Friedrich Wilhelm Nietzsche
Fragmente Anfang 1880 bis Sommer 1882, Band 3
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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[Herbst 1881]

[Dokument: Exemplar von R. W. Emerson]

13 [1]

Jene Irrthümer waren bei jener Stufe nothwendig als Heilmittel: die Erziehung des Menschengeschlechts als Kur hat einen nothwendig-vernünftigen Verlauf. – So sagt ihr.

In diesem Sinne leugne ich die Nothwendigkeit. Es ist zufällig, daß dieser und jener Glaubensartikel siegte – dieselbe Heilwirkung wäre von einem anderen auch ausgegangen. Und vor allem! die Folge der Heilwirkung ist sehr beliebig, sehr unvernünftig! Fast immer ist eine tiefe Erkrankung die Folge des neuen Glaubens und nicht eine Kur!

13 [2]

Ihr lebt wie Betrunkene durchs Leben, besinnungslos – und mitunter fallt ihr die Treppe hinab und zerbrecht euch nicht die Glieder, wegen eurer Betrunkenheit und Besinnungslosigkeit. – Hier liegt unsere Gefahr! Unsere Muskeln sind nicht matt und leiden furchtbar viel mehr als eure!

13 [3]

Saugt eure Lebenslagen und Zufälle aus – und geht dann in andere über! Es genügt nicht, Ein Mensch zu sein! Das hieße euch auffordern, beschränkt zu werden! Aber von Einem zum Andern!

13 [4]

Die Fähigkeit zum Schmerz ist ein ausgezeichneter Erhalter, eine Art von Versicherung des Lebens: dies ist es, was der Schmerz erhalten hat: er ist so nützlich als die Lust – um nicht zu viel zu sagen. Ich lache über die Aufzählungen des Schmerzes und Elends, wodurch sich der Pessimismus zurecht beweisen will – Hamlet und Schopenhauer und Voltaire und Leopardi und Byron.

"Das Leben ist etwas, das nicht sein sollte, wenn es sich nur so erhalten kann!" – sagt ihr. Ich lache über dies "Sollte" und stelle mich zum Leben hin, um zu helfen, daß aus dem Schmerze so reich wie möglich Leben wachse – Sicherheit, Vorsicht, Geduld, Weisheit, Abwechslung, alle feinen Farben von hell und dunkel, bitter und süß – in allem sind wir dem Schmerz verschuldet, und ein ganzer Kanon von Schönheit Erhebung Göttlichkeit ist erst recht möglich in einer Welt tiefer und wechselnder und mannigfaltiger Schmerzen. Das, was euch über das Leben richten heißt, kann nicht Gerechtigkeit sein – denn die Gerechtigkeit würde wissen, daß der Schmerz und das Übel – – – Freunde! Wir müssen den Schmerz in der Welt mehren, wenn wir die Lust und die Weisheit mehren wollen.

13 [5]

Willst du ein allgemeines gerechtes Auge werden? So musst du es als einer, der durch viele Individuen gegangen ist und dessen letztes Individuum alle früheren als Funktionen braucht.

13 [6]

Sei eine Platte von Gold – so werden sich die Dinge auf dir in goldner Schrift einzeichnen.

13 [7]

Oh über unsre Habsucht! Ich fühle Nichts von Selbstlosigkeit, vielmehr ein Alles begehrendes Selbst, welches durch viele Individuen – wie durch seine Augen sieht und wie mit seinen Händen greift, ein auch die ganze Vergangenheit zurückholendes Selbst, welches nichts verlieren will, was ihm überhaupt gehören könnte.

13 [8]

Wir ehren und schützen alle Machtansammlungen, weil wir sie einst zu erben hoffen – die Weisen. Wir wollen ebenso die Erben der Moralität sein, nachdem wir die Moral zerstört h<aben>

13 [9]

Es ist viel zu antworten, wenn ein Räthsel aufgegeben wird und zu glauben, es gelöst zu haben – schon bei dem Muthe der Antwort auf das Räthsel des Lebens hat sich bisweilen die Sphinx hinabgestürzt.

13 [10]

Meine Art krank und gesund zu sein, ist ein gutes Stück meines Charakters – es rechtfertigt sich und mich.

13 [11]

Gesetzt, mein Buch existirte nur noch in den Köpfen der Menschen, so wäre alles in gewissem Sinn aus deren Gedanken und Wesen – es wäre eine " Summe von Relationen". Ist es darum nichts mehr? Gleichniß für alle Dinge. Ebenso unser "Nächster".

Daß ein Ding in eine Summe von Relationen sich auflöst, beweist nichts gegen seine Realität.

13 [12]

Meine Philosophie – den Menschen aus dem Schein herauszuziehen auf jede Gefahr hin! Auch keine Furcht vor dem Zugrundegehen des Lebens!

13 [13]

Warum ziehn die entgegengesetzten Naturen mich am heftigsten an? Sie lassen mich das Voll-werden- müssen fühlen, sie gehören in mich hinein.

13 [14]

Der wirkliche Mensch ist weit zurück hinter dem embryonischen, der aus ihm erst in 3 Geschlechtern entsteht.

13 [15]

Alle Formen sind unser Werk – wir sprechen uns aus in der Art, wie wir die Dinge jetzt erkennen müssen.

13 [16]

Was habe ich gelernt, bis heute (15. Oktober 1881)? Mir selber aus allen Lagen heraus wohlzuthun und Anderer nicht zu bedürfen.

13 [17]

Was gehen mich die Irrthümer der Philosophen an!

13 [18]

Charakter = Organismus.

13 [19]

Das neue Große nicht über sich, nicht außer sich sehen, sondern aus ihm eine neue Funktion unser selbst machen.

Wir sind der Ozean, in den alle Flüsse des Großen fließen müssen.

Wie gefährlich ist es, wenn der Glaube an die Universalität unser selbst fehlt! Viel Art von Glauben thut noth.

13 [20]

Vom Kleinsten Nächsten auszugehen:

1) die ganze Abhängigkeit sich feststellen, in die man hineingeboren und erzogen ist

2) den gewohnten Rhythmus unsres Denkens, Fühlens, unsere intellektuellen Bedürfnisse und Nahrungsweisen

3) Versuche der Veränderung, zunächst mit den Gewohnheiten zu brechen (zb. Diät

Sich geistig an seine Widersacher einmal anlehnen, in ihrer Luft zu leben versuchen reisen, in jedem Sinn

"Unstet und flüchtig" – eine Zeit.

Von Zeit zu Zeit über seinen Erfahrungen ruhen, verdauen.

4) Versuche der Ideal dichtung und später des Ideal- Lebens.

13 [21]

Jenseits von Liebe und Haß, auch von Gut und Böse, ein Betrüger mit gutem Gewissen, grausam bis zur Selbstverstümmlung, unentdeckt und vor aller Augen, ein Versucher, der vom Blut fremder Seelen lebt, der die Tugend als ein Experiment liebt, wie das Laster.

13 [22]

Hier sitzest du, unerbittlich wie meine Neubegier, die mich zu dir zwang: wohlan, Sphinx, ich bin ein Fragender, gleich dir: dieser Abgrund ist uns gemeinsam – es wäre möglich, daß wir mit Einem Munde redeten?


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