Friedrich Wilhelm Nietzsche
Fragmente Anfang 1880 bis Sommer 1882, Band 3
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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[Ende 1880]

[Dokument: Notizbuch]

7 [1]

Das Christenthum hat gelehrt 1) ein ungeheures Mißtrauen gegen uns 2) und Menschenkenntniß – diese Vorsprünge haben wir vor dem Alterthum.

7 [2]

Nur in der tiefen Dunkelheit sind wir ganz wir selber: das Berühmtwerden umstellt uns mit Menschen und ihrem Verlangen an uns. Man muß seinen Ruhm ins Meer werfen.

7 [3]

Das Christenthum hat das Niedrigkeitsgefühl (Demuth) gut genannt: eine Leidenschaft daraus gemacht! Dadurch sich gehoben!

7 [4]

" Mit 40 Jahren ist man ein Kamel, mit 70 ein Affe" Spanier

7 [5]

Auch wir dürfen unseren Geschmack haben: aber es ist nicht mehr der ewige der nothwendige Geschmack! Und jede Zeit glaubt es von dem ihren! Und wir dürfen es nicht! Ein ganz neuer Zustand!

7 [6]

„Auf die Dauer sieht man nur die Anblicke der Natur, welche unserer Art, das Glück zu suchen, analog sind: der Eine nur Erhabenes, der andere die feinen und seltenen Gesichtspunkte. Der ganze Rest ist ihm langweilig." St<endhal>

7 [7]

Die Unächtheit ist mitunter nur ein harter Ausdruck für jene Passivität, vermöge <deren> ein M<ann> wie ein Weib immer Kinder zu Tage bringt, die ihrem Vater ähnlich sehen, und nicht ihm selber! Passive Künstler wie Liszt. Auch Denker welchen alle Arten von Wirklichkeit männlich imponiren und ebenso Liebe einflößen. Der Kampf gegen diese Passivität wird häufig von der Eitelkeit geführt. Dann aber auch von dem Gewissen der Treue, die sie uns oft gebrochen. Es giebt eine listige Gattung superiorer Naturen, welche über dieser Passivität stehen, sie gewähren lassen wie eine Leidenschaft, aber ihr Gelegenheiten machen: so eignen sie sich Erfahrungen an, denen andere Denker fremd bleiben.

7 [8]

Die Plage durch die Begierde ist an sich nicht so groß, wenn man sie für nichts Böses hält. So wenig als der Stuhldrang uns tiefe Seelennoth macht.

7 [9]

Diesen Gedanken muß ich nachfolgen, Tag und Nacht: sie überfallen mich in meinen Träumen. Ich bin nicht unter den wirksamsten Schmerzen vor ihnen sicher gewesen. Es giebt kein Band der Sympathie, welches nicht zerrisse, sobald diese Unerbittlichen ihre Hand daran legen. Es ist ein trauriges, erhebendes und süßes Ding um dieses Verstricktsein – ich zweifle, ob vielen Menschen das Leben so bejahungswerth wie mir erschienen ist, umhüllt von diesem melancholischen Feuer und Rauche.

7 [10]

Die Abneigung der griechischen Kunst gegen das Schreckliche: man hatte wirkliche Übel genug.

7 [11]

M<ichel> Angelo nahm seinem Gotte die Güte und Gerechtigkeit und machte einen Gott des Schreckens und der Rache daraus – er machte ihn logisch.

7 [12]

Ein Amt ist gut: man legt es zwischen sich und die Menschen, und so hat man sein ruhiges und listiges Versteck und kann thun und sagen, was Jedermann von uns zu erwarten für sein Recht hält. Auch ein frühzeitiger Ruhm kann so benutzt werden: vorausgesetzt, daß hinter ihm, unhörbar, unser eigenes Selbst wieder mit sich frei spielen und über sich lachen kann.

7 [13]

Die Unabhängigkeit ist die Entsagung des Herrschsüchtigen, dem nichts zu beherrschen gegeben ist als sich selber. Es ist die Brutstätte der größten Herrschbegier, denn wir können uns zu einem Unendlichen ausweiten und auf dies Unendliche wieder unsere Herrscherkraft ausdehnen. Seine Leidenschaft für das Unendliche hervorschießen lassen, so daß wir deren Sieger werden!

7 [14]

Die Deutschen wechseln ab mit Hingebung an das Ausländische und einem rachesüchtigen Verlangen nach Originalität, (Rache für ihre Scham beim Rückblick) – und die ganz unbedenklich guten Deutschen, welche produktiv sind, sind Vermittler gewesen und haben europäisch gearbeitet (wie Mozart und die Historiker usw.) – Die Deutschen, zum Beweise, daß ihre Originalität nicht Sache der Natur, sondern des Ehrgeizes ist, meinen, sie liege in der völligen und faustdicken Verschiedenheit: aber so dachten Griechen nicht gegen den Orient, noch Römer gegen Griechen, noch Franzosen gegen Römer und Renaissance – und wurden original (man ist es nämlich zuerst nicht! sondern man ist roh!)

7 [15]

Diese ganze Philosophie – ist sie mehr als ein Trieb zu beweisen, daß reife Früchte, ungesäuertes Brod, Wasser, Einsamkeit, Ordnung in allen Dingen mir am besten schmecken und am zuträglichsten sind? Also ein Instinkt nach einer richtigen Diät in Allem? Nur eine milde Sonne! Da nähere ich mich meiner Art Erhabenheit, welche keine düstere und anspruchsvolle ist, sondern ein förmliches und einsames Schwärmen eines Schmetterlings hoch an den Felsenufern eines Sees, wo viele gute Pflanzen und Blumen wachsen? Unbekümmert darum, daß es vielleicht das Leben Eines Tages ist, und daß die Nacht zu kalt für meine geflügelte Gebrechlichkeit ist?

7 [16]

"Klima oder Temperament machen die Kraft der Sprungfeder: Sitte und Erziehung geben ihr den Sinn." Richtig!

7 [17]

Euer Cultus der Kraft ist alles Andere, nur kein Beweis von Kraft, wie bei M<ichel> Angelo! Ihr gebt euch hin, ihr wollt Kraft dabei trinken, ihr seid müde eurer Schwäche –

7 [18]

Wie die Italiäner sich eine Musik aneignen, dadurch daß sie dieselbe in ihre Leidenschaft hineinziehen – ja diese Musik wartet darauf, so persönlich interpretirt zu werden, und hat davon mehr als von aller Kunst der Harmonie – so lese ich die Denker und ihre Melodien singe ich nach: ich weiß, hinter allen den kalten Worten bewegt sich eine begehrende Seele, ich höre sie singen, denn meine eigene Seele singt, wenn sie bewegt ist.

7 [19]

Plan.

1. Cap. Wir glauben, es sei der Gegensatz einer Leidenschaft: aber es thut wohl, und deshalb beginnen wir den Kampf gegen die Leidenschaften zu Gunsten der Vernunft und Gerechtigkeit. Wir Arglosen!

2. Cap. Wir entdecken plötzlich, daß es alle Merkmale der Leidenschaft selber trägt. Wir leiden bei dieser Erkenntniß, wir trachten nach dem ungetrübten morgenstillen Lichte des Weisen. Aber wir errathen: auch dieses Licht ist leidenschaftliche Bewegung, aber sublimirt, für Grobe unerkennbar.

3 Cap. Wir suchen uns der Knechtschaft zu entziehen, wir beugen uns anderen Leidenschaften (Kunst) Wir suchen sie durch Zerlegung zu tödten, durch Ableitung ihres Ursprungs. Wir entdecken dabei, wie überhaupt Leidenschaften entstehen, wie sie veredelt werden und wirken.

4 C<ap.> Die Rückwirkung von außen beginnt. alles, was wir selber dagegen eingewendet haben, um uns los zu machen, alle unsere Irrthümer kehren von außen her auf uns los, als Zerfall mit Freunden usw. Es ist eine neue und unbekannte Leidenschaft. Ihre düstere Seligkeit! sie läßt uns tragen! sie wirkt Einsamkeit, sie enthüllt uns die Denker!

7 [20]

Einer der M<enschen> den ich am höchsten verehrte, ist mir von dem Augenblick an verächtlich erschienen, wo er, der von den Forderungen Erlebnissen Tragödien der Erkenntniß einen Begriff haben konnte, wegen gewisser ihm unangenehmer Wirkungen der Erkenntniß die Wissenschaft vorzog zu verunglimpfen. Und wir, die wir so Unendliches durch sie leiden, lieben sie immer noch! – Was ist das doch für eine verfluchte Weichlichkeit gegen sich und Mangel an Ernst! Nicht zu hassen, nur zu verachten!

7 [21]

Kant: der Mensch ist ein moralisches Wesen: folglich ist er 1) frei 2) unsterblich 3) giebt es eine belohnende und strafende Gerechtigkeit: Gott. – Aber das moralische Wesen ist eine Einbildung, also: – – –

7 [22]

Man soll das Erhabene nicht zu theuer kaufen (wie die Heiligkeit Gottes)

7 [23]

In Frankreich wurde die Originalität gefährlich und verächtlich und langweilig (unter L<ouis> 14) daher (nicht aus Bequemlichkeit wie die D<eutschen> das Modell.

7 [24]

1) Unterschiede anerzogener Urtheile, die aus einer Art zweiter Natur stammen und der ersten fremd oder widerstrebend sind: meistens sind sie etwas linkisch und befangen, aber insofern sie einen Sieg ausdrücken, lieben wir sie fast mehr als die mühelosen Früchte unseres Gartens (und taxiren ihren Werth im Allgemeinen höher, es ist das was unser Klima gerade noch hat ertragen können, südlichere Vegetation scheint es dem Einen, nördlichere dem Anderen) Die hier verwendete Kraft geht freilich der Pflege unserer ersten Natur ab! Und das ist oft gut, wo diese selber schon üppig treibt! "Gerechtigkeit" ist eine Sache für überreichlich angelegte Menschen! Also für die Kraft, die in Gefahr ist, sich nicht bändigen zu können! Andere möchten gerne als solche übervolle Nat<uren> gelten und zeigen sich gern ungebändigt: es giebt für Hypokriten dieser Art eine zweite feinere Feinheit! – durch Bändigungs-Versuche zu verrathen, daß etwas zu bändigen ist.

7 [25]

Damit ein Künstler oder Denker seine Art zur Vollendung bringe, muß er wohl den Glauben haben, der eine Ungerechtigkeit und Beschränktheit gegen den Glauben Anderer ist. Denn er muß mehr darin sehen und etwas Größeres als es ist: sonst wendet er, seine ganze Kraft nicht auf. Es wird durch die lange Reibung der Ausführung unendlich viel von dem Entzückenden abgerieben, das der erste Gedanke hat: darum muß die Entzückung viel größer sein als billig ist – sonst reicht sie nicht bis zu Ende!

7 [26]

Woher kommt es, daß das Christenthum die Grausamkeit gegen die Thiere in Europa verbreitet hat, trotz seiner Religion des Mitleidens? Weil es viel mehr als dies auch eine Religion der Grausamkeit gegen Menschen ist.

7 [27]

Damit einer aufrichtig sich der Gerechtigkeit im Großen, gegen Menschen und Dinge, hingiebt, muß in ihm ein prototypischer Vorgang da sein: er muß zwei Gewalten oder mehrere im Kampfe fühlen, den Untergang keiner, ebenso wenig wie den Fortgang des Kampfes wünschen. So erfährt er in sich die Nöthigung zu einem Vertrag, mit Rechten der verschiedenen Gewalten gegen einander: und auch eine durch Gewöhnung an die Achtung dieser Rechte begründete Lust an dem Gerechtsein. Sein inneres Erlebniß strahlt nach außen. Vielleicht daß einer auch von außen her nach innen zu solchem gerechten Sinn kommt. Schonung ist die Praxis der Gerechtigkeit: vieles sehen, aber nicht bemerken wollen, vieles ertragen, aber, um des allgemeinen Friedens willen, freudig dazu sehen – es kann ein Stoicism werden, der wie ein Epicureism aussieht.

7 [28]

Die griechische Anmuth war so streng, daß sie uns heute als Würde erscheinen möchte. Und die antike gravitas eines Philosophen oder Staatsmannes würden wir kaum aushalten. Unsere Künstler, welche sich wunder was auf das schöne Sich-gehen-lassen einbilden, würden im Auge des Stoikers wie ungezogene Knaben erscheinen.

7 [29]

Pascal's Gespräch mit Jesus ist schöner als irgend etwas im neuen Testament! Es ist die schwermüthigste Holdseligkeit, die je zu Worte gekommen ist. An diesem Jesus ist seitdem nicht mehr fortgedichtet worden, deshalb ist nach Port-Royal das Christenthum überall im Verfall.

7 [30]

Ich kann mich ganz so behandeln wie ein Gärtner seine Pflanzen: ich kann Motive von mir entfernen, dadurch daß ich mich von einem Orte einer Gesellsch<aft> entferne, ich kann Motive in meine Nähe stellen. Ich kann den Hang, so gärtnerhaft gegen mich zu verfahren, künstlich pflegen oder verdorren machen.

7 [31]

Die Unglückl<ichen> die mit Einem Male die Tugend, durch eine Umwandlung erreichen wollen! Und verzweifeln, bei einem Rückfall! Während Übung den Meister macht.

