Friedrich Wilhelm Nietzsche
Fragmente Anfang 1880 bis Sommer 1882, Band 3
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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[Herbst 1880]

[Dokument: Notizbuch]

6 [1]

Verglichen mit den Bramanen kennen wir die Menschheit nur in einer ungeheuren Ermattung ihres Kraftgefühls und ihres Glaubens an sich: selbst bei unsern stolzesten Philosophen.

6 [2]

Menschen deren Trieb durch längere Enthaltung nur unmäßig geworden ist, so daß sie dann eben so sehr die Herrschaft darüber verlieren; z. B. Lord Byron im Essen.

6 [3]

Die Geschichte der Wissenschaft zeigt den Sieg der edleren Triebe: es ist sehr viel Moralität in Umlauf in der Praxis der Wissenschaft.

6 [4]

Welche Triebe constituiren das Individuum? Bei einem Grade von Dummheit gehen die I<ndividuen> an einander zu Grunde. Ebenso bei einem Schwinden der fundamentalen Triebe und Ersetzung derselben durch Altruism. Bei gewissen Eigenschaften der anderen I<ndividuen> muß man den Gegensatz oder Fremdheit fühlen oder sie gar nicht fühlen: oder harmonische Nebenklänge oder grundlegende Bewegungen, an denen unsere Bewegungen erst ein Maaß bekommen. Die "Musik der Individuen" die "Contrapunktik". Reizvoll kann sein: das Pärallellaufen, das Zulaufen zweier Linien in einen Winkel usw. die Arabeske der Linie, die öfter wie neckend die andere gerade Linie berührt und sofort verläßt. Mit W<agner> habe ich mich gekreuzt: wir liefen mit großer Inbrunst auf einander zu, es gab ein Aufleuchten, und darauf mit der gleichen Schnelligkeit wieder auseinander, immer mehr.

6 [5]

Man erreicht einen Höhepunkt seiner Unredlichkeit: und da werden wir uns verhaßt und wenden den Spiegel gegen uns und haben nun Vergnügen auch bei dem Anblick des Häßlichen, denn wir rächen uns dabei, oder haben Ekel an der Sättigung der Berauschung durch Illusionen. – Wahrheitstrieb

6 [6]

Die Griechen litten am meisten beim Anblick der Häßlichkeit, die Juden bei <dem> der Sünde, die Franzosen beim Anblick des ungeschickten geistarmen brutalen Selbst – deshalb idealisirten sie das Gegentheil – und dieses Ideal bildete sie selber um. Rache für das Leid – Motiv für die Bildung der Götter und künstlerischen Vorbilder. Der Mangel an berückender Sinnlichkeit macht die deutschen Maler zu Enthusiasten des Sinnlichen. Das Leiden an der Gluth der Leidenschaft hat die Italiäner zu Verehrern des kalten künstlichen Formalism gemacht: und zu Verehrern der Jungfrau M<aria> und des Christus. Schopenhauer idealisirte das Mitleiden und die Keuschheit, weil er am meisten von dem Gegentheil litt. "Der unabhängige Mensch" ist das Ideal des abhängigsten, impressionabelsten. – Dies sind die unerfüllbaren Ideale, wirklich falsche Phantasmen: ihr Anblick entzückt und demüthigt: dieser Zwitterzustand ist bezeichnend für die Menschen des unerfüllten Ideals. Es ist ihr Höhepunkt: sie ruhen dann über ihrem Wehe, mit einem verächtlichen Blick nach unten.

6 [7]

Oft wird ein Trieb mißverstanden, falsch gedeutet z. B. der Geschlechtstrieb, der Hunger, die Ruhmsucht. Vielleicht ist die ganze Moral eine Ausdeutung physischer Triebe.

6 [8]

In jener Stunde wo wir nicht wissen, wie bös und wie gut wir uns sind und uns Beides unredlich scheint –

6 [9]

6 [10]

Ah, welche Gewalt, welchen Zauber übt die Wissenschaft auf leidenschaftliche Geister aus! Gewiß sehen sie in ihr eine wunderbare Magie und werden hier zu Phantasten.

Welch schönes Kopfkissen ist der Zweifel für einen wohlgeformten Kopf!

6 [11]

die Kluft, welche uns von dem, der Geld erwerben will Arbeiter Handwerker Künstler trennt, nicht abzuleugnen: von alters her vererbt.

6 [12]

"man muß Zeit haben, um sich lieben zu machen: und selbst wenn ich nichts zu thun hatte, hatte ich das unbestimmte Gefühl, daß ich daran nichts zu verlieren habe" Napoleon.

6 [13]

Napoleon hat Romane gemacht und seine Träumereien hinterher "am Compaß seines Raisonnements gemessen" "Durch den Gedanken warf ich mich in eine ideale Welt"

6 [14]

"ich habe immer die Analyse geliebt, und wenn ich ernstlich verliebt war, zerlegte ich meine Liebe Stück für Stück"

6 [15]

die Zeit und die Umstände waren seinen guten Seiten ungünstig, sie brachten sie nicht zur Entwicklung.

6 [16]

"Der Mensch, den man beständig bestechen muß " sagte Napoleon von Savary, er traute ihm unbedingt, weil er ihn so von allen anständigen Leuten isolirt hatte und ihn in seine Hände gegeben wußte.

vom Intellekt

der vollkommene Diener seines Herrn, Duroc (Duc de Frioul): kalt schweigsam undurchdringlich, er dachte nie außerhalb seiner Aufgabe, er schmeichelte nicht, vollendete Genauigkeit, ein treuer Spiegel der Umgebung für seinen Herrn und des Herrn für seine Umgebung; keine Freunde, kein Bedürfniß der Unterhaltung, kein Vergnügen zu prüfen, ob sein Herr ein großer Mann sei oder nicht, gleichgültig über alles, keine Langeweile, kein Enthusiasmus. Trocken kalt, ganz persönlich, ohne eine Leidenschaft in Bezug auf Andere, geistreich und geschickt in bestimmten Kreisen.

6 [17]

"Nur der Jugend kommt es zu, Geduld zu haben: denn sie hat die Zukunft vor sich" sagt Napoleon. "Alles war in dieser (ital<ienischen>) Armee zu machen, Menschen und Dinge"

6 [18]

Das Nützliche kann kein letztes Ziel sein, kein Princip der Moralität, das Angenehme auch nicht (welche Art des Angenehmen ist vorzuziehen?) die letzten Ziele sind gar nicht auf einmal durch Begriffe zu erreichen: wir können immer nur Ziele so weit sehen, als wir Triebe vorher haben. Wie weit unsre Triebe wachsen können, weiß niemand.

6 [19]

der trockene und eisige Ton des Unzufriedenen

6 [20]

die unverschämte Form der Marktschreierei, wodurch unsere Zeit alle anderen übertrifft. Nie hat ein athenischer Künstler –

6 [21]

"In Frankreich weiß man niemals Interesse an den Dingen zu nehmen, wenn man Interesse an den Personen nimmt" Napoleon. Die Gewohnheit einer alten Monarchie hat euch gewöhnt alles zu personificiren. Ihr wißt nichts ernst zu nehmen, "Vielleicht ausgenommen die Gleichheit. Und man würde noch gerne darauf verzichten, wenn jeder sich schmeicheln könnte der Erste zu sein. Man muß allen die Hoffnung geben, sich zu erheben"

6 [22]

Napoleon sagte, die Zeit in Aegypten sei die schönste seines Lebens gewesen, denn sie war die idealste. Alles was er träumte, konnte er ausführen. Die Civilisation genirte ihn nicht.

6 [23]

Haupt-Unterschied: den Einen schwebt ein Musterzustand der Dinge außer ihnen vor, wo diese auf das angenehmste für sie auf ihnen gleichsam spielen (die Politiker Socialisten usw.) Den Anderen ein Musterzustand ihrer selber, wo sie auf den äußeren Dingen und Menschen auf das angenehmste für sie spielen: letzteres das Ideal der produktiven Nat<uren> ersteres das der lästig Arbeitenden: sie wollen lieber Passiva sein! Die einen die Herrschsüchtigen und die anderen die Sklaven. Die ersteren zweifeln nicht, wenn sie so und so sein werden, daß sie dem Weltinstrument die herrlichsten Töne entlocken werden: und die letzteren zweifeln nicht, daß, wenn alles fest geordnet und frei vom Individuum (dem Herrscher) gemacht wird, alles vorherzusehen ist und sie lauter angenehme Eindrücke vom Leben haben werden. "Ausdrückliche und eindrüchkliche Menschen"

6 [24]

"Was hat die Revolution gemacht? Die Eitelkeit. Was wird sie beenden? Wiederum die Eitelkeit. Die Freiheit ist ein Vorwand."

6 [25]

Er endete plötzlich seine Rolle als bonhomme und fügte mit der Trockenheit eines Herrn einen Befehl hinzu, der keine Gelegenheit verliert, zu befehlen.

6 [26]

Napoleons schwache Seite: er konnte nicht den Gedanken der Niederlage irgendworin ertragen. Weil seine Seele ohne Adel war und er die großen Gefühle nicht kannte, welche über ein schlechtes Geschick hinaus gehen, wendete er seinen Gedanken von dieser schwachen Partie von sich ab: er heftete dagegen seinen Geist auf seine bewunderungsw<ürdige> Anlage, mit dem Erfolg sich zu vergrößern. Sein Glück war sein persönlicher Aberglaube (Je réussirai!) und der Cult, zu dem er sich gegen dasselbe verpflichtet glaubte, legitimirte in seinen Augen alle Opfer, welche er uns auflegen sollte.

6 [27]

"Der Widerstand gegen das Verbrechen ist derart uns angeboren, daß wir sehr leicht bei einem an die Nothwendigkeit glauben, in der er sich befand es zu begehen."

6 [28]

Die schwache Anhänglichkeit eintauschen gegen die wirkliche Furcht, welche er einflößte: man bewunderte die Kühnheit seines Spiels.

6 [29]

"Ihr habt andere Zeiten gesehen: ich, ich datire von der, wo ich anfing etwas zu sein" Napoleon

6 [30]

"Ich habe keinen Haß, ich bin nicht im Stande, etwas aus Rache zu thun: ich entferne einfach was mich genirt!" sagte Napoleon in Bezug auf die Hinrichtung des Herzogs von Enghien

6 [31]

Unsere Triebe toben sich in den Listen und Künsten der Metaphysiker aus, sie sind die Apologeten des menschlichen Stolzes: die Menschheit kann ihre verlorenen Götter nicht verschmerzen! Gesetzt, diese Leidenschaft rast sich aus: welcher Zustand der Ermattung, der Blässe, der erloschenen Blicke! Das höchste Mißtrauen gegen den Intellekt als Werkzeug der Triebe: die Nachgeburt des Stolzes ist die Skepsis. Die peinliche Inquisition gegen unsere Triebe und deren Lügnerei. Es ist eine letzte Rache, in dieser Selbstzermalmung ist der Mensch immer noch der Gott, der sich selber verloren hat. Was folgt auf diese gewaltsame Skepsis? Die Erschöpfung, die zweite Erschöpfung, ein Greisenthum: alle Vergangenheit wird matt empfunden, die Verzweiflung selber wird zur Historie, und zuletzt ist das Wissen um alle diese Dinge noch ein genügender Reiz für diese Greise. –

Diese ganze Geschichte spielt sich in immer wenigeren Köpfen ab. Aber der Verlust des Glaubens wird ruchbar unter allen Übrigen – und nun folgt nach: das Aufhören der Furcht, der Autorität, des Vertrauens, das Leben nach dem Augenblick, nach dem gröbsten Ziele, nach dem Sichtbarsten: eine umgekehrte Bewegung leitet sich ein. Das Vertrauen ist noch am größten für das, was dem früheren Ziele am entgegengesetzt<est>en ist! Ein Versuchen und Experimentiren, ein Gefühl der Unverantwortlichkeit, die Lust an der Anarchie! An die Stelle des Stolzes ist die Klugheit getreten. Die Wissenschaft tritt in ihren Dienst. Eine gemeinere Gattung von Menschen bekommt das Regiment (statt der noblesse oder der Priester): erst die Kaufleute, nachher die Arbeiter. Die Masse tritt auf als Herrscher: das Individuum muß sich zur Masse lügen. – Nun werden immer noch solche geboren, die in früheren Zeiten zu der herrschenden Klasse der Priester, Adels, Denker gehört hätten. Jetzt überschauen sie die Vernichtung der Religion und Metaphysik, Noblesse und Individual-Bedeutung. Es sind Nachgeborene. Sie müssen sich eine Bedeutung geben, ein Ziel setzen um sich nicht schlecht zu befinden. Lüge und heimliche Rückflucht zum Überwundenen, Dienst in nächtlichen Tempeltrümmern sei ferne! Dienst in den Markthallen ebenfalls! Sie ergreifen die Theile der Erkenntniß, welche durch das Interesse der Klugheit nicht gefördert werden! Ebenso die Künste, welchen der moderne Geist abhold ist! Sie sind die Beobachter der Zeit und leben hinter den Ereignissen. Sie üben sich, sich frei von der Zeit zu machen und sie nur zu verstehen, wie ein Adler, der darüber fliegt. Sie beschränken sich zur größten Unabhängigkeit und wollen nicht Bürger und Politiker und Besitzer sein. Sie reserviren hinter allen Vorgängen die Individuen, erziehen sie – die Menschheit wird sie vielleicht einst nöthig haben, wenn der gemeine Rausch der Anarchie vorüber ist. Pfui über die, welche sich jetzt zudringlich den Massen als ihre Heilande anbieten! Oder den Nationen! Wir sind Emigranten. – Wir wollen auch das böse Gewissen für die Wissenschaft im Dienste der Klugen sein! Wir wollen bereit sein! Wir wollen Todfeinde derer von den Unseren sein, welche zur Verlogenheit Zuflucht nehmen und Reaktion wollen! – Es ist wahr, wir stammen von Fürsten und Priestern ab: aber eben deshalb halten wir unsere Ahnen hoch, weil sie sich selber überwunden haben. Wir würden sie schänden, wenn wir ihr Größtes verleugneten! Was gehen uns also die Fürsten und Priester der Gegenwart an, welche durch den Selbstbetrug leben müssen und wollen!

6 [32]

Dieselbe Unsicherheit und Skepsis, die der Schiffer in Betreff seiner Fahrt hat, ob sie gelingt, zur rechten Zeit unternommen, müssen wir in Betreff aller Pflichten haben. Ich bin nicht absolut verpflichtet, so leicht ist es mir nicht gemacht. Wir experimentiren mit unseren Tugenden und guten Handlungen und wissen nicht sicher, daß es die nothwendigen sind, in Hinsicht auf das Ziel. Wir müssen den Zweifel aufrichten und alle moralischen Vorschriften anzweifeln. Überdies sind sie so grob, daß keine wirkliche Handlung einer solchen Vorschrift entspricht: das Wirkliche ist viel complicirter.

6 [33]

Napoleon war heiter, er genoß im Geheimen den kleinen Zwang, welchen das neue Ceremoniell unter uns allen schuf.

6 [34]

"Fremd zu sein jeder Intrigue: fast ein Fehler an Höfen Was Fürsten am wenigsten verzeihen: daß man in ihrem Dienste einige Mittel beobachtet ihrer Macht zu entschlüpfen"

6 [35]

"Es giebt da nicht genug Pomp: es würde nicht Staub in die Augen werfen" sagte Napoleon zu Herrn von Rémusat, als dieser einen Plan vorlegte wie das neue Kaiserthum zu schmücken sei

6 [36]

"Ich, für mich allein, bin die ganze Revolution" indem er seine Person erhielt, hütete er dazu alles das, was nützlich war, nicht zu zerstören. Er wollte die Franzosen blenden und betäuben, durch alle Mittel auf einmal. Er liebte den Pomp des alten Regimes, er meinte, daß so der Parvenu noch besser unsichtbar werde.

6 [37]

"Vengeons nous, par en médire" Montaigne

6 [38]

" Es ist immer nur eine sehr kleine Zahl Menschen die sich erlauben den Erfolg zu tadeln" Die Schmeicheleien tragen den Sieg über die Kritik davon.

6 [39]

Die Musik hat keinen Klang für die Entzückungen des Geistes; will sie den Zustand von Faust und Hamlet und Manfred wiedergeben, so läßt sie den Geist weg und malt Gemüthszustände, die höchst unangenehm sind ohne Geist und gar nicht zum Ansehen taugen; sie vergröbert und malt die Mißvergnügtheit und den Jammer, vielleicht mit musikalischem Geiste; aber wie schrecklich ist diese Kunst, wenn sie ohne Auswahl das Häßliche malt: welche Martern sind den Tönen zu eigen, den aufdringlichen Tönen! – Liegt es daran, daß unter den Musikern ein feiner und wohlgestalteter Geist überhaupt selten ist? Daß sie das Fühlen in sich nie isoliren und seine Strahlenbrechung und Farbigkeit im Blitz des Gedankens nicht kennen? Sie müssen alle Zustände vergröbern, gleichsam ins Unmenschliche zurückübersetzen: wie als ob die Gedanken und die Worte noch nicht erfunden seien. Dies ist übrigens ein großer Reiz: es ist Urnatur in der Musik: sie gehört in die Zeit, wo man die wilde Natur der Landschaft verehrt und die Hochgebirge entdeckt hat. Einer Gesellschaft, welche den geistigen Genüssen nicht gewachsen ist, welche selbst zu gedankenarm für Gemälde ist, und überhaupt ihre Kopf-Kraft schon verthan hat, wenn sie sich anschickt, sich zu ergötzen, bleibt der Appell an die Gefühle und Sinne: und in diesen bietet der Musiker die anständigste Ergötzung. Schon gemeiner ist der Theatergenuß, mit dem Conterfei menschlicher Vorgänge und dem groben Reize der direkten Nachahmung aufregender Scenen. Ein Schritt weiter: und wir haben, zur Erholung, die Erregung der Triebe durch Getränke, usw. – Der Dichter steht höher als der Musiker, er macht höhere Ansprüche, nämlich an den ganzen Menschen. und der Denker macht noch höhere Ansprüche: er will die ganze ges<ammelte> frische Kraft und fordert nicht zum Genießen sondern zum Ringkampf und zur tiefsten Entsagung aller persönlichen Triebe auf.

