Friedrich Wilhelm Nietzsche
Fragmente Anfang 1880 bis Sommer 1882, Band 3
Friedrich Wilhelm Nietzsche

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

[Sommer 1880]

[Dokument: Mappe mit losen Blättern]

5 [1]

Er hat nöthig Feindseligkeiten zu säen, damit er berühmt bleibe und es noch mehr werde. Glaubt ihm nicht, er weiß ganz genau, daß er betrügt. Er braucht den Fanatism der Freunde und Feinde, um sich zu belügen.

5 [2]

Das Festhalten tiefer furchtbarer entzückender Empfindungen, das Ausschöpfen derselben aus dem Grunde –

5 [3]

Deutsche Schauspielkunst kommt nicht in Betracht, genug daß sie den Deutschen genügt. Anders steht es in Wien, wo man nie verschmäht hat, von den Italiänern und Franzosen zu lernen: ebenso wie es die österreichischen Musiker gethan haben.

5 [4]

Da ist ein großer Künstler: aber er will größer erscheinen als er ist. Und so sagt man bei jedem fünften Augenblick seiner Kunst: er ist anmaaßend, er maaßt sich etwas an, das Höheren zukommt als er ist: er ist an ihnen ein Räuber, und in Bezug auf sich selber ist er nicht ehrlich – ihm fehlt nicht die Größe, aber die Naivetät, darum wird ihm so selten wohl: die Spannung ist zu groß.

5 [5]

Begierde! Das ist nichts Einfaches, Elementares! Vielmehr ist eine Noth (Druck Drängen usw.) zu unterscheiden und ein aus Erfahrung bekanntes Mittel, dieser Noth abzuhelfen. Es entsteht so eine Verbindung von Noth und Ziel, als ob die Noth von vornherein zu jenem Ziele hinwolle. Ein solches Wollen giebt es gar nicht. "Mich verlangt zu uriniren", ist ebenso irrthümlich als "es giebt einen Willen zum Nachttopf ".

5 [6]

Es ist sehr schwer, ein hohes Selbstbewußtsein aufrecht zu erhalten, wenn man auf eigenen und neuen Pfaden geht. Wir können nicht wissen, was wir werth sind, das müssen wir den Anderen glauben; und wenn diese uns nicht richtig beurtheilen können, ebenso weil wir auf unbekannten Wegen gehen, so werden wir uns selber bedenklich: wir brauchen des frohen ermuthigenden Zurufs. Die Einsamen werden sonst düster und verlieren die Hälfte ihrer Tüchtigkeit, und ihre Werke mit ihnen.

5 [7]

O ich kenne euch, ihr geheimen Lügner, ich sehe euch stehen vor den zwei Wegen und euch für den entscheiden, der zu Entzückungen Hoffnungen Überschwänglichkeiten Betäubungen führt: ich sehe euch jene Miene annehmen als ob ihr euch selbst betrügen wollt, indem ihr euch vorredet, es sei der schwerere härtere Weg, es sei der demüthigere schmalere Weg, es sei der einsamere verrufenere Weg – ihr wißt es im Grunde eures Herzens besser, ihr seid nicht wahrhaftig genug, um so zu handeln wie ihr euch vorredet, aber immer noch wahrhaftig genug, um einen Biß in euch zu spüren. Die Frommen und die Enthusiasten sind gerade die Menschen der Gewissensbisse.

5 [8]

Und wenn es die Entscheidung über euer Leben gilt, wie könnt ihr euch jemand anvertrauen sei es ein Christus oder Plato oder Goethe! Aber euer Glauben muß so blind, so unbedingt, so fanatisch sein, damit ihr das Lied eures schlechten Gewissens übertönt, damit ihr euch vor euch selber Muth macht mit der Energie eurer Töne und Bewegungen. O ihr Schauspieler vor euch selber!