7 [32]

Sympathie und Mitgefühl waren schwer in wilden kriegerischen Zeiten zu erregen – damals hatte der Dramatiker eine Aufgabe! Aber in unserem allzusensibeln Zeitalter ist wirklich der Cultus des Mitempfindens der kläglichste aller Culte – als ob nicht viel zu viel mitempfunden würde! Als ob nicht selbst die Handlung viel mehr durch Mitempfindung als durch Empfindung geleitet würde!

7 [33]

eigene " Seele" will ich sagen für Individualit<ät>

M<enschen> ohne eigene Seele

M<enschen> ohne Seele

Die eigene Seele.

7 [34]

Auch Kant, so dürftig sich seine Seele neben der Pascal's ausnimmt, hat einen ähnlichen Hintergedanken bei allen Bewegungen seines Kopfes: den Intellekt zu entthronen, das Wissen zu köpfen – zu Gunsten des christlichen Glaubens. Und nun muß es der christliche Glaube sein! als ob nicht wenn das Wissen geköpft wäre, alle Arten Glauben zugänglich würden!

7 [35]

Schopenhauer begriff nicht die Passion, sondern nur den allgemeinen Geschlechtstrieb und dessen Schrullen (aber die Passion ist die Leistung des Individuums, unter Italiänern folglich häufig, unter Deutschen schwach). In der Liebe ist der Deutsche gemein.

7 [36]

Die Anmuth ist das Ausruhen starker Seelen – die schwachen wollen umstrickt gefesselt verführt sein, sie finden die Anmuth wirkungslos und fade und begehren nach Excitantien (Emotionen)

7 [37]

Es giebt so viele Art<en> angenehmer Empfindung, daß ich verzweifle, das höchste Gut zu bestimmen. Neulich schien es mir das Schweben und Fliegen.

7 [38]

Das "Ding" eine Simplification. Nun will der Mensch sich selber begreifen, da hat er vor allem Worte nöthig: wenn er so und soviel Dinge am Menschen nennt, meint er zuletzt den Menschen als Summme dieser Dinge zu haben, zu begreifen.

7 [39]

Täglich erstaune ich: ich kenne mich selber nicht!

7 [40]

Ich meine nicht, daß die Redlichkeit gegen sich etwas so absolut Hohes und Reines sei: aber mir ist dabei wie bei einem Erforderniß der Reinlichkeit. Es mag einer sein, was er will, Genie oder Schauspieler – nur reinlich! (H. Heine hat etwas Reines.)

7 [41]

Die prachtvollen Leiber der antiken Statuen erscheinen schön, weil angenehm, weil nützlich (immer der Gedanke an Krieg!)

7 [42]

Der kleinstädtische "Geist"

7 [43]

Die Erhebung des Mitleidens zu etwas Gutem, christlich-buddhistisch.

7 [44]

Die Sachen ohne den Effekt der Sachen wären viel höher.

7 [45]

"Was liegt an mir!" ist der Ausdruck der wahren Leidenschaft, es ist der äußerste Grad, etwas außer sich zu sehen.

7 [46]

Der Realism in der Kunst eine Täuschung. Ihr gebt wieder, was euch am Dinge entzückt, anzieht – diese Empfindungen aber werden ganz gewiß nicht durch die realia geweckt! Ihr wißt es nur nicht, was die Ursache der Empf<indungen> ist! jede gute Kunst hat gewähnt, realistisch zu sein!

7 [47]

In Bezug auf den stärksten Trieb, der zuletzt unsere Moralität regulirt, müssen wir die Frage: warum? lassen (z. B. wer Stolz in seinem Fundamente hat)

7 [48]

Das "du mußt" in ein "du sollst" umzuempfinden – ist das Kunststück! Umgekehrt als für den gewöhnlichen Menschen, der das "du mußt" nicht begreift.

7 [49]

Vom Thiere und von der Pflanze müssen wir lernen was Blühen ist: und darnach in Betreff des Menschen umlernen. Jene bleichen ausgemergelten zeugungsunfähigen, an ihren Gedanken leidenden Menschen können nicht mehr Ideale sein. Es muß eine Entartung in uns gewesen sein, die einen so schlechten Geschmack hervortrieb. Ich bekämpfe diesen schlechten Geschmack.

7 [50]

Ist denn kein Ausweg! Nirgends ein Gesetz, welches wir nicht nur erkennen, sondern auch über uns erkennen!

7 [51]

Der Reiz der bekämpften Schwierigkeit (Wagner) und der Reiz der überwundenen Schwierigkeit (durch künstliche Figuren hindurch ein Gefühl z. B. die Liebe noch zum Ausdruck bringen z. B. Petrarca)

7 [52]

Es kommt in der Wirklichkeit nichts vor, was der Logik streng entspräche.

7 [53]

Ich bin nicht im Stande, irgend eine Größe anzuerkennen, welche nicht mit Redlichkeit gegen sich verbunden ist: die Schauspielerei gegen sich flößt mir Ekel ein: entdecke ich so etwas, so gelten mir alle großen Leistungen nichts; ich weiß, sie haben überall, und im tiefsten Grunde, diese Schauspielerei. – Dagegen ist die Schauspielerei nach außen (z. B. Napoleon's) mir begreiflich: wahrscheinlich ist sie vielen Leuten nöthig – Dies ist eine Beschränktheit.

7 [54]

Manche Menschen sind einfacher, aber meistens ist wohl das Individuum unerkennbar und ineffabile. Folglich ist das Muster nothwendig eine Täuschung! Wenn ich das Material des Baues in Masse und Art nicht kenne, was sind Baupläne! Und wie beschränkt macht uns dieses ewige Nachdenken über das ego! Man hätte für die Kenntniß der Welt nicht Zeit! Und wäre gar diese Kenntniß erst ein Mittel zur Erkenntniß des ego, so kämen wir nie zur Aufgabe selber! Und zuletzt diese Verliebtheit in unser eigenes Muster ist eine Unfreiheit mehr!

7 [55]

der heilige Zorn (Juden als Dramatiker), der heilige Neid (Griechen αγων)-Affek<te> als gut empfunden (auch bei Hesiod)

7 [56]

Was nach wissenschaftlichen strengen Causalbegriffen uns wirklich gut ist (z. B. unbedingter Glaube usw.) das ist vielleicht eben durch die Strenge des wissenschaftlichen Geistes uns nicht mehr möglich! (Gegen Spencer's harmlose Gläubigkeit an die Harmonie von Wissen und Nutzen)

7 [57]

Ohne es zu merken, genießen wir die vertrauensvol<lste> Ruhe in der Welt, wie als ob sie eine Vorsehung wäre: mitten in unserem kalten Fatalism empfinden wir eine warme Luft von älteren, religiösen Empfindungen. Unsere erschreckende Mündigkeit! In die Welt hinein gestoßen!

7 [58]

Die Unterscheidung von höher und niedrig<er> in Bezug auf den Körper und die Organe ist nicht die Unterscheidung der Wissenschaft! Sondern je weniger wir etwas von der Thätigkeit eines Organs sehen, um so höher stellen wir es. Oder riechen! Oder fühlen! Der Ekel entscheidet über hoch und niedrig! Nicht der Werth! Hier ist ein Anfang der moral<ischen> Unterscheidung gefunden! NB

7 [59]

Der Gelehrte unter dem Joche 1) der Kirche 2) der Höfe 3) der galanten Gesellschaft 4) der Jugenderziehung 5) der kaufmännisch-industriellen Interessen 6) der Nationen – dies ist seine Geschichte! Dann die Vereinzelten! Montaigne Stendhal usw.

7 [60]

Die Vorstellung: "dieser Gedanke könnte nicht wahr sein!" erschüttert mich. "Er wird als nicht wahr gelten" – läßt mich kalt, ich setze es voraus: denn sie haben nicht so viel Zeit und Leidenschaft zuzusetzen wie ich.

7 [61]

Der moral<ische> Jargon in unserem Munde würde uns beleidigen oder lächerlich stimmen. Es bleiben uns nur Handlungen zum Ausdruck. Und falls Schriften diese Handlungen sind, –

7 [62]

Wie verhält sich das Muster zu unserer Entwicklung? zu dem, was wir nothwendig erreichen müssen? Ist das Muster günstigsten Falls ein Vorwegnehmen? Aber wozu dann nöthig?

Es ist eine sicher und lange ausgeführte Vorstellung vom "Ich", die uns am lustvollsten ist und als Motiv wirkt zu thun und zu lassen (die Meisten haben keines!) Wenn es nicht ausführbar ist, ja wenn es nicht ausgeführt wird, so ist es fehlerhaft entworfen, aus Unkenntniß von uns. Jedenfalls ist es ein nothwendiges Produkt aller unserer Fähigkeiten: bei dem einen eine leere Phantasterei, bei dem anderen eine schöne Dichtung, bei dem dritten ein architektonischer Entwurf – und hier giebt es wieder alle Arten von Geschmack der Architektur. Ein Versuch, unser unendlich complicirtes Wesen in einer Simplification zu sehen und zu begreifen. Ein Bild für ein "Ding".

7 [63]

Arbeit, jetzt gut, sonst böse. Die 2 heroischen Zeitalter bei Hesiod, deren Rückseite, gut und böse.

7 [64]

Christenthum und Judenthum: das Ideal außer uns gesetzt, mit höchster Macht und befehlend! und belohnend und strafend! – Wie hoch muß ein jeder stehen, um dies sich selber zu leisten! Und wie wenig willkürlich wird ihm das Bild von sich erscheinen müssen! Darf er sich als dessen Schöpfer fühlen?! Kaum!

7 [65]

Ist es möglich, das Gewissen in die Sprache unseres Musters mit uns zu verwandeln? Dann gienge es. Sehr selten! Aber dies ist kein Einwand!

7 [66]

Der autonome Mensch ist sehr selten. "Der M< ensch> unter Satzungen" die "N<atur> selbst unt<er> Gesetzen."

7 [67]

Heiterkeit empfinden, wenn wir uns unter unserem eigenen Ceremoniell genirt fühlen.

7 [68]

da die M<enschen> sich ändern, ändert sich das Bild der Geschichte fortwährend NB.

7 [69]

Man lobt und tadelt nach einem Muster (nennt moralisch oder unmoralisch) Vorher geht die Unterwerfung unter ein Muster. Gew<öhnlich> ist der, welcher Gewalt über uns hat, und nach seinem Willen lobt und tadelt, das Muster, es kostet am wenigsten Erfindung und Geist. Also: die sich als Ziel aufstellenden Individuen haben zuerst die Muster aufgestellt. Moral d. h. "ein Muster außerhalb" gab es nur für die Schwächeren.

7 [70]

Ich will nur mit Menschen umgehen, welche ihr eigenes Muster haben und nicht in mir es sehen. Denn dies machte mich für sie verantwortlich und zum Sklaven.

7 [71]

Keine falsche Nothwendigkeit annehmen – das hieße sich unnützer Weise unterwerfen und wäre sklavisch – daher Erkenntniß der Natur! – Aber dann nichts gegen die Nothwendigkeit wollen! Es hieße Kraft vergeuden und unserem Ideal entziehen, über dies die Enttäuschung statt des Erfolges wollen – NB.

7 [72]

Ich habe die M<uster> durchsucht und mein Ideal nicht unter ihnen gefunden.

7 [73]

Moralisch sein d. h. ein Ziel setzen und daraus alle unsere Handlungen logisch deduziren. Aber unsere Natur hat weder dies Ziel, noch hat sie diese selbe Logik! Deshalb läuft die Moral darauf hinaus, uns über die Natur zu täuschen d. h. uns von ihr führen zu lassen und uns etwas dabei vorzureden als ob wir sie führten.

7 [74]

"Die Nothwendigkeit des Ungewissen für uns: das Herz soll schlagen, die Muskeln zittern vor erwartender Thätigkeit. Alle Fragen gelöst außer Einer, alle würden wie die Wespen sich an diesen Einen Punkt hängen"

7 [75]

Wie ein Trieb, je nachdem man ihn lobt und tadelt, als gut oder böse empfunden wird, an der Liebe zu zeigen (bei Griechen, bei asketischen Christen, in der christlichen Ehe usw.)

Alle Idealisirung eines Triebes beginnt damit, daß man ihn unter die lobenswerthen Dinge rechnet. Wink für die Zukunft?? NB

Den Neid, den Haß, dabei zu verbessern. Zu beachten, wie verschieden das Mitleid geworden ist.

7 [76]

Die Thiere haben Gefühl der Macht d. h. Grausamkeit, und Glück der Ergebung d. h. Ruhe Trägheit NB.

7 [77]

Die Römer haben die Eitelkeit honestas gut genannt und hoch gehoben!

7 [78]

Scheinbar ist alles jetzt viel sicherer, die Welt viel fester (wegen der vielen streng bewiesenen Wahrheiten) Aber ehemals glaubte man mehr an den Irrthum als jetzt an die Wahrheit: wir sind unendlich vorsichtiger, skeptischer und folglich unter Umständen phantastischer als ehemals. Wir können ganz andere Träume träumen als die früheren!

7 [79]

Einfluß des Fliegens! – nicht mehr in den Ebenen! Auf den Stil selbst!

7 [80]

Allseitig geübte Verachtung der Welt: alle Befriedigung hier abgewiesen oder bitterböse empfunden – so drängt sich alle Begierde der Befriedigung in Einen Kanal: Leben jenseits der Welt!

7 [81]

Ich werde des Gil Blas nicht müde: ich athme auf, keine Sentimentalität, keine Rhetorik wie bei Shakespeare.