6 [40]

Ich habe den Mann geliebt, wie er wie auf einer Insel lebte, sich vor der Welt ohne Haß verschloß: so verstand ich es! Wie fern ist er mir geworden, so wie er jetzt, in der Strömung nationaler Gier und nationaler Gehäßigkeit schwimmend, dem Bedürfniß dieser jetzigen, durch Politik und Geldgier verdummten Völker nach Religion entgegenkommen möchte! Ich meinte ehemals, er habe nichts mit den jetzigen zu thun – ich war wohl ein Narr.

6 [41]

Wenn Napoleon heiter wurde, nahm er Garnisons-Gewohnheiten an und war ohne Maaß.

6 [42]

"Der Zufall bleibt immer ein Mysterium für die mittelmäßigen Geister und wird eine Realität für die höheren Menschen." Den Antheil des Zufalls mathematisch genau vorher feststellen: "eine Dezimale mehr oder weniger kann alles ändern" "Mittelmäßige Leute werden zu einer gewissen Evidenz gebracht durch Umstände, die sie nicht geschaffen haben"

6 [43]

"Pour être un veritable grand homme, il faut réellement avoir improvisé une partie de sa gloire et se montrer au-dessus de l'événement, qu' on a causé."

6 [44]

"Tacitus ein geschickter Schriftsteller, aber selten ein Staatsmann"

6 [45]

"Wenn Politiker wirklich geschickt sind, verstehen sie, sich zu Herrn ihrer Leidenschaften zu machen, denn sie gehen so weit, die Wirkungen davon zu berechnen

6 [46]

"der Staatsmann, eine vollkommen excentrische Persönlichkeit, immer allein von der einen Seite mit der Welt auf der anderen" Während er die Dinge beobachtet und die oft so ungleichen Fäden gleichmäßig in seiner Hand laufen läßt, mit der größten Aufmerksamkeit darauf – wie kann er sich damit amüsiren, gewisse Gefühls-Convenances zu schonen, die für den gewöhnlichen Menschen so wichtig sind! (Bande des Blutes, Affektion usw.)

6 [47]

Die Energie der Spannung (zwischen Liebe und Haß) nie größer als bei Chr<isten> ihr Haß odium generis humani mehr als alles M<itleid>

6 [48]

Das Gefühl und Glück der Hingebung – aus dem Ende der Furcht, Eintritt der Sicherheit zu erklären (nicht aus dem weibl<ichen> Trieb)

6 [49]

6 [50]

Mein Ziel ist nichts für jedermann, deshalb ist es doch mittheilbar, der Ähnlichen wegen sowohl als weil die Entgegengesetzten daraus Kraft und Lust gewinnen werden, sich ihr Wesen ebenfalls zu formuliren und in wirkenden Geist umzusetzen. Ich will allen, welche ihr Muster suchen, helfen, indem ich zeige, wie man ein Muster sucht: und meine größte Freude ist, den individuellen Mustern zu begegnen, welche nicht mir gleichen. Hol' der Teufel alle Nachahmer und Anhänger und Lobredner und Anstauner und Hingebenden!

6 [51]

"der militärische Ruhm, welcher so lang in der Geschichte lebt, ist der, welcher am schnellsten für die Mitgenossen erlischt" Napoleon nach dem größten Moment seiner Macht (Friede zu Tilsit)

6 [52]

Napoleon sah im Kriege, das Mittel uns zu betäuben oder wenigstens zum Stillschweigen zu bringen.

6 [53]

Der geschlechtliche Reiz im Aufsteigen unterhält eine Spannung, welche sich im Gefühle der Macht entladet: herrschen wollen – ein Zeichen der sinnlichsten Menschen. Der schwindende Hang des Geschlechtstriebes zeigt sich im Nachlassen des Durstes nach Macht: das Erhalten und Ernähren und oft die Lust am Essen tritt als Ersatz ein (Elterntrieb ist Erhalten Ordnen Ernähren, nicht Beherrschen, sondern Wohlbefinden sich und anderen schaffen) In der Macht ist das Gefühl, gern wehe zu thun – eine tiefe Gereiztheit des ganzen Organismus, welcher fortwährend Rache nehmen will. Die wollüstigen Thiere sind in diesem Zustand am bösesten und gewaltthätigsten, sich selber über ihren Trieb vergessend.

6 [54]

Liebe als Passion ist Verlangen nach absoluter Macht über eine Person: (z.B. wollen, daß man der einzige Gegenstand von Gedanken und Empfindungen sei) Der Liebende sieht die übrige Welt kaum und opfert alle anderen Interessen in diesem Machtdurste. An das Geliebtwerden glauben bringt eine tiefe Sättigung mit sich: "wir werden als absolute Macht empfunden"!

6 [55]

Man muß den aphrodisischen Reiz und die Folgen seiner Befriedigung für die Fortpflanzung des Geschlechtes trennen: der Ausdruck "Geschlechtstrieb" enthält ein Vorurtheil

6 [56]

Die Resorption des Samens durch das Blut ist die stärkste Ernährung und bringt vielleicht den Reiz der Macht, die Unruhe aller Kräfte nach Überwindung von Widerständen, den Durst nach Widerspruch und Widerstand am meisten hervor. Das Gefühl der Macht ist bis jetzt am höchsten bei enthaltsamen Priestern und Einsiedlern gestiegen (z. B. bei den Bramanen)

6 [57]

Das Gefühl der Lust der Ergebung ist vielleicht weiblich – und beider Gefühle sind beide Geschlechter fähig, aber ein Überschuß in jedem besonders. Gott weiß, mit welchen Eigenheiten der geschlechtlichen weiblichen Funktion es zu thun haben mag, daß ihre sinnliche Erregung nicht wesentlich als Wille der Macht sich äußert: beherrscht werden, dienen, sie fühlen sich schwächer durch die Liebe. Die Ernährung des Eierstockes fordert Kraft ab.

6 [58]

Wer tiefer Empfindungen fähig ist, muß auch den heftigen Kampf derselben gegen ihre Gegensätze leiden. Man kann, um ganz ruhig und leidlos in sich zu sein, sich eben nur die tiefen Empfindungen abgewöhnen, so daß sie in ihrer Schwäche eben auch nur schwache Gegenkräfte erregen: die, in ihrer sublimirten Dünne, dann wohl überhört werden und dem Menschen den Eindruck geben, er sei ganz mit sich im Einklange. – Ebenso im socialen Leben: soll alles altruistisch zugehn, so müssen die Gegensätze der Individuen auf ein sublimes Minimum reduzirt werden: so daß alle feindseligen Tendenzen und Spannungen, durch welche das Individuum sich als Individuum erhält, kaum mehr wahrgenommen werden können, das heißt: die Individuen müssen auf den blassesten Ton des Individuellen reduzirt werden! Also die Gleichheit weitaus vorherrschend Das ist die Euthanasie, völlig unproduktiv! Ebenso wie jene Menschen ohne tiefe Empfindungen, die liebenswürdigen ruhigen und sogenannten glücklichen, eben auch unproduktiv sind. Der Werth der Wissenschaft ist, eine ungeheure Gegenkraft zu sein: vielleicht entzündet sie, im Widerspruch zu ihr, wieder die Unlogik und Phantasterei immer von Neuem! – Vielleicht ist dies nöthig!

6 [59]

Die Menschheit hat kein Ziel, ebenso wenig wie die Saurier eins hatten, aber sie hat eine Entwicklung: d. h. ihr Ende ist nicht mehr bedeutend als irgend ein Punkt ihres Weges! NB. Folglich kann man das Gute nicht so bestimmen, daß es das Mittel zum "Ziel der Menschheit" wäre. Wäre es das, was die Entwicklung möglichst verlängerte? Oder was den Höhepunkt am höchsten brächte (zwischen auf- und absteigen, werden und vergehen)? Aber dies setzte schon wieder ein Maß für den Höhepunkt voraus! Und warum möglichst lang? Auch das setzt ein Gutes voraus z. B. die Lust des Daseins. – Möglichst viel Lust als Ziel? Aber damit kann man nicht einmal sein Einzelleben dirigiren, denn wir kennen die Quellen der Lust, die Triebe, nicht in Bezug auf ihre innersten Bedürfnisse z. B. ob möglichst viel Lust nicht auch eine ungeheure Unlust voraussetzt? – Oder möglichst wenig Unlust in der Entwicklung? – Darauf strebt jetzt alles hin – aber dies heißt auch eine möglichst unkräftige Entwicklung, eine allgemeine Selbstschwächung, ein blasses Abschiednehmen von der bisherigen Menschheit, bis an die Grenze, wo die Thiere wieder über uns Herr werden! Der matte Dusel ist über dies kein Ideal, welches große Opfer zu veranlassen vermöchte – und doch wäre ein ungeheures Verzichtleisten zu fordern, wenn die Menschheit auf dieses Niveau steigen sollte! Es könnte dies aber wohl, ohne ein Ziel des Strebens zu sein, doch einmal das Ende sein! Oder ein irregewordener Stern erbarmt sich der Menschheit dann!

6 [60]

der höchste Grad von Individualität wird erreicht, wenn jemand in der höchsten Anarchie sein Reich gründet als Einsiedler.

6 [61]

der Durst nach Macht ist bezeichnend für den aufsteigenden Gang der Entwicklung, der Durst nach Hingebung für den absteigenden. Die Freuden des Alters haben im Tiefsten alle diese Hingebung an Dinge, Gedanken, Personen: der Aufstrebende herrscht. – Der Kranke nimmt den Hang des Alters vorweg.

6 [62]

Wir empfinden die Außenwelt immer verschieden, weil sie sich gegen den jedesmal in uns überwiegenden Trieb abhebt: und da auch dieser als etwas Lebendiges wächst und schwindet und nichts Verharrendes ist, so ist im kleinsten Momente unsere Empfindung der Außenwelt immer werdend und vergehend, also wechselnd.

6 [63]

Das Urtheil ist etwas sehr Langsames im Vergleich zu der ewigen unendlich kleinen Thätigkeit der Triebe – die Triebe sind also immer viel schneller da, und das Urtheil ist immer nach einem fait accompli erst am Platze: entweder als Wirkung und Folge der Triebregung oder als Wirkung des miterregten ertgegengesetzten Triebes. Das Gedächtniß wird durch die Triebe erregt, seinen Stoff abzuliefern. – Durch jeden Trieb wird auch sein Gegentrieb erregt, und nicht nur dieser, sondern wie Obertonsaiten noch andere, deren Verhältniß nicht in einem so geläufigen Worte zu bezeichnen ist, wie "Gegensatz".

6 [64]

Wir empfinden peinlich, daß Jemand uns geringschätzt. In einem hohen Moment der Stimmung sehen wir auf diese peinliche Empfindung hin und zurück, wie auf etwas Fernes, das uns kaum noch angehört, die Empfindung z. B. wird fast zum Wissen darum: fast alle Dinge, von denen wir nur diese Empfindung des Wissens darum haben, scheinen uns ferner und außer uns, der leidende oder angenehme Trieb als Fundament darin ist uns kaum mehr bemerkbar. Aber er muß darin sein, das Gedächtniß merkt nur Thatsachen der Triebe: es lernt nur, was in einen Gegenstand eines Triebes verwandelt ist! – Unser Wissen ist die abgeschwächteste Form unseres Trieblebens; deshalb gegen die starken Triebe so ohnmächtig.

6 [65]

In Dingen des Geistes ist Jeder groß, der, als große Ausnahme, die Dinge des Wissens stark empfindet und gegen ferne Dinge sich so verhält wie gegen die nächsten, so daß sie ihm wehe thun. Leidenschaft erregen, große Erhebungen geben können, kurz daß sie mit den stärksten Trieben bei ihm verschmolzen sind. (Redlichkeit z. B. wäre wohl Neugierde Stolz Herrschsucht Milde Gtoßmuth Tapferkeit in Bezug auf Sachen, die für die Meisten ganz kalt und abstrakt bleiben) Passion für Abstrakta, und Unfähigkeit, ein Abstraktum sich fern und gleichgültig zu halten macht den Denker.

6 [66]

Menschen gemartert durch einen Bußredner, wie ein Reh, das in Schlingen sich verfängt und unter wüthendem Rasen stirbt.

6 [67]

Meine Aufgabe: alle Triebe so zu sublimiren, daß die Wahrnehmung für das Fremde sehr weit geht und doch noch mit Genuß verknüpft ist: der Trieb der Redlichkeit gegen mich, der Gerechtigkeit gegen die Dinge so stark, daß seine Freude den Werth der anderen Lustarten überwiegt, und jene ihm nöthigenfalls, ganz oder theilweise, geopfert werden. Zwar giebt es kein interesseloses Anschauen, es wäre die volle Langeweile. Aber es genügt die zarteste Emotion!

6 [68]

Napoleon haßte nichts mehr in der Welt, als daß jemand die Fähigkeit zu urtheilen in Bezug auf ihn übte, oder überhaupt nur hatte.

6 [69]

die Ruhe hat ihr gefehlt (Mad. de Staël): nach Rémusat "une privation sans remède pour le bonheur et même pour le talent".

6 [70]

das Ich ist nicht die Stellung Eines Wesens zu mehreren (Triebe, Gedanken usw.) sondern das ego ist eine Mehrheit von personenartigen Kräften, von denen bald diese, bald jene im Vordergrund steht als ego und nach den anderen, wie ein Subjekt nach einer einflußreichen und bestimmenden Außenwelt, hinsieht. Das Subjekt springt herum, wahrscheinlich empfinden wir die Grade der Kräfte und Triebe, wie Nähe und Ferne und legen uns wie eine Landschaft und Ebene aus, was in Wahrheit eine Vielheit von Quantitätsgraden ist. Das Nächste heißt uns "ich" mehr als das Entferntere, und gewöhnt an die ungenaue Bezeichnung "ich und alles andere, tu", machen wir instinktiv das überwiegende momentan zum ganzen ego und alle schwächeren Triebe stellen wir perspektivisch ferner und machen daraus ein ganzes Du oder "Es". Wir behandeln uns als eine Mehrheit und tragen in diese "socialen Beziehungen" alle die socialen Gewohnheiten, die wir gegen Menschen Thiere Gegenden Dinge haben. Wir verstellen uns, setzen uns in Angst, machen Parteiungen, führen Gerichtsscenen auf, überfallen uns, martern uns, verherrlichen uns, machen aus dem und jenem in uns unseren Gott und unseren Teufel und sind so unredlich und so redlich als wir es in Gegenwart der Gesellschaft zu sein pflegen. – Alle socialen Beziehungen auf den Egoismus zurückzuführen? Gut: für mich ist aber auch wahr daß alle egoistischen inneren Erlebnisse auf unsere eingeübten angelernten Stellungen zu Anderen zurückzuführen sind. Welche Triebe hätten wir, die uns nicht von Anfang an in eine Stellung zu anderen Wesen brächten, Ernährung z. B., Geschlechtstrieb? Das, was Andere uns lehren, von uns wollen, uns fürchten und verfolgen heißen, ist das ursprüngliche Material unseres Geistes: fremde Urtheile über die Dinge. Jene geben uns unser Bild von uns selbst, nach dem wir uns messen, wohl und übel mit uns zufrieden sind! Unser eigenes Urtheil ist nur eine Fortzeugung der combinirten fremden! Unsere eigenen Triebe erscheinen uns unter der Interpretation der Anderen: während sie im Grunde alle angenehm sind, sind sie doch durch die angelernten Urtheile über ihren Werth so gemischt mit unangenehmen Beigefühlen, ja manche werden als schlechte Triebe jetzt empfunden: "es zieht hin, wohin es nicht sollte" – während schlechter Trieb eigentlich eine contradictio in adjecto ist. – Was will also Egoismus sagen! Wir können innerhalb unser selber wieder egoistisch oder altruistisch, hartherzig, großmüthig, gerecht milde verlogen sein, wehe thun oder Lust machen wollen: wie die Triebe im Kampfe sind, ist das Gefühl des Ich immer am stärksten dort, wo gerade das Übergewicht ist.

6 [71]

Unbeschreiblicher Ekel, wenn unsere Gebildeten von der Nothwendigkeit einer idealen Bildung und einer Erneuerung der Religion phantasiren! dieses verlogene Gesindel, das bei Musik und Schauspiel wieder religiös werden will und sich in den Kopf setzt, sobald es nur wieder im Herzen zu zittern beginnt, alle Redlichkeit des Kopfes fahren zu lassen und sich kopfüber in den mystischen Schlamm zu stürzen! Recht der Gedanke einer durch Politik und Geldgier verdummten und servil gewordenen Generation!

