Friedrich Wilhelm Nietzsche
Fragmente Anfang 1880 bis Sommer 1882, Band 3
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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[Winter 1880-81]

[Dokument: Notizbuch]

8 [1]

Religion der Tapferkeit

  1. Die Leidenschaft der Redlichkeit.
  2. Die grösste Frage.
  3. Tapferkeit und nichts mehr.

8 [2]

  1. das verschiedene Wachsthum der Triebe unter dem Klima der verschiedenen moralischen Grundurtheile
  2. Gründe der Verschiedenheit des moralischen Urtheils
  3. Irrthümlichkeit und Wahn aller moralischen Urtheile
  4. Kann die Wissenschaft Ziele geben? Nein
  5. Die individuelle Moral: unsere Triebe nach unserem Ideal formirt und mit Hülfe der Wissenschaft. (Als Künstler unser Ideal schaffen.
  6. die günstigen politischen und socialen Verhältnisse für diese Einsiedler!

8 [3]

8 [4]

Wachsthum gegen das verwerfende Urtheil kann geleitet sein:

a) durch Furcht (deren Wirkungen bei Darwin NB.)

b) durch Stolz und Trotz (Rache und Grausamkeit)

darnach verschieden: es ist Sache des Temperaments

8 [5]

Aufzählung der moralischen Vorurtheile.

8 [6]

NB Einleitung: Alle meinen, die gegenwärtigen moralischen Gefühle seien die moralischen Gefühle überhaupt. Aber es sind die jüdischen.

8 [7]

NB wenn die jetzige Moralität sich fortentwickelt, geht die Menschheit daran zu Grunde. Aber das Gegentheil ist die Behauptung, ja der Anlaß, sie weiter zu entwickeln. Hier stelle ich das große Fragezeichen hin! Ist die Civilisation der Weg zum Glück, zur höchsten Leidenschaft und Fruchtbarkeit?

8 [8]

Wir bedürfen einer heroischen Erkenntniß! um die große praktische Frage vorzubereiten: ob noch mehr Gleichheit zu pflanzen!

8 [9]

Ob man nun an das Mitleid als Wunder und Quelle der Erkenntniß glaubt oder an das Blut des heiligen Januarius: ich meine dann immer noch in einem halb wahnsinnigen Zeitalter zu leben.

8 [10]

Aus Mitleid mit den Anderen uns religiös stellen? Pfui! Wir müssen sie zu unserer Tapferkeit erheben! Und dies ist möglich! Sei es selbst durch den Fatalism!

8 [11]

Allmählich wächst die Einsicht und man läßt die Hand davon, die menschliche Cultur zu fördern und zu regieren: man müßte zu viel Böses thun. NB. NB.

8 [12]

Das Glück wird auf entgegengesetzten Wegen erreicht, daher läßt sich keine Ethik bestimmen (gegen Spencer)

8 [13]

Die Empfindungen welche wir für gewisse Sitten und Sittlichkeiten haben, die Gründe dafür, welche im Umlauf sind, haben gar nichts mit dem Ursprunge, den Entstehungsgründen derselben zu thun NB.

8 [14]

der Klassicism und die Forderung der Gleichheit, die Lust der Unterwerfung unter eine absolute Norm: zur Zeit des Augustus: Rückkehr zu den griechischen alten Mustern. (Moralischer Klassicism: Rückkehr zu Socrates und Stoa.) Christus als absolute Norm. Der Hof. Alles auf die Ewigkeit gebaut. Vergil – Homer. Alle gleich unter Einem Herrn. Das neue ridiculum: "anders als Alle sein!" Letzter Grund: die Individuen haben sich ausgetobt und der Hochmuth wendet sich gegen sich innerlich. (Pascal) (auch Goethe)

8 [15]

Ich bin glücklich, keine moralische Erziehung gehabt zu haben (außer der durch Vorbilder)

8 [16]

Keine Erziehung, wirkliche Bedürfnisse erhalten Energie. Was soll aus der civilisirten Welt werden! Sand und Schleim!

8 [17]

"alle großen Interessen mit Ironie behandeln" weil man keine Zeit hat, sie tief zu nehmen – jetzt europäisch

8 [18]

so kindlich wie Pascal und unsere Theologen, welche bei Wissen und Glauben unwillkürlich meinen, bei Glauben handle es sich immer und allein um den christlichen Glauben

8 [19]

Nur zu solchen über Moral zu sprechen, welche sich mit der Lebensweise vieler Thiere vertraut gemacht haben.