7 [82]

Wenn wir uns von der unlösbaren Aufgabe der sittlichen Autonomie und der unhaltbaren Aufgabe der Sittlichkeit als allgem<einem> Gesetz, voll Ekel wegwenden, zur Erkenntniß der Natur: sofort empfängt uns das Problem der Pflicht wieder: unsere Stellung zu den Dingen ist eine moralische, wenn wir sie wirklich erkennen wollen: also eine unhaltbare auf die Dauer! aber wir können uns lange Zeit darüber täuschen. Wir werden instinktiv uns von den höchsten Problemen abwenden, und uns dort aufhalten, wo die Täuschung einer moral losen Erkenntniß leicht ist (wir verwenden hier eine uns natürlich gewordene Moralität, als ob diese etwas Natürliches und Außermoralisches wäre!)

7 [83]

das Princip "das Wohl der Mehrzahl geht über das Wohl der Einzelnen" genügt um die Menschheit alle Schritte bis zur niedersten Thierheit zurück machen zu lassen. Denn das Umgekehrte ("die Einzelnen mehr werth als die Masse") hat sie erhoben

7 [84]

Die moral<ischen> Urtheile über die Handlungen entscheiden über deren Moralität: diese ist etwas relativ Äußerliches. Von innen gesehen sind die Handlungen anders als gut oder böse. Wohl aber können die m<oralischen> Urth<eile> uns zu Handlungen bestimmen und in ihrer Ausführung beeinflussen, wie eine allgegenwärtige Polizei, die auch die Handlungen nicht thut, über welche sie wacht. Ganze Gattungen von Handlungen können dabei aussterben: das mor<alische> Urth<eil> gehört unter die Frage nach dem Zweckmäßigen – sind die moral<ischen> Urtheile bisher im Interesse der menschlichen Entwicklung gewesen? Welche nicht? Ist das Ablehnen des mor<alischen> Urth<eils> nicht ein Nachtheil der Menschheit? Aber bisher war der Glaube an mor<alische> Urth<eile> dafür da!

7 [85]

Das Leben für Andere eine unendlich angenehme Erholung für die stark egoistischen Menschen (dazu gehören auch die moral<ischen> Selbstquäler)

7 [86]

passionner les détails NB.

7 [87]

Stendhal: der "gute Geschmack", wie man stirbt, einen Rivalen tödtet, Banquerott macht usw. zur Zeit der Mad. d'Épinay.

7 [88]

Das Alterthum wirkte als reizvoller Zwang auf die überschäumende Kraft der Renaissancemenschen. Man unterwarf sich dem Stile, man empfand die besiegte Schwierigkeit, nicht natürlich zu sein, es war die Handlungsweise von starken M<enschen> welche gegen sich stolz und herrschsüchtig sind. Nicht zu verwechseln mit dem feigen Sklavensinn ängstlicher Gelehrter!

7 [89]

"il faut être comme un autre" ehemals verehrt und produktiv, jetzt verachtet und erniedrigend für den, der danach empfindet.

7 [90]

Etwas zu schreiben, das in ein paar Jahren alle Bedeutung verloren hat – das wird mir unmöglich, mir vorzustellen. Es ist wohl ein Zeichen von Beschränktheit. Denn alles, was ich selber überlebe, gilt mir immer noch wichtig als Denkmal eines Zustandes, der mir werthvoll war. Ich wünsche mein Alter umringt von solchen Denkmälern.

7 [91]

Ich bin passionirt für die Unabhängigkeit, ich opfere ihr alles – wahrscheinlich weil ich die abhängigste Seele habe und an allen kleinsten Stricken mehr gequält werde als andere an Ketten.

7 [92]

Die Aversion gegen Kraft, tiefen Ernst, und Anschein der Güte ist modern. Folglich sind wir Deutschen und ich antik. So 278 St<endhal> Peint<ure>

7 [93]

Ein König, der seinem Thron entsagte und in voller Armut als Weiser lebte; ein Volksführer, der sein Reich opferte usw.

7 [94]

Die Deutschen sind bequem und nehmen daher gerne ein Muster, es erspart das Denken.

7 [95]

Die Veredelung der alltäglichen Gewohnheiten. Früher beim Priester theilweise, sein Gang, sein Handerheben, seine Stimme. Dann am Hofe: die Lust sich zu beherrschen und seine Empfindungen nicht merken zu lassen (oder in ein seidenes Gewebe eingehüllt) wurde groß. – Aber was heißt jetzt veredeln, dem Ideal dienen! Welchem Ideal? Sofort müssen wir ein Ideal haben! Und woher nehmen und nicht stehlen! – Das meine ist: eine nicht das Auge beleidigende Unabhängigkeit, ein gemilderter und verkleideter Stolz, ein Stolz, welcher sich abzahlt an die Anderen, dadurch daß er nicht um ihre Ehren und Vergnügen conkurrirt und den Spott aushält. Dies soll meine Gewohnheiten veredeln: nie gemein und stets leutselig, nicht begehrlich aber stets ruhig strebend und aufwärts fliegend; einfach, ja karg gegen mich, aber milde gegen Andere. Ein leichter Schlaf, ein freier ruhiger Gang, kein Alkohol, keine Fürsten, noch andere Berühmtheiten, keine Weiber und Zeitungen, keine Ehren, kein Umgang außer dem der höchsten Geister und ab und zu des niederen Volkes – dies ist unentbehrlich, wie der Anblick von mächtiger und gesunder Vegetation – die bereitesten Speisen, welche uns nicht in das Gedränge begehrlichen und schmatzenden Gesindels bringen, womöglich selbst bereitete oder der Bereitung nicht entbehrende.

Ideale der Art sind die vorwegnehmenden Hoffnungen unserer Triebe, nichts weiter. So gewiß wir Triebe haben, verbreiten diese auch in unserer Phantasie eine Art Schema von uns selber, wie wir sein sollen, um unsere Triebe recht zu befriedigen – dies ist idealisiren. Auch der Schurke hat sein Ideal nicht gerade für uns erbaulich Es hebt ihn! auch!

7 [96]

Wie sich alles verschoben hat! Dieser Epiktet dachte nur an sich – jetzt würde man ihm fast das Prädikat "moralisch" absprechen, in der üblichen Verherrlichung des Denkens an Andere. Aber es ist wahr: habt ihr an euch einen so häßlichen oder langweiligen Gegenstand, so denkt doch ja an Andere! Der Altruism ist dann sehr angenehm. – Hingebung, Loswerden vom "ich". Es scheint, daß die Menschen wenig Freude an sich haben, wenn sie so außer sich wegsehen und das als das Beste schätzen. Ob man mehr nützt, indem man den Anderen hilft (doch immer sehr oberflächlich oder tyrannisch-umbildend) oder indem man aus sich etwas formt, was die Anderen gern sehen, einen schönen ruhigen in sich abgeschlossenen Garten – ich weiß es nicht. – Aber man will dem Leben alle Gefährlichkeit nehmen, daran soll jeder helfen!

7 [97]

Den Arbeitern zu sagen, sie sollen sparen usw., ist albern. Man sollte ihnen lehren, das Leben zu genießen, wenig zu brauchen, vergnügt zu sein, sich so gering wie möglich zu belasten (mit Weib und Kind), nicht zu trinken, kurz philosophisch zu sein und die Arbeit so weit reduziren als sie unterhält, über alles zu spotten, cynisch und epikurisch zu sein. Die Philosophie gehört in diese Kreise.

7 [98]

Für die Künste ist ein Zustand der Wildheit und der kämpfenden Individuen besser als die allzugroße Sicherheit –

7 [99]

Das Lächerliche hat keine Dauer. Die Zeitgenossen Molière's lachten ihr bitteres Lachen, wenn sie einen sich verfehlen sahen in der Nachahmung des Modells.

7 [100]

Die staunenerregende Häßlichkeit des amerikanischen Lebens (in allen Novellen Bret Harte's), aber lachen können sie und es giebt in allem Naivetät und Sich-gehen-lassen. Selbst die Schurkerei bekommt eine so ganze Form und die Nähe von Wildheit und Revolverschüssen und Marine giebt kräftigen Athem.

7 [101]

Die griechischen Tugenden sind Ideale solcher Menschen die zuviel vom Gegentheil haben – sie phantasiren und übertreiben vom Werth der Besonnenheit Klugheit Gerechtigkeit Tapferkeit. Die Menschen welche dieses Ideal verwirklichen (Epictet) sind nicht in ihren Göttern vorgebildet, vielmehr deren Gegensatz!

Die griechische Tugend wurde eine Sache des αγων's, man war neidisch auf einander. Die Unbeweglichkeit als Ideal: in der Zeit, wo man schon zu empfindsam geworden war und die Leiden und Umschwünge zu groß (Zeit des Thukydides) Zur Statue werden: während die Tragiker die Statue (des Gottes oder Heros) hatten zu Menschen werden lassen.

7 [102]

Es ist mein Fleiß und mein Müssiggang, meine Überwindung und mein Nachhängen, meine Tapferkeit und mein Zittern, es ist mein Sonnenlicht und mein Blitz aus dunklem Wolkenhimmel, es ist meine Seele und auch mein Geist, mein schweres ernstes granitenes Ich, das aber wieder zu sich sprechen kann "was liegt an mir!"

7 [103]

Ein Interesse an den Dingen ("Die Wittwe ihres Sohns") und nicht an dem Reiz der Dinge macht den Denker ersten Ranges d.h. allerdings Reiz der Dinge für andere Dinge = Relation, aber nicht die zum Menschen oder gar zum Individuum.

7 [104]

Das vornehme Aussehen entsteht dadurch, daß der Körper, mehrere Geschlechter hindurch, Muße hatte, um allen Anforderungen des Stolzes gemäß sich zu bewegen: nicht also durch die Bewegungen eines Handwerks oder um gemeinen Gesellen zu befehlen, gezwungen und gewöhnt wurde, gemeine und erniedrigende Gesten oder Töne hervorzubringen: gemein d. h. nicht unserem Individ<uum> und seinem Stolze angemessen. Wenn der Stolz sehr hoch gieng, ins Geistigste, so entsteht englische Majestät, Güte und Größe gemischt: denn der höchste Stolz beugt sich väterlich und gütig zu den Anderer und versteht sich nicht anders als herrschend und fürsorgend. – An unseren politischen parvenus fehlt eben dies: man glaubt nicht an ihr natürliches eingeborenes Herrschen und Fürsorgen für Andere.

7 [105]

Seltsam! Ich werde in jedem Augenblick von dem Gedanken beherrscht, daß meine Geschichte nicht nur eine persönliche ist, daß ich für Viele etwas thue, wenn ich so lebe und mich forme und verzeichne: es ist immer als ob ich eine Mehrheit wäre, und ich rede zu ihr traulich-ernst-tröstend.

7 [106]

Alle diese Heiligen sind Egoisten und wie sollte es einer nicht sein, dem mit der Hölle gedroht wird! Es geht über alle Kraft und alle Vernunft hinaus, an Andere zu denken in solcher Lage! Bei Pascal ist der tiefste Egoismus: auch alle Verzückungen sind es.

7 [107]

Diese Partei hat den guten Willen zur Exaltation und Expansion noch mehr als die Kraft: denn sonst würde sie umgekehrt sich bemühen, diesen furchtbaren Drang zu bändigen und an ihm leiden.

7 [108]

Die Handeltreibende Klasse – sie versteht alles zu taxiren, ohne es zu machen d. h. sie versteht sich auf die Bedürfnisse des Consumenten, also nicht ihrer selber – hat darin ein Schema für ihre Art Cultur: überall Nachfrage und Angebot und demnach der Werth aus Sachen und Menschen! Dies macht sie mir widerlich!

7 [109]

Das Bewußtsein eines Kranken über seine Krankheit (und über die öffentliche Meinung, die sie erregt) hat sich ganz geändert (namentlich bei dem Geisteskranken) und folglich auch viele Wirkungen der Krankheit.

7 [110]

Nicht an das Mitleiden der Götter wandten sich die Griechen, sondern an ihre Dankbarkeit oder sie versprachen etwas. Die erbärmliche Rolle des Bettlers vor den Göttern war nicht anständig.

7 [111]

Zeichen des nächsten Jahrhunderts: 1) das Eintreten der Russen in die Cultur. Ein grandioses Ziel. Nähe der Barbarei, Erwachen der Künste. Großherzigkeit der Jugend und phantastischer Wahnsinn und wirkliche Willenskraft. 2) die Socialisten.

Ebenfalls wirkliche Triebe und Willenskraft. Association. Unerhörter Einfluß Einzelner. Das Ideal des armen Weisen ist hier möglich. Feurige Verschwörer und Phantasten ebenso wie die großen Seelen finden ihres Gleichen. – Es kommt eine Zeit der Wildheit und Kraftverjüngung. 3) die religiösen Kräfte könnten immer noch stark genug sein zu einer atheistischen Religion á la Buddha, welche über die Unterschiede der Confession hinweg striche, und die Wissenschaft hätte nichts gegen ein neues Ideal. Aber allgemeine Menschenliebe wird es nicht sein! Ein neuer Mensch muß sich zeigen. – Ich selber bin ferne davon und wünsche es gar nicht! es ist aber wahrscheinlich.

die individuelle Opferung zu massenhaft bei Socialisten und Anderen erzeugt einen zusammenfassenden Ausdruck: Großmuth! und die kaufmännische kalte Klugheit wird ihre Reaktion haben in einer absoluten Verachtung der Klugheit und des Respektabeln: folglich sehr viel Narrheit.