Denn ob man einem Napoleon oder dem Nationalitätsprincip dient, beides führt zur Sklaverei und zum schließlichen Ekel an sich: wohl dann der Religion! wohl den Künstlern, welche den Anstand einer freien geistigen Haltung nicht angeboren haben! Früher dachte ich: wir sind anderer Art, anderer Herkunft, nichts war mir fremder als mich diesen Strömungen der Nationalität und der Neigung zur Mystik anzubieten! Ich sah sie – mir ekelte damals und jetzt dafür. Allein sein! abseits leben! war immer meine Devise. Was geht es mich an, daß die, welche damals darin mir gleich gesinnt erschienen, jetzt alle sich dort anbieten! Hier die Gespensterfinger des Spiritisten, und der mathematisch-magische Taschenspieler, dort ein gehirnausbrennender Cultus der Musik, dort die wiedererweckten Gemeinheiten einer Judenverfolgung – seht die allgemeine Übung im Hassen

6 [72]

"Diejenigen welche kommen mich zu besuchen werden mir eine Ehre erweisen: diejenigen welche nicht kommen, werden mir ein Vergnügen erweisen" Augier.

6 [73]

Napoleon nach dem ersten italienischen Feldzuge, zu einem Journalisten: denken Sie daran, in den Erzählungen unserer Siege immer von mir, immer von mir zu sprechen, hören Sie?

6 [74]

Alle Moralisten sind einig in der allgemeinen Tendenz: wohin das Handeln streben müsse und was die Wohlfahrt der Menschheit sei – ich finde sie beherrscht von Einem Triebe und voll Vorurtheil darin. Die Herrschaft des Altruismus scheint mir die Menschheit zu Grunde zu richten – ein Absterbeprozeß Euthanasie: – vielleicht dienen also die Moralisten der allgemeinen Entwicklung: aber sie erwarten etwas Umgekehrtes! Ich will den Egoismus aufrichten und jene weise Einsicht, welche dem fremden Individuum nicht gerne in's Geschäft und Wesen greift: nur durch Noth sind wir altruistisch.

6 [75]

Alle Moralisten haben gemeinsame Censuren über gut und böse, je nach sympathischen und egoistischen Trieben. Ich finde Cut, was einem Ziele dient: aber das "gute Ziel" ist Unsinn.

Denn überall heißt es "gut wozu?" Gut ist immer nur ein Ausdruck für ein Mittel. Der "gute Zweck" ist ein gutes Mittel zu einem Zweck. Jedes Ziel – – –

6 [76]

Die Tugend der Reinlichkeit NB. Wurzel des Triebes der Schönheit

6 [77]

Ein System des Lebens das nur auf Neigungen ruhen soll – Altruism. Aber da müßte das Schicksal nur mit Akkorden auf uns spielen – es hieße die Unvernünftigkeit des Daseins beseitigen und es zur menschlichen Vernunft machen. Und damit jeder nur Harmonien hörte, müßte jeder andere ihm gleich sein und keine anderen Bedingungen haben – so aber würde die Neigung schwach und endlich unnöthig, weil alles schon ohne Erstreben sich anböte.

6 [78]

Geht die edle Unabhängigkeit verloren, so werden alle Talente matt – ob es unter der Tyrannei Napoleon's oder des Altruismus ist: Ende der Genies!

6 [79]

"mit dem alleinigen Geschmack für das Reale ist man zu nichts gut, weder in einer Farm noch in einem Palaste"

6 [80]

Unser Verhältniß zu uns selber! Mit Egoismus ist gar nichts gesagt. Wir wenden alle guten und schlechten gewöhnten Triebe gegen uns: das Denken über uns, das Empfinden für und gegen uns, der Kampf in uns – nie behandeln wir uns als Individuum, sondern als Zwei- und Mehrheit; alle socialen Übungen (Freundschaft Rache Neid) üben wir redlich an uns. Der naive Egoismus des Thieres ist durch unsere sociale Einübung ganz alterirt: wir können gar nicht mehr eine Einzigkeit des ego fühlen, wir sind immer unter einer Mehrheit. Wir haben uns zerspalten und spalten uns immer neu. Die socialen Triebe (wie Feindschaft Neid Haß) (die eine Mehrheit voraussetzen) haben uns umgewandelt: wir haben "die Gesellschaft" in uns verlegt, verkleinert und sich auf sich zurückziehen ist keine Flucht aus der Gesellschaft, sondern oft ein peinliches Fortträumen und Ausdeuten unserer Vorgänge nach dem Schema der früheren Erlebnisse. Nicht nur Gott, sondern alle Wesen, die wir anerkennen, nehmen wir, selbst ohne Namen, in uns hinein: wir sind der Kosmos, soweit wir ihn begriffen oder geträumt haben. Die Oliven und die Stürme sind ein Theil, von uns geworden: die Börse und die Zeitung ebenso.

6 [81]

Unser waches Leben ist ein Ausdeuten innerer Triebvorgänge mit Hülfe des Gedächtnisses an alles Empfundene und Gesehene: eine willkürliche Bildersprache davon, wie das Träumen von der Sensation im Schlafen.

6 [82]

Wie das Leben für Andere entsteht! bei einem Diener, der zuerst mit Zwang und Strafen an das Interesse seines Herrn denkt, allmählich fällt ihm das eher ein als sein eigenes, weil er gemerkt hat, daß sein Wohl von dem des Herrn und der guten Stimmung desselben abhängt: endlich sieht er darnach wie der Gärtner nach den Pflanzen, sie sind ihm fortwährend gegenwärtig, gewöhnt, leicht, erleichternd, Grund seiner Freuden und Leiden. So der Stallknecht für sein Pferd, der Gelehrte für sein Thema, der Vater für sein Kind, der Kaufmann für sein Geld. Wir vergessen motivirende Gedanken und leben nach den eingeübten Gefühlen des Angenehmen Gewöhnten – das soll moralisch sein! Gewiß <ist> es für Alle angenehm, Herren und Diener und somit wird es sehr gelobt, folglich viel Phantasterei der Gedanken darum gelegt, damit es als etwas Hohes erscheine!

6 [83]

Wenn unsere Triebe gleich stark sind und nach entgegengesetzten Zielen uns ziehen, entsteht jener Kampf und jene Noth, welche die Moralisten so hoch stellen. Eigentlich ist für Viele die Tugend nichts werth, wenn sie nicht einen solchen Kampf macht d. h. man will, daß die entgegengesetzten Triebe ebenso stark seien! Ein Laokoon, der seine Schlangen zerdrückt! Eine pathetische Attitüde!

6 [84]

Viel Wohlwollen bei denen, welche das Übel leicht vergessen, welche leicht zu erregen und zu beruhigen sind, unfähig einer langen Emotion, eines ernsten Nachdenkens, expansiv, etwas indiskret.

6 [85]

l'entraînement de ma destinée sagte Napoleon

6 [86]

Erhabenheit der Seele! meistens ist es Exaltirtheit!

6 [87]

"streng in ihren Principien oder in den Gefühlen welche ihre Einbildungskraft erzeugt hatte"

6 [88]

die wirksamen Schriftsteller beweisen, daß Worte nur Andeutungen sind, daß man nichts vollenden dürfe und daß die Schriftsteller darin Vortheile vor den Malern haben.

6 [89]

der Geometer Ampère: je crois que le monde extérieur a été créé tout simplement pour nous être une ocasion de penser.

6 [90]

Napoleon war Träumer, schweigsam, im Verkehr mit Frauen gezwungen, aber passionirt und hinreißend, obschon fremdartig in seiner ganzen Person, als er jung war. Seine Anfälle von düsterer und drohender Eifersucht.

6 [91]

Gleichheit im Humor, Milde und natürliche Heiterkeit machen das glückliche Privatleben. Der letzte Grund: von nichts tief bewegt werden. Man nennt es Philosophie, wenn <sich> diese Indifferenz nicht nur in Bezug auf das, was die Andern interessirt, sondern in der Tribulation des Persönlichen zeigt.

6 [92]

Ihre Einbildungskraft erhitzte sich bei den Pflichten, die ihr auferlegt seien, sie schrieb sich die peinlichsten Opfer vor, gerade weil sie das Unglück hatte den Gemahl nicht zu lieben. Sie war aufmerksam darauf, ihm zu gefallen, als wenn sie ihn geliebt hätte.

6 [93]

Non consilia a casu differo, das Schicksal treibt sie, die Absichten sind schwach.

6 [94]

Napoleon verstand es aus der tiefsten Ruhe in den höchsten Zorn überzugehen, wenn es ihm nützlich schien. "Mein Zorn ist niemals über das da hinausgegangen" sagte er zum Abbé de Pradt auf seinen Hals deutend (cou). "Er findet ein Mittel seine Leidenschaften zu erheucheln obgleich sie wirklich existiren" sagte Talleyrand.

6 [95]

Napoleon hatte Anfälle von Empfindung vergoß Thränen, aber es machte ihm hinterdrein einen schlechten Humor. "Wenn mein Blut nicht mit seiner beständigen Langsamkeit schlägt, laufe ich Gefahr, zum Narren zu werden." Nach Corvisart hatte er wenige Pulsschläge. Aber er klagte über intraitable Nerven. Er behauptete er verstünde absolut nicht, was es hieße "der Kopf dreht sich mir"

6 [96]

Er hatte ein geheimes Vergnügen Furcht zu erregen und zittern zu machen. Denn: „die Unruhe reizt den Eifer", er vermied, sich vor Personen und Menschen zufrieden zu zeigen: "une petite terreur de detail war immer im geheimsten Innern seines Palastes"

6 [97]

Er hatte die Miene, die Ruhe ohne Aufhören zu hassen, für sich und die Anderen.

6 [98]

Hatte die Gesellschaft einen ruhigen Gang des Gesprächs, so änderte er plötzlich den Ton durch ein herrisches Wort und stellte den Unterredner wieder auf den Platz vor ihm, nämlich in seine Furcht.

6 [99]

Der wahrhaft Glückliche ist der, welcher sich vor mir im Grund einer Provinz verbirgt und wenn ich sterbe, wird die Welt ein großes ouf! machen.

6 [100]

Wenn er einen Dienst bezahlte, ließ er merken, daß er einen neuen kaufte. Er wollte niemals die Schulden seiner Frau in Ordnung bringen, um Gelegenheiten sich zu erhalten, sie zu beunruhigen.

6 [101]

Napoleons Mutter war von sehr mittelmäßigem Geiste.

6 [102]

romantische Einbildungskraft mit völliger Trockenheit des Herzens verbunden bei Louis Bonaparte. "Seine erheuchelten Tugenden geben mir ebensoviel Hinderniß wie die Laster Luciens" sagte Napoleon von ihm.

6 [103]

Lafontaine: "Et la grâce plus belle encore que la beauté".

6 [104]

Die wilden Thiere sollen über sich weg sehen lernen, und in den Andern (oder Gott) zu leben suchen, sich möglichst vergessend! So geht es ihnen besser! Unsere Moraltendenz ist nur noch die der wilden Thiere! Sie sollen Werkzeuge großer Maschinerien außer ihnen werden und lieber das Rad drehen als mit sich zusammen sein. Moralität war bisher Aufforderung sich nicht mit sich zu beschäftigen, indem man sein Nachdenken verlegte und sich die Zeit raubte, Zeit und Kraft. Sich niederarbeiten, müde machen, Joch tragen unter dem Begriff der Pflicht oder der Höllenfurcht – große Sklavenarbeit war die Moralität: mit der Angst vor dem ego.

6 [105]

Es wäre eine Zeit zu denken, wo die Menschheit um die Gattung zu erhalten – und das soll ja eine Pflicht sein! – alle Arten höheren Lebens von sich werfen müßte, und sich auf immer niedrigere beschränken, weil jene zu kostspielig und unfruchtbar machend ausfallen: wie ein alter Mann seinen besten Thätigkeiten entsagen muß, um zu leben. Aber wie! ist denn Leben eine Pflicht! Unsinn! ihr Physiologen! die Menschen sind so erbärmlich geworden, daß auch die Philosophen gar nicht die tiefe Verachtung merken, mit der das Alterthum und das Mittelalter diesen "selbstverständlichen Werth der Werthe, das Leben" behandeln!

6 [106]

Der Haupterfolg der Arbeit ist die Verhinderung des Müssigganges der gemeinen Naturen, auch z. B. der Beamten, Kaufleute, Soldaten usw. Der Haupteinwand gegen den Socialismus ist, daß er den gemeinen Naturen den Müssiggang schaffen will. Der müssige Gemeine fällt sich und der Welt zur Last.

6 [107]

die Nachtfröste einer Geliebten

6 [108]

Ich schlage das Bild vor: reizt es euch, so werdet ihr es nachahmen müssen. Nicht die Ziele, sondern die Befriedigung des bereits vorhandenen Triebes zwingt zu dieser oder jener Moral. Nicht die Vernunft! wenn nicht im Dienste eines Triebes!

6 [109]

Aus welchen erbärmlichen Elementen der deutsche Socialismus besteht in seinen Führern, ist daraus zu ersehen, daß keiner die volle Enthaltung von geistigen Getränken gefordert hat – und doch ist diese Plage viel verhängnißvoller als irgend ein socialer Druck!

6 [110]

die bösen Triebe sind durchaus nicht unangenehm, sondern böse und gute sind angenehm. Sie werden unangenehm nur durch das 1) Übermaß und 2) in ihrem Gehemmtsein durch andere Triebe. Beherrscht uns z. B. die Meinung von der Schändlichkeit der Wollust (der Trieb der Ehe als Grundlage) oder die von den bösen Folgen im jenseits, so wird der Trieb uns unangenehm beigemischt, ja er kann wie etwas rein Ekelhaftes empfunden werden. Ebenso kann der Hang zum Mitleid als erbärmliche Schwäche und als unangenehm empfunden werden. Das Denken, maßlos, wirkt als Schmerz, selbst beim Enthusiasten des Denkens; das Übermaaß ist eine erzwungene Äußerung des Triebes, d.h. die Hemmung des vergehenwollenden (müden) Triebes – also auch Hemmung der Entwicklung. Alle Entwicklung lustvoll.

6 [111]

das Genie das Erzeugniß glücklicher Zufälle: seine Bedingungen weiß man nicht voraus. Die reine Begünstigung im Sinne der bisherigen Moralität macht durchaus kein Genie und keine Fruchtbarkeit; von der Erziehung und Verwendung der bösen Triebe und Zufälle weiß die Moral nichts, desto mehr die praxis. Es ist unmöglich, Genies absichtlich zu fördern – dann müßte man sie durch und durch kennen. Frauen, in ihrer Absicht der Förderung, richten sie gewöhnlich zu Grunde.

6 [112]

Welche entsetzliche Lage früher! Unsicherheit der Erkenntniß auch in der Moral, und ewige Gefahren! Das war eine ruhige unbefangene Art dem Gedanken und der Wahrheit nachzuhängen!! Unter der Peitsche der Furcht vor der Hölle! Oder in der Furcht vor der Sünde gegen die ewige Liebe, vor dem Zweifel an der Offenbarung!!

6 [113]

Die paradoxe Tugend z. B. Großmuth als ein Wunder angestaunt und sehr verehrt!

Anders jene, die den Zwang eines Triebes fühlen und deren Herrschsucht stolz sich gegen ihn wehrt, die deshalb ins Gegentheil umschlagen.

Anders, die welche mehr von der Befriedigung erwarteten und, enttäuscht, an dem Triebe sich rächen.

Anders: sich schwach feige gezwungen vor der Todesfurcht fühlen und in Verachtung seiner selbst das Gegentheil von dem thun, was die Todesfurcht räth.

6 [114]

die Motive der Moralgesetzgeber für ein Gesetz und deren Umwandlung in denen, welchen das Gesetz gegeben wird NB

6 [115]

Die angeblichen Wirkungen moralischer Gefühle, während deren Erscheinen selber schon eine Wirkung des beruhigten Nervensystems usw. ist, nicht die Quelle der Beruhigung NB.

6 [116]

Alle Menschen bemühen sich, ihrer Pflicht einen unbedingten Charakter zu geben: sie fühlen sich erniedrigt bei dem Gedanken, daß sie einem Menschen, Fürsten Staate Partei aus Furcht sich opfern und einem anderen Intell<ekt> ihren Int<ellekt> unterordnen: sie wünschen, daß eine nicht mehr beschämende Übergewalt existirt, die ihnen gebietet, sich so unter<zu>ordnen, eine absolute Pflicht, ein Wort Gottes (z. B. seid gehorsam der Obrigkeit) Auch jetzt noch suchen die Moralphilosophen die Ethik endgültig zu fundamentiren: ohne dies, fühlen sie, hat man kein Recht zum großen Pathos, zu schönen Attitüden als Politiker und Socialist. "Man muß ein Wesen haben, dem man unbedingt sich anvertraut" sagt Luther d. h. wir wollen uns selber unbedingt vertrauen dürfen und unsere Handlungen als indiskutabel und absolut erhaben der Welt gegenüber stellen. Eitelkeit!

6 [117]

Das was uns oft zwingt (und zwar mit dem Gefühl der Zustimmung, obschon es kein angenehmer Zwang ist!) nennen wir Pflicht. Durch häufige Übung entsteht daraus eine angenehme Gewöhnung: und dann ist es Lügnerei, noch von seiner Pflicht zu reden. Aber es geschieht fast immer. Fast jeder stellt seine Thätigkeit als eine unangenehme Sache vor, er will wegen seiner Selbstüberwindung d. h. wegen seiner Macht bewundert werden. Es giebt so viele erlogene Unannehmlichkeiten des Daseins! Ebenso viele erlogene Annehmlichkeiten, bei Fürsten Frauen Festen Müssiggängern Reisenden Christen Tugendhaften Völkern Parteien Philosophen Schriftstellern: man stellt sein "Glück" aus, meist um damit weh zu thun, Neid zu erregen.