8 [20]

Wir gehen häßlichen schmerzhaften Scenen aus dem Wege, wir wollen nicht mitleiden. Das sind die feineren Naturen. Die gröbere geht allem nach, was aufregt und die Langeweile vertreibt; um jeden Zank, jede Prügelei sammelt sich ein Kreis. – Wo der Trieb zu helfen da ist, da wird das unangenehme Gefühl des Mitleidens überwunden: und weil dabei regelmäßig das angenehme Gefühl, seinen Trieb befriedigen zu können, entsteht, meint man selber, das Mitleiden sei angenehm. Das Helfen kann auch nur ein Trösten sein. Der Glaser bei einem Hagel!

8 [21]

Gegen das Schreien und Hülfeflehen war man verächtlich gestimmt (Aeschylus Septem)

Aber Prometheus!

8 [22]

Manfred: niemandem das Recht geben ihn zu strafen, zu begnadigen, zu bemitleiden ("es <ist> nicht so schwer zu sterben, alter Mann").

8 [23]

Schlau und fröhlich, wie eine Eidechse in der Sonne

8 [24]

Z<acharias> Werner, Kleist und Brentano

8 [25]

der Sitte folgen und endlich sich an sie gewöhnen – das heißt doch unredlich sein! NB, feige sein! faul sein! Quelle der Moralität!!!

8 [26]

Natürlich-unnatürlich – ist nichts! Die Griechen haben die Liebe innerhalb desselben Geschlechtes zu dem höchsten Grade von Idealität gehoben, sie hießen die Knabenliebe eben gut.

8 [27]

Welche Gemeinheit! Gott will Liebe von den Menschen – und hat für die, welche sie versagen, die Hölle in Bereitschaft! Wie Tiberius und Nero! Ist es nicht achtbar, einem solchen Tyrannen sich zu weigern?

Gott als der Gerechte und der Richter ist kein Gegenstand der Liebe! Es ist undelikat! Er hätte sich des Richtens begeben müssen! Christus empfand nicht fein genug! In diesen Dingen sind wir reifer! Wenn Gott der Gegenstand der Liebe sein wollte, so – – –

8 [28]

Wie kommt es, daß die Deutschen keinen Geist haben? Sie empfinden langsam, und lassen ihre Empfindungen nicht reif werden, sie kreuzen sie durch Beruf oder alltägliche Dinge: so machen sie sich mittelmäßig, sie bleiben immer wie unreife Früchte.

1) sie verstehen nicht Muße zu haben

2) sie nehmen ihre Erlebnisse nicht ernst, als wichtig genug des allgemeinen Nachdenkens

3) sie lesen zu viel und sind eifrig servil gegen eine herrschende Partei oder Hof

4) sie machen Musik, nicht um eine Passion zu ertragen und sich zu erleichtern, sondern um sich aufzuregen!!! Deshalb brauchen sie die leidenschaftlichste Musik.

8 [29]

Die Deutschen möchten gar zu gern große Leidenschaften haben – nun, es thut nichts, wenn sie dieselben ohne Grimassen nicht darzustellen wissen, auf die Dauer werden sie sie haben! Dann werden sie auch erkennen, daß zwar Kraft das Erste ist, daß es aber Arten der Kraft giebt, welche ohne Grimassen sind.

8 [30]

Je weniger sie etwas durchdacht und sich selber zur Klarheit gebracht haben, um so unverschämter streichen sie die Farben des Gefühls auf, im Vertrauen, daß der Deutsche zuletzt immer an einen Gott glaubt, weil er jemanden unverständlich und erhaben sich gebärden sieht.

8 [31]

Pascal rieth, sich an das Christenthum zu gewöhnen, man werde spüren, daß die Leidenschaften schwinden. Dies heißt: seine Unredlichkeit sich bezahlt machen und sich ihrer freuen.

8 [32]

Mitleiden predigen – das wäre etwas für Künstler in einem harten streng persönlichen, vom dunklen Ernst der Leidenschaft beherrschten M<enschenthum>! so wirkte die Musik in Neapel ehemals! – Aber auf diese allzubeweglichen Seelen! Pfui!

8 [33]

Mein früherer Stil: weite Perspektiven, viel Verhülltes, Geheimnißvolles Wunderbares. Die Thatsachen aufblitzend, wie scheinbare Erhellungen dieser Geheimnisse. Grundglaube: das Wesen nicht mittheilbar, eine gehobene ahnungsvolle Stimmung macht Offenbarungen. Die Nüchternheit schadet diesem Verständniß. Die contemplative Ruhe und die Erinnerung an Furchtbares und Sehnsüchtiges wechseln ab.

8 [34]

Mein Zweifel an der Civilisation: sie nimmt die Gefahren, die große Passion, die Nothwendigkeit großer Menschen – man sollte eine Schutzwehr haben und Städte an den Vesuv gebaut: so ist die Fruchtbarkeit und der Genuß am größten!