7 [112]

"Bossuet, ein Hypokrit voller Talent, der in Gegenwart Louis XIV ein geheimes Entzücken hatte, alle Arten Geister, auf die er so eitel war ravaler." Bei Stendhal.

7 [113]

Eindruck der Engländer auf die schwärmerischen Deutschen!!

7 [114]

"Die Zeit, welche der kalte Mensch braucht, solche Wahrheiten zu sehen (das Auszeichnende am Anderen Rivalen usw.) verwendet das Genie seine Erfolge vorzubereiten." NB.

7 [115]

Ah ich bin es müde Meinungen über Meinungen zu haben oder gar zu hören! Ich will selber vor den Dingen Recht und Unrecht haben.

7 [116]

Verstehen, so weit es einem jeden möglich ist – d. h. eine Sache so bestimmt als möglich sich auf uns abgrenzen lassen, so daß unsere Form an der Grenze bestimmt und wir uns ganz genau bewußt werden, wie angenehm oder unangenehm uns bei dieser Bestimmung zu Muthe wird. Also unsere Triebe fragen, was sie zu einer Sache sagen! Dagegen uns trieblos und ohne Lust und Unlust verhalten, mit einer künstlichen Anaesthesie – das kann kein Verstehen geben, sondern dann fassen wir eben mit dem Rest von Trieben, der noch nicht todt ist, die Erscheinung auf d. h. so matt und flach wie möglich, wohl aber können wir mitunter unsere Triebe der Reihe nach hintereinander über dieselbe Sache befragen: die Urtheile vergleichen – z. B. über ein Weib, einen Freund.

7 [117]

Ich finde an nichts genug Freude – da fange ich an, mir selber ein Buch nach dem Herzen zu schreiben.

7 [118]

(zu Seite vorher) die allgemeine Militärtüchtigkeit, die höhere Schätzung der Kraft.

7 [119]

Den civilen Muth ersticken, war die Aufgabe Richelieu's und L<ouis> 14' s (Stendhal)

7 [120]

Die furia francese bricht aus, von der Eitelkeit einmal überwunden und von der Hitze des Blutes: erhabene Tollheiten. Stendhal.

7 [121]

Vereiterung, Gährung und Ausscheidung – ekelhaft und abstoßend – die Empfindungen haben durch eine Symbolik auch Menschen und Handlungen erregt. So entstand der Begriff "niedrig" d. h. ekelhaft – moralischer Grundstock!

Dann wird das Leichte verachtet – wiederum ein Anlaß, höher und nieder zu unterscheiden! Das Starke und Schwache sodann – das Plötzliche und das Alltägliche usw. Das Thierische usw. Bei allen diesen Unterscheidungen der Empfindung in Bezug auf Handlungen ist die wirkliche Relevanz auf Erhaltung des Lebens, die strenge Causalität ganz außer Acht geblieben: also die wirkliche Bedeutung einer Handlung! Sondern nach nebensächlichen Gesichtspunkten ("angenehm" in verschiedenen Arten) NB.

7 [122]

Nicht um eines Zieles willen leben wir der Erkenntniß, sondern der erstaunlichen und häufigen Annehmlichkeiten im Suchen und Finden derselben.

7 [123]

Ich glaube, ich stelle mir die Freude der Weisheit und Gerechtigkeit zu hoch vor – wie die Griechen. Ich bin bezaubert bei allem, was dorthin winkt – wahrscheinlich weil ich sehr leidenschaftlich bin! – Ich bin äußerst mißtrauisch gegen die beredten Verehrer der Leidenschaftlichkeit – ich muthmaaße, sie möchten gern etwas vorstellen. – Die Griechen lebten nur in der Gefahr: sie verehrten in der Kraft, der Ruhe der Gerechtigkeit ihre Erholung, ihr Aufathmen, ihr Fest. Sie wollten nicht die Emotion noch – nur in der Tragödie, die des Mitleids (weil sie für gewöhnlich hart waren).

7 [124]

Eine Gesundheit voll unbegreiflicher plötzlicher Umdrehungen und Fallthüren – ein tiefes Mißtrauen unterhaltend, und jede glückliche Stunde mit einem absichtlichen Leichtsinn und Augenverschließen vor der Zukunft – sonst ist Glück nicht möglich

7 [125]

Faust und Hamlet sind Denker, mit denen sich die deutschen Philosophen auseinandersetzen!!

7 [126]

Dieser Gang ist so gefährlich! Ich darf mich selber nicht anrufen, wie ein Nachtwandler, der auf den Dächern lustwandelt, ein heiliges Anrecht hat, nicht bei Namen genannt zu werden. "Was liegt an mir!" dies ist die einzige tröstende Stimme, die ich hören will.

7 [127]

Zur Vorrede. Was habe ich gethan? Für mein Alter gesorgt: für die Zeit, wo die Seele nichts Neues mehr unternimmt, die Geschichte ihrer Abenteuer und Seefahrten verzeichnet. So wie ich die Musik mir aufspare für die Zeit, wo ich blind bin.

7 [128]

Ich mag nicht mit Menschen verkehren, weil ich ihr Gesicht nicht sehen kann, und ohne das ist ihr Reden mir verdächtig oder unverständlich, oder – ich rede allein, was mir hinterdrein Scham einflößt.

7 [129]

Der Christ (namentlich der müssige!) auf der Jagd nach seinen Sünden – um dann das große Drama der Verzweiflung und der Gnade wieder zu durchleben. Eine schwerlich schöne Art, sich zu unterhalten und dabei mag aus der Welt werden, was die wolle – das "ewige Heil" geht über alles.

7 [130]

Die Anbetung der πολις: man kannte sich zu gut, um zu wissen, wie wild und tyrannisch man sei, sobald die πολις; aufhört: die Enthüllung der korkyräischen Seele. Man betet das Stäte die Gerechtigkeit das Gute an, der Genuß als Resultat des bürgerlichen Friedens. Die Nähe des Vulkans machte die Altengerade hier so hochgestimmt und empfindsam.

7 [131]

Thukydides und Sophocles Vertreter der sophistischen Cultur.

7 [132]

Der Heißhunger darnach, sein Leben an etwas zu setzen, wird erwachen, sobald Dinge da sind, die diesem Durste entsprechen.

7 [133]

Nie etwas zurückhalten, was gegen dich gesagt werden kann! Gelobe es dir! NB

7 [134]

"Kein Ding ist würdig der Anstrengung, welche man daran setzt, es zu erlangen." Stendhal

7 [135]

Ein Weib mit einer großen Seele und einem ihr nicht unebenbürtigen Geiste, stark genug um zu fliegen und fein genug, um durch ein Nadelöhr zu kriechen –

7 [136]

Wer hielte jetzt noch Lessings ebenso altkluge als abergläubische Erziehung des Menschengeschl<echtes> aus!

7 [137]

Bäurisch, sehnsüchtig nach M<enschen>, rachsüchtig gegen die Geselligkeit und deren Gesetze, bald tiefe Verzweiflung, bald plötzliche Trunkenheit [–], versteckt, gegen seines Gleichen tyrannisch und überstreng, karg mit seiner Aufmerksamkeit, immer getrieben, ohne Zeit zur Muße, ohne Wissen um seine Liebenswürdigkeit, ohne Liebe und Erbarmen für sich, glühend in seinen Werken und mit dem Hammer wie ein Feind auf seinen Marmor zuschlagend, niemals Schauspieler und so redlich in seinen guten wie in seinen bösen Blicken.

7 [138]

Das Unpersönlich-nehmen des Denkens ist überschätzt! Ja es ist bei den stärksten Naturen das Gegentheil wahr! So aber hat man eine Brücke zur Moral gemacht!!

7 [139]

Ihr werdet nicht zu Don Juans der Erkenntniß, weil ihr nicht Consequenz genug und Charakter habt.

7 [140]

"Es hilft nichts: um die vollkommene Ruhe der antiken Skulptur zu empfinden, muß man keusch sein. Man muß die Leidenschaft in all ihrer Heftigkeit malen können, um jene Ruhe darzustellen." Stendhal

7 [141]

Ich hasse den Ruhm, der nur die Liebe der Frauen, Ansehen Reichthum Glück bringt. Ich will nicht klug, mäßig, weise sein! Einsam, wild – – –

7 [142]

"Soll man das Leben nach der Länge alberner Tage abschätzen? Oder nach der Zahl starker Freuden?"

7 [143]

"Wie die Leidenschaften malen, wenn man sie <nicht> kennt! Und wie Zeit für das Talent finden, wenn man sie im Herzklopfen fühlt!"

7 [144]

Et odoratus est deus suavitatem.

7 [145]

"In den Andern können wir nur uns selber schätzen. Die Urtheile großer Künstler über die Werke ihrer Nebenbuhler sind nur Commentare ihres eigenen Stils." Stendhal

7 [146]

Man muß verstehen, die Hand von seinem Werke zu thun.

7 [147]

Hat die Menschheit dasselbe Verfahren, wie die griechischen Künstler, welche um einen Gott auszudrücken ihren Statuen das Allzumenschliche der Muskeln usw. nahmen? die sämmtlichen Details wegnahmen? Ist der große Mensch ein Mensch, dessen Details hinweggedacht werden, vermöge der zwingenden vergötternden Gewalt seines Ganzen? Ist so die Tugend entstanden daß man das Mikroskop des Blickes abwandte, also unredlicher sah? Ist so die Gottheit vom Menschen gebildet, daß er immer mehr Menschliches übersah?

7 [148]

"Die vier Linien, der Riß der Zeichnung ist das Erste in der Erfindung der Großen; die guten Arbeiter dagegen machen sofort die Minutien." Stendhal

7 [149]

"Der antike Schmerz war schwächer als der unsere" Stendhal

7 [150]

So lange ihr die Schönheit im Apollo findet, müßt ihr die dazu gehörige Moral suchen: jene Schönheit paßt nicht zur christlichen!

7 [151]

Lord Byron Rousseau Richard Wagner waren das einzige Objekt ihrer eigenen Aufmerksamkeit – "diese schlechte Gewohnheit ist der Aussatz der Civilisation" sagt Stendhal.

"In Folge dessen übertrieb er seine Leiden."

"Immer ocupirt von sich und von dem Eindruck, den er auf andere hervorbrachte." "Er verstand sich nicht in einen Anderen umzuformen, der wenigst dramatische Autor."

7 [152]

Die Gewissensbisse Byrons waren eine Affektation mehr, sie machten Mode.

7 [153]

Sich nicht vor sich selber schämen, wie die Figuren W. Scott's. Stendhal. Dies ist christlich und sehr stark vererbt!

7 [154]

Es ist nicht möglich, außer der Moral zu leben – aber für den Erkennenden ist die Moral unmöglich. Moral als ein Regulativ im Verhalten der Triebe zu einander. Aber woher soll das kommen! Es kann zuletzt doch nur von einem Triebe inspirirt sein, der die Oberhand hat! Und wer kann dies entdecken! (Stolz usw.) Aus der erkannten Natur können wir keinen Antrieb nehmen. NB.

7 [155]

Das Kleine Nächste streng nehmen und den Menschen im Leiblichen sehr fördern – sehen, was für eine Ethik ihm dann wächst – abwarten! die ethischen Bedürfnisse müssen uns auf den Leib passen! – Aber die Athleten!

7 [156]

Ich erinnere mich kaum noch der Zeit, wo ich Gewissensbisse hatte. Zwischen meinem Träumen und meinem Wachen ist fast Gleichgewicht: nur daß meine Narrheiten in den Handlungen des Traumes und mehr in den Gedanken des Tages hervortreten – doch in gleicher Art. Auch denke ich viel in den Träumen, und nicht viel vernünftiger als jetzt.

7 [157]

"Die Zeit heilt jeden Kummer": die Zeit thut gar nichts. Vielmehr sind es die Befriedigungen vieler Triebe, die allmählich eintreten und Vergessenheit bringen – es ist das Mittel Epikurs gegen die großen Schmerzen: sich den Vergnügungen ergeben (die Schweinejagd bei Pascal nach dem Tode eines Sohnes) Auch die "Tröstungen der Religion und Philosophie" gehören unter diese abziehenden Vergnügungen: ihr Werth besteht vor allem in den Beschäftigungen mit ihnen und dem Nachdenken usw.

7 [158]

Die Vorstellung, daß etwas Fürchterliches an uns gekettet ist, färbt alle Empfindungen um. Oder: ein verbannter Gott zu sein, oder Schulden früherer Zeiten abzubüßen. Alle diese schrecklichen Geheimnisse um uns – machten uns vor uns sehr interessant! aber ganz egoistisch! Man konnte und durfte nicht von sich weg sehen! Das leidenschaftliche Interesse für uns verlieren und die Leidenschaft außer uns wenden, gegen die Dinge (Wissenschaft) ist jetzt möglich. Was liegt an mir! Das hätte Pascal nicht sagen können.

7 [159]

Ich will es dahin bringen, daß es der heroischen Stimmung bedarf, um sich der Wissenschaft zu ergeben! NB

7 [160]

"de l'amour" symbolice!