5 [9]

Gut, wir lassen uns durch die Musik traurig machen und seufzen wie eine Weide im Winde – dann aber plötzlich mit freudigem Lachen schütteln wir das alles von uns und rufen: das vermochte die Musik, Kummer und Thränen ohne Grund! Im Gefühl leben ohne Anlässe des Gehörs zu missen! Und nun hinein in die wirkliche Welt und unsere Seele ist freier und hat ihre Krankheit schon abgebüßt.

5 [10]

Gefühle zu erregen – das vermag auch die schlechte Musik. Aber daß sie solche bei Dir erzeugt, der du leicht die Musik als geistlos oder überspannt oder lügnerisch oder schauspielerisch empfindest – das macht ihren Werth aus.

5 [11]

Wir sind so dankbar für das Gute und so wenig verwöhnt, wir rechnen einen Musiker, der lauter schlechte Musik und hundert einzelne Takte ersten und schönsten Ranges gemacht hat, unter die großen Musiker.

5 [12]

Vor dem Fatum in uns stehenbleiben, wie Schopenhauer, aber deshalb nicht seine "Erkenntnisse" modeln: wir müssen mit unserem Intellekt uns über unseren Charakter in die Weite und Höhe schwingen.

5 [13]

Die Menschen hätten in sich schon die Norm, nach der sie zu handeln hätten – die ungeheure Albernheit ist bis auf heutigen Tag noch geglaubt! Das Gewissen! Es ist eine Summe von Empfindungen der Zu- und Abneigung in Bezug auf Handlungen und Meinungen, nachgeahmte Empfindungen, die wir bei Eltern und Lehrern antrafen!

5 [14]

Die Fälschung der Wahrheit zu Gunsten der Dinge, die wir lieben (z. B. auch Gott) – fluchwürdigste Unart bei erleuchteten Geistern, denen die Menschheit zu vertrauen pflegt und die so dieselbe verderben, im Wahne festhalten. Und oft war es ein so schweres Opfer für euch, sacrificium intellectus propter amorem! Ach ich selber habe es gelobt! W<agner> i<n> B<ayreuth>

5 [15]

Wenn die Musik uns eine Empfindung bringt, so muß die Vernunft doch sagen: es ist kein Grund zu diesen Empfindungen, wir werden getäuscht. Es ist wie beim Gähnen, wir gähnen mit, ohne Grund.

5 [16]

Kampf nicht gegen die Dummheiten, sondern gegen die Einbildungen: Beseitigung der eingebildeten Dinge aus den Köpfen: Don Quixote Cervantes

5 [17]

Das allgemeine Merkmal der Zeit: wir wissen, was nie eine Zeit wußte, es gab und giebt eine Unzahl verschiedener Werthschätzungen derselben Dinge, und vielleicht mehrt sich die Zahl, je mehr die selbständigen Menschen an Zahl zunehmen (ihnen entsprachen ehemals selbständige Cultur-Völker) Je verschiedener aber die Werthschätzungen, um so mehr können die Menschen gegen einander austauschen, der geistige und seelische Verkehr nimmt zu. Man lernt die Anderen verstehen, um zu wissen, was man ihnen anbieten, was man von ihnen verlangen kann. – Sorge zu tragen, daß keine maginären Dinge eingeschmuggelt werden, wodurch der Werth aller wahren gefälscht wird. Dies ist das allgemeine Interesse.

5 [18]

Empfindungen die sich auf unwirkliche Dinge beziehen, sind unberechtigt, ohne Recht zur Existenz: weil nur wirkliche Dinge ein Recht haben auf Empfindungen und durch Einmischung erdichteter, ihnen ihr Recht verkürzt wird.