8 [35]

Der Werth des Altruism ist nicht das Ergebniß der Wissenschaft; sondern die Menschen der Wissenschaft lassen sich durch den jetzt vorherrschenden Trieb verleiten, zu glauben, daß die Wissenschaft den Wunsch ihres Triebes bestätige! cf. Spencer.

8 [36]

Gesetzt die Wissenschaft kräftigt ihr Ansehen und herrscht: ihr sollt eine Schätzung der Lüge und der Fähigkeit zu erdichten erleben, wie noch nie! Ebenso wie das Christenthum vielleicht jetzt mehr gilt, als irgendwann! selbst bei seinen Gegnern!

8 [37]

Vielleicht weiß das schon alle Welt: aber ich weiß es erst seit gestern, da fiel es mir ein! Und nun lebe ich so fort, jeden Tag nur meine gestrige Entdeckung auf der Seele und bereit, sie an die Wand zu schreiben, damit alle Welt sich mit mir ihrer erfreue. – Welche Narrheit!

8 [38]

Eines Tags fand ich die Musik arm und unverschämt, sie wollte mir meine Gedanken rauben und mir vormachen, sie sei – – –

8 [39]

Die Veränderung der Bedeutung der Worte in Korkyra tritt im Großen immer ein? Der bürgerliche Frieden zieht ganz andere Geschmäcke groß, anderes ist da angenehm und nützlich und folglich gelobt.

8 [40]

Aber wenn wir unsere Leidenschaften wachsen lassen, so damit auch, wie wir wissen, die "Cristallisation": ich meine, wir werden unredlich und begeben uns freiwillig in den Irrthum?

8 [41]

Wenn wir nicht mehr moralisch loben und tadeln wollen, so werden die Triebe nicht weiter entwickelt?

8 [42]

immer melancholisch – aber ein Princip der Tapferkeit von Kindheit an macht, daß ich viele kleine Siege habe und in Folge dessen heiterer bin als es meiner Mel<anchiolie> geziemt.

8 [43]

Ich habe mein Ziel und meine Leidenschaft: ich will von der Kunst nichts als daß sie mir dasselbe verklärt zeige oder mich ergötze, ermuntere, zeitweilig abziehe. Das erste ist meine Art von Religion: ich sehe mein Ideal von anderen geliebt und verklärt und in die Wolken aufgetragen: ich bete mit ihnen!

Nicht soll die Kunst mich mir selber entführen, nicht mich vor dem Ekel retten.

8 [44]

Die Liebe bei R<ichard> W<agner> vampyrisch geschildert, mit dem Trumpf, die ganze Welt im Glück auszustechen – und gleichsam arm zu machen, alles mögliche Glück für sich in Besitz zu nehmen und gleichsam sich an allem, was ist, zu rächen (wofür? dafür daß es uns nicht ebenso liebt wie diese Senta Brünnhilde usw.)

8 [45]

Die verfluchten Neigungen zum Behaglichen und Gemüthlichen verurtheilen die Deutschen zur Mittelmäßigkeit des Geistes und machen sie unfähig, in allen großen Dingen mitreden zu dürfen: z. B. über die Frage des Glücks. Stört man sie auf, so sind sie das verstimmteste und kleinlichste Volk, mit jener kurzathmigen Rachgier der Mittelmäßigen, jeden Augenblick wehe thun zu müssen.

8 [46]

Die "Liebe zum Menschengeschlecht" mit Hülfe einer vernünftigen Erziehung – Stuart Mill, zum todtlachen!

8 [47]

Nach der Civilisation verlangen die, welche sehr in Angst sind. In der Civilisation zufrieden sind die Schwachen, die Feigen, die Faulen, die Geachteten, die Gewöhnlichen: Gleichheit als Ziel, endlich als Zustand. Der Sand. Die Moralität (christlich-jüdisch) ist jetzt die der Civilisation. Napoleon und das französische Volk nach der Revolution. Wer war mit der Organisation zufrieden?

8 [48]

Wo Heroismus ist, da giebt es kein Verbrechen mehr. Denn der Glaube, daß etwas gut ist, ist beim Heroismus.

8 [49]

mit jener Festigkeit, welche der hat, der auf seinem Platze steht, und der Leutseligkeit, welche er gegen Alle empfindet

8 [50]

Die Deutschen haben Mißtrauen, daß man ihnen Leidenschaften zutraue – deshalb machen sie sofort Grimassen und Excesse, nicht aus der Stärke des Affektes, sondern um sich Glauben zu verschaffen. Derart sind selbst die Leidenschaften bei R<ichard> W<agner>: so, daß man im Leben Jeden für toll halten müßte, der dergestalt seinen Empfindungen nachläuft (Ekel genügt, um jemand zu tödten) Es fehlt ganz der Genuß, den man ehedem moralisch nannte: daß einer sein Pferd zu reiten verstehe, daß es schön kühn leidenschaftlich sei wie sein Reiter, letzterer aber die Schönheit Kühnheit Leidenschaft durch seine Vernunft hindurch leuchten lasse, welche alles mäßigt und zum Ansehen erträglich macht. Bei dem wahnsinnigen Jagen jener Rosse hat man Schwindel und Erschöpfung.