6 [118]

Der Versud sämmtliche moralischen Triebe in den religiösen Tr<ieben> aufzulösen: Gott befiehlt und seinetwegen thut man etwas. Es ist nicht moralisch mehr. Daß man Gott fürchtet oder liebt, ist nicht eine Folge der Moralität, sondern eine Überlegung des Vortheils. Dies ist der christliche Standpunkt. Es soll nur religiöse Handlungen geben, alle Motive sind egoistisch, und die religiöse Handlung selber wird aus Egoismus gethan. Oder: jede Handlung ist böse. Also auch die religiöse. Deshalb Gnadenwahl! Dagegen sagen die Quietisten: ich handle nicht mehr um meinetwillen, sondern um Gottes willen. Welcher Tiefstand der Selbstkenntniß! Welche Unredlichkeit gehört dazu! Man ermesse es an der Frau, die sagt "ich thue alles um meines Geliebten willen!" Es ist nicht wahr! ja selbst dies "um des G<eliebten> willen" thut sie um ihrem Triebe zu folgen und nicht seinem. Denn da würde sie handeln wie er: was unmöglich ist. Sie kann nur nach dem Bilde des Geliebten handeln, das sie sich von ihm macht: ihr Erzeugniß wird gewiß nicht = dem Geliebten, sondern ein Stück von ihr.

6 [119]

In jedem kleinsten Augenblick giebt es in uns eine absolute Nothwendigkeit des Geschehens. Könnten wir diese einsehen, so könnten wir sie für jeden Fall mit dem Namen unbedingter Pflicht belegen, wenn wir durchaus uns frei lügen wollten! Wir sagen: ich will, wo wir <sagen> müßten: "ich muß": und sagten voraus, was eben geschehen wird, mit der Miene eines Wahrsagers und Pflichthelden. Dies wäre die Spitze aller Verlogenheit. Glücklicherweise weiß man jene Causalität nie : und "ich will" heißt immer "wenn ich kann". "Es ist meine Pflicht" heißt: "unter der Bedingung daß ich die Kraft habe, wird es gehen." Der Sonne befehlen aufzugehen, wenn sie gerade aufgeht, das ist die Freiheit unserer Tugendhaften. Wenn wir fühlen, daß ein belobtes und beliebtes Motiv in uns wirkt, dann zu sagen "ich will"! (soll heißen: "ich befehle mir") – – –

6 [120]

da alle unsere Handlungen absolute Nothwendigkeiten sind, und ebenso absolute Unbekannte für uns, so ist jedes "du sollst unbedingt" in den Wind geredet. Weder können wir anders als wir müssen, noch können wir im Einzelnen controliren, ob etwas geschehen ist, was wir sollten.

6 [121]

Die unangenehmen, an sich leidenden Individuen sollen die Tendenz zum Staate, zur Gesellschaft, zum Altruismus haben! Und die angenehmen, sich trauenden Individuen sollen den entgegengesetzten Trieb von jener Moralität weg, haben! NB NB

6 [122]

Die Skepsis hat ihre Parallele: "lieber hungern als etwas Ekelhaftes essen." Die Ansichten der Autoritäten sind uns ekelhaft geworden – lieber verhungern! Dies ist eine seltene Passion: die Skepsis ist eine Passion.

6 [123]

Zu wissen, "dies ist gesund, dies erhält am Leben, dies schädigt die Nachkommen" – ist durchaus noch kein Regulativ der Moral! Warum leben? Warum durchaus froh leben? Warum Nachkommen? – Gesetzt, es wäre dies alles angenehmer als das Gegentheil, sterben, krank sein, ohne Nachkommen isolirt sein: so wäre vielleicht irgend etwas angenehmer als diese Annehmlichkeiten z. B. das Gefühl seiner Ehre oder einer Erkenntniß oder einer Wollust, deretwegen wir das Sterben oder die Krankheit oder die Einsamkeit wählen müßten. Warum die Gattung erhalten? Man verweist uns an die Triebe: aber es giebt weder einen Trieb der Selbsterhaltung, noch einen Trieb der Gattungs-Erhaltung. Das Nicht sein könnte uns werthvoller scheinen als das Sein: dann hat die physiologische Ethik nichts zu sagen. Oder wir uns selber als der Staat die Gesellschaft, die Menschheit. Was bestimmt denn dies Wertherscheinen? Ein Trieb. Die Moral kann nur befehlen – d. h. durch Furchterregung sich durchsetzen (also mit Hülfe eines Triebes), oder sie kann mit Hülfe eines anderen Triebes sich legitimiren – sie setzt immer schon ihre unmittelbare Bewiesenheit und überzeugende Kraft voraus, sie kommt, wenn der Trieb und die Werthschätzung bestimmter Art schon da ist. Dies gilt von allen Ethiken. Auch ein Trieb, individuell zu leben, ist da: ich denke in seinen Diensten. Andere, die ihn nicht haben, werden zu nichts von mir verpflichtet werden können. "Pflicht" ist der Gedanke, durch den ein Trieb sich souverän über die anderen Triebe stellt – immer mit Benebelung des Verstandes! mit einem bestochenen Diener!

6 [124]

"Arrangire dich so, daß du das größtmögliche Glück von deinen Eigenschaften hast" das ist albern! Denn ohne allen Befehl: genau dies erreicht ein jeder, er mag leben, wie er will – nämlich muß! Daß er Vorschriften und Kenntnisse des Nützlichen erlangt, erwerben will, verlernt, abweist, das alles ist ein nothwendiges Wirken seiner Natur. Die Moral kann nichts thun als Bilder des Menschen aufzustellen wie die Kunst: vielleicht daß sie auf diesen und jenen wirken. Sie kann sie, streng genommen, nicht beweisen. "Höher" und "tiefer" – das sind schon Illusionen unter dem Eindruck eines moralischen Musters. Diese Bilder nämlich wirken als Reize, entzünden einen Trieb und verführen den Intellekt, ihm zu dienen. Nun ist unser Intellekt schon in einer bestimmten Höhe, ebenso unser Geschmack: also werden wir sehr viele Bilder abweisen, – sie ekeln uns an: in einem gegebenen Augenblicke unserer Kräfte können wir nicht anders als diese Bilder nachahmen. Dieser psychologische Zwang erscheint uns oft als "Pflicht": das Gefühl der unbedingten Nothwendigkeit, der Ausdruck der Causalität. Das innere Müssen". Z. B. in Hinsicht auf das Einmaleins, die Mechanik empfinden wir als Denker Pflicht, ebenso bei A = A : Menschen eines schlechten Intellekts fühlen hier den Zwang nicht. Natürlich ist dies subjektive Gefühl des Zwanges eben nur subjektiv. Viele Personen haben in nichts ein solches strenges Gefühl. Aber der Ekel, der uns befällt, beim Anblick von Maden, ist ein Zwang: einen solchen Zwang verschönern wir uns mit dem Worte Pflicht, wo wir genau wissen, daß gegenstrebende Zwange da sind.(??)

6 [125]

"Werde ein vernünftigerer freierer gefühlsvollerer, vollkommenerer Mensch, strebe nach der Vervollkommnung deiner Gattung"? Worauf dies Gesetz gründen? Auf den Nutzen des Individuums oder des Collectivums.

Manche sagen: alle Fähigkeiten entwickeln, indem man die welche Mittel und Organe sind denen unterordnet, die das eigentümliche Ziel der Menschen machen. Unsere Natur ist complex: man muß in ihr Thatsachen höherer und niederer Ordnung unterscheiden. Aber wodurch bin ich verpflichtet einem Ziele der Gattung zu folgen, wenn zufällig für mein Individuum die gewöhnliche Ordnung der Ziele und Mittel umgedreht ist? z. B. wenn ich mehr Hang zu den Freuden des Fleisches als denen des Geistes habe und einen eigenen Kopf, und das Bischen Geist eben das Mittel ist für meine Begierden? Hier hilft man mit metaphysischen Einfällen: die wahre Natur des Menschen, seine geistige Bestimmung und dergleichen.

"Du darfst ein Ziel wollen, wenn du es kannst." Ohne diese Bedingung: heißt es dem Menschen ein unbedingtes Vermögen geben, eine Kraft ohne Bedingung. Eine unbedingte Pflicht implicirt ein unbedingtes Vermögen sie zu erfüllen: sonst ist es eine Pflicht für ein anderes Wesen als ich, eine in der Luft aufgehängte Pflicht. – Wer von Pflicht und Freiheit redet, setzt metaphysische Principien voraus.

6 [126]

Es ist unwahr, daß die Religion die Moral gegeben hätte – umgekehrt! Wir beweisen die Religion mit der Moral als wahr oder unwahr.

6 [127]

Unsere moralischen Triebe drängen den Intellekt, sie zu vertheidigen und absolut zu nehmen, oder sie neu zu begründen. Unsere Selbsterhalt<ung>striebe treiben den Intellekt, die Moral

als relativ oder nichtig zu beweisen. Es ist ein Kampf der Triebe – im Intellekt abgespielt. Der Trieb der Redlichkeit tritt dazwischen – nebst den Trieben nach Aufopferung, Stolz, Verachtung: ich.

6 [128]

"der Erde Lust, der Erde Weh zu tragen"

6 [129]

Unser nervöses Zeitalter prätendirt, daß eine ewige Erregtheit und Ungleichheit der Stimmung die großen Menschen auszeichne: sie wissen nichts von dem gleichmäßigen tiefen mächtigen Strömen nach einem Ziele zu: sie plätschern und machen Getöse und fühlen nicht die Erbärmlichkeit dieser launischen Erregbarkeit.

6 [130]

Der Intellekt ist das Werkzeug unserer Triebe und nichts mehr, er wird nie frei. Er schärft sich im Kampf der verschiedenen Triebe, und verfeinert die Thätigkeit jedes einzelnen Triebes dadurch. In unserer größten Gerechtigkeit und Redlichkeit ist der Wille nach Macht, nach Unfehlbarkeit unserer Person: Skepsis ist nur in Hinsicht auf alle Autorität, wir wollen nicht düpirt sein, auch nicht von unseren Trieben! Aber was eigentlich will denn da nicht? Ein Trieb gewiß!

6 [131]

Wie ein Baum sich entfalten kann, ist nur durch ein Musterexemplar zu beweisen. Ohne solches hat man keinen Begriff, ihn über das herkömmliche Maaß hinaustreiben zu wollen, und ist zufrieden. Die ausgezeichneten Menschen machen die anderen mit sich unzufrieden: – – –

6 [132]

wie Sand zwischen den Zähnen

6 [133]

Ich höre den Ton eifersüchtiger Kater, in diesen neidischen Äußerungen

6 [134]

Der Moralist, der eine Moral gründen will, wird getrieben, einen letzten Zweck anzugeben. " Wenn ihr gesund sein wollt, so müßt ihr mäßig sein. Aber ihr müßt gesund sein wollen: denn es ist eine Bedingung, um glücklich zu sein oder um seine Ziele zu erfüllen oder usw." Ein neues Ziel zeigt sich hinter jedem Ziele: und der Moralist endet, den Zweck des Daseins angeben zu müssen. Ich könnte sagen: Zwecke des Daseins giebt es nicht, also ist eine Moralität um einen Zweck des Daseins zu erreichen nicht möglich. Aber man glaubte an solche Zwecke: und folglich konnte man eine Moral mit Forderungen gründen. Zuletzt entstehen nothwendig Arten und Gewohnheiten des Lebens und üben einen Zwang aus, weil es unangenehm ist, ihm zu widerstreben.

6 [135]

"Pflicht" heißt: ein Ziel wollen nicht um eines anderen willen, sondern um seiner selbst willen: also ein absolutes Ziel. Der kategorische Imperativ, ein Befehl ohne Bedingungen. Darauf gründete Kant eine Metaphysik: denn giebt es ein Ziel ohne Bedingung, so kann dies nur das Vollkommene oder das unendliche Gut sein: gäbe es noch etwas Vollkommeneres, oder ein höheres Gut, so wäre es nicht ein Ziel ohne Bedingung. Also: eine metaphysische Annahme zu machen, wie Kant!

6 [136]

"Was ist das Gute für ein Wesen? Die Vollendung seines Zieles. Was ist das Ziel eines Wesens? Die Entwicklung seiner Natur." Natur, Ziel, Gut eines Wesens – drei Fragen, die sich logisch nachziehen: so daß das Gut durch das Ziel, das Ziel durch die Natur bestimmt wird. Wenn man die menschliche Natur durch Beobachtung und Analyse kennt, kann man davon das Ziel, das Gut, das Gesetz des Menschen ableiten. Denn das Gute zieht den Gedanken der Verpflichtung nach sich. Vacherot.

Das heißt: das Ziel des Menschen ist die Entwicklung seiner Natur. "Mensch sein und nicht Pferd." Das ist nichts. Da hilft man sich mit der "wahren Natur" einer Natur wie sie ihm sein soll, nicht wie sie ist.

6 [137]

Ein Trieb ist stärker als der andere und bringt ihn sich zum Opfer z. B. wenn eine Mutter für ein Kind hungert und sorgt. Ganz falsch mit Spencer hierin, in der Pflege der Brut und schon in der Zeugung eine Äußerung des altruistischen Triebes zu sehen: nicht daß es ein Anderes ist, macht einen Unterschied. Man opfert seiner Rache z. B. sein eignes Kind. Oder man opfert seinem Kinde seine Rache – je nachdem ein Gefühl stärker ist. Das Opferbringen hat nichts Altruistisches.

6 [138]

Wer sehr abweichend denkt und empfindet, geht zu Grunde, er kann sich nicht fortpflanzen. Somit könnte es für den Grad der Individuation eine Grenze geben. In Zeiten, wo sie peinlich empfunden wird, wie in unserer (und wie in aller bisherigen moralischen Geschichte der Menschheit), vererbt sich der Trieb dazu schlecht. In Zeiten, wo sie lustvoll empfunden wird, übertreibt sie sich leicht und macht die äußerste Isolation (und verhindert dadurch die allgemeine Fruchtbarkeit der Menschheit) Je ähnlicher, desto mehr nimmt die Fruchtbarkeit zu, jeder trifft auf ein genügendes Weibchen: also Übervölkerung im Gefolge der Moral. Je unähnlicher, desto –

6 [139]

Unsere Musterbilder sind construirt nach dem, was uns an uns das meiste Vergnügen machen würde, wenn wir es erreichten, und was wir andererseits für möglich (im Bereich unserer Kräfte und unserer Lage) halten, zu erreichen. Ein Überblick über unsere Lustempfindungen, und über unsere Kraft und den Prozeß nebst Bedingungen ist die Voraussetzung – eine hohe Leistung des Intellekts: meistens wird es eine Verzeichnung sein müssen! Deshalb lassen sich die Meisten ein Musterbild geben : und den Zwang dazu, es nachzubilden ("Pflicht", eine Art geglaubter Kraft, anstatt einer erkannten) Das Verfehlen seines Bildes und die Verfehlung der Nachbildung macht viele schwere Unzufriedenheit – diese Malerei hat auch selten Meister. Man zeichnet sein Leben lang herum, um ein nachbildungsfähiges Muster zu erlangen: wir formen es nach dem, was wir erreicht haben und dekretiren es als das Muster – oft aus Verzweiflung.

6 [140]

Ehemals fragte man: ist der Gedanke wahr? jetzt: wie sind wir auf ihn gekommen? Welches war seine treibende Kraft? Entdecken wir – – –

6 [141]

Die Zeugung ist eine oft eintretende gelegentliche Folge einer Art der Befriedigung des geschlechtlichen Triebes: nicht dessen Absicht, nicht dessen nothwendige Wirkung. Der Geschlechtstrieb hat zur Zeugung kein nothwendiges Verhältniß: gelegentlich wird durch ihn jener Erfolg mit erreicht, wie die Ernährung durch die Lust des Essens.

6 [142]

Die Verfeinerung der Intelligenz verfeinert auch unsere Bosheit, und die Lust am Intellekt giebt uns zuletzt auch Lust an der verfeinerten Bosheit der Anderen. Der Fortschritt besteht in dem Grade, als der Mensch Bosheit vertragen kann, ohne zu leiden.

6 [143]

Christus trug nicht nur Gott, sondern auch den Satan in seinem Busen: das ist die Gegenrechnung bei diesem moralischen Hyperidealismus: die absolute Verdammung des Menschen, das odium generis humani. Um die Menschheit eines solchen Opfers eines Gottes werth zu fühlen, mußte man sie in's Tiefste verachten und vor sich herabwürdigen.

6 [144]

die Moralität ist eine Summe von Irrthümern, welche sich an die Triebe angeschmolzen haben, so daß wenn der Irrthum gesagt wird, der Trieb sich regt – übrigens wechselnd und ohne concordia. Diese Irrthümer beziehen sich auf das Handeln des Menschen vom Gesichtspunkt des Lobens- und Tadelnswerthen aus: und hinter Loben und Tadeln liegt die Voraussetzung, daß man den Zweck des Menschen kennt und ebenso daß man die Art des Handelns kennt und daß man an die Freiheit des H<andeln>s glaubt: ebenso daß man an die Identität der Menschen oder bestimmter Gruppen glaubt, also mit gleichwerthigen Pflichten und Handlungen: daß man wisse, was jenem letzten Zweck nützlich ist, was nicht. Es sind lauter Anmaaßungen des Intellekts. Aber die dadurch modificirten Triebe wollen ihre Befriedigung, und dies treibt Moralsysteme auch heraus, immer neue Versuche, diese Triebe nachträglich mit der Wahrheit im Einklang zu finden – während die naiven Menschen alle anderen Erkenntnisse nach den moralischen Trieben auf ihre Wahrheit hin messen. Das Grundvorurtheil ist: "das Moralische allein ist wahr".