7 [161]

Die Mitempfindung erzwingen können – ist das die Strafe des Machtlüsternen? des Grausamen? Stendhal. Oder ist umgekehrt die Begierde nach Mitempfindung ein Verlangen der Machtlüsternheit? –

7 [162]

Ihr gewöhnt euch an die große Unruhe des Lebens, an den kopf- und seelenfressenden Fleiß, an die Betäubtheit. Ihr meint zuletzt, es sei nicht anders möglich zu leben ihr seid es eben gewohnt und tragt euer Joch! Es ist anders möglich.

7 [163]

7 [164]

Eurem Besten euer Bestes an Kraft und Zeit widmen! Nichts Besseres läßt sich erzwingen!

7 [165]

Man hat mir etwas vom ruhigen Glück der Erkenntniß vorgeflötet – aber ich fand es nicht, ja ich verachte es, jetzt wo ich die Seligkeit des Unglücks der Erkenntniß kenne. Bin ich je gelangweilt? Immer in Sorge, immer ein Herzklopfen der Erwartung oder der Enttäuschung! Ich segne dieses Elend, die Welt ist reich dadurch! Ich gehe dabei den langsamsten Schritt und schlürfe diese bitteren Süßigkeiten.

Ich will keine Erkenntniß mehr ohne Gefahr: immer sei das tückische Meer, oder das erbarmungslose Hochgebirge um den Forschenden.

7 [166]

Ich will nie zum Widersprechen herausfordern: vielmehr: helft, mit mir das Problem zu gestalten! Sobald ihr gegen mich empfindet, versteht ihr meinen Zustand und folglich meine Argumente nicht! Ihr müßt das Opfer der selben Leidenschaft sein!

7 [167]

Gesundheit meldet sich an 1) durch einen Gedanken mit weitem Horizont 2) durch versöhnliche tröstliche vergebende Empfindungen 3) durch ein schwermüthiges Lachen über den Alp, mit dem wir gerungen.

7 [168]

- das allzu-persönlich-Nehmen aller Probleme, Finsterniß, schlechter Weg, üble Herberge für den Wanderer und das ganze ewige Wanderer-Elend Menschen!!!

7 [169]

Unsere Leidenschaften sind die Vegetation die den Felsen nackter Thatsachen sofort wieder zu umkleiden beginnt. Das ewige Spiel!

7 [170]

Weder gut noch böse!!!

7 [171]

Ja, wir gehen an dieser Leidenschaft zu Grunde! Aber es ist kein Argument gegen sie. Sonst wäre ja der Tod ein Argument gegen das Leben des Individuums. Wir müssen zu Grunde gehen, als Mensch wie als Menschheit! Das Christenthum zeigte die Eine Art, durch Aussterben und Verzicht auf alle rohen Triebe. Wir kommen durch Verzicht auf das Handeln, das Hassen das Lieben ebendahin, auf dem Wege der Leidenschaft der Erkenntniß. Friedliche Zuschauer – bis nichts mehr zu sehen ist! Verachtet uns deshalb, ihr Handelnden! Wir werden eure Verachtung anschauen -: los von uns, von der Menschheit, von der Dingheit, vom Werden –

7 [172]

Ich meinte, das Wissen tödte die Kraft, den Instinkt, es lasse kein Handeln aus sich wachsen. Wahr ist nur, daß einem neuen Wissen zunächst kein eingeübter Mechanism zu Gebote steht, noch weniger eine angenehme leidenschaftliche Gewöhnung! Aber alles das kann wachsen! ob es gleich heißt auf Bäume warten, die eine spätere Generation abpflücken wird – nicht wir! Das ist die Resignation des Wissenden! Er ist ärmer und kraftloser geworden, ungeschickter zum Handeln, gleichsam seiner Glieder beraubt – er ist Seher und blind und taub geworden!

7 [173]

Auch die Genießenden wollen noch ihre Moralität (ihren Muth ihren Fleiß) dabei bewundern: deshalb haben die schweren Autoren, die künstlichen Dichter und Musiker so viel Studium so viel Bewundern! Marini. Mit dem naiven Stil, das Höchste in der Kunst, darf man diese Prätension nicht machen, Jeder wähnt, es sei leicht Rafael zu verstehen, und deshalb wird auch der, welcher weiß, daß dem nicht so ist, doch nicht mit solchem Heldeneifer darangehen: es fehlen die dankbaren Zuschauer zu seinem Schauspiel!

7 [174]

Eure Seele ist nicht stark genug, so viele Kleinheiten der Erkenntniß, so viel Geringes und Niedriges mit in die Höhe hinaufzutragen! So müßt ihr euch über die Dinge belügen, damit ihr eures Kraft- und Größengefühls nicht verlustig geht! Anders Pascal und ich. – Ich brauche mich der kleinen erbärmlichen Details nicht zu entäußern – ich will ja keinen Gott aus mir machen.

7 [175]

Jüdisch – eine Religion des Schreckens, der Verachtung und gelegentlich der Gnade (wie alte Patriarchen)

Griechisch – eine Religion der Freude an der Kraft, an der eigenen Vollkommenheit, gelegentlich eine Religion des Neides gegen die Allzuhochhinauswollenden (Agamemnon Achill)

7 [176]

"Irrsinnig" eine so ungewisse Grenze, wie gut und schön! oder "lächerlich" und "schamhaft"

7 [177]

Die Ehrlichkeit der großen Männer des Glaubens an sich beweist sich nur durch die furchtbare Trübsal ihres Zweifelns an sich: wo dies nicht sichtbar ist, sind es Verrückte oder Schauspieler.

7 [178]

Vertrauen wir den Trieben, sie werden schon wieder Ideale schaffen! wie es die Liebe immerfort thut. Und dann: von Zeit zu Zeit durch Stolz einen Trieb unterdrücken – sofort bekommen alle anderen eine neue Färbung. Das Spiel kann lange fortgesetzt werden, wie Sonnenschein und Nacht.

7 [179]

Die Wissenschaft kann durchaus nur zeigen, nicht befehlen (aber wenn der allgemeine Befehl gegeben ist "in welche Richtung?" dann kann sie die Mittel angeben) den allgemeinen Befehl der Richtung kann sie nicht geben! Es ist Photographie. Aber es bedarf der schaffenden Künstler: das sind die Triebe!

7 [180]

Ich gebe meinem Hange zur Einsamkeit nach, ich kann nicht anders: "ob<gleich> ich es nicht nöthig hätte" – wie die Leute sagen. Aber ich habe es nöthig. Ich verbanne mich selber.

7 [181]

Jener plötzliche Haß gegen das, was ich liebte. Jene Schüchternheit und jenes "was liegt an mir"!

7 [182]

Ich habe Mozart für heiter gehalten – wie tief muß ich melancholisch sein! Daher meine Begierde!! nach Helle Reinlichkeit Heiterkeit Schmuckheit Nüchternheit, meine Hoffnung, daß alles dies mir die Wissenschaft geben werde! sie!

7 [183]

Jetzt machen Franzosen und Italiäner den Deutschen das Gewaltthätige und die bewußte Häßlichkeit in der Musik nach – es sind diese die nöthigen Gegenfarben, um die sublimirtesten himmlischen Reize und Eröffnungen paradiesischer Zauber in Tönen errathen zu lassen: da muß die physische Marter des Ohrs vorher nicht gering gewesen sein und – für den Himmel hat man erst den rechten Geschmack nach dem Fegefeuer. Das wußten die Älteren nicht! Sie verlangten, daß einer, der Musik hören wollte, verliebt oder noch besser passionirt sei! jetzt gilt als der beste vorbereitende Zustand: die Verzweiflung, der Weltüberdruß. Gefühllos geworden durch das ewige Elend und für alles Elend, lassen wir die Marter über uns ergehen – und sind unsäglich dankbar, nachher uns gerührt und erschüttert zu finden! Mitleiden mit uns und allen Leidenden ist das Glück, welches diese Musik verspricht.

7 [184]

Der Selbstbetrug Pascals: er geht schon von christlicher Prädisposition aus. Die "bösen Lüste"! Die Bedeutung des Todes! Denken wir doch so an den Tod, wie an den Tod bei Thieren – so ist die Sache nicht so furchtbar. Zum Tode verurtheilt – das ist nichts so Schlimmes an sich: nur beim Verbrecher macht es uns so schreckliche Empfindungen, wegen der Schande. Pascal war nicht vorsichtig genug, er wollte beweisen! – die Verführungskunst des Christenthums.

7 [185]

Das Christenthum hat die Übel der menschlichen Lage übertrieben d. h. sie erst geschaffen. Pascal thut noch das Äußerste.

7 [186]

Der Stolze und Unabhängige fühlt sich tief erbittert beim Mitleiden „lieber gehaßt als bemitleidet".

7 [187]

Man denke ja nicht, daß etwa Gesundheit ein festes Ziel sei: was hat das Christenthum die Krankheit vorgezogen und mit guten Gründen! Gesund ist fast ein Begriff wie "Schön" "gut" – höchst wandelbar! Denn das Sich-wohl-fühlen tritt in Folge langer Gewohnheit bei entgegengesetzten Zuständen des Leibes ein!

7 [188]

Alcohol: die Deutschen, die jetzt auf unverschämte Weise geldgierig geworden sind, Politik lieber als Arbeit wollen, und Sklaven des nationalen Dünkels <sind> – drei Quellen der Verdummung

7 [189]

Ich habe keine Personen kennengelernt, welche eine solche Ehrfurcht einflößen, wie die griechischen Philosophen.

7 [190]

Pascal's Passion will sich als nothwendig für jedermann, als das einzig Nöthige beweisen.

7 [191]

Ich habe die Verachtung Pascals und den Fluch Schopenhauer's auf mir! Und kann man anhänglicher gegen sie gesinnt sein als ich! Freilich mit jener Anhänglichkeit eines Freundes, welcher aufrichtig bleibt, um Freund zu bleiben und nicht Liebhaber und Narr zu werden!

7 [192]

Es sind Aphorismen! Sind es Aphorismen? – mögen die welche mir daraus einen Vorwurf machen, ein wenig nachdenken und dann sich vor sich selber entschuldigen – ich brauche kein Wort für mich

7 [193]

Freude bei schönen Gärten und Häusern, daß es Leute giebt, welche für diese Art Liebe Dauer haben und daß ich diese Gärten und Häuser nicht habe – doppelte Freude!

7 [194]

Das Schöne – darunter verstehen die Amerikaner jetzt das Ruhig-Rührende. Es ist dem geschäftlichen Ernste und der praktischen Erwägung der Folgen, der Trockenheit und der Leidenschaft des Jagens Gewinnens und Sich-Besinnens entgegen

7 [195]

Die Deutschen meinen, daß die Kraft sich in Härte und Grausamkeit offenbaren müsse, sie unterwerfen sich dann gerne und mit Bewunderung: sie sind ihre mitleidige Schwäche ihre Empfindlichkeit für alle Nichtse auf einmal los und genießen andächtig den Schrecken. Daß es Kraft giebt in der Milde und Stille, das glauben sie nicht leicht. Sie vermissen an Goethe Kraft und meinen, Beethoven habe mehr: und darin irren sie!!

7 [196]

Die Anhänger Wagner's wollen an ihre Befähigung der Exaltation und Expansion glauben machen – in einem nüchternen Zeitalter kein geringer Ehrgeiz! Aber es ist kein nüchternes: so müssen sie excediren!

7 [197]

Der Trieb der Erkenntniß ist noch jung und roh und folglich gegen die älteren und reicher entwickelten Triebe gehalten, häßlich und beleidigend: alle sind es einmal gewesen! Aber ich will ihn als Passion behandeln und als etwas, womit die einzelne Seele bei Seite gehen kann, um hülfreich und versöhnlich auf die Welt zurückzublicken: einstweilen thut Weltentsagung wieder noth, aber keine asketische!

7 [198]

Zeitalter Louis XIV: der Zauber einer Unterwürfigkeit unter eine künstliche Form empfunden von starken Seelen, wie sie damals waren (sie waren voller Haß und Neid untereinander und durften es nicht zeigen. Sie hatten eine Lust der Rache bei diesem Zwang des Dichters und seiner Helden, ihre Gefühle schwer ausdrücken zu dürfen. Das "Natürliche" hätte sie empört: was gelte sonst ihre Unnatur! Nur nicht peuple!): das ist schwer jetzt zu genießen! Anders bei den Griechen! welche sehr anhänglich an die Sitte waren und höchst vorsichtig gegen die Neuerung (dafür auch den feinsten Gaumen für jeden kleinen neuernden Zug hatten!)

7 [199]

Was nennen die Anhänger Wagner's einen "musikalischen Menschen"? Und was Andere und ehemals! Fast Gegensätze! Also Vorsicht!

7 [200]

Was ich an mir vermisse: jenes tiefe Interesse für mich selber. Ich stelle mich zu gerne außer mir heraus und gebe allem zu leicht Recht, was mich umgiebt. Ich werde schnell müde, beim Versuch, mich pathetisch zu nehmen. Ich habe nie tief über mich nachgedacht.

7 [201]

Die Deutschen haben das Wort "Leidenschaft" kaum hundert Jahre – sie haben es dem Griechischen nachgemacht, ein Übersetzer hat es gefunden. –

7 [202]

Tiefes Gelb der Gebäude und das schwarze Grün der Cypressen darüber – ein Kloster, und invalide Soldaten darin.