5 [19]

Die Gefährlichkeit der Kunst besteht darin, uns an die eingebildeten Dinge zu gewöhnen, ja ihnen eine höhere Schätzung zuzusprechen: die Halbwahrheiten, die blendenden Einfälle vorzuziehen, kurz den Glanz und den Effekt der Dinge als Beweis ihrer Güte, ja ihrer Realität gelten zu lassen. "Zur Vollkommenheit gehört die Realität" dieser Denkfehler ist sehr oft gemacht worden. "Was wir stark bewundern, muß wahr sein"

5 [20]

Mich interessirt nichts mehr als wenn einer einen Umweg über ferne Völker und Sterne macht, um schließlich so etwas von sich zu erzählen.

5 [21]

Der Mensch kann die fürchterlichste Verachtung aushalten (wie die Juden), aber er muß das Gefühl der M<acht> irgendworin haben (so diese das Geld)

5 [22]

Der Werth der Kunst ist, daß wir hier einmal die verkehrte Welt gerade sein lassen, unwahres wahr, zur Erholung (das Unwahre wie wahr, das Ungegründete wie gegründet usw.)

5 [23]

Für K<öselitz>: Ihrer Jugend hat die Anerkennung und der Erfolg gefehlt wie das Durchmachen eines regelmäßigen Cursus von Halbjahr zu Halbjahr (?) usw. Darüber haben Sie gegen sich eine Verstreuung überhandnehmen lassen, wie als ob dieses Ich Ihnen nicht genug geboten habe. Die vornehmen jungen Leute messen hieran einen gesellschaftlichen Erfolg: dieser wird die Grundlage ihrer weiteren Unternehmungen, gleichsam das heitere Gefühl. – Sie sind vom gewöhnlichen Wege abgewichen, um auf dem rechten zu gehen: aber dabei giebt es immer Gewissensbisse – G. Sand

5 [24]

Das Christenthum gab jedem das Recht, sich unsäglich wichtig zu nehmen: er ist ein "ewiges Wesen"! ein "Genius", eine "Persönlichkeit"

5 [25]

Unsere Aufgabe ist, die richtige Empfindung d. h. die welche wahren Dingen und richtigen Urtheilen entspricht zu pflanzen. Nicht die natürlichen wiederherstellen: denn sie haben nie existirt. Man lasse sich durch das Wort "natürlich" oder "wirklich" nicht täuschen! Das bedeutet "volksthümlich" "uralt" "allgemein" – mit der Wahrheit hat es nichts zu thun. Nur auf der Grundlage richtiger Empfindungen können die Menschen sich auf die Dauer und auf alle Entfernungen hin verstehen. Dazu bedarf es neuer Werthschätzungen. Zunächst eine Kritik und Beseitigung der Alten. Das zu Verlernende ist jetzt die nächste Masse die Arbeit giebt.

5 [26]

Die Werthschätzungen auf unrichtiger Grundlage führen einen Vernichtungskrieg gegen einander, aber vielleicht arbeiten alle zusammen doch daran, gewisse Grundimaginationen zu stärken. Deshalb darf man sie sich nicht selber überlassen, sondern muß sie angreifen. NB – Die Aktion, in welche sie den Menschen ziehen, hilft dazu, falsche Maaßstäbe immer

wieder zu erzeugen – es wird der Teufel an die Wand gemalt und zuletzt wird man von den gleichen Empfindungen beherrscht, wie die, welche man bekämpft. Also: man soll nicht viel gegen sie kämpfen!

5 [27]

Schopenhauer's Lehre enthält als Kern im Innern den Satz: wir werden durch unsere Begierden gelenkt: nicht durch unsere nützlichen und vernünftigen Interessen, geschweige durch unsere Tugend und Weisheit. Die Welt ist die Begierde.

5 [28]

Das Martyrium beweist für die Wahrhaftigkeit und den Hochmuth.

5 [29]

Das Gefühl des Glückes hat die zwei Formen: das Gefühl der Macht und das Gefühl der Ergebung: letzteres ist da wie Müdigkeit und Abspannung.

5 [30]

Das Chaos unrichtiger Empfindungen, die Anarchie zeitweilig sind Übergangsstufen: für gewisse Gruppen herbeizuführen.