6 [145]

NB NB. Es giebt keinen Selbsterhaltungstrieb – sondern das Angenehme suchen, dem Unangenehmen entgehen erklärt alles, was man jenem Trieb zuschreibt. Es giebt auch keinen Trieb als Gattung fortexistiren zu wollen. Das ist alles Mythologie (noch bei Spencer und Littré). Die Generation ist eine Sache der Lust: ihre Folge ist die Fortpflanzung d. h. ohne Fortpflanzung würde sich diese Art Lust und keine Art Lust erhalten haben. Die geschlechtliche Begierde hat nichts mit der Fortpflanzung der Gattung zu thun! Der Genuß der Nahrung hat nichts mit der Erhaltung zu thun!

6 [146]

Zu beweisen, daß egoistischer Herkunft sind a) die Liebe b) die Elternliebe c) der Wahrheitssinn d) die Gerechtigkeit. Allerdings ist die Voraussetzung, daß das Sinnenbild der Welt in allen Menschen nahe zu gleich ist, daß diese Art Irrthum mit höchster Gewalt sich vererbt hat.

6 [147]

Wir können aus allen unseren Kräften viele Gestalten formen, oder auch die Absenz der Gestalt. Es giebt eine gewisse künstlerische Freiheit in der Vorstellung unserer Muster, die wir erreichen können.

6 [148]

"Moralisches Gesetz, Pflicht, moralische Freiheit, Unverletzlichkeit, absoluter Respekt vor der Person" – alles uns verboten, damit darf man sich nicht nähren. Ebenso Zwecke der Menschheit, Zweck des Individuums – das ist nicht außer ihm zu bestimmen: es ist eine Annahme, ein mehr oder weniger willkürliches Programm – willkürlich in Bezug auf das Material, das zufällige Material seiner Kenntnisse von sich. –

6 [149]

Es giebt kein Gutes, kein Böses an sich. Die "allgemeinen Wahrheiten" der Moral wollten die Menschen einander identisch formen – durch tief mit den Trieben verbundene Irrthümer. Wie der patriotische Irrthum sie gleich macht in der Beschränktheit von Liebe und nationalem Haß.

6 [150]

"Die wahre Natur des Menschen" – verbotene Wendung!

6 [151]

Ich bin kein Mittel zu einem Zweck – es giebt in der Natur weder Mittel, noch Zwecke.

6 [152]

Es ist Unsinn, uns als Ursachen zu fassen – was wissen wir von Ursache und Wirkung!

6 [153]

Lust und Schmerz: ist es wahr, daß das individuellste Wesen von sich am meisten Lust hätte? Ja, und noch mehr, wenn es den Reiz von lauter individuellen Wesen um sich hat. "Wie aber verhindern, daß sie sich einander in die Sphäre greifen?" Aber warum verhindern! Es muß Feindseligkeit geben, damit das I<ndividuum> ganz herrlich herauskommt, alle bösen Affekte müssen da sein. Die Moralität fortgedacht! Aber die zunehmende Erkenntniß, die zunehmende Lust aneinander, die überlegene Miene bei allen schlimmen Erlebnissen, die Ressourcen der vollen Individuen in Nothfällen, im Kampfe mit dem Unveränderlichen! Zuletzt: es giebt eben nur eine Zeit für das Aufblühen der Individuation – und vielleicht muß die Menschheit an der – Moral zu Grunde gehen.

6 [154]

"Du sollst nicht tödten" – aber fortwährend tödten wir die Gedanken und Produkte Anderer, es ist nöthig, fortwährend lassen wir in uns etwas sterben, damit etwas anderes lebe. Wie das Leben des Menschen mit einem fortwährenden Absterbenlassen Hand in Hand geht: die Menschheit muß sich immer häuten.

6 [155]

Der Geschlechtstrieb macht die großen Schritte der Individuation: für meine Moral wichtig, denn er ist antisocial, und leugnet die allgemeine Gleichheit und den gleichen Werth von Mensch zu Mensch. Er ist der Typus individueller Leidenschaft, die große Erziehung dazu: der Verfall eines Volkes geschieht in dem Maaße als die individuelle Passion nachläßt, und die socialen Gründe bei der Verheiratung überwiegen. – Die Scheidung der Geschlechter ist nicht fundamental, die Zeugung ist nicht essentiell geschlechtlich, und gehört nicht zum Wesen des Lebendigen. Es ist ein sehr starker Ausdruck der individuellen Lust; je höher die Wesen sind, um so stärker wird das Individuelle daran.

"Generation ist die Wiederholung einer Zelle durch sich selber, eine Verlängerung und Reproduktion" eine Art Überfülle, wo ein Theil der vollkommenen und reichlich ernährten Masse sich trennt und oft folgt eine Fortsetzung der Ernährung auch nach der Abtrennung.

Die Generation ist eine Folge der Ernährung.

6 [156]

Die Wurzel des Verstandes ist A = A? nein! A = B, der Glaube, daß zwei gleiche Dinge da sind. Die höchste Entwicklung des Verstandes geht darauf hin, es zu leugnen und sich selber somit anzuzweifeln und zu beschränken.

6 [157]

Ist das letzte Ziel die Lust oder die Pflicht? so fassen jetzt alle das Problem. Einige sagen, es sei die logische Identität.

Keine Handlung, die überhaupt möglich ist, ist ungereimt unlogisch im Sinne der Mathem<atiker> Physiker und Mechaniker.

6 [158]

Sobald wir den Zweck des Menschen bestimmen wollen, stellen wir einen Begriff vom Menschen voran. Aber es giebt nur Individuen, aus den bisher bekannten kann der Begriff nur so gewonnen sein, daß man das Individuelle abstreift, – also den Zweck des Menschen aufstellen hieße die Individuen in ihrem Individuellwerden verhindern und sie heißen, allgemein zu werden. Sollte nicht umgekehrt jedes Individuum der Versuch sein, eine höhere Gattung als den Menschen zu erreichen, vermöge seiner individuellsten Dinge? Meine Moral wäre die, dem Menschen seinen Allgemeincharakter immer mehr zu nehmen und ihn zu spezialisiren, bis zu einem Grade unverständlicher für die Anderen zu machen (und damit zum Gegenstand der Erlebnisse, des Staunens, der Belehrung für sie)

6 [159]

Entwickle alle deine Kräfte – aber d. h. entwickle die Anarchie! Gehe zu Grunde!

6 [160]

Unsere Liebe zum Ideal ist die letzte Steigerung des Ernährungstriebes (ebenso Eigenliebe Eigenthumsliebe, das Bedürfniß der Macht, nach Mitteln für Leben und Gesundheit) L<ittre'>

6 [161]

Die Entwicklung des Geschlechtstriebes bis zur Höhe der Menschenliebe, des Mitleids, der Aufopferung – nicht ein feindliches, sondern das höchste Gefühl der Menschheit. Littré. Non! non!

6 [162]

Die Identität des einen Menschen mit dem anderen erkennen – soll Grundlage der Gerechtigkeit sein? Dies ist eine sehr oberflächliche Identität. Für die, welche Individuen erkennen, ist Gerechtigkeit unmöglich – ego.

6 [163]

Der Fortschritt der Moral bestünde in dem überwiegen altruistischer Triebe über egoistische und ebenso der allgemeinen Urtheile über die individuellen? Ist jetzt der locus communis. Ich sehe dagegen das Individuum wachsen, welches seine wohl verstandenen Interessen gegen andere Individuen vertritt (Gerechtigkeit unter Gleichen, insofern es das andere Individuum als solches anerkennt und fördert); ich sehe die Urtheile individueller werden und die allgemeinen Urtheile flacher und schablonenhafter werden. Ich sehe die altruistischen Triebe am stärksten beim groben Egoism der Thiere (es ist eine Gattung von Bejahung der eigenen Lust), der altruistische Trieb ist ein Hinderniß für die Anerkennung des Individuums, er will den Anderen als uns gleich haben und machen. Ich sehe in der staatlichen und gesellschaftlichen Tendenz eine Hemmung für die Individuation, ein Ausbilden des homo communis: aber der gemeine und gleiche Mensch wird nur deshalb so begehrt, weil die schwachen Menschen das starke Individuum fürchten und lieber die allgemeine Schwächung wollen, statt der Entwicklung zum Individuellen. Ich sehe in der jetzigen Moral die Beschönigung der allgemeinen Schwächung: wie das Christenthum die starken und geistigen Menschen schwächen und gleichmachen wollte. Die Tendenz der altruistischen Moral ist der sanfte Brei, der weiche Sand der Menschheit. Die Tendenz der allgemeinen Urtheile ist die Gemeinsamkeit der Gefühle, das ist ihre Armut und Mattigkeit. Es ist die Tendenz nach dem Ende der Menschheit. Die "absoluten Wahrheiten" sind das Werkzeug der Nivellirung, sie fressen die charaktervollen Formen hinweg.

6 [164]

der Geschlechtstrieb, drängt die Menschen von den anderen Menschen fort, er ist ein wüthender Egoism und keine Quelle socialer Gefühle – nicht altruistisch!!

6 [165]

Das Junge ist abhängig vom Erzeuger, ihm ähnlich, ihm verständlich, unterhaltend, sein Werk – mehr noch, es ist 1. nichts Feindliches, 2. nichts Fremdes, 3. nichts Todtes: diese letzteren negativen Gründe mögen erst den Reiz für das Junge geschaffen haben. Es gab so wenig oder nichts in der Welt, welches in diesen 3 Punkten ihm glich.

6 [166]

Die Redlichkeit in Betreff des Eigenthums nöthigt uns zu sagen, daß wir ganz zusammengestohlen sind, und daß wir allzustumpf und unfein hierin empfinden. Das Individuum hat einen falschen Stolz in Bezug auf Stoff und Farben: aber es kann ein neues Bild malen, zum Entzücken der Kenner – damit macht es sein Vergreifen an den Gütern der Welt wieder gut. Unsere Existenz so auffassen, daß wir etwas dafür zu leisten haben – nicht als " Schuld", aber als Vorschuß und Schulden! Wir nähren uns von Allem, es ist billig, daß wir etwas zur Nahrung Aller zurückgeben. (Christus war nicht fein in diesem Gefühle, er theilte als Eigenes mit, was Andere vor ihm erdacht hatten)

6 [167]

Man leidet und verunglimpft Dinge und Menschen!. Eine schöne Art Rache zu nehmen!, indem wir unser Urtheil schädigen! Wir sind es, die an uns selber die Rache üben, wenn wir Anderes verunglimpfen und ihm schaden. Wir trüben unsere Seele, gewöhnen sie an das Falschsehen – und endlich – –

6 [168]

Edel: bezeichnet, einer Auswahl angehören, Ausnahme sein. Für andere sich opfern ist ein Gelüst, mit dem man zur Ausnahme wird. In Hinsicht auf alle Anderen, welche dasselbe thun, ist man aber nicht edel, sondern gemein. Unter den "Guten" ist das Gute nicht als individuell taxirt, sondern als Regel, und wird deshalb nicht angestaunt, nicht gelobt. – Einige sehnen sich nach einer Gemeinschaft, wo ihr Individuellstes als Regel empfunden wird, wo es aufhört I<ndividuellstes> zu sein. Andere sind wüthend bei der Vorstellung solchen Gemeinwerdens. Die Ersten leiden an dem Fatum ihrer Einzigkeit, die Anderen genießen ihre Einzigkeit. Andere merken sie gar nicht.

6 [169]

Zwei Interessen für Sachen: 1. zu wissen, was sie sind 2: was daraus zu machen ist.

6 [170]

Im Ganzen habe ich, wie blind im Wasser schwimmend, mich der Reihe nach der mir nöthigen Nahrung genähert: Schärfung des Intellektes, nachher Aufschwung und Aufopferung des Selbst, nachher Gerechtigkeit und Selbstständigkeit, nachher umsichtige Milde gegen alles Selbständige usw. Nicht mit Urtheil: sondern das Übermaaß trieb mich immer wieder davon und der neue Geschmack that mir wohl. Der Schmerz lehrte mich, die verstreute Freude in dem Dasein würdigen, die Partei lehrte mich die Einsamkeit: der Gelehrte in mir trieb mich den Künstler zu verstehen usw.

6 [171]

Goethes vorsichtige Haltung zur Musik: sehr vortheilhaft, daß die deutsche Neigung zur Unklarheit nicht noch einen künstlerischen Rückhalt bekam.

6 [172]

der angenehme Schauder beim Glockenton

6 [173]

Diese handeln ganz egoistisch, aber ihr moralisches Urtheil ist erzogen, alles sofort unter dem Gesichtspunkt des Löblichen und Tugendhaften zu sehen: sie sind vollendet in ihrer Unredlichkeit gegen sich und präsentiren in der Gesellschaft das "gute Gewissen". Andere sind höher, aber ihr Urtheil ist pessimistischen Gewohnheiten hingegeben, sie legen sich alles egoistisch aus und sie verachten alles Egoistische. Ihre edelsten Handlungen hinterlassen in ihnen einen Bodensatz von Ekel. Es sind die, welche an eine Tugend glauben, die es nicht giebt und geben kann! Sie sind redlich, aber haben von ihrer Redlichkeit nur Qual, und Ekel an sich: weil ihr Lustgefühl auf Handlungen beschränkt ist, deren sie selber sich nicht fähig wissen: aber sie schließen, es müßten Anderen diese Handlungen möglich sein: was nicht wahr ist. Der welcher sagte "ich habe das Gesetz erfüllt" war gewiß nicht sehr anspruchsvoll in der Ausdeutung desselben und kein Grübler.

6 [174]

"Du sollst nicht stehlen!" Aber wo hört denn das Eigenthum auf? Ein Gedanke, ein Antrieb, ein Gesichtspunkt, der Ausdruck eines Bildes, eines Gebäudes, eines Menschen – ist es nicht alles Eigenthum? Und alles stehlen wir fortwährend. Wir stehlen alle Dinge und Sonnen in uns hinein, wir tragen alles für uns fort, was da ist, ja ehemals geschehen ist. Wir denken nicht an die Anderen dabei. Jeder individuelle Mensch sieht zu, was er alles für sich bei Seite schaffen kann.

6 [175]

Die höhere Natur ist unvernünftiger als die gemeine, und hat einige Lust- und Unlusttriebe so stark, wie jener sie kaum glaublich sind. In Bezug auf diese pausirt ihr Denken mitunter oder tritt ganz in den Dienst. Man spricht von Leidenschaft; ihre Befriedigung ist ihr wichtiger als das Leben. Aber so auch die Trinker die Wollüstigen die Rachsüchtigen. Es muß das Objekt der Leidenschaft sein, was sie adelt und zum Zeichen der höheren Natur macht. Nicht Essen Trinken Wollust: sondern Dinge, welche selten stark empfunden werden z. B. Gedanken, Erkenntniß, das Wohl einer Stadt, eines Staates, der Menschheit, das Heil der Seele, das Glück Anderer. Also etwas, das gewöhnlich kalt läßt, ist hier Objekt der Leidenschaft – das macht die höhere Natur: ihr Geschmack richtet sich auf Ausnahmen. Es ist der individuelle Geschmack, der hier hervortritt: zu begreifen ist so eine Leidenschaft nicht, so wenig das Individuum zu begreifen ist. Die höhere Natur hat eine Singularität der Passion: sie ist nicht gemein, folglich nicht berechenbar. Ihre Unvernunft ist hierin groß; sie bringt einer Sache die größten Opfer, für die sie allein ein Werthmaaß hat: sie kehrt sich nicht an das Werthmaaß Anderer. Also: ein singuläres Werthmaaß im Gefühle haben macht die höhere Natur: entweder andere Dinge schätzen als geschätzt werden oder Dinge anders schätzen als sie g<eschätzt> W<erden>. – Die gemeinen Naturen glauben nicht an die Verschiedenheit der Maaßstäbe d. h. sie glauben nicht an Individuen? "Ich glaube an Individuen" – so die höhere Natur? – Und sie betrügt sich oft, insofern sie individuelle Urtheile und Maaßstäbe bei Anderen voraussetzt und nicht jenen praktischen Kniff in der Hand hat, sie als Niveau-menschen zu verstehen (: wie Napoleon, der selber ein solcher war).

Eine Unterart: höhere Naturen, welche überall ihr eigenes Individuum, und ihren Maaßstab des Gefühls voraussetzen, ihre eigene Geschichte also – und nicht das Individuelle anerkennen, ebenso wenig als sie das Gemeine verstehen (z. B. Christus). Sie wissen sich selber nicht als individuell. – Die andere Art: sie wissen sich individuell, sie verstehen Individuen, aber sehen nur die Gemeinheit – diese müssen sie lernen. Vielleicht haben sie selbst die Gluth dafür, die Gemeinheit zu ergründen – es ist eine mögliche Passion (La Rochefoucauld?)

6 [176]

Fortwährend ist eine Bewegung da zur Bildung von Gattungen, von Menschen mit gemeinsamem Gepräge: Städte Staaten Culturen arbeiten darauf hin. Die Statistik ist der Beweis. Die abweichenden Übergangsnaturen (zwischen zwei Gattungen) oder die entartenden sind die individuellen oder die Versuche, innerhalb der Gattungen eine Species aufzustellen.

6 [177]

"Man ist nicht das, was man immer ist, man ist das, was man sehr oft ist" Rémusat.