8 [51]

Klassicism: der Genuß, so viele Andere sich unterwerfen zu sehen und den innerlichen Kampf sich dazu zu denken macht die Unterwerfung leicht, man nimmt es scheinbar frivol, um den Genuß zu haben, die Ernstesten und Hochmüthigsten zu Kreuze kriechen zu sehen! nämlich auf ihre Individualität Verzicht leisten!

8 [52]

Der Reiz aller Bußprediger, die große Macht öffentlich zu verachten! der Reiz aller Hochmächtigen zur tiefsten Erniedrigung und Hingebung und Abstinenz – dämonischer Zauber!

8 [53]

Neue Tapferkeit: zur Verachtung der Ehre! des Ruhms! des Namens! – wir bezahlen uns selber und verachten das, was Andere uns an Ruhm geben könnten!

8 [54]

die völlige Unfähigkeit des Gesang<s> hat den Sinn für Melodie vernichtet – jetzt das Dramatische und der Naturlaut!

8 [55]

Denken macht Fehler. Es ist nämlich der umgekehrte Weg der Gewöhnung, vom Schwächsten hinauf. Die Veränderung der Moral sehr wohl möglich, wie die des Geschmacks: nur Übung!

8 [56]

Naivetät des Moralischen gieng durch das Christenthum (und vorher durch Socrates) verloren, wie die französische Naivetät unter L<ouis> 14. – aus gleichen Gründen.

8 [57]

Die Grausamkeit und ihre Lust bei dem Starken, der sich selber bricht und einem Gesetz (Fürst Christenthum) unterwirft. Vorher ließ er sie an Anderen aus, indem er ihr Schicksal gestaltete (gut oder schlimm – es ist Grausamkeit, Freude den Thon zu kneten.)

8 [58]

Heiligkeit: man kann das Bewußtsein daran gewöhnen, das was in den Eingeweiden, im Blute vor sich geht nicht mehr zu merken oder anders (himmlisch) auszulegen.

8 [59]

Eine Handlung wird getadelt, weil sie uns (oder dem Ganzen, zu dem wir uns rechnen) schädlich oder ehrverletzend scheint: im umgekehrten Falle lobt man sie. Folglich ist sie nicht an sich gut oder böse.

8 [60]

Ich habe keinen Begriff von mir aus von einem M<enschen> welcher so sein will, wie es der gute Ton verlangt: der nicht zu lieben zu hassen zu urtheilen wagt, bevor er nicht weiß, wie hier der gute Ton befiehlt. Ich habe also gewiß keinen guten Ton! Ja ich verachte jeden, der sein will wie ein Andrer! der hinblickt, um zu sehen, was die Andren zu seinem Thun sagen! der immer an die Anderen denkt, nicht um ihnen zu nützen, sondern um vor ihnen nicht lächerlich zu sein – wäre er lächerlich, so würde er ihnen Vergnügen machen! entsetzlich! – Aber warum sollten wir nicht zu lachen geben! Wir selber haben den Vortheil davon, wenn unsere Mitmenschen guter Dinge sind! – "Aber sie achten nicht mehr, wenn sie lachen!" – Aber warum sollen sie euch fürchten? Und wehe mir, wenn etwas Lächerliches an mir genügt, um mir meine eigene Achtung vor mir zu nehmen! Dies aber geschieht bei den Eiteln, die sich vernichten möchten, nach einem Etikettefehler.

8 [61]

NB Ein Zeitalter der Barbarei beginnt, die Wissenschaften werden ihm dienen! – Sehen wir zu, wie wir das Höhere, den Extrakt unseres jetzigen Erkennens, doch erhalten: durch eine Gemeinschaft freier Einzelner welche sagen

1) es giebt keinen Gott

2) keinen Lohn und Strafe für Gutes und Böses (sittliche Welt)

3) gut und böse gilt je nach dem Ideal und der Richtung, in der wir leben: der beste Theil davon ist uns vererbt, zu dem ist es möglich, daß diese Urtheile selbst im Bezug auf die Förderung des jeweiligen Ideals falsch sein können. Das Ideal ist die Vorwegnahme der Hoffnungen unserer Triebe (der herrschenden Triebe)

um sich in der Barbarei trotzdem zu erhalten, wird diese Gemeinde rauh und tapfer sein müssen – asketische Vorbereitung

8 [62]

Gesundheit" nicht zu definiren als fest. Ein Ideal von dem Zustand, in dem jeder am besten thun kann, was er am liebsten thut: aber der Wilde ein Salonheld oder der Gelehrte werden einen ganz verschiedenen Zustand wünschen! – Wir leiden immer noch an den "klassischen" Begriffen, die wir kaum für die Poesie losgeworden sind. Man sagt der Apoll ist " schöner" als ein Fresko in Athen!