7 [203]

Wir suchen die Situationen, welche unsere Kraft auf das Höchste anspannen: aber dies sind oft entgegengesetzte: dieser sucht Einsamkeit und bemüht sich aus dem Munde der Menschen zu entschlüpfen. Und jener präsentirt sich einer Nation und fühlt sich am meisten durch die Vorstellung getrieben, daß diese in ihm sich selber verehren wolle – er kann es nicht hoch genug treiben. Ein dritter will seiner Geliebten gefallen, und da er sie für etwas Unvergleichliches hält, thut er sich nie genug. – Andere suchen die Situationen, welche ihnen erlauben träge zu sein.

7 [204]

Ich hasse jene unfeinen Menschen, welche kaum daß wir uns ihnen genähert haben, mit ihrer tölpelhaften Herrschsucht auf uns ihre Hand legen, wie als ob wir Geräthschaft und Werkzeug für sie seien. Schon der Anspruch, daß sie nunmehr meinen, uns zu kennen um ein Urtheil fällen zu dürfen, ist eine Unverschämtheit des schlechtesten Geschmacks. Es ist die Art der geistigen Parvenus; die adelige Natur ist nicht in ihrem Grunde.

sie haben keinen Begriff von der Herablassung, welche nöthig ist, um ihnen von uns aus Ehre und Auszeichnung zu erweisen, mögen sie nun sein, wer sie wollen

7 [205]

Zum Plan.

Ein Bild des Griechenthums als der Zeit, die die meisten Individualitäten hervorgebracht hat. Das Fortleben in der Renaissance!

Polemik gegen mittelalterlich, höfisch, liberal-parlamentarisch, socialistisch. Ich sehe die socialistischen Körper sich bilden, unvermeidlich! Sorgen wir, daß auch die Köpfe für diese Körper anfangen zu keimen! jene Organisationen bilden den zukünftigen Sklavenstand, mit allen ihren Führern – aber darüber erhebt sich eine Aristokratie vielleicht von Einsiedlern! Es ist die Zeit des Gelehrten vorbei, der wie alle Anderen lebt und glaubt (als Werkzeug der Kirchen, der Höfe, der kaufmännischen Parteien usw.)! Der große Heroism thut wieder noth!

Die einzige erobernde Macht großen Stils ist Rußland (ohne dies Erobern-wollen sind die Staaten kastrirt! Es gehört dazu, überschüssige Kraft nach außen zu wenden!) Folglich wird es Europa nöthigen sich zu einigen. Aber den Socialismus ergreift der endliche Ekel dieses Kriegszustands ohne Ende und überbrückt den Völker- und Dynastienhader! Wir gehen wilderen Zeiten entgegen! Das ist ein Vorzug, denn diese übernervöse Gegenwart ist nichts mehr werth, eine Reinigung von Hyperchristlich-Moralischen thut noth, ein Zu-Grunde-gehen und Ohnmächtig-werden der Eleganten Unkräftigen Verzärtelten, usw.!

7 [206]

Vom Willen zur Macht wird kaum mehr gewagt zu sprechen: anders zu Athen!

7 [207]

Was trieb die Alten, Stoiker zu werden (da keine Höllenstrafen, keine Verachtung des Menschen, keine göttliche Heiligkeit ihnen die Entsagung nothwendig machte)? Die furchtbare Möglichkeit großer plötzlicher Leiden, und die furchtbare Kraft ihrer Leidenschaften – sie litten an sich und an der Welt der Unsicherheit (Sklave und Cäsar!) Dann der Ehrgeiz, in der Tugend die Ersten zu sein – Neid. Es war ein Mittel, bis an die Höfe hinauf beachtet und angerufen zu werden als Tröster.

7 [208]

Pascal verspricht, im geheimen Blatt, Gott "sogar seine Rache zu opfern".

7 [209]

Unwissende Menschen, die nichts anderes gesehen haben, machen aus ihren Gewohnheiten für ihre Umgebung einen Zwang, ein Gesetz – so wachsen die Jungen auf in Verehrung dagegen – und es ist das Neue: so wird die Sitte "Sittlich".

7 [210]

Jede Leidenschaft (im historischen Verlaufe) so hoch pflegen, bis sie ihre individuelle Blüthe zeigt. NB.

7 [211]

Wir haben es in der Hand, unser Temperament wie einen Garten auszubilden. Erlebnisse hineinpflanzen, andere wegstreichen: eine schöne stille Allee der Freundschaft gründen, verschwiegener Ausblicke auf den Ruhm sich bewußt sein, – Zugänge zu allen diesen guten Winkeln seines Gartens bereit halten, daß er uns nicht fehle, wenn wir ihn nöthig haben!

7 [212]

Die intellektuelle Großmuth besteht darin, den Durst nach absoluter Gültigkeit und nach ewigen Dingen zu brechen durch die Einsicht in die Relativität und Liebe zum Kurzleben und Wechselnden (statt Verachtung dafür). Ein Stück Grausamkeit.

7 [213]

Es ist Mythologie zu glauben, daß wir unser eigentliches Selbst finden werden, nachdem wir dies und jenes, gelassen oder vergessen haben. So dröseln wir uns auf bis ins Unendliche zurück: sondern uns selber machen, aus allen Elementen eine Form gestalten – ist die Aufgabe! Immer die eines Bildhauers! Eines produktiven Menschen! Nicht durch Erkenntniß, sondern durch Übung und ein Vorbild werden wir selber! Die Erkenntniß hat bestenfalls den Werth eines Mittels!

7 [214]

Apollo und die Moral der Mäßigkeit gehören zusammen: wer Wagner's ideale Schönheit fände, würde sie gedunsen riesenhaft und nervös machen müssen.

7 [215]

Die sittliche Delikatesse und der hohe Geschmack in den Erzählungen von Jesus wird vielleicht von uns nicht abzuschätzen sein, weil wir damit geimpft worden sind, daß hier der höchste Geschmack des Guten sei. Was würde Aristoteles empfinden! Was Buddha!

7 [216]

Die Deutschen geben sich den Eindrücken ohne Kampf hin, aus Schwäche – deshalb hat gerade bei ihnen eine Religion des Mitleids so wenig Werth, weil sie der allgemeinen Schwäche schmeichelt, statt ihr zu widerstreben. Kant war es, der mit seinem kategorischen Imperativ dem Deutschen nützlich war. Jene Schwäche hat jetzt in der Musik ihren frappantesten Ausdruck bekommen – das unendlich Herumschweifen der Seele nach Emotionen, die äußerste Nervosität als Folge. Wir leiden daran, hinterdrein. Und was für Würzen braucht eine so empfindliche Rasse! die gröbsten! es ist die Rasse der Trunkenbolde! Vielleicht hat dies Trinken sie so schwach und sentimental gemacht. – Lob des Soldatenthums, entgegengesetzt dem Künstlerthum und seiner Schmeichelgier.

7 [217]

Den M<enschen> auf Ein ewiges Ideal beschränken – Stoiker Christenthum Kant Comte – das ist der noch nicht verstorbene Classicismus. Absolute Moral!

7 [218]

eine angenehme Handlung thue ich nicht, weil ihr Zweck, ihr Ende eine angenehme Empfindung mit sich bringt: sie ist nicht Mittel zu diesem Ende. Sondern das Angenehme ist so in sie gedrungen, daß sie sofort, nicht erst am Ende, angenehm ist. Mit den Zwecken machen wir Menschen uns vernünftiger als wir sind! "Warum schmeckt uns diese Speise? Quem in finem?" Keine Antwort! – Überall wo unsere Triebe reden, ist der " Zweck" eine Großthuerei!

7 [219]

Habt ihr es nicht erlebt? man thut sein Äußerstes an Selbstüberwindung und kommt wie ein halber Leichnam aber siegesfroh aus seinem Grabe – und die guten Freunde meinen, wir seien recht lustiger und absonderlicher Laune, merken nichts, aber meinen ein Recht zu haben, mit uns ihren Scherz zu treiben? Ich glaube, die Jünger in Gethsemane schliefen nicht, aber sie lagen im Grase und spielten Karten und lachten

7 [220]

Warum haben wir gerade bei der schwersten und schmerzhaftesten Art von Schaffen und Kunstform unsere Freude? Warum schämen wir uns bei jeder flachen und leichteren? Es ist Stolz, besiegte Schwierigkeit, der Wille, vor uns selber zum Helden zu werden!

7 [221]

Es giebt einen christlichen Zug im alten Testament – man begreift die Entstehung des Gottes der Liebe!

7 [222]

Socrates' Skepsis in Betreff alles Wissens um die Moral ist immer noch das größte Ereigniß – man hat es sich aus dem Sinne geschlagen.

7 [223]

Was ist denn nun der wirkliche Unterschied des Guten und Schlechten in Bezug auf ihre gemeinsamen Triebe? Der Schlechte fühlt sein Urtheil über gut und böse als dasselbe wie das seiner Umgebung und thut das Böse, indem er Scham vor dem Urtheil Anderer und vor sich selber hat – Widerspruch im Wissen und Thun. Oder er stellt sich gut, um diese Vortheile zu haben und im Geheimen die Vortheile des Bösen. – Dies ist alles nichts! was macht sein Nervensystem anders, daß er diesen Widerspruch erträgt oder aufsucht?

7 [224]

Die Liebe zur Brut nichts Einfaches! wie man glaubt! sondern Produkt, Besitz, Unterhaltung, etwas Ungefährliches, etwas Unterwürfiges, worüber man herrscht, etwas Warmes – viel Gründe zur Annehmlichkeit!

7 [225]

Unsere Sicherstellung des Nächsten durch sociale Maßregeln beweist nicht mehr Mitleiden, aber mehr Vorsicht und Kälte.

7 [226]

Der Anblick der Welt wird erst erträglich, wenn wir sie durch den sanften Rauch des Feuers angenehmer Leidenschaften hindurch sehen, bald verborgen als einen Gegenstand des Errathens, bald verkleinert und verkürzt bald undeutlich, aber immer veredelt. Ohne unsere Leidenschaften ist die Welt Zahl und Linie und Gesetz und Unsinn in alledem das widerlichste und anmaaßlichste Paradoxum.

7 [227]

"Wir kommen nie zum Kern der Dinge": ich sage, wir kommen nie zum letzten Zipfel unserer Leidenschaften und sehen höchstens vermittelst der Einen über die andere hinaus.

7 [228]

Für Racine war den Leidenschaften edel nachhängen schon eine Ausschweifung, man muß ihn mit Port Royal im Hintergrunde lesen.

7 [229]

Mir thut das amerikanische Lachen wohl, diese Art von derben Seeleuten wie Marc Twain. Ich habe über nichts Deutsches mehr lachen können.

7 [230]

"Classicism der Moral" herrscht noch. Seinem Gefühl hier folgen: das thaten auch die Anhänger der 3 Einheiten.

7 [231]

Die moralischen Phänomene machen die Geschichte der Krankheiten durch: erst etwas von außen her, Wirkungen übernatürlicher Mächte. Dann ganz menschlich, aber etwas für sich, das "Moralische". Endlich erkennt man, daß es ebenso ungenau bezeichnete Vorgänge sind, wie die Krankheiten (über welche jeder seine Meinung hat, und der Verständigste sich dadurch auszeichnet zu schweigen) – daß die Zeit der großen Skepsis da ist! Es giebt nichts "Moralisches an sich": es sind Meinungen von Trieben erzeugt und diese Triebe wieder beeinflussend.

7 [232]

"aufgezogen in angeblichen philosophischen Systemen, welche etwas wie dunkle und schlecht geschriebene Poesie sind, aber in moralischer Hinsicht von der höchsten und heiligsten Sublimität. Sie haben vom Mittelalter nicht den Republikanismus, das Mißtrauen und den Dolchstoß geerbt, sondern einen starken Hang zum Enthusiasmus und zum guten Glauben. Dafür bedürfen sie alle 10 Jahre einen neuen großen Mann, der alle anderen auslösche, nicht."

7 [233]

Der Hauptfehler Pascals: er meint zu beweisen daß das Christenthum wahr ist, weil es nöthig ist – das setzt voraus, daß eine gute und wahre Vorsehung existirt, welche alles Nöthige auch wahr schafft: es könnte aber nöthige Irrthümer geben! Und endlich! Die Nöthigkeit könnte nur so erscheinen, weil man sich an den Irrthum schon so gewöhnt hat, daß er wie eine 2 te Natur gebieterisch geworden ist.

7 [234]

Der Zustand Pascal's ist eine Passion, und hat ganz die Anzeichen und Folgen von Glück Elend und tiefstem dauerndem Ernste. Deshalb ist es eigentlich zum Lachen, ihn so gegen die Passion stolz zu sehen – es ist eine Art von Liebe, welche alle anderen verachtet und die Menschen bemitleidet, ihrer zu entbehren.

7 [235]

Was sind mir Freunde, welche nicht wissen, wo unser Schweres und wo unser Leichtes liegt! Es giebt Stunden, in denen wir unsere Freundschaften wiegen.

7 [236]

Man wird älter, es ist mir schwer mich von einer Gegend, und führe sie die berühmtesten Namen, zu überzeugen. Ich habe fehlerhafte Linien bei Sorrent gesehen. Die bleichsüchtige Schönheit des lago maggiore im Spätherbst, welche alle Linien vergeistigt und die Gegend halb zur Vision macht, entzückt mich nicht, aber redet traulich-traurig zu mir – ich kenne dergleichen nicht nur aus der Natur.

7 [237]

Ich muß zu den: Dingen reden, ich bin zu lange allein und ohne Zwiegespräch gewesen; ich will ihnen schmeicheln und ihnen Gutes nachsagen.