6 [178]

Also: nicht das Aufopfern macht den Edlen, damit gehört er erst in die Kategorie des Leidenschaftlichen (wie z. B. der rasend Wollüstige sich aufopfert) es giebt niedrige Leidenschaften d. h. gemeinsame und höhere individuelle. Der Edle opfert hier eine individuelle Leidenschaft: nicht daß er für Andere sich opfert, macht ihn edel, sondern die Seltenheit dieses Triebes für Andere – eine individuelle Sonderheit, wie viele andere Sonderheiten, die auch edel machen.

6 [179]

Das Christenthum verlangte eigentlich nichts als ein intellektuelles Opfer: daß an Christus geglaubt werde. – Wer solchen Werth darauf legt, daß an ihn geglaubt werde, daß er den Himmel dafür garantirt – muß einen furchtbaren Zweifel gehabt haben? Oder?

6 [180]

Die geflügelte Göttin, die auf einen ehernen Schild deine That einschreibt und welche die Menschen anbeten

6 [181]

dieser kann die Verwandtschaftsgrade nicht fassen, geschweige daß er ein feines Gefühl der Verpflichtung für die verschiedenen hätte! ego

6 [182]

Das Peinlichste für mich ist, mich vertheidigen zu müssen. Dabei werde ich inne, daß ich erst meine Art zu sein mit der Anderer vergleichen müsse und daß ich ihr verständliche Motive unterschieben müsse: daran nicht gewöhnt, weiß ich, daß es mir mißlingt. Ja jede Präsentation meines Bildes durch Andere setzt mich in Verwirrung " das bin ich ganz gewiß nicht!" ist meine Empfindung; wenn ich mich bedanken wollte, erschien ich mir unredlich.

6 [183]

Die Lehre der Mäßigung ist eine Beobachtung der Natur, was hoch und stark werden soll, muß seine Kraft immer wie ein Capital vergrößern und darf selber davon nicht leben wollen.

6 [184]

Unsere Gedanken sind als Gebärden anzusehen, unseren Trieben entsprechend, wie alle Gebärden. Darwins Theorie ist heranzuführen.

6 [185]

Wie streng ist man gegen Calvin wegen Einer Hinrichtung! Und Christus verwies alle, die nicht an ihn glaubten, in die Hölle – und Menschen, noch furchtbarer als er, fügten hinzu: "mit rückwirkender Kraft".

6 [186]

Es giebt eine gierige und athemlose Art zu denken. Auch hier ist Moralität nöthig

6 [187]

Die Unabhängigkeit ist kein Genuß mehr, wenn ihr der Stachel fehlt. – Und bei der absoluten Unmöglichkeit eines Blicks auf die Unabhängigkeit verliert die Abhängigkeit ihr Unangenehmes. So bei der Unfreiheit des Willens – wir haben den Stachel der uralten Illusion abzubrechen! dann sind wir ganz froh und zufrieden.

6 [188]

"Das Bedürfniß über seinen Herrn Illusionen zu unterhalten, weil die menschliche Eitelkeit nicht liebt, zu erröthen über den, dem man sich unterworfen hat"

6 [189]

Ein Reich ganz unmenschlicher Necessität enthüllt sich immer mehr! Endlich lachen wir selber mit, zu sehen, wie wir ehemals mit unseren Trieben und Triebchen das zu ersetzen und verstehen meinten, mit Neigung und Haß, Wille oder Zweck usw. Die Welt als eine Menschen-Welt ist uns ein Gelächter geworden: wie die Astrologie. Unsere Stellung zu dieser Welt möglichst pathetisch einzunehmen war das Bestreben aller Philosophen: die Idealisten zuletzt wußten uns zur Hauptsache zu machen und die Welt zu einer Art Erzeugniß von uns: als ob der Spiegel sagte: „ohne mich ist nichts, ich bin der Urheber".

Zuletzt sind wir selber in das ungeheure System eingeflochten und bewegen uns in ihm: immer aber bleibt uns noch genug des Unerkannten an uns, und das bleibt der Tummelplatz unseres Hochmuthes. Ja, nachdem wir so viel von der Position des Menschen in der Welt preisgegeben, findet auf dieser letzten Stätte ein Kampf um die "höchsten Rechte der Menschheit", einer um Leben und Tod statt. Es ist der ganze Stolz, und alle Triebe dienen ihm dabei! Der höhere Werth der Moralität wird kühn dem ganzen Weltgesetz entgegengesetzt, und menschliche Ziele als Ziel der Welt gesetzt. Mit "gut" und "schön" und "wahr" meint man die Ausnahmestellung, seine Göttlichkeit bewiesen zu haben: die Wissenschaft im Dienste der alten Triebe kämpft und vertheidigt den Gott im Menschen, nachdem sie ihn sonst hat fahren lassen – den freien Gott.

6 [190]

Napoleons Streben gieng nach Macht: er hätte den Frieden vorgezogen, wenn der ihm Vergrößerung der Macht geben würde.

6 [191]

Niemals sich lieben lassen, sondern wo man nicht den Impuls der Gegenliebe fühlt, dann die Liebe des Anderen verhindern, und wenn es nöthig wäre, ihn zu verspotten, ja uns vor ihm zu erniedrigen! Künstler (und Weiber!) werden durch nichts gemeiner als durch das Sich-lieben-lassen. Wir sollen verhindern, daß wir das Ideal eines Anderen werden: so vergeudet er seine Kraft, sich selber sein ganz eigenes Ideal zu bilden, wir führen ihn irre und von sich ab – wir sollen alles thun, ihn aufzuklären oder wegzustoßen. – Eine Ehe eine Freundschaft sollte das Mittel sein, das seltene!! unser eigenes Ideal durch ein anderes Ideal zu stärken: wir sollten das Ideal des Anderen auch sehen und von ihm aus das unsrige!

6 [192]

Wo sind die großen Seelen hin? Was man jetzt so nennt – da sehe ich nicht mehr als Menschen, die mit einem ungeheuren Aufwand von Kraft vor sich selber Komödie spielen, vor sich selber Effekt machen wollen, und mit einer kaum erdenklichen Gier nach dem Publikum hinhorchen, weil dessen Applaus und Vergötterung ihnen selber den Glauben an sich geben soll. Ihre Wirkung auf Andere ist für diese durch allzugroße Anstrengung immer Erschöpften eine Kraftbrühe. Es ist eine Krankheitsgeschichte!

6 [193]

In Frankreich hat jede persönliche Beziehung (Liebe Freundschaft) eine Tagesgeschichte . "Beständig veränderlich" – sonst langweilig. Dies wäre für Italiener eine Marter, sie haben das ruhige Vertrauen, wie Kühe – die geringste Nuance, die sie wahrnehmen – die meisten würden sie nicht wahrnehmen – bringt sie fast um. St<endhal>

6 [194]

"Mist thut mehr Wunder als die Heiligen" – Sicilien.

6 [195]

In Deutschland fehlt alle moralische Erziehung.

6 [196]

Schweigen lernen und weggehen lernen. Überall wo ein bestimmter Widerspruch zum Leben gehört und unserem Wesen die Luft nimmt, soll man weggehen.

6 [197]

"das Gefühl der Wasserwage und des Perpendikels, das uns eigentlich zu Menschen macht und der Grund aller Eurythmie ist" Goethe

6 [198]

Es giebt nichts Alberneres als jemanden in dem zu verhöhnen, was die Tüchtigkeit seines Berufs z. B. des Gelehrten ausmacht: wie es die verwöhnten Kinder, die Künstler sich erlauben.

6 [199]

Wirkliche Größe des Charakters bei einem Musiker hat nur S. Bach.

6 [200]

der kaufmännische Geist hat die große Aufgabe, den Menschen, die der Erhebung unfähig sind, eine Leidenschaft einzupflanzen, die ihnen weite Ziele und eine vernünftige Verwendung des Tages giebt, zugleich aber auch sie so aufbraucht, daß sie alles Individuelle nivellirt und vor dem Geiste wie vor einer Ausschweifung schützt. Er bildet eine neue Gattung Menschen welche die Bedeutung haben wie die Sklaven im Alterthum. Daß sie reich werden, giebt ihnen so lange Einfluß, als die Geistmächtigen ihren Vortheil nicht kennen, und Politik machen wollen. Dieser Arbeiterstand zwingt auf die Dauer die höheren Nat<uren> sich auszuscheiden und eine Aristokratie zu bilden. Einstweilen gehören die Künstler und Gelehrten zu diesem Arbeiterstande, sie dienen ihm, weil sie viel Geld wollen. Die Unfähigkeit der Muße und der Leidenschaft ist Allen zu eigen (folglich eine große Affektation von beiden bei den Künstlern, weil diese durch etwas Ungewöhnliches unterhalten wollen) Das Geldinteresse zwingt ihnen ein politisches Interesse auf, und dies ein religiöses Interesse: sie müssen Theile von sich selber in Abhängigkeit und Respekt erhalten – deshalb die englische Bigotterie, als die des kaufmännischen Geistes.

6 [201]

Was sich – nicht vererbt, ist noch wichtiger für die Crystallisation des Charakters als was sich vererbt. Ein edler Charakter d. h. eine Anzahl Gewohnheiten Gesichtspunkte nicht zur Hand haben, die Anderen bequem sind.

6 [202]

Wenn wir essen spazierengehen gesellig oder einsam leben, es soll bis ins Kleinste die hohe Absicht unserer Leidenschaft uns dabei bestimmen, und zwar so daß sie die Vernunft und die Wissenschaft in ihren Dienst genommen <hat> und mit tiefer Gluth die gerade für sie passenden Weisungen von ihr abfragt. Nicht blind seinen wenn auch großen Trieben folgen: sondern die ganze bisherige Erkenntniß heranziehen: so allein denkt man hoch genug von sich: Alles, was bisher erkannt wurde, ist werth deiner Leidenschaft zu dienen. Wer sich leicht mit der Wissenschaft abfindet oder phantastisch wird bei ihrem Gebrauche, hat nicht die Tiefen untrüglicher Ehrfurcht vor seiner Leidenschaft, der kein Opfer zu groß ist. Unser Wesen auf die ganze Welt bisheriger Erfahrungen der Menschheit stützen! – Ihr macht Partei und übt Liebe und Haß – hättet ihr mehr Ehrfurcht vor eurem Werk, hieltet ihr es ernstlich für eine wichtige Angelegenheit, so würde<t> ihr Grauen empfinden, euer Urtheil so zu blenden, ihr müßtet mit Gluth die Erkenntniß befragen und über euch selber redlich werden. Die Leidenschaft treibt uns immer wieder aus unserer Ruhe hinaus: unser Ideal will immer höhere Bestätigungen und Opfer, und dadurch selber immer wachsen und sich reinigen. – Ihr seid in euch verliebt, aber es ist eine vorübergehende Laune, ein kleines Stückchen Geschlechtstrieb, ihr ahnt es auch, daß man Launen mit Launen befriedigen muß, ihr seid nur beliebig! Oder ihr seid ehrgeizig verliebt in euer Ideal und thut für dasselbe alles, was unter Menschen Aufsehen und Ansehen macht, es ist euch Öffentlichkeit eurer Leidenschaft nöthig, im Stillsten und Geheimsten langweilt ihr euch dabei. Ihr schafft euer Werk, aber das Spiegelbild eurer selbst in den Köpfen Anderer ist das Ziel, das hinter dem Werke steht, es ist ein Vergrößerungsglas, das ihr den Anderen vor die Augen haltet, wenn sie nach euch hinblicken! – Viele machen ihr Werk ordentlich, wie sie es gewöhnt worden sind bei strengen Lehrern, sie sprechen von Pflichtgefühl und fordern Pflicht – aber sie haben einen Gewissensbiß, denn sie sollten nur etwas Außerordentliches thun!

6 [203]

Nicht daß wir den Menschen helfen und nützen wollen: nein, daß wir Freude haben an den Menschen, das ist das Wesentliche am sogenannten guten Menschen und an der Moralität. Es ist das Neue, das Späterreichte. Unsere "guten Handlungen" verstehen sich bei dieser Freude von selber: wenn wir sie nicht fürchten und nicht anfeinden und doch zahllose Relationen zu ihnen haben, so können dies keine anderen sein als solche, welche unsere Freude an ihnen vermehren d. h. wir bemühen uns, sie im Streben nach stilisirter Individualität zu fördern, mindestens den Anblick des Häßlichen (Leidenden) zu beseitigen. Liebe zu den Menschen?? Aber ich sage: Freude an den Menschen! Und damit diese nicht unsinnig ist, muß man helfen, daß es das giebt, was uns erfreut. – Man sieht: die Redlichkeit über uns und die Anerkennung der fremden Natur, die Geschmacksentwicklung, welche den Anblick schöner freudiger Menschen nöthig hat, muß vorausgehen. Hier findet eine Selection statt: wir suchen die aus, die uns Freude machen und fördern sie und fliehen vor den Anderen – das ist die rechte Moralität! Absterbenmachen der Kläglichen Verbildeten Entarteten muß die Tendenz sein! Nicht aufrechterhalten um jeden Preis! So schön die Gesinnung der Gnade gegen die unser Unwürdigen ist, und das Helfen gegen die Schlechten und Schwachen – im Ganzen ist es eine Ausnahme, und es würde die Menschheit dabei im Ganzen gemein werden (wie z. B. durch das Christenthum) Immer ist auf die natürlichen Triebe zu bauen: "Freude zu machen dem, der uns erfreut, und Leid dem, der uns verdrießt." Wir vertilgen die wilden Thiere, und wir züchten die zahmen: dies ist ein großer Instinkt. Wir entarten selber beim Anblick des Häßlichen und der Berührung mit ihm; Schutzdämme aufwerfen! Es nivelliren zu einer Nutzbarkeit! und dergleichen.

Wenn man nur mit denen verkehrt, deren Berührung uns erfreut und erhebt, so werden sich Gruppen und Schichten bilden, die wiederum in einem solchen Verhältniß von näherer oder fernerer Entfremdung stehen. Dies ist sehr gut, ein nothwendiger Bau der Gesellschaft, aus Redlichkeit!

6 [204]

An sich sind die Triebe weder gut noch böse für die Empfindung. Aber es bildet sich doch eine Rangordnung, dadurch daß die Befriedigung einiger mit Furcht verbunden ist, und diese stehen im Gefühle niedriger als die welche lustvoll sind. Dieser Gradunterschied wird im moralischen Urtheil zu einem Gegensatz. Wenn ein Trieb immer mit dem Gefühl des Verbotenen und der Angst befriedigt wird, so entsteht eine Aversion vor ihm: wir halten ihn nun für böse. Wir haben eine Nebenempfindung untrennbar an ihn geknüpft, es ist eine Einheit entstanden. "Eine böse Handlung." Wer sich nichts verboten fühlt und alles thut, was er will, der weiß nichts von gut und böse. Wer sich vieles verboten fühlt und nichts davon thut, fühlt sich gut, gleichgültig wer verbietet, ob einer die Gewalt über uns hat oder wir selber! – der vollkommene Mensch verbietet sich sehr viel (unendlich mehr als Andere ahnen können!) und fühlt sich deshalb gut : es ist die kunstvoll gebändigte und umgedeutete Natur: denn sie ist werdend, und nicht um Einmal bauen oder Niederreißen handelt es sich – es ist ein schwebender Garten.

6 [205]

Man soll durchaus nicht in Verhältnissen bleiben, wo unsere kleinlichen Erregungen täglich geübt werden – es ist der stärkste Grund, eine Ehe, eine Partei, eine Freundschaft zu lösen, ein Amt aufzugeben. Wenn du in der Einsamkeit groß bist, so wisse, daß du dich anderwärts verdirbst. Machtvolle Milde – wo diese Stimmung dich ergreift, da bist du in dir – und dort gründe dein Haus!

6 [206]

Ich rede nicht zu den Schwachen: diese wollen gehorchen und stürzen überall auf die Sklaverei los. Wir fühlen uns Angesichts der unerbittlichen Natur immer noch selber als unerbittliche Natur! – Aber ich habe die Kraft gefunden, wo man sie nicht sucht, in einfachen milden und gefälligen M<enschen> ohne den geringsten Hang zum Herrschen – und umgekehrt ist mir der Hang zum Herrschen oft als ein inneres Merkmal von Schwäche erschienen: sie fürchten ihre Sklavenseele und werfen ihr einen Königsmantel um (sie werden zuletzt doch die Sklaven ihrer Anhänger, ihres Rufs usw.) Die mächtigen N<aturen> herrschen, es ist eine Nothwendigkeit, sie werden keinen Finger rühren. Und wenn sie bei Lebzeiten in einem Gartenhaus sich vergraben!

6 [207]

Fehler in der Sorrentiner Landschaft. – Oelbäume schöner als die Orangen.

6 [208]

Temperanz-Bewegung nöthig für Deutschland: die große Mehrzahl der Verbrechen stehen mit Alcohol in Verbindung und ebenso die Selbstmorde!

6 [209]

Kein deutscher Künstler hat bisher genug Geist gehabt, um seine Praxis zu erklären: die klügsten haben nur verstanden, sie zu beschönigen, wie als ob sie ein schlechtes Gewissen hätten: thatsächlich haben sie ihre Wirkung verdorben, insofern sie ihre Beschränktheit in die Wagschale warfen, ihre Werke sanken dadurch etwas und übten Einfluß auf die geringeren Nachahmer. Begreift man nämlich die Tendenz einer Kunst als eine persönliche Verherrlichung oder Apologie oder Versteckspielerei, so greifen viele nach ihr, die es nöthig haben, ihre Natur zu verherrlichen oder zu verstecken.