8 [63]

Der Zustand der Menschheit ist immer noch ein sehr früher, und einige der für sie wichtigsten Fragen sind noch nicht einmal aufgeworfen worden. – Unsere jetzige Wissenschaft hantiert mit einigen Vorurtheilen, wie als ob die Menschheit darüber immer einig sein werde: z. B. über den Werth der sympathischen Handlung, über irdisches Wohlergehen in Bezug auf Gesundheit usw. Aber, wenn ein anderes Ideal entsteht, ein anderer Trieb zur Herrschaft kommt, so hat die Wissenschaft wieder diesem sich unterzuordnen! Ich versuche die Grundvorurtheile der jetzigen Wissenschaft zu errathen! Es ist das Europäerthum!

8 [64]

Sie nennen es meinen Muth, Andere werden es meine Schamlosigkeit nennen. Das Loben und Tadeln trifft nicht die Sache, sondern ein Verhältniß des Lobenden und Tadelnden zu dieser Sache.

8 [65]

Mit den schönen Stimmen und deren Ausbildung und Genuß gieng der Genuß der Melodie verloren: und diese selber! Die Klaviervirtuosen kamen und führten die Harmonie ein. Jetzt ahmt das Orchester deren Leistungen nach: und daneben stellt sich die Barbarei des theatralischen Effekts auf die Leidenschaften und inspirirt die Componisten. Dies ist gröber als der Zauber des Virtuosen.

8 [66]

Dieselben Eigenschaften der Passionen können für oder gegen sie gewendet werden, je nach unserem allgemeinen Hang, z. B. ihr tiefer Ernst, ihre Bezauberung über die Realität, ihr absolutes Vertrauen-verlangen usw.

8 [67]

Ich habe oft geglaubt daß ich die Menschen belehren könne – und eine aus Stolz und Liebe gemischte Empfindung gegen sie gehabt. Jetzt, am Schlusse, sehe ich ein, daß ich nichts zu lehren habe, aber daß ich von Herzen bitte, es möchte solche geben, welche mich würdigten von ihnen zu lernen: denn die Fragen, die ich mir aufgeworfen habe, sind mächtig und – – –

8 [68]

Häckel: die Disposition, die Descendenz-Theorie und die unitarische Philosophie anzunehmen bilde den besten Maaßstab für den Grad der geistigen Superiorität unter den Menschen. er nennt die Engländer und die Deutschen: er läßt die Franzosen weg (Lamarck und Comte!

8 [69]

Das Leben der Frauen hat eine sehr anreizende Paradoxie: es läuft auf einen Akt hinaus, der das gerade Gegentheil aller Schamhaftigkeit und ihres ganzen durch Erziehung angestrebten Denkens ist. Was Wunder, daß für sie alles Mirakel wird, und mit dieser Paradoxie zusammenhängt!

8 [70]

Die Sprachen als das Werk Einzelner oder von Priesterschaften – wie die Religionen.

8 [71]

Wie ist das außerordentliche Vergnügen zu erklären, das Comte bei altruistischen Empfindungen hatte? Amour?

8 [72]

Der Genuß in Ceremonien und Formalitäten groß bei jungen Civilisationen: für die Künste zu beachten!

8 [73]

Für Menschen gesagt, die nicht gedacht haben: man überläßt sich dem Mitleid, nicht damit es angenehme Empfindungen errege (dies wäre nicht wahr, außer bei ganz einzelnen Menschen) sondern weil es immer angenehme Empfindungen erregt hat: so wie das Thier die Brut liebt usw. man bejaht es, wenn es bereits da ist!

8 [74]

"Le long espoir et les vastes pensées" Lafontaine.

8 [75]

Was gehen mich die an, welche eine alberne Gereiztheit zeigen, wenn überhaupt das Mitleiden nicht ohne Weiteres angebetet wird!

8 [76]

So lange alle menschlichen socialen moralischen Bande abstreifen, bis wir tanzen und springen können wie die Kinder

8 [77]

Ich habe den Geist Europas in mich genommen – nun will ich den Gegenschlag thun!

8 [78]

Die Edlen εσθλι die Wahrhaften die sich nicht zu verstellen brauchen! Als Mächtige und Individuen!