7 [238]

Charakterzüge der Deutschen 1) sie exaltiren sich durch die Meditation, statt sich zu beruhigen 2) sie sterben vor Begierde, einen Charakter zu haben. Stendhal

7 [239]

Die Hoffnung hatte für die Alten ein anderes Aussehen als für uns – Hesiod. Ebenso der Neid. Bei andern Völkern hat die Lüge ein Ansehen (z. B. noch bei Napoleon) Die Fähigkeit zu trinken ist unter Deutschen oft ehrenvoll.

7 [240]

Für Aeschylus war das Weib in der Leidenschaft etwas Abscheuliches und Schauerliches, wie die Thiere des Meeres – etwas Unzeigbares.

7 [241]

Die Urtheile über Mozart verschieben sich, nach der Entwicklung der Musik, d.h. sie treffen seinen Charakter und sein Temperament – dieses scheint sich zu wandeln in Folge der neuen Beleuchtung und der Gegensätze, die er immer wieder erhält. Ein Wink für Künstler und Denker aller Art! Am urtheilfähigsten sind einzelne Zeitgenossen, die alles miterkämpft und <sich über alles> mitgefreut haben, was der große Schöpfer gegeben hat.

7 [242]

Plato hat den Erkenntnißtrieb als idealisirten aphrodisischen Trieb geschildert: immer dem Schönen nach! Das höchste Schöne offenbart sich dem Denker! Dies ist doch ein psychologisches Faktum: er muß beim Anblick und Denken seiner Allgemeinheiten einen sinnlichen Genuß gehabt haben, der ihn an den aphrodisischen erinnerte. –

7 [243]

Die Worte bleiben und machen uns zu Narren, so daß wir Verschiedenes gleich benennen und hinterher meinen, es sei dasselbe (z. B. ridiculum)

7 [244]

Die Entstehung der Abgrenzung moralischer Handlungen von allen übrigen Handlungen. Wichtig! Essen Gehen ist nicht moralisch. Wo hört die Indifferenz auf?

7 [245]

Die Verachtung und die Achtung hat die Dinge in den Augen der Menschen geformt, bald so, bald so. Die erste macht erbleichen verkümmern, folglich den Hang darnach absterben und die Phantasie auf diesem Gebiete müde oder giftig werden. Die Andere umgekehrt.

7 [246]

Diese Naivetät aller Moralisten jetzt! sie glauben, die Empfindungen für Andere, die sympathischen seien an sich moralisch! sie merken nichts, daß es nur eine Stufe der Cultur ist, welche diese Empfindungen in der Schätzung voranstellt: andere haben andere, ja die entgegengesetzten vorangestellt! "An sich" moralisch! – Man lobt die Mitleidigen, man tadelt die Hartherzigen – just! Schon die Worte werden mit diesem Beigeschmack empfunden. Und doch hätten die Stoiker den unbeugsamen erbarmungslosen Menschen, auf den kein Anblick Eindruck macht, gelobt und den Mitleidigen getadelt! Und das war wohl auch eine Moral! die etwas Größeres geleistet hat als die unsere!

7 [247]

In England meint man Wunder, wie freisinnig die höchste Nüchternheit in Sachen der Moral mache: Spencer, Stuart Mill. Aber schließlich thut man nichts als seine moralischen Empfindungen zu formuliren. Es erfordert etwas ganz anderes: wirklich anders einmal empfinden zu können und Besonnenheit hinterher zu haben, um dies zu analysiren! Also neue innere Erlebnisse, meine werthen Moralisten!

7 [248]

Ich sage zu oft "ihr"? Aber die Dinge reden zu mir und ich antworte ihnen, sie haben mich verwöhnt.

7 [249]

Der Mangel am Edelmüthigen in den Voraussetzungen des Christenthums 1) wozu mußte die Gerechtigkeit Gottes ein Opfer haben? Der Martertod Chr<isti> war nicht nöthig außer bei einem Gott der Rache (der sich überdieß den Stellvertreter gefallen läßt: ohne Generosität!) 2) wozu ist der Glaube an Chr<istus> nöthig, wenn es sein Wille ist, den Menschen zu helfen! 3) wozu der deus absconditus!

7 [250]

der servile Idealismus Gellert's, der schwärmerische Schillers, der lebens- und thatenlüsterne des jungen Deutschlands, der malerisch-mystische Wagners, der Idealismus der Unterwelts-Schatten: der meine!

7 [251]

Die Sünde erfinden und dann den erlösenden Zustand ist die unvergleichlichste Leistung der Menschheit. Diese Tragödie macht die anderen sehr blaß!

7 [252]

Euer Leben sei durch eine hohe Gartenmauer von der Landstraße getrennt: und wenn der Rosenduft aus euren Gärten hinüber weht, so mag jemandem das Herz einmal sehnsüchtig werden.

7 [253]

Seid ihr nie erröthet, wenn es euch durch den Kopf flog, jenes Ding, dem ihr euer Herz geschenkt habt, sei eures Herzens nicht würdig? Und schämtet ihr euch nicht gleich hinterher über euer Erröthen und batet dem geliebten Dinge euren unverschämten Stolz ab?

7 [254]

Pascal hat keine nützliche Liebe vor Augen, sondern lauter vergeudete, es ist alles egoistische Privatsache. Daß aus dieser Summe von Thätigkeiten sich eine neue Generation erzeugt, mit ihren Leidenschaften Gewohnheiten und Mitteln (oder Nicht-Mitteln) sie zu befriedigen – das sieht er nicht. Immer nur den Einzelnen, nicht das Werdende.

7 [255]

Für viele Maler war schön der Ausdruck der Frömmigkeit. Und da eine gewisse Armut an Fleisch, eine peinliche Haltung an den Frommen zu sehen war, übertrug<en> diese die Empfindungen des Schönen auch gerade auf diese Formen. Eine sehr lange und strenge Gewohnheit würde zuletzt sogar den Geschlechtssinn irre führen: der sehr fern davon ist, unbewußte Zweckmäßigkeit zu Gunsten des zu Erzeugenden zu verfolgen.

7 [256]

Zum Plan.

Wodurch ist das Bedürfniß nach einem festen Halt so groß geworden? Weil wir angelehrt worden sind, uns zu Mißtrauen: d. h. weil wir keine Leidenschaft mehr haben dürfen, ohne schlechtes Gewissen! Durch diese Verlästerung unseres Wesens ist der Trieb nach Gewißheit außer uns so groß geworden: 1) religiöser Weg 2) wissenschaftlicher Weg 3) Hingebung an Geld Fürsten Parteien christliche Sekten usw.: welche wir fanatisch nehmen müssen, also falsch verstehen müssen, damit sie uns das Begehrte leisten. Die Juden hatten diese Verachtung von sich und vom Menschen überhaupt!

Ziel: 1) die noch so sehr sichergestellte Welt ist zuletzt einer individuellen Messung unterworfen: so lange wir forschen, können wir das Indiv<iduum> oft ausschließen: zu dem was wir zuletzt finden, giebt es immer eine subjektive Stellung! 2) wir müssen stolz genug von uns denken, um eine subjektive Stellung nur zu wirklichen Dingen einzunehmen, nicht zu Schemen! und lieber den Zweifel und die Meerfahrt ertragen als zu schnell Gewißheit wollen! 3) die Ehre der eigenen Seele wieder herstellen!

7 [257]

Sobald ihr den christlichen Glauben oder eine Metaphysik zu Hülfe nehmt, dort wo eine Wissenschaft aufhört, so nehmt ihr euch die Kraft des Heroismus: und eure Wissenschaftlichkeit ist tief erniedrigt! Ihr höchster Accent steht nicht mehr euch zu! Ihr seid kalt und nicht mehr bewegt, ihr opfert nichts! Daher der abscheuliche Anblick des „Gelehrten" – er war ohne Großartigkeit der letzten Absichten, er gieng nicht ans Ende, sondern knickte dort um und warf sich der Kirche oder dem Regimente oder der öffentlichen Meinung in die Hände, oder der Dichtkunst und der Musik. Er bedarf jener Entsagung –

7 [258]

Man lernt zu sprechen, aber man verlernt zu schwätzen, wenn man ein Jahr lang schweigt.

7 [259]

Bist du denn ruhmbegierig? Ich habe es nie geglaubt. Aber das fällt mir auf, daß ich es unerträglich finde, nicht mit dem beschäftigt und verwachsen zu sein, was mir das Wichtigste auf der Welt scheint. – Als ich dies von der Kunst nicht mehr glaubte, trat ich sehr abgekühlt bei Seite, mit einer Art von Haß – sie schien mir eine Betrügerin, die mich dem Wichtigsten entziehen wollte.

7 [260]

Pascal glaubte, daß die kleine Périer durch die wirkliche Stimme Christi geheilt worden sei cette voix sainte et terrible, qui étonne la nature et qui console l'église.

7 [261]

„der Demosthenes der passionirten Logik"

7 [262]

Vergleich mit Pascal: haben wir nicht auch unsere Stärke in der Selbstbezwingung, wie er? Er zu Gunsten Gottes, wir zu Gunsten der Redlichkeit? Freilich: ein Ideal, die Menschen der Welt und sich selber entreißen, macht die unerhörtesten Spannungen, ist ein fortgesetztes Sichwidersprechen im Tiefsten, ein seliges Ausruhen über sich, in der Verachtung alles dessen, was "ich" heißt. Wir sind weniger erbittert und auch weniger gegen die Welt voller Rache, unsere Kraft auf einmal ist geringer, dafür brennen wir auch nicht gleich Kerzen zu schnell ab, sondern haben die Kraft der Dauer.

7 [263]

Ihr Stolz war durch ihre Schüchternheit verbittert.

7 [264]

Die große Frage, ob es in der M<ensch>h<eit>s-Cultur eine Kreisbewegung giebt, klein und größer? Wir im ersten?

7 [265]

Der Zauber der Dialektik für eine poetisch-ungestüme und springende Seele wie Plato's. Der Zauber des Halbdunkels im Christenthum für Pascal's helle logische Seele – das ist schwer nachzufühlen

7 [266]

Die großen moralischen Naturen entstehen in Zeiten der Auflösung, als Selbstbeschränker. Zeichen des Stolzes, es sind die regierenden Naturen (Heraclit Plato usw.) in einer veränderten Welt, wo sie nur sich zu regieren haben. Ganz anders die Moralität der Unterwerfung.

7 [267]

Das Vergnügen der Gesellschaft Molière's, wenn einer sich enthüllt und nicht mehr täuscht, wenn der Charakter sich verräth – die Verachtung zugleich gegen den, der seine Rolle nicht festzuhalten versteht – das tiefe Verständniß alles Komödienspielens im Leben, ja der Glaube daß es die Aufgabe sei Komödiant zu sein und daß alles Lächerliche darin bestehe daß ein Komödiant sich verräth!

7 [268]

Die Naivetät ist keine deutsche Eigenschaft. Aber eine altfranzösische!

7 [269]

Aristoteles: „im Allgemeinen thun die Menschen das Böse, wenn sie es können."

7 [270]

In Inquisitionsländern wagt der Gewohnheitssünder nicht sich dem Abendmahle zu entziehen, aus Furcht denunzirt zu werden, excommunicirt, am Ende eines Jahres der Häresie verdächtigt und von der Justiz verfolgt zu werden – deshalb sind da die laxesten Casuisten entstanden.

War man zu streng, so wurde die Lauterkeit des Bekenntnisses beseitigt und das Bekenntniß selbst zu Null gemacht – das mächtige Mittel zur Erhaltung der Kirche. (Auch gegen sich sind die rigorösesten Menschen am verlogensten)

Der Ostracismus der Tugend (des Jansenismus)

7 [271]

Zu sagen: „es ist Gott, der dies in uns thut" wie Pascal, ist nicht den Menschen zu nichte machen und Gott an seine Stelle setzen: sondern die Gnade die er anruft, ist die höchste Anstrengung der menschlichen Natur. Gott nennt er was er Exaltirtes und Reineres an sich fühlt.

7 [272]

„Die Seele zu entziehen von der Welt, um sie sich selber sterben zu machen, um sie einzig und unveränderlich an Gott zu knüpfen – das ist nur einer allmächtigen Hand möglich." Pascal

7 [273]

Der große Condé Richelieu Pascal Bossuet nennt La Bruyère – – –

7 [274]

Auch in den Siegen über uns selbst gehört ein gutes Theil dem Zufall an: deshalb sehen wir mit scharfer Kritik auf die siegreichen Tugendhaften und finden mitunter den Geist derselben in der moralischen Taktik nicht auf der Höhe ihres Glücks.

7 [275]

Napoleon der Machtlüsterne giebt den Typus des Stoikers, nach innen gesehen; durchzuführen NB. die Theile seines Wesens, die er durch Verführung unterworfen, behandelt er hinterdrein kalt und gleichgültig despotisch.

7 [276]

„Und alle diese Freiheit des Blicks ist zu nichts nütze?"

Wie? Ist ein Teleskop zu nichts nütze?

7 [277]

Die großen Unthiere der Eitelkeit, welche die Kraft haben uns anzugreifen, doch nicht uns zu halten.

7 [278]

Pascal gegen die Jesuiten: das ist Demosthenes gegen Philipp: da sieht man die Abirrung vom allgemeinen Interesse der Menschheit!