6 [210]

Handlungen, die eine lange Zeit als Ausnahmen empfunden werden und Ehre bringen, werden endlich Übung und gelten dann als anständig. Ebenso könnte die Redlichkeit in Betreff alles Wirklichen einmal Anstandssache werden, und der Phantast einfach als unanständig außer Betracht kommen.

6 [211]

In diesem Jahrhundert haben sich die Franzosen einen Geschmack an der Malerei anerzogen (durch Zeichnen), der dem vorigen Jahrhundert fehlte. Die Italiäner haben ihr Ohr für den Gesang verloren, die Deutschen haben politische Leidenschaft gelernt, die Engländer haben sich an die Spitze der Wissenschaft gestellt.

6 [212]

Unsere Triebe widersprechen sich häufig, darüber ist nichts zu wundern! Vielmehr wenn sie harmonisch sich auslösten, das wäre seltsam. Die Außenwelt spielt auf unseren Saiten, was Wunder, daß diese oft dissoniren!

6 [213]

Nach Austerlitz war der Krieg mehr das Resultat seines Systems als der Zug seines Geschmacks: – – –

6 [214]

Junge Menschen, deren Leistungen ihrem Ehrgeize nicht gemäß sind, suchen sich einen Gegenstand zum Zerreißen aus Rache, meistens Personen, Stände, Rassen, welche nicht gut Wiedervergeltung üben können: die besseren Naturen machen direkten Krieg; auch die Sucht zu Duellen ist hierher gehörig. Das Bessere ist, wer einen Gegner wählt, der nicht unter seiner Kraft und der achtungswerth und stark ist. So ist der Kampf gegen die Juden immer ein Zeichen der schlechteren, neidischeren und feigeren Natur gewesen: und wer jetzt daran Theil nimmt, muß ein gutes Stück pöbelhafter Gesinnung in sich tragen.

6 [215]

Das Ende aller großen Denker und Künstler ist düster, bei denen die Redlichkeit gegen sich immer abgenommen hat. Das freudige Ausleben und Hineinströmen in die andere Welt fehlt ihnen.

6 [216]

Die Meinungen der Menschen ebenso nothwendig wie ihre Handlungen – aber deshalb nicht "für sie wahr"! Nur eine ungeheure Art, über sich hinaus zu gehen und andere Denkweisen in sich aufzunehmen, giebt uns die Möglichkeit, zwischen wahr <und> falsch zu unterscheiden. Das Ideal: eine Meinung, die unabhängig ist von jedem Persönlichen und deren Schranke eben nur noch "der Mensch" ist. Es sind die Meinungen, die "dem Menschen" am nützlichsten sein müssen, seine strenge Relation zu den Dingen (deren Narr er nicht mehr ist.)

Auf die Dauer muß die Menschheit jeden Irrthum furchtbar büßen – denn damit er aufrecht erhalten bleibe, muß eine hundertfache Fälschung anderer Dinge eintreten (Nicht-einsehen-wollen d. h. Verschlechterung der Redlichkeit, Abnahme des Intellekts, Zunahme der Gefährlichkeit des Lebens –

6 [217]

"zu dem kolossalen Schwulst der Pozzo und Bibiena hatte seit 1730 niemand mehr die erforderliche Leidenschaft und Phantasterei." J<acob> B<urckhardt>

6 [218]

Unter allen, die sich um Gründung und Verbreitung von Religionen verdient gemacht haben, hat es noch keinen ausgezeichneten Kopf und ebenso wenig einen redlichen Menschen gegeben. Diese großen Massen-Leidenschaften sind von den gröbsten Köpfen, solchen die blinden Glauben an sich haben, wie die Thiere, gemacht worden.

6 [219]

Die Kraft hat die Milde.

6 [220]

das Verlangen nach den Genies wie nach Kraftbrühen.

6 [221]

der kaufmännische Geist und sein Produkt

6 [222]

der Geschmack der englischen Gartenkunst – "die freie Natur mit ihren Zufälligkeiten nachahmen" J.B. – ist der ganze moderne Geschmack. Solche Menschen wollen die Dichter: während ein anderes Ziel ist, die Menschen "den Gesetzen der Kunst dienstbar machen". Gegen die elegische Natursentimentalität NB diese habe ich mir abzugewöhnen. "Der Contrast der freien Natur, welche von außen in die italiänischen Gärten hineinscheint" J.B. Grundbedingung des Eindrucks. Solche Menschen des Stils wirken am stärksten unter einer halbwilden Umgebung.

6 [223]

Bei der Liebesleidenschaft kann man sehen, wie weit die Redlichkeit vor uns selber fehlt: ja man setzt das voraus und gründet darauf die Ehe (mit Versprechen, wie sie kein Redlicher gegen sich geben kann!) So früher bei der Treue von Untergebenen gegen Fürsten oder gegen das Vaterland, oder die Kirche: man schwor die Redlichkeit gegen sich feierlich ab!

6 [224]

Wir sind geneigter, von den Dingen das zu glauben, was uns angenehm ist. Die Thiere, welche dazu weniger streng geneigt sind, die vorsichtigen, erhalten sich besser. Die Furchtsamkeit ein erster Schritt der Redlichkeit.

6 [225]

Man sagt "Fortschritt", meint aber Entwicklung d. h. Werden und Vergehen. Auch das V<ergehen> können wir nur als ein Fortschreiten empfinden: denn es ist mit Lust verknüpft, wie alle Entwicklung. Nur die Hemmung der Entwicklung macht Schmerz.

6 [226]

Jene spitzigen Geschöpfe welche selbst ihr Wohlwollen nicht ohne Stiche äußern können.

6 [227]

Es bedarf unendlicher Verstellung, um ein liebevoller Mensch zu werden.

6 [228]

Werth der Wissenschaft und Reiz derselben, gegen die Verstellung. Nimmt man sie halb, so versteht man ihren heroischen Zauber nicht.

6 [229]

Wenn in die Seele eines Kindes in einer abergläubischen Umgebung und Zeit der Gedanke fällt "du bist der Sohn Gottes" und es <von> früh an durch die Frömmigkeit seiner Mutter belehrt wird, daß dieser Gott heilig ist und Heiligkeit will: dazu ein sanftes Temperament und eine glühende visionäre Phantasie, ein durch Enthaltsamkeit und Einsamkeit erzogenes Vertrauen zu sich selber: so einer kann zum Glauben sündlos zu sein kommen, sobald er als Sohn Gottes sich glaubt und somit seinen eigenen Befehlen gehorcht – sublime Art des Stolzes. Als Gesetzgeber ist er dem Gesetz überlegen, er kann Höheres darüber hinaus zeigen, es vollenden: wie ungereimt für ihn, etwas zu thun, das wider seine fixe Idee geht! Von dieser Höhe aus sehnt er sich nach Liebe – die Menschen sollen an ihn glauben : dies ist das Einzige was ihm fehlt, und dafür will er ihnen alles geben, was er kann z. B. Gottes Gnade. Die: Kinder, die Armen, die Dummen, die Verachteten, die sich selber Verachtenden sind seine Lieblinge. Er dichtet sich seinen Gott nach seinem Bilde, so daß er Liebe erweisen kann als Gott: er eliminirt und schwächt Vorstellungen, aus denen ein anderer Gott sich ergiebt. Seine Redlichkeit gegen sich ist sehr gering, er hat weder in Bezug auf seinen Glauben als Gottessohn ein feines Gewissen, noch in Bezug auf seine Erkenntniß der Natur und des Menschen. Er belügt sich, ganz im Dienste seiner Leidenschaft: was er nicht kennt, schätzt er nicht, er behandelt sich als Maaß der Dinge, mit der Unerfahrenheit eines einsamen Schäfers, der nur Schafe um sich hat. Sein wunder Punkt ist, daß die Menschen ihm nicht glauben wollen, während er sich selber glaubt: und hierbei wird seine Phantasie grausam und düster, und er dichtet die Hölle für die, welche nicht an ihn gl<auben>. Sein Mangel an Bildung schützt ihn davor, sich die Entstehung einer Leidenschaft vorzustellen und sich selber einmal objektiv zu sehen: er steht nie über sich (wie z. B. Napoleon) Das Furchtbarste, ewig Unsühnbare der Menschen wurde das Verschmähen seiner Liebe – dies ist ein gemeiner Zug. Ebenso seine Verdächtigung der Reichen, des Geistes, des Fleisches – seine Milde und Nachsicht ist kurz und ganz egoistisch.

6 [230]

Bei Erzählern vermeiden die feineren, die Erlebnisse ihrer Helden selber in's Ungeheuerliche, Criminalistische Grobe zu steigern: vielmehr erniedrigen und glätten sie die Ereignisse und zeigen, was feinere Naturen schon an diesem Wenig zu leiden haben: oder daß hier erst ihre Erlebnisse anfangen: für grobe Naturen giebt es da keine Probleme. – Daß man seinem Helden gegenüber festhält, er sei nicht non plus ultra, sondern ein tüchtiger Mensch, zeichnet jeden guten Dichter aus. – Die Halbgötter-geschichten bedürfen wenig Talent, grobe Farben – sie werden der Masse erzählt. Es sind ideale Räuber- und Gespenster-Geschichten. – Wer sich in seine Helden und deren Erlebnisse verliebt, ist nicht ersten Ranges – denn er muß arm sein. – Mit prächtigen entzückenden Stoffen und Helden geben sich die Armen ab, welche nicht ohne Weiteres glauben, daß andere sie für reich halten.

6 [231]

Wir erreichen unser Maximum nicht: denn in der Periode des raschesten Wachsthums müssen alle anderen günstigen Bedingungen da sein. Wir sind kurzstämmig und knorrig.

6 [232]

Hüteten wir uns auch gegen Personen vor blinden Liebe- und Haß-Anfällen – wie viel weniger haben wir gut zu machen d. h. einen Irrweg zurückgehen! (wobei unser Weg Zeit verloren hat) Größere Redlichkeit gegen uns selber hält uns in Hut: gewöhnlich geben wir unseren zurückgehaltenen Trieben einmal plötzlich nach, in dieser Liebe und Haß zu Personen.

6 [233]

das Christenthum hat der geistigen Armut das Himmelreich verheißen: aber der erste gebildete und geistreiche Christ hat dem Christenthum seine Dialektik und Rhetorik gegeben, ohne diese wäre es an seiner geistigen Armut zu Grunde gegangen.

6 [234]

Die Triebe haben wir alle mit den Thieren gemein: das Wachsthum der Redlichkeit macht uns unabhängiger von der Inspiration dieser Triebe. Diese Redlichkeit selber ist das Ergebniß der intellektuellen Arbeit, namentlich wenn zwei entgegengesetzte Triebe den Intellekt in Bewegung setzen. Das Gedächtniß führt uns in Bezug auf ein Ding oder eine Person bei einem neuen Affekt die Vorstellungen zu, die dies Ding oder <diese> Person früher, bei einem anderen Affekt in uns erregte: und da zeigen sich verschiedene Eigenschaften, sie zusammen gelten lassen ist ein Schritt der Redlichkeit d. h. es dem, welchen wir jetzt hassen, nachtragen, daß wir ihn einst liebten und sein früheres Bild in uns mit dem jetzigen vergleichen, das jetzige mildern ausgleichen. Dies gebeut die Klugheit: denn ohne dies würden wir, als Hassende, zu weit gehen und uns in Gefahr bringen. Basis der Gerechtigkeit: wir gestehen den Bildern desselben Dinges in uns ein Recht zu!

6 [235]

Die Übung mehrere Eigenschaften an einem Dinge anzuerkennen, abseits von unserem Affekt, constituirt eine Reihe von festen Dingen, die immer größer wird, und immer feiner. Diese Übung bildet ein Bedürfniß: nach der Erkenntniß der Dinge in ihrer Vielheit: Basis des intellektuellen Triebes.

6 [236]

Die Redlichkeit gegen uns selber ist älter als die R<edlichkeit> gegen Andere. Das Thier merkt, daß es oft getäuscht wird, ebenso muß es sich oft verstellen. Dies leitet es zu unterscheiden zwischen Irren und Wahrsehen, zwischen Verstellung und Wirklichkeit. Die absichtliche Verstellung ruht auf dem ersten Sinne der Redlichkeit gegen sich.

6 [237]

Christus "fromm traurig und egoistisch"

6 [238]

Was heißt " einen Gedanken verstehen"? Er regt eine Vorstellung, diese regt Wahrnehmungen, diese regen Gefühle auf, so giebt endlich der Stein einen dumpfen Ton, wenn er unten im Grunde angelangt ist: diese Erschütterung des Grundes nennen wir "verstehen". Ursache und Wirkung finden hier nicht statt, nur Association: bei diesem Wort ist diese Vorstellung gewöhnt erregt zu werden: wie das möglich ist, weiß niemand. Unser "Verstehen" ist etwas Unverständliches, und jene letzte Resonanz in unseren Trieben ist doch nicht mehr als ein neues großes Unbekanntes. –

Lüge ist die Erregung jenes Grundes unseres Nächsten in der Art, daß ein Trieb bei ihm wach wird, zu dessen Befriedigung er nicht kommen kann, weil gerade die Natur der Dinge eine andere ist: also ein unerfüllbares Bedürfniß erregen ist lügen.

6 [239]

Die Menschen sehen allmählich einen Werth und eine Bedeutung in die Natur hinein, die sie an sich nicht hat. Der Landmann sieht seine Felder mit einer Emotion des Werthes, der Künstler seine Farben, der Wilde trägt seine Angst, wir unsere Sicherheit hinein, es ist ein fortwährendes feinstes Symbolisiren und Gleichsetzen, ohne Bewußtsein. Unser Auge sieht mit all unserer Moralität und Cultur und Gewohnheiten in die Landschaft. – Und ebenso sehen wir auf andere Charaktere: sie sind für mich etwas anderes als für dich: Relationen und Phantasmen, unsere Grenzen gegen einander sind darin. – Was heißt da Gerechtigkeit! Die Fülle der Relationen wächst fortwährend, alles was wir sehen und erleben, wird bedeutungstiefer. Beim Anblick der Sonne z. B. – aber eine Unzahl von alten Bedeutungen und Symbolen sterben auch fortwährend ab, es entleert sich zugleich – und wenn wir auf dem Wege der Gerechtigkeit sind, so sterben die willkürlichen phantastischen Auslegungen, womit wir den Dingen wehe und Gewalt thun: denn ihre wirklichen Eigenschaften haben ein Recht, und endlich müssen wir dies höher ehren als uns.

6 [240]

Lob der Philologie: als Studium der Redlichkeit. Das Alterthum gieng am Verfall derselben zu Grunde.

6 [241]

Der verhängnißvolle "zweite Sinn" hinter den Naturereignissen, den Erlebnissen, den Begierden, dem Unrecht! Arme Menschheit!

6 [242]

Die "moralische Weltordnung" – eine Art Astrologie.

6 [243]

Unsere größten Erhebungen Erschütterungen den reinsten Himmel verdanken wir uns selber: wir leihen davon an die Werke der Kunst und so werden sie größer, wir verbessern sie und mitunter verkennen wir sie zu ihren Gunsten.

6 [244]

Redlichkeit in der Kunst – nichts zu thun mit Realismus! Wesentlich Redlichkeit der Künstler gegen ihre Kräfte: sie wollen sich selber nicht belügen, noch berauschen – keinen Effekt auf sich machen, sondern das Erlebniß (den wirklichen Effekt) nachahmen.

6 [245]

Erwägt man, wer zu jeder Zeit den großen Ruhm macht: so wird es wahrscheinlich, daß die ausgezeichnetsten Geister im zweiten oder dritten Range stehen werden: und die besten Meister bleiben unbekannt.

6 [246]

Mein Pathos: das entsetzliche Leid des Sündengefühls nachempfinden NB.

6 [247]

Glaube nur niemand, daß wenn Plato jetzt lebte und platonische Ansichten hätte, er ein Philosoph wäre – er wäre ein religiös Verrückter.

6 [248]

Die schlechte Übung im Sehen und Sehen wollen des Wirklichen hat auch in den Beziehungen der Menschen, in ihrem Urtheil über einander und sich selber eine Mythologie entstehen lassen, die "moralische Welt".

6 [249]

Der Zweifel, was das Wirkliche ist, macht nicht gegen die Phantasmen geneigter: sondern zerstört allmählich den guten Willen, der zur Ausdichtung eines Phantasmas gehört.

6 [250]

Allgemein hält man keine Handlung für verständlich, außer der nach Zwecken: und überhaupt keine Bewegung in der Welt. Deshalb gieng das frühere Denken darauf aus, alle Bewegung in der Welt als zweckmäßig und zweckbewußt zu erklären (Gott) Es ist der größte Wendepunkt der Philosophie, daß man die Handlung nach Zwecken nicht mehr begreiflich fand; damit sind alle früheren Tendenzen entwerthet.

6 [251]

Wenn wir verantwortlich machen, so setzen wir gleiche Kraft bei den Anderen voraus, und das gleiche Wissen um diese Kraft – was doch Mythologie ist.

6 [252]

Die spontane Masse von Energie unterscheidet die Menschen, nicht ein Individual-Atom. Sodann die eingeübten Bewegungen dieser Masse, durch Vererbung mitgetheilt. Dieselbe Kraft ist es, die bald durch die Muskeln, bald durch die Nerven verbraucht wird.

6 [253]

Der Gedanke ist ebensowohl wie das Wort, nur ein Zeichen: von irgend einer Congruenz des Gedankens und des Wirklichen kann nicht die Rede sein. Das Wirkliche ist irgend eine Triebbewegung.

