernst!« schrie Cilli, von Minute zu Minute verzweifelter, zuletzt mit Schluchzen: »Hör mich doch! Warum bist du auf einmal fort?« Camillo aber sprach wie ein Narr laut und begütigend in die dunklen Bäume, die keine Ohren hatten: »Felicitas, sei doch vernünftig. Ein Kuß, das ist alles, was geschehen ist.« »Ernst, Erbarmen!« heulte Cilli, und Camillo klagte: »Vor ein paar Stunden war doch alles wieder ganz klar. Wir wollen ja nichts Unvernünftiges, versteht uns doch nur!«

Spät nachts war die Tür zu Praxmarers Zimmer abgesperrt, auch die zum Fremdenzimmer. Ein Zettel hing draußen: »Bitte nicht stören.«

Cilli rannte die Treppen hinunter. »Rasch weg, 230 spann ein und hol Felicitas auf der Straße ein, schlaf mit ihr, versöhn sie, wie du nur kannst.«

Sie half einspannen, es ging ihr nicht rasch genug. »Im Haus ist es schrecklich, ich fürcht mich, aber ich muß bleiben. Dieser Tisch mit vier Gedecken, wie zum Totenmahl. Rasch weg, Camillo – hast du Hafer für morgen? Da, nimm rasch, den ganzen Sack, nur weg.«

Als er Riemen und Lichter prüfte, den Break nachsah, denn auch Mirzel ging Vierzig-Kilometer-Tempo, als die Stute, die lang gestanden und Hafer gefressen hatte, schon auf die Stangen biß, kaum zu halten war, flüsterte Cilli:

»Mord ist im Haus oder Selbstmord. Frag Felicitas aus, was geschehen ist, was er gesagt hat. Morgen komm und erzähl mir's. Oder nein, telephonier, nein, schick den Stallknecht mit einem Brief. Weg, weg, rasch weg! . . . Steck die Laternen unten an, du hast ja Vollmond, weg.«

Wieder hinein, ein Blick auf die unberührte, festlich gedeckte Tafel, im Biedermeierzimmer lag kein Brief, auf dem Prunkbett im schönsten Schlafzimmer Europas kein Brief.

Was war da auf dem Boden und schimmerte weiß? Sie knipste Licht an, Papierschnitzel, wo kamen die her?

Sie bückte sich, photographisches Papier, in unkenntliche Schnipsel zerrissen, was war das? 231

Zwei bronzene Rokokorähmchen mit ihren Bildern standen auf dem Nachttisch, aber der Rahmen mit Praxmarers Bild war leer. An der Wand hing eine Photographie: sie beide in Bauernkleidern zwischen Eisschollen am See, Rücken an Rücken sitzend; aber die Köpfe lachend zueinander gekehrt. Das war auch fort und zerrissen, sein Kopfkissen, sein Schlafanzug fort . . . Im Schrank, in seinen Schubladen nichts mehr von seinen Sachen, ganz verwischt seine Spur, als wäre er verreist, um nie zurückzukommen.

»Ernst, Ernst! Sprich doch!« flehte sie an der verschlossenen Tür.

»Ich nehm ein Beil und schlag die Tür ein! Ich weiß, daß du wach bist, wenn du auch kein Licht hast. Ich will mit dir reden, hörst du, alles besprechen, reden, reden . . .«

»Bin nicht zu sprechen!« kam es heraus, da schlich sie wie geprügelt ins Bett.

Als Praxmarer von seinem Rundgang heimgekehrt, war ihm der erste Schimmer gekommen von dem, was geschehen. Langsam zerriß der Traum, der solange sein Herz genährt, Cilli trennte sich von Niëves, Aennchen von Tharau wurde fremd. Aber auch Niëves' Bild war verblaßt, sein Gaumen trocknete aus, und die eigene Zunge war ein pelziges Stück Fleisch im fremden Mund, der voll Fäulnis lag. Feld und Wiesen gingen ihn nichts an, der 232 Mond war tot für ihn, wenn jetzt Feuer ausbräche, hätte er keine bewegbare Hand am Leib, um zu retten.

Er warf sich nicht aufs Fremdenbett, das von Camillo und Felicitas noch warm sein konnte, er warf sich auf die Dielen und machte die Augen zu. Gegen seinen eigenen Schädel, der sich immer noch absperren wollte, tobte Erwachen.

»Ist alles nur ein Traum, wo bin ich denn?«

Ellbogen aufgestützt, Stirn auf dem Bretterboden, auf dem kein Teppich lag, weil gerade sein Zimmer nicht fertig geworden, dachte er nach:

»Das ist ja ganz schlimm, alles war nur Lüge.«

Die Schreckensworte, die er gestern und heut nicht gesprochen, die ein anderer laut gebrüllt hätte, um sich Luft zu machen, jetzt zuckten sie fiebrig durch sein Hirn.

»Erlogen ist deine Liebe zu Camillo, er ist nur dein Liebhaber. Das hast du dir ausgedacht, um mich zu treffen. Wie hast du gewagt, mit mir zu sprechen! Mir wagst du die Schuld aufzubürden, mit einer zynischen Verdrehung! Mich klagst du an, du Dirne aus Langeweile und Sensationsgier! Hab Achtung vor mir, wenn du vor dir selbst keine hast! Base beast, you are, hija di una bestia, verluderter Backfisch.«

Aber all der schöne Zorn befreit nicht, wenn man tonlos vor sich hinzetert und greint, durch 233 verkrampfte Zähne macht Fluchen das Herz nicht frei. Camillo hatte gestern geweint, große, echte Tränen, ihm aber brannten nur die Augen von trockener Lauge, ihm tat nur das Atmen weh und der Schädel vom Denken.

»Kaputt, kaputt.« Cilli war eine Traumfigur nach dem Erwachen. Der Hof, das Kind, alles war nur geträumt. Jetzt packte ihn die freche Wirklichkeit. Damals in Charlottenburg, auf einer Bank vor der Technischen Hochschule, war er nur traurig gewesen. Vor dem Kurhaushotel in Echtach, in seinem Liegestuhl, war er nur einsam gewesen. Als droben im Urwald der Cordilleren ihm aufging, daß Niëves tot war, war er nur verlassen gewesen. Aber jetzt lag er in Schmutz und Grauen.

Tastend fand er auf Ayalas Nachtkästchen das Morphium, machte Licht, spritzte, drehte rasch das Licht wieder aus. Abermals nicht auf jenem Bett sondern auf den Bohlen, sagte er sich:

»Nie im Leben bin ich krank gewesen, ich kenne das nicht. Aber jetzt müßte eine schwere Krankheit mich an sich nehmen, mit Schmerzen und Fieber, schlimmer noch als Niëves' Krankheit in Baños de Fuente war. Damit ich nicht auseinanderfalle, muß ich zusammenfallen. Ich hab's gewagt, noch einmal als Mensch auf die Welt zu kommen, da will ich wenigstens krank sein dürfen.« 234

 


 << zurück weiter >>