8 [79]

die Existenz der Kirche giebt den Freigeistern noch Freiheit vor der Wissenschaft NB jetzt noch!

8 [80]

In Deutschland hat man fast das Bedürfniß und daher auch den Sinn der unschuldigen Musik verloren man denkt der Zeiten, wo auch die guten Frauen sich nicht genügend für die Nacht vorbereitet zu haben glaubten, wenn nicht der Schlaftrunk, ein schwerer heißer überwürzter Wein vor ihnen stand.

8 [81]

Gegen Schopenhauer: er hat die Miene eines M<enschen> der zufrieden mit sich ist, so gut zu reden wie die Personen Racines und Schillers (nach Stendhal) Gut, er ist voll von Leidenschaft, aber zunächst ist er zufrieden damit, schön zu sprechen.

8 [82]

Wie kommt man darauf, jemanden zu ehren, weil er eines tiefen und mannichfaltigen Mitleids fähig ist und leicht dazu erregt wird? Er muß unglücklicher sein als die Anderen und immer darauf aus, die Anderen zu trösten, aufzuhelfen usw. also sein Unglücklichsein ist angenehm 1) weil es eine Wirkung unserer Leiden zeigt 2) weil es die Aussicht auf Abhülfe des Leidens, auf Milderung zeigt. Wir ehren ihn, weil er anders ist als wir erwarten? – aber warum verachten wir ihn nicht? Weil, wenn wir ihn nicht ehrenswerth empfinden, unsere Wirkung auf ihn nichts Lustvolles für uns hat. Es ekelt uns, Eindruck auf erbärmliche Seelen zu machen. Es geht also unsere geheime Neigung dahin, ihn uns als tüchtigen guten achtungswerthen Menschen zu denken. Außerdem wollen wir nicht von schlechten Gesellen bemitleidet sein: es setzt uns vor uns herab! Also: wann demüthigt das Bemitleidetwerden nicht? Wenn es erhebt! Das thut es, wenn ein hochansehnlicher Mensch (durch Herz Geist Stellung usw.) oder ein Gott mit uns empfindet – also wenn eine Gleichsetzung stattfindet, die uns zu Ehren gereicht (wodurch wir uns höher gehoben fühlen!!) Also: wir ehren gern den Mitleidenden, damit wir den Genuß an unserer eigenen Erhebung haben können! oder weil!

8 [83]

Die Begeisterung, welche in Deutschland sofort zur Verdummung und zur Servilität führt

8 [84]

Das Ergebniß aller absoluten Moral wäre die äußerste Verkümmerung des Menschen ja Vernichtung. Sie wird nicht durch das Glück bewiesen!

8 [85]

Bei unseren größten Männern muß man immer noch sagen: möchten sie etwas mehr Genie haben und etwas weniger Schauspieler sein!

8 [86]

Wie deutsche Maler jetzt malen, deutsche Musiker componiren, deutsche Dichter dichten: man hört die Anmaaßung, die Schauspielerei der Größe heraus.

8 [87]

Was heißt "wollen"? die Frauen können nach Willen weinen. Die Männer können auch weinen wollen, aber der Effekt bleibt aus. Was macht den Unterschied? Es fehlt die Übung des Mechanismus. – Man kann deutlich sprechen wollen, aber niemand versteht uns. – Also der Erfolg oder Nicht-Erfolg gehört nicht zum Begriff "Wille" – restirt also: begehren d. h. Vorstellung und Werthschätzung haben.

8 [88]

Sehr gute Zeit für die Freigeister – und nicht benutzt!

8 [89]

Zeitalter der nachgemachten Originalität (als Reizmittel)

8 [90]

Vortheil der Einsamkeit: wir lassen unsere ganze Natur, auch ihre Verstimmungen gegen unser Hauptobjekt los und nicht an anderen Dingen und Menschen: so leben wir es durch!

8 [91]

Warum ich der Leidenschaft ins Wort falle?

Ich könnte volltönend und heftig und hinreißend meine Sache vorbringen, wie ich sie empfinde – aber hinterher bin ich halbtodt und leidend, auch voller Verdruß, über Übertreibungen Auslassungen usw. Andere haben in der Leidenschaft erst ihren Geist ganz: ich in der unterdrückten und bekämpften Leidenschaft. Es thut mir alles wohl, was mich an diesen meinen Zustand erinnert!!

8 [92]

der Glaube an die Verwerflichkeit des Egoism hat die Menschen geschwächt. Die griechischen Philosophen lehrten den Glauben an die Dummheit der Nichtphilosophen als Ursache ihres Unglücks.