7 [279]

Ich halte es nicht in Deutschland aus, der Geist der Kleinheit und der Knechtschaft durchdringt alles, bis in die kleinsten Stadt- und Dorfblätter herab und ebenso hinauf bis zum achtenswerthesten Künstler und Gelehrten – nebst einer gedankenarmen Unverschämtheit gegen alle selbständigen Menschen und Völker. Dazu ist man eilig und ängstlich für die Gegenwart, mißtrauisch für das Kommende und gegen einander so vorwurfsvoll, und schlägt sich mit einem pomphaften Scheingenuß die Sorgen scheinbar aus dem Kopfe.

7 [280]

Es giebt wirklich Menschen welche eine Sache damit geehrt zu haben glauben, daß sie dieselbe deutsch nennen. Es ist der Gipfel der nationalen Verdummung und Frechheit.

7 [281]

Unsere Maaßstäbe nach dem Christenthum: nach jenem unerhörten Sich-ausspannen aller Muskeln und Kräfte unter dem höchsten Stolze sind wir alle verurtheilt, die Schwächeren Geschwächteren darzustellen: es sei denn, daß wir eine unerhörte Art von Männlichkeit gewinnen, welche diesen Zustand der menschlichen Erniedrigung noch stolzer als das Christenthum zu tragen wüßte. Kann hierzu uns nicht die Wissenschaft dienen? Wir müssen dem Phantasie-Effekt des Christenthums für die edelmüthigen Naturen etwas Überbietendes entgegenstellen – eine Entsagung und Strenge!

7 [282]

Das Verlangen nach Ruhe nicht falsch zu deuten mit Pascal! und das nach Bewegung!

7 [283]

Glückliches Zeitalter der Russen! Energie des Willens und Übergang zu den Künsten!

7 [284]

Wenn ich den Anblick eines fremden Nothstandes oder Glücksstandes nicht mehr ertrage und handle, um dem abzuhelfen, sei es daß ich mich entferne, sei es daß ich das fremde Loos abändere (wenn schon der Gedanke daran mich quält): so ist ein gleichartiger Vorgang da. Daß mir fremdes Glück weht thut, während einem Anderen sein Anblick wohl thut: dies wäre ein Unterschied (ebenso der Anblick fremder Unabhängigkeit). Wehethun: ein Ausdruck, daß wir unsere Entwicklung gehemmt fühlen. Wir fühlen uns einer Kraft geraubt: ebenso andere Menschen beim Anblick des fremden Unglücks. Das Mitgefühl macht uns leidend, der Neid ebenso: beide sind uns nachtheilig. Freude an fremdem Unglück und fremdem Glück ist uns vorteilhaft, eine Quelle stärkerer Entwicklung (N<apoleon> wurde heiter, als er seinen Hof durch ein neues Ceremoniell genirt fand) Der Leidende Andere wird erbittert über unsere Freude an seinem Leide und verunglimpft einen solchen: er als die Quelle des Urtheils, des tadelnden und lobenden, er verlangt Gleichgefühl, aber er selber übt es nicht, sonst würde er den Sich-freuenden an seinem Leide nicht tadeln, sondern sich mit ihm freuen (wie die, welche mit über sich lachen) d. h. er gesteht durch seine Praxis zu, daß der Andere ein Recht hat, zu sein, wie er ist, so wie er ein Recht habe, sich über ihn zu ärgern. Es ist unangenehm für die Anderen, "aber an sich nicht verwerflich"! wie alles Bittere und Schmerzhafte in der Natur.

Der welcher sich im Glück fühlt und sieht, daß der Andere darüber leidet (als Neidischer) verlangt nicht, daß dies sich ändre; er genießt es, aber er genießt es auch, wenn der Andere sich mitfreut, d. h. sein Glück macht ihn bereitwillig, sich das Verhalten des Anderen zu einer Vermehrung seines Glücks auszulegen. Sein Unglück, im Verhalten des Anderen eine Erleichterung zu suchen: indem man es ihm mitzutragen giebt oder indem man sich durch Tadel über ihn erhebt. Der Haß gegen die Nicht-Mitleidigen ist wesentlich Rache: also die Forderung des Mitleidens ebenfalls, es ist der nothwendig hervorgerufene Gefühls-Gegensatz zu jenem Haß.

7 [285]

Zur Ableitung des Mitleids.

Sobald das Mitleiden gefordert und gelobt wird, so bekommt es einen moralischen Charakter als gut. Man giebt sich ihm hin, man scheut nicht seine Kundgebung – unter anderen Verhältnissen gilt es als Schwäche. Die Philosophen sehen im Mitleide wie in jedem Sich-verlieren an einen schädigenden Affekt eine Schwäche. Es vermehrt das Leid in der Welt: mag <es> indirekt das Leiden vermindern, diese Folge darf es nicht im Wesen rechtfertigen! Gesetzt, es herrschte: so gienge sofort die Menschheit zu Grunde.

Dagegen vermehrt die Mitfreude die Kraft der Welt. Die Freude an dem Individuum, welches selber, was ihm auch geschehe, die Freude an sich oben erhält, ist ein sehr hoher Gedanke! Man muß helfen, um sich wieder mitfreuen zu können – aber seine Seele so lang im Zaume haben und kalt stellen, daß sie nicht vom Jammer angesteckt werde: wie der rechte Arzt.

Es giebt ein auszeichnendes Mitleiden, welches außerordentlich entlegene Arten des Leidens erfaßt: es ist zu ehren als Zeichen eines höheren Intellektes, nicht an sich!

Daß wir dem gut sind, der uns Mitleiden bezeugt, ist eine Erbärmlichkeit: wir sollten sagen: seid tapfer, daß mein Leid euch nicht eure freudige Art nimmt: wir sollten wünschen, den Ausblick auf das freudige Element um uns nicht zu verlieren! Aber wir sind Tyrannen!

7 [286]

Die Freude unserer Feinde an unserem Unglück mitgenießen ist möglich.

7 [287]

Vielen Erkenntnissen wissen die Menschen nichts Kräftigendes abzugewinnen, es sind verbotene Speisen z. B. mein Buch.

7 [288]

Es ist eine Feinheit, seine Beispiele der Geschichte und der Wissenschaft gemäß der allgemeinen Unkenntniß und Mangelhaftigkeit am Wissen zu wählen – sonst beweist man nichts und erweckt Haß, weil man beschämt. Man muß niedersteigen zu den Armen an Geiste, nicht in den Gedanken und Zielen, aber im Material. Mit lauter ungeheuer bekannten Dingen argumentiren: es ist überdies Stolz, denn die großen Wahrheiten sollen nicht mit Thatsachen aus dem Winkel und der gelehrten Grübelei bewiesen werden.

7 [289]

Ich höre euren Sirenengesang, ihr Weisen! Ach, nichts bewegt mich so! Aber ich sage euch: ihr selber habt ihn euch vorgesungen, ihr waret wie ich! Ihr waret die Narren dieser schönen Paradiese „Gerechtigkeit, Mäßigung": in Wahrheit sind es Utopien.

7 [290]

Um in der Kunst ein Mittel der Macht zu sehen: wie muß man da die Dinge verdrehen oder den Umsturz des Bestehenden erstreben! Wie viel Enttäuschung!

7 [291]

wie ein Drama sein Inneres leiden sehen ist ein höherer Grad als nur leiden.

7 [292]

Compensation des Dichters, seine Leiden und die Lust des Ausdrucks derselben

7 [293]

Das Zusammenbrechen der Berechnungen eines Greises ist mitleidswürdiger als – den Vorwand seines Lebens und Wirkens verlieren, z. B. seine Kinder

7 [294]

1) O über das Sündengefühl! Wie hat es das Leid vermehrt! 2) wie hat es von der natürl<ichen> Folge der Schuld den Blick abgewandt, also die Vernunft in der Anwendung auf das Leben stillgestellt! 3) wie hat es egoistisch gemacht und die Folgen für Andre (auch durch Vererbung) sich aus dem Sinne schlagen heißen!

7 [295]

Ihr glaubt nicht mehr Leidenschaft für etwas empfinden zu können, weil es nur kurz lebt oder weil es relativ werthvoll ist! Denkt doch an die Liebe zu einem Weibe! Zu Geld! Zu Ehrenstellen! Wenn es auch keinen ewigen Geschmack, keine ewige Schönheit und Tugend giebt, so kann das kurz Geltende erst recht Entzücken erregen, um es <zu> umarmen, es so gut es geht, dem Strom zu entreißen! Es mischt sich von nun an die Zärtlichkeit für das Hinfällige hinein!! NB.

7 [296]

Wir werden leicht trocken, weil wir nur für die Feinheiten der seelischen Bewegung ein Auge haben. Der große train!

7 [297]

Warum für Dinge Gesetze diktiren wollen, die wir nur aus zweiter Hand kennen! "Wollt ihr denn durchaus universal sein? Überlaßt doch diese bizarre Prätension den armen Teufeln, welche nicht selber etwas Eigenes sind." Stendhal

7 [298]

Wenn die Menschen über die Heftigkeit ihrer inneren verkleideten Triebe erröthen, da ändert sich die Kunst. Die Kundgebung tiefer Gefühle gilt als plump und roh. Zuerst ceremoniöse Manieren. Dann heitere Manieren, noch freier von jedem Gefühl (Louis XV): aller Enthusiasmus und alle Energie verschwunden!

7 [299]

Den Menschen des Mittelalters unsere Sensibilität und Sympathie leihen.

7 [300]

Das Gefühl der Macht, das jemand aus dem Staube erhebt, Findelkinder zu Erben macht usw. ist ganz gleichwerthig mit der Grausamkeit, und ich kann thun, was ich will, namentlich in Hinsicht auf die, welche es ärgert.

7 [301]

Die D<eutschen> haben die Bewunderung für das Fremdartige – aus Langeweile; die Franzosen die Eitelkeit – aus Langeweile – die Italiäner Liebe Haß usw. – aus Langeweile.

Der Franzose höhnt das Fremdartige, Gegenstand des Lächerlichen.

7 [302]

Die Leidenschaft der Erkenntniß kann ein tragisches Ende nehmen: fürchtet ihr Euch? Wie bei jeder Leidenschaft! – Gewöhnlich aber habt ihr Gelehrten gar keine Leidenschaft, sondern eine Gewohnheit gegen eure Langeweile! – Die Stellung der verschiedenen Völker dazu! –

7 [303]

Die Wissenschaft kann weder beweisen, daß alle M<enschen> gleich sind, noch daß ein Verfahren nach diesem Grundsatz auf die Dauer nützlich ist.

7 [304]

„Wissenschaft!" Was ist sie! Alle Kräfte in ihren Dienst! Die Erfahrung der Menschheit aus ihren Trieben, und ein Trieb, von den Trieben zu wissen.

7 [305]

Die Sitten spiegeln die Ereignisse von 100 Jahren wieder – nicht die der Gegenwart.

7 [306]

Die (nord)deutsche Cultur stammt nicht von einem Adel wie die französische, sondern von Lehrern (Professoren Organisten usw.) und Predigern. Ganz andere Unterwerfung, immer mit dem Hintergedanken, daß es etwas Höheres giebt als Fürsten (Luther). Bewunderung für das Fremdartige eines Fürsten, einer Staatsleitung, des Heeres: naiv. Man läßt sich drücken, aber nimmt Rache in Gedanken über die Dinge. – Wie unfruchtbar ist der Adel! das deutsche Rasse-Element

7 [307]

Das schnelle Tempo in der Musik und im Leben schleift viele Charaktere und Handlungen aus: wenn sie nicht unerträglich werden sollen: nämlich der Wechsel der Affekte – das schnelle Tempo ist die Sache der dauernden Stimmungen, des ηθος.

7 [308]

Der deutsche Adel: selbst im Luxus, im Pomp, Gartenkunst Baukunst Mauerei unproduktiv

7 [309]

Und wenn wir uns auch für die schwierigsten Fälle der moralischen Rechnung und Vorrechnung nicht trauten, so meinten wir doch alle das moralische Einmaleins zu kennen und hielten uns hierin für sicher

7 [310]

Meine Gedanken sind meine Ereignisse geworden: das Andere ist die Krankheits-Geschichte jedes Tags.

7 [311]

Ein Sturm: ich empfinde ihn gegen 4 Stunden vorher, bei dem heitersten Himmel. Ist er da, so verbessert sich mein Zustand.

7 [312]

Das augenblickliche politische Übergewicht Deutschland's ist nicht aufrecht zu erhalten: es verdankt es der Willenskraft eines Einzelnen, der außerdem von dem schwachen Charakter aller Deutschen so überzeugt war daß er weder Parteien noch Fürsten fürchtete. Sie mögen die beste Organisation und den trefflichsten Gehorsam haben – aber die Befehlenden werden in diesem Lande so selten geboren, und noch seltener, die welche befehlen und Geist haben. – Deshalb ist die Überlegenheit eine große Gefahr – sie erzieht in der Anmaaßung und in den Ansprüchen. – Mit Parteien kann man machen, was man will, wenn man nämlich will: aber velle non discitur. Und wahrhaftig, es gehört nicht einmal der Wille eines Richelieu dazu, sondern der eines Bismarck – das will sagen, ein viel launischeres und leidenschaftlicheres Ding.

7 [313]

Der friedliebende Deutsche, man kann auf seine Unterwerfung vor dem Regimente und der Religion rechnen – weil er die wirkliche Unruhe und Gefahr haßt: um so mehr bedarf er leichter gefährlich scheinender Schwärmereien, um sich als Held vorzukommen. Er wechselt damit sehr oft, weil er nicht die That will!

 


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