5 [31]

Richtige Empfindungen werden noch höchst verschieden sein: und gemeinsam ist, daß sie keine imaginären Faktoren in sich enthalten, d.h. das was gewogen wird, ist wirklich verschieden sind die Wagen, nicht das Gewogene.

5 [32]

In vielen Dingen wird man lange nicht empfinden dürfen, weil hier noch nichts Gewisses gesagt ist. Todte Punkte sich hier zu schaffen nothwendig!

5 [33]

Um von den Sünden zu erlösen, empfahl man früher den Glauben an Jesus Christus. Jetzt aber sage ich: das Mittel ist: glaubt nicht an die Sünde! Diese Kur ist radikaler. Die frühere wollte einen Wahn durch einen andern erträglich machen.

5 [34]

Nur ist es nicht so leicht, nicht zu glauben – denn wir selber haben einmal daran geglaubt und alle Welt glaubt oder scheint doch daran zu glauben. Wir müssen nicht nur umlernen, sondern unsere Schätzungen umgewöhnen – es bedarf der Übung.

5 [35]

"Nehmt meine Kunst an: denn dann habt ihr Deutschen eine Kunst, die sich neben der der anderen Nationen sehen lassen kann, " die deutsche Kunst", – zunächst zwar nur " eine d<eutsche> K<unst"> aber nun soll bewiesen werden, wie gerade diese Kunst dem Wesen der Deutschen entspricht, aus ihm gewachsen ist, Stoffe Gedanken Musik usw." – Dies ist Wagner's Art für seinen Ruhm zu sorgen: er will, eine Nation solle für ihn eintreten und ihn in sich und ihren "Ruhm" aufnehmen. Dies Spiel ist noch nie so offen gespielt worden – Grund, warum es bis jetzt nicht gelungen ist. Später, wenn Wagner todt und seine Schriften vergessen sind, ist so etwas möglich. Inzwischen bemächtigen sich die Musiker aller Völker seiner Musik und in Kürze wird es nicht mehr wie deutsche sondern wie "Musik" klingen. – Es <ist> die Musik der großen Oper.

5 [36]

Wagner bewirbt sich darum, der deutsche Künstler zu heißen, aber ach, weder die große Oper, noch sein Charakter, sind spezifisch deutsch: weshalb er bis jetzt dem Volke nicht lieb wurde, sondern einer Klasse von Vornehmen und Überbildeten – dem Kreise, dem im vorigen Jahrhundert etwa Rousseau zusagte.

5 [37]

Das Christenthum hat in Frankreich seine vollkommensten Typen erlangt: die Quietisten (Franz von Sales): sie stehen höher als Paulus. Fénelon ein vollkommener Christ auf einer antiken Grundlage. Pascal – – –

5 [38]

Man soll die Befriedigung des Triebes nicht zu einer Praxis machen, bei der die Rasse leidet d. h. gar keine Auswahl mehr stattfindet, sondern alles sich paart und Kinder zeugt. Das Aussterben vieler Arten von Menschen ist ebenso wünschenswerth als irgend eine Fortpflanzung. – Und man sollte sich durch diese enge Verbindung mit einer Frau seine ganze Entwicklung durchkreuzen und stören lassen – um jenes Triebes willen!! Wenn man nicht einmal so enge Freundschaften nützlich (im höchsten Sinne) fände! Die "Ergänzung" des M<annes> durch das Weib zum vollen Menschen ist Unsinn: daraus läßt sich also auch nichts ableiten. – Vielmehr: nur heirathen 1) zum Zwecke höherer Entwicklung 2) um Früchte eines solchen Menschenthums zu hinterlassen. – Für alle übrigen genügt Concubinat, mit Verhinderung der Empfängniß. – Wir müssen dieser plumpen Leichtfertigkeit ein Ende machen. Diese Gänse sollen nicht heirathen! Die Ehen sollen viel seltener werden! Geht durch die großen Städte und fragt euch, ob dies Volk sich fortpflanzen soll! Mögen sie zu ihren Huren gehen! – Die Prostitution nicht sentimental! Es soll nicht das Opfer sein, das den Damen oder dem jüdischen Geldbeutel gebracht wird – sondern der Verbesserung der Rasse. Und überdies soll man diese Opferung nicht falsch beurtheilen: die Huren sind ehrlich und thun, was ihnen lieb ist und ruiniren nicht den Mann durch das "Band der Ehe" – diese Erdrosselung!