8 [93]

Es fehlen nur noch die großen überzeugenden Menschen – sonst ist alles zu einer völligen Veränderung vorbereitet, Principien, Mißtrauen, Auflösung aller Verträge, die Gewöhnung, ja das Bedürfniß der Erschütterung, die Unzufriedenheit.

8 [94]

Religion nouvelle

  1. für seltene Momente aufgespart
  2. Verehrung der Aufopferungslust
  3. kein Gott, kein jenseits, keine Belohnung und Bestrafung
  4. kein Beschuldigen mehr, keine Gewissensbisse, aber Vernunftsbisse
  5. das ich restituirt.
  6. das Schöne empfunden als das sich opfernde Ich
  7. keine allgemeine Menschenliebe, sondern Herrschaft der Triebe
  8. die höchste Klugheit als Norm genommen, als gemein und nicht verehrt deshalb, weil gewöhnlich
  9. die Unklugheit der Großmuth bewundert. Das Mitleiden eine Schwäche und Erholung – concedirt
  10. nicht als Opferung für Andre verehrt, sondern als der volle Sieg des einen Affektes über die anderen, so daß wir das Leben, die Ehre usw. ihm weihen: also die Fülle der Passion ist das Wesentliche.

8 [95]

Als ich mich analysirte nach Fundamenten religiöser Empfindung, fand ich Tapferkeit als das erhebendste Gefühl.

8 [96]

W<agner> dessen Fehler ist, nicht stolz genug zu sein, um die Schmeichler zu verabscheuen.

8 [97]

Nie hat sich der Zorn zu so düsterer Majestät und solchem Reichthum erhabener Nuancen entfaltet als bei den Juden. Was ist ein zürnender Zeus gegen einen zürnenden Jehova! Sie haben es von ihren Propheten auf ihn übertragen. Der Zorn wurde heilig und gut dadurch. Und mitunter brach durch diese Gewitterwolken ein Strahl väterlicher Güte – in einer solchen Landschaft hat Christus seinen Regenbogen, seine Himmelsleiter des Gottes zum Menschen geträumt: nirgends wo anders hätte man dies gekonnt als unter dem Volk der Propheten!

8 [98]

Die Wissenschaft hat viel Nutzen gebracht, jetzt möchte man, im Mißtrauen gegen die Religion und Verwandtes, <sich> ihr ganz unterwerfen. Aber Irrthum! Sie kann nicht befehlen, Weg weisen: sondern erst wenn man weiß wohin?, kann sie nützen. Im Allgemeinen ist es Mythologie zu glauben, daß die Erkenntniß immer das was der Menschheit am nützlichsten und unentbehrlichsten sei, erkennen werde – sie wird eben so sehr schaden können als nützen – die höchsten Formen der Moralität sind vielleicht unmöglich bei voller Helle.

8 [99]

Mitleid empfinden und nicht helfen können ist äußerst bitter. Sublimirung der Grausamkeit: Mitleid erregen. Gott leidend zu machen Bestreben des Christen

8 [100]

Schön: jeder nennt das schön, was entweder der sichtbare Ausdruck dessen ist, was ihm angenehm (nützlich) ist oder die Erinnerung daran erweckt oder gewöhnlich mit ihm verbunden erscheint.

8 [101]

Derselbe Trieb entwickelt sich als Feigheit, unter dem Eindruck des Tadels, der dieser Handlung folgt: und als Demuth unter dem Eindruck des Lobes. NB. Vielleicht sollte ich nicht von Sublimirung reden, es giebt zwei Arten der Entwicklung, eine verkümmernde mit Widersprüchen des Gefühls sich vollziehende und eine blähende, sich selber des Guten bewußte. (Das Böse als Melancholie

8 [102]

Feuer im Leibe, Schnee auf dem Haupte und den Mund voll schwarzer Dämpfe wie der Aetna – Savonarola

8 [103]

Die langen Nachschatten des Christenthums (auch die Philosophen wie Socrates haben mitgeholfen): sie haben die Menschen überzeugt vom Altruism als der Quelle des Glücks und ihre Sprungfedern matt gemacht (die persönliche Passion) indem sie das gute Zutrauen dazu genommen haben. Alle Moral ist seitdem auf Sympathie aus: das Christenthum überbieten mit allgemeiner Menschenliebe – das bringt Sand und Brei hervor! Sein Fundament zertrümmern – Aufgabe der Wissenschaft! D. h. freilich, nach jetzigem Begriff: die Menschen böse machen, egoistisch usw.

8 [104]

Erstaunt über den Trieb, der ihn zu beherrschen scheinen wollte, ärgerte er sich, brüskirte seinen Trieb so sehr als möglich, und, sofort zerstreut, wenn er ihn erlegt hatte, machte er sich frei davon, indem er das Bekenntniß seines Erfolges publizirte.