5 [39]

Die italiänischen Maler haben die "heilige Geschichte" so schön zurückübersetzt, alle rührenden Scenen der Familie entdeckt, alle jene Augenblicke, wo ein bedeutender Mensch einen Augenblick für mehrere unvergeßlich macht: bei jedem ihrer Bilder kann man Thränen vergießen. Nur wo die heilige Misere beginnt, da empfindet man nicht mehr mit – das Wissen um die Folgen derselben hält das Gegengewicht.

5 [40]

[+ + +] werthvoller, nach den so selten ausgerundeten Menschen zu sehnen, die nicht Monstra mit Höckern und Anmaaßungen sind.

5 [41]

Nur nicht unberufen seine Meinungen aufdringen! Man sage sie und schicke ein klares Gelächter hinterdrein, es hat noch kein Genie gegeben, dessen Meinungen nicht entbehrlich gewesen wären.

5 [42]

Über die Genies müssen wir umlernen. Ich wüßte nicht, warum fruchtbare Menschen sich nicht still und anspruchslos benehmen sollten (Moltke) oder vielmehr – es ist gegen alle Fruchtbarkeit, seine Person so in das Getümmel der Meinungen zu werfen und selber voller Begehrungen zu sein, die uns unruhig, ungeduldig machen und die Weihe der Schwangerschaft nehmen. Ich höre immer noch jedem Takte an, was für Gebrechen der Musiker hat: sein Mehr-bedeuten-wollen, sein Abweisen der Regel, sein Unterstreichen dessen, was er besser macht als Andere, alle Kleinlichkeiten sind fortwährend mit produktiv, wenn erst der Genie-Unsinn in ihm wüthet. Dagegen M<änner> wie Moltke.

5 [43]

[+ + +] versprechen können: und wenn der Eintritt einer Erscheinung nur so sicher ist, wie dieser, so thut es nichts, ob wir sagen "ich will" "ich werde thun" statt "es geschieht", "es wird gethan". Ehemals versprachen die Medizinmänner ebenso Naturereignisse mit dem " ich will daß die Sonne scheine, daß es regne" und einstmals wird man einsehen, daß das Wollen in Bezug auf uns selbst ebenso ein Vorurtheil ist. – So beruht die Pflicht auf einem Vorurtheil? Auf einem unberechtigten Stolze?

5 [44]

Sind Vorstellungen wirklich Motive unserer Handlungen? Sind sie nicht vielleicht nur Formen, unter denen wir unsere Handlungen verstehen, ein Nebenher, welches der Intellekt bei solchen Handlungen, die überhaupt von uns bemerkt werden, erzeugt? Die meisten Handlungen werden nicht bemerkt und gehen ohne intellektuelle Reizung vorüber. Ich meine selber: die intellektuelle Handlung, der eigentliche Gehirnprozeß eines Gedankens sei etwas wesentlich Verschiedenes von dem, was uns als Gedanke bemerkbar wird: unsere Vorstellungen, von denen wir wissen, sind der kleinste und schlechteste Theil derer, die wir haben. Die Motive unserer Handlungen liegen im Dunkel und was wir als Motive glauben, würde nicht ausreichen, einen Finger zu bewegen.