8 [105]

Eine einzige Idee bringt bei ihm 1000 andere hervor, das geringste Wort trieb seine Unterhaltung in hohe Regionen, wo die gesunde Logik ihm nicht immer folgte, aber der Geist unaufhörlich sich bemerkbar machte. Er hatte nicht das Bedürfniß des Zweiten, um sich zu erhitzen. Er gieng sofort sehr weit, aber aufmerksam, ob man ihm gefolgt wäre.

8 [106]

cette civilisation, die immer ein wenig "seine persönliche Feindin" war, nach Talleyrand. –

8 [107]

"Es giebt nichts Edles und nichts Niederes in der Welt". Je suis lâche, moi, essentiellement lâche. Napoleon war über honneur erhaben!

8 [108]

"ich gebe mein Wort, es giebt in mir kein Widerstreben, etwas zu thun, was die Welt eine entehrende Handlung nennt."

8 [109]

Meine geheimen Neigungen, après tout die der Natur, gewisser Affektation von Größe entgegengesetzt, mit der ich mich dekoriren muß, geben mir unendliche Hülfsquellen, um mit dem Glauben aller Welt ein Spiel zu treiben (zu täuschen die, welche prätendiren, mich zu kennen)

8 [110]

Die Musik hat noch keinen zürnenden Gott dargestellt. –W<agner>s Wotan leidet an der Schwäche des deutschen Charakters, er will zu vielerlei und nichts völlig bestimmt. Sein Zorn ist gar nicht zu nennen neben dem des Michel Angelo'schen Gottes – dafür hatte dieser auch nur diesen Einen Gedanken im Kopfe.

8 [111]

"Soldaten, ganz von Siegen erregt, stellen sich in eine so stolze Region, von wo man sie mit Mühe herabsteigen lassen kann."

8 [112]

Die Furcht um alle Despoten ist, einen Vorwurf zu empfangen, wenn man im Geringsten etwas versieht: man bringt weder Gefühle noch Geist mehr hervor, denn man findet nicht mehr Gelegenheit, ein Gefühl oder die geringste Reflexion auszutauschen. So werden die verschiedensten Personen gleichgestellt und endlich gleich. Der Despot mit Plänen nach außen, dedaignirt die kleinen Erfolge, die er auf seine Umgebung hätte erringen können; wenn er noch so viel Verführungskunst verwendet hat, sie sich zu unterwerfen: ist es geschehen, so denkt er nicht daran, sein Joch und sich angenehm zu machen.

8 [113]

die Herrschaft der Frauen habe die Könige von Frankreich geschwächt: an Napoleon's Hofe sollten sie nur Zierath sein.

8 [114]

Napoleon war überzeugt, daß die Frauen in Frankreich mehr Geist hätten als die Männer – er sagte es oft. Die Erziehung, die man ihnen gebe, disponire sie zu einer gewissen Geschicklichkeit, gegen die man sich vertheidigen müsse.

8 [115]

Napoleon nannte dévouement: den, der seine ganze Person, alle seine Gefühle alle seine Meinungen gebe: er wiederholte, es sei nöthig, uns hinzugeben bis zu der kleinsten unserer alten Gewohnheiten, um nicht mehr als Einen Gedanken zu haben: den seines Interesses und seines Willens.

8 [116]

"Ich habe das Recht, auf alle Ihre Klagen durch ein unsterbliches moi zu antworten. Ich bin abseits von aller Welt, ich nehme Bedingungen von niemand an" "Sie müssen sich allen meinen Phantasien unterwerfen und es ganz einfach finden, wenn ich mir ähnliche Zerstreuungen gebe"

8 [117]

"das Metier des Kriegs macht eine Aufrichtigkeit der Generale, daß sie selbst ihre neidischeste Affektion zeigen: die Gewohnheit, den Feind offen zu bekämpfen, giebt ihnen die Gewohnheit nichts zu verschleiern, sie sehen in aller Opposition eine Feindschaft"

8 [118]

Ein gigantischer Plan: bereit ihn zu entwerfen, bereit ihn auszuführen: von Zeit zu Zeit die Basen für ihn legend. Durch diesen einzigen Gedanken bewegt: losgelöst von allen Eindrücken zweiten Ranges, die sein Projekt hätten aufhalten können. Durch die Weite seines durchdringenden Scharfsinns und die Zähigkeit seines Willens der außerordentl<ichste> Mensch. Im Falle sein Ziel das Wohl der Menschheit gewesen wäre, der größte Mensch.

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von Unruhe verzehrt, von Verdacht und Mißtrauen, Sklave seiner inneren Leidenschaften, alle Macht fürchtend, selbst die, welche er geschaffen hatte.

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Die grosse Frage.


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