5 [45]

Die Sprache trägt große Vorurtheile in sich und unterhält sie z. B. daß, was mit Einem Wort bezeichnet wird, auch Ein Vorgang sei: Wollen, Begehren, Trieb – complicirte Dinge! Der Schmerz bei allen Dreien (in Folge eines Druckes Nothstand<es> wird in den Prozeß "wohin?" verlegt: damit hat er gar nichts zu thun, es ist ein gewohnter Irrthum aus Association. "Ich habe solches Bedürfniß nach dir" Nein! Ich habe eine Noth, und ich meine, du kannst sie stillen (ein Glauben ist eingeschoben) "ich liebe dich" nein! es ist in mir ein verliebter Zustand und ich meine, du werdest ihn lindern. Diese Objektaccusative! ein Glauben ist bei all diesen Empfindungsworten enthalten z.B. wollen hassen usw. Ein Schmerz und eine Meinung in Betreff seiner Linderung – das ist die Thatsache. Ebenso wo von Zwecken geredet wird. – Eine heftige Liebe ist die fanatische hartnäckige Meinung, daß nur die und die Person meine Noth lindern kann, es ist Glaube der selig und unselig macht, mitunter selbst im Besitze noch stark genug gegen jede Enttäuschung d. h. Wahrheit.

5 [46]

Man muß also die Nothstände der Menschheit studiren, aber ihre Meinungen, wie dieselben zu lösen sind, noch mit hineinrechnen: –

Wenn man die Meinung<en> über die Mittel der Linderung verändert, so verändert man die Bedürfnisse den "Willen" das "Begehren" der Menschheit. Also: Veränderung der Werthschätzung ist Veränderung des Willens. – Sollte es sich ergeben, daß die Menschheit am meisten an der Unerfüllbarkeit ihres Willens leidet, so ist zu untersuchen, ob der essentielle Schmerz, mit anderen Mitteln gelindert, vielleicht gar nicht zu einem unerfüllbaren Willen es kommen läßt: daß also die Ideale der Menschheit erfüllbar sind und eine andere Werthschätzung über alles Unerfüllbare aufkommen muß.

5 [47]

Wenn einer immer von seinen eigenen Handlungen überrascht wird (wie die wild Leidenschaftlichen) also er keine Vorausberechnung über sich machen kann, dann zweifelt er an seiner Freiheit, und oft redet man da von dämonischen Einflüssen. Also die Regelmäßigkeit, mit der gewisse Vorstellungen und Handlungen in uns folgen, bringt uns auf den Glauben, hier frei zu sein: berechnen zu können, vorherzuwissen! d. h. man leitet aus der Allwissenheit Gottes die Allmacht ab – ein gewöhnlicher Denkfehler. Das Gefühl der Macht im Intellekt<uellen> welches sich beim Vorherwissen einstellt, verknüpft sich unlogisch mit dem, was vorhergewußt wird: als Propheten bilden wir uns ein, Wunderthäter zu sein. Die Thatsache ist: "in dem und dem Falle pflegen wir das zu thun". Der Schein ist "es ist der und der Fall: ich will jetzt dies thun". Wollen ist ein Vorurtheil. Es geschieht etwas immer und durch uns, und ich weiß vorher, was daraus wird und schätze es hoch, daß dies geschieht. Es begiebt sich trotz alledem ohne unsere Freiheit und häufig wider unser oberflächliches Wissen: wir sagen dann erstaunt "ich kann nicht, was ich will". Wir sehen unserm Wesen nur zu, auch unserm intellektuellen Wesen: alles Bewußtsein streift nur die Oberflächen.

5 [48]

"Du suchst nach schlechtem Gewissen?" Du findest es bei den Leuten der feigen Sentimentalität, welche die Wahrheit verläugnen um der Liebe willen.

5 [49]

Das Häufigste, was geschieht, ist das Sich-selbst-Belügen. Das intellekt<uelle> Gewissen ist schwach, und das andere G<ewissen> stärker. Reinigung und Kräftigung, nicht Vernichtung von beiden thut noth.


 << zurück weiter >>