6 [254]

Jede Handlung ist von dem bleichen Bewußtseinsbild, das wir von ihr während ihrer Ausführung haben, etwas unendlich Verschiedenes. Ebenfalls ist sie von dem vor der That vorschwebenden Bewußtseinsbild (das Ende der Handlung = Zweck und der Weg dahin) verschieden, unzählige Stücke des Wegs, die schließlich gemacht werden, werden nicht gesehen und der Zweck selber ist ein kleines Theilchen von dem wirklichen Erfolg der Handlung. Zwecke sind Zeichen: nichts mehr! Signale! Während sonst die Copie hinter dem Vorbild nachfolgt, geht hier eine Art Copie dem Vorbild voraus. In Wahrh<eit> wissen wir nie ganz, was wir thun z. B. wenn wir einen Schritt thun wollen oder einen Laut von uns geben wollen. Vielleicht ist dies "Wollen" nur ein bleicher Schatten davon, was wirklich schon im Werden ist, ein nachkommendes Abbild von unserem Können und Thun: mitunter ein sehr falsches, wo wir nicht zu können scheinen, was wir wollen. Unser "Wollen" war hier ein irregeleitetes Phantasma unseres Kopfes, wir hatten irgend ein Zeichen falsch verstanden. – Wenn einer befiehlt, und wir wollen es thun, finden uns dann zu schwach -? so gab Furcht (oder Liebe) uns einen Impuls, bei dem sehr viel Kraft in Bewegung gerieth. – Das erste Gelingen auf den ersten Nerven- und Muskelbahnen giebt die verfrühte Vorstellung des Könnens, und daraus resultirt das verfrühte Bild des gewollten Zwecks: die Zweckvorstellung entsteht, nach dem schon die Handlung im Werden ist!

6 [255]

Der Glaube an uns ist die stärkste Fessel und der höchste Peitschenschlag – und der stärkste Flügel. Das Christenthum hätte die Unschuld des Menschen als Glaubensartikel aufstellen sollen – die Menschen wären Götter geworden: damals konnte man noch glauben.

6 [256]

„Um Härte Kälte Erschöpfung" flehen – Marter, wenn man seinem Lebensziele nicht mehr traut. "Erhabener Zorn, zuckende Vorwürfe" – schluchzend einschlafen – in Kälte und Grauen hineinblickend kalt erwachend – "enge Zelle ihres Elends" – nur ein Blick heraus auf das Leben eines Anderen, nicht mehr. "Die Fülle sympathischer Erfahrung stellte sich als eine Gegenmacht ein" – Gerechtigkeit seinen eigenen Schmerz verstoßen.

"Bedürfniß der Gerechtigkeit".

"Das Gute Anderer überschätzen" blind für die guten Wirkungen, die wir in Anderen hervorrufen.

6 [257]

Wir müssen es dahin bringen, das Unmögliche Unnatürliche Gänzlich-Phantastische in dem Ideale Gottes Christi und der christlichen Heiligen mit intellektuellem Ekel zu empfinden. Das Muster soll kein Phantasma sein!

6 [258]

Für jeden Abfall eines Freundes eine höhere Seele eintauschen.

6 [259]

Habt ihr euch geübt, an Andere zu denken und für sie etwas zu thun, so bleibt, wenn euch unmöglich ist, euer Ziel zu erreichen, sehr viel übrig: nämlich das der Anderen zu fördern. Es ist gut und klug, diese zwei Saiten zum Spielen zu haben. Den Anderen begreifen und auf uns von ihm aus hinzusehen ist unentbehrlich für den Denker.

6 [260]

Ich sehe es eurer Toleranz gegen die Wissenschaft 100 Schritte weit an: ihr meint, ihr habt sie nicht nöthig, ihr bildet euch etwas darauf ein, trotzdem ihre Fürsprecher zu sein, selbst wenn sie gegen eure Meinungen kämpft: – denn ihr habt kein so strenges Gefühl für das Wirkliche, daß es euch quält und martert, sie im Widerspruch zu euch zu finden: ebensowenig ihr gierig umschaut, was alles gegenwärtig erkannt wird und auf dem Wege ist, erkannt zu werden.

6 [261]

Die Übung im Erkennen hat zuletzt ein Bedürfniß der Wahrhaftigkeit erzeugt, welches jetzt eine neue große Macht ist, mit Gefahren und Vortheilen.

Titel vielleicht: " das Bedürfniß der Wahrhaftigkeit."

6 [262]

Allen moralischen Systemen, welche befehlen, wie der Mensch handeln soll, fehlte die Kenntniß und Untersuchung, wie der Mensch handelt. Aber man meinte diese Kenntniß zu haben.

6 [263]

Das Bedürfniß der Aktivität trennt uns von der indischen Weisheit.

6 [264]

Auch dem feinsten Gedanken entspricht eine Verhäkelung von Trieben. – Die Worte sind gleichsam eine Claviatur der Triebe, und Gedanken (in Worten) sind Akkorde darauf. Jedoch ist die anregende Kraft des Wortes für den Trieb nicht immer gleich, und mitunter ist das Wort fast nichts als ein Laut.

6 [265]

1. Zeit der Triebe ohne Gedanken 2. Zeit der Triebe mit Gedanken (Urtheile) Hier werden Triebe und Trieb-Verhäkelungen vorgestellt. Die häufige Wiederholung, das Zustimmen und Verwerfen solcher Vorstellungen, übt eine Rückwirkung auf die Triebe selbst, einige werden sehr geübt, andere außer Übung gesetzt und ausgedorrt. Allmählich entsteht durch ungeheure Übung des Intellekts die Lust an seiner Aktivität: und daraus endlich wieder die Lust an der Wahrhaftigkeit in seiner Aktivität. Urspr<ünglich> sind die intellektuellen Funktionen sehr schwer und mühselig. Nachmachen ist das Beste, Haß gegen das Neue. Spät endlich ist umgekehrt der Ekel am Nachmachen schnell da und die Lust am Neuen und am Wechsel sehr groß.

6 [266]

Die Menschen gehen an der Verfeinerung des Intellekts zu Grunde: physisch und vielleicht auch moralisch. – Wir Glücklichen! Wir sind in dem Reich der Mitte

6 [267]

Die Vollkommenheit eines Napoleon, eines Cagliostro entzückt: unser Verbrecherthum hat nicht Musterbilder vor sich, sie haben kein fröhliches Gewissen. Ein guter Räuber, ein guter Rächer, Ehebrecher – das zeichnete das italienische Mittelalter und <die> Renaissance aus, sie hatten den Sinn für Vollständigkeit. Bei uns fürchten sich die Tugenden und die Laster, die öffentliche Meinung ist die Macht der Halben und Mittelmäßigen, der schlechten Copien, der zusammengestohlenen Allerweltsmenschen.

6 [268]

Wir wollen keinen Gott aus uns machen, wir gelüsten nicht nach den Idealen früherer Völker. Gerade die Ungöttlichkeit, die Freude an den zahllosen Einzelnen mit höchster Verschiedenheit, die wohl Gegner sein werden, aber wie Griechen und Trojaner!

6 [269]

Der leidenschaftliche Hang, Anderen zu helfen, verleidet das eigene Behagen.

6 [270]

Vor Menschen mit großer Seele zeigen wir den großen Zusammenhang unser selbst und glauben vor ihnen an denselben mehr als allein. Deshalb sind sie uns nöthig. Unsäglich viel kleine verschobene Linien können wir preisgeben – das thut wohl! Andere können nur diese Kleinigkeiten sehen, vor ihnen müssen wir sie eingestehen oder läugnen, in beiden Fällen ohne Genugthuung.

6 [271]

Mit einem großen Ziele ist man nicht nur seiner Verleumdung, sondern auch einem großen Verbrechen überlegen und erhaben.

6 [272]

Einen Menschen vor niedrigen Erfahrungen zu hüten ist das Schönste – niedrig ohne Rücksicht auf uns, aber auf ihn.

6 [273]

Eine Gattin als Hemmung, ein Gatte als Entartungsmittel.

6 [274]

Unserem ganzen Organism ist das vorschnelle Zuneigen und Abneigen die Verstellung usw. eingeformt worden: allmählich kann ihm auch die Wahrhaftigkeit angebildet werden und immer tiefer einwurzeln, mit welchen Wirkungen? Einstweilen ist er ein bewegtes Netz von Lüge und Trug und deren Fangarmen: ganz thierisch-nützlich. Die Erziehung zur Wahrheit – ist sie eine Verbesserung des Thieres, eine höhere Anpassung an die Wirklichkeit? – Unser Wohlwollen Mitleid, unsere Aufopferung, unsere Moralität ruht auf demselben Unterbau von Lüge und Verstellung wie unser Böses und Selbstisches! Dies ist zu zeigen! Der unangenehme, ja tragische Eindruck dieser Entdeckung ist unvermeidlich zunächst. Aber alle unsere Triebe müssen zunächst ängstlicher mißtrauischer werden, allmählich mehr Vernunft und Redlichkeit in sich aufnehmen, hellsichtiger werden und immer mehr so den Grund zum Mißtrauen gegen einander verlieren: so kann einmal eine größere Freudigkeit entstehen, eine fundamentalere: einstweilen wäre diese Freudigkeit nur dem Unredlichen möglich. Resignation und jene heroische Lust am Trotz und am Siege sind die einzigen Formen unserer Freudigkeit: wenn wir Erkennende sind. NB NB NB!!! Wie kommt es nur, daß wir gegen die gründliche Verlogen- und Verstelltheit ankämpfen? Ein Gefühl der Macht, welche in der Entwicklung und im Wirken unseres Intellekts frei wird, treibt uns: es macht Appetit.

6 [275]

Das verfluchte Lehrer- und Reformatoren- und Bußprediger-Pathos "und unsere Pflicht gebeut, die Menschen unglücklich zu machen".

6 [276]

Die zunehmende Lügnerei der Pathetiker (Hr. Lipiner) oder der Toleranten (Frl. v<on> M<eysenbug>

6 [277]

Die wortkarge Leidenschaft mit düsteren Augen bei Calvin wird leicht verleumdet. Grazie und Geist in der Leidenschaft wird in Deutschland nicht geglaubt.

6 [278]

in Form einer Tragödie:

  1. Der Pfad
  2. die furchtbare Aussicht
  3. das Ausruhen

6 [279]

6 [280]

In wiefern es nützlich ist zu versuchen den Feind zu lieben? Es bricht das unbefriedigte Gefühl und giebt einen Sieg über uns.

6 [281]

Das höchste Todesziel der Menschheit auszudenken – irgendwann wird sich die Aufgabe darauf concentriren. Nicht leben, um zu leben.

6 [282]

Die Alten trauten den Frauen in der Leidenschaft das eigentlich Unmenschliche und Unglaubliche zu – zur Zeit des Aeschylus.

6 [283]

Wenn jemand zu den Juden übergeht (nach Tacitus) muß er die Götter verachten, seinem Vaterland entsagen und Eltern Kinder Geschwister verleugnen. Die Seelen derer, die in der Schlacht oder durch Hinrichtung umkommen, sind unsterblich (Märtyrer-Gedanke des Christenthums) Verachtung des Todes daher. Als Kaligula befahl sein Bildniß im Tempel aufzustellen, griffen sie zu den Waffen.

6 [284]

"sie essen mit niemand, schlafen allein und enthalten sich, so geil sie sind, aller fremden Weibsbilder"

"jeder schlechteste Mensch schickte Abgaben und Almosen nach Jerusalem, mit Hintansetzung des Landes, in dem er lebte."

6 [285]

Tacitus spricht höhnisch davon, wie sehr die Juden (und Christen) dem Aberglauben ergeben seien. Rom gieng in sein Extrem über als es christlich wurde: es ist ein Zeichen der impotentia der damaligen Menschen, dieses schroffe Umspringen. Die Wuth des Hasses machte zuletzt die Juden (Christen) interessant.

6 [286]

Man nimmt verschiedene "beste Dinge" vom Urtheil Anderer an (die selber sehr verschieden sind) und entdeckt, daß sie sich widersprechen: d. h. man glaubt sein Gewissen in Unruhe.

6 [287]

Die guten Menschen haben in schweren Augenblicken keine Skrupel.

6 [288]

Eine Art Gerechtigkeit: "ich habe sein Glück mit ihm genossen. Nun auch die Zeit seiner Schmach und Schuld".

6 [289]

So zu leben, daß unsere Energie am größten und freudigsten ist – und dafür alles zu opfern. NB

6 [290]

das metaphysische Bedürfniß ist nicht die Quelle der Religionen, sondern die Nachwirkung nach ihrem Untergange. Man hat sich an die Vorstellung einer anderen Welt gewöhnt und vermißt sie (und aus diesem Triebe können neue Pflanzen aufwachsen " Nachreligionen") aber das, was zur Annahme einer anderen Welt trieb, waren Irrthümer in der Auslegung bestimmter Vorgänge, also falsche Urtheile des Intellekts. Das "Bedürfniß" ist das Resultat nicht Ursprung. Durch Mangel an Befriedigung kann es absterben! So giebt es ein Bedürfniß, das Glockenläuten zu hören, welches mit dem ursprünglichen Zweck des Glockenläutens gar nichts zu thun hat. – Man hat sich gewöhnt, die Bedürfnisse an den Anfang zu stellen.

6 [291]

Gegen das Christenthum: die vollkommene Moralität ist weder möglich, noch wünschenswerth. Ihr Werth ruht auf falschen Ansichten der Biologie.

6 [292]

Da seit uralters moralische Urtheile gefällt worden sind (als Irrthümer über Handlungen) so haben sich daraus jedenfalls moralische Empfindungen, Neigungen Abneigungen gebildet. Also diese sind wirklich. Aber wie verhalten sie sich zu der Wirklichkeit der Handlungen, über welche die moralischen Urtheile irrthümlich gefällt werden? – Die Handlungen, über welche bei den Menschen zuerst moralische Urtheile gebildet wurden, sind die, welche sich alle bei den Thieren finden: deren Motive somit nicht erst zu schaffen waren. Man wähnte, diese Handlungen zu verstehen, moralische Urtheile sind "Erklärungen derselben nach Zwecken", ein Ansatz der Wissenschaft. Indem man sie benannte (bös gut gerecht usw.) zweifelte man nicht, sie durch und durch zu verstehen. Socrates gerieht erst in das Mißtrauen, ob er sie verstünde. Aber er zweifelte nicht, daß den Worten gut böse usw. etwas Wesentliches entspräche!

6 [293]

"Wie soll der Mensch handeln?" Das ist nur nach einem Ideal zu messen, entweder was die Menschheit erreichen soll, oder was der Einzelne erreichen soll. Bisher gab es solche Muster, die vor Völkern herschwebten (theils lebendige, theils erdichtete) oder vor Religionsgemeinden. Oder vor Parteien (oder der vollkommene Kaufmann Soldat Beamte). Oder vor philosophischen Sekten. Aber immer bisher vor Mehrheiten. Das Ziel ist aber: daß jeder sein Musterbild entwerfe und es verwirkliche – das individuelle Muster. Im Entwerfen alle Zeugungskraft und Jugend und Männlichkeit nöthig, alle Einsicht in seine Kraft, Selbsterkenntniß. J etzt ist es noch nicht möglich!

6 [294]

Wir müssen unsere Fehler und Triebe nicht abrechnen beim Entwerfen unserer Muster, sondern ihre sublime Form zu finden wissen.

6 [295]

Es kann Tragödie sein! Unsere Milde und Mitleid und – unser Sinn für Wahrhaftigkeit im Kampfe mit einander in Bezug auf die Meinungen Anderer.

6 [296]

Eine Frau, die begreift, daß sie den Flug ihres Mannes hemmt, soll sich trennen – warum hört man von diesem Akt der Liebe nicht?

6 [297]

Mit den Gedanken steht es wie mit den körperlichen Bewegungen: ich muß warten, ob sie sich ereignen, wenn ich sie auch will, es hängt davon ab, ob sie eingeübt sind. Das Wollen ist hier nicht das Vorstellen des Zieles, sondern die Vorstellung logischer Formen (Gegensatz eines Gedankens, parallel, ähnlich, Prämisse Schluß usw.) in der Form des Wunsches. Das Gedächtniß muß den Inhalt geben – Bei Gelegenheit eines Satzes versucht das Gedächtniß zu den einzelnen Worten etwas Zugehöriges anzuhängen, und unser Urtheil entscheidet, ob es dazu paßt und wie. So versucht der Fuß eine Menge Lagen im Augenblick des Stolperns. Wir wählen aus diesen plötzlich auftauchenden Gedanken-Embryonen aus: wie wir aus den zu Gebote stehenden Worten unsere Gedanken in Formel bringen. Das Wesentlichste des Prozesses geht unter unserem Bewußtsein vor sich. Unser Charakter entscheidet, ob zugehörige Gedanken wesentlich die des Widerspruchs der Beschränkung der Zustimmung sind: das Entstehen jedes Gedankens ist ein moralisches Ereigniß. – Die logischen Formen erscheinen so als der allgemeinste Ausdruck unserer Triebe, Zuneigung, Widerspruch usw. – Bis in die Zelle hinein giebt es keine Bewegungen als solche "moralischen" in diesem Sinne.

6 [298]

Wer nach 2 Tagen strengen Fastens einen Schluck Champagner trinkt, der empfindet etwas, das der Wollust ganz nahe kommt. Der Blick eines Menschen, der wochenlang in einer dunklen Höhle gelebt hat, in die Natur ist ein Rausch des Auges. Und nach Jahren wieder unsere Musik hören! – Die Asketen wissen allein, was Wollüste sind.

6 [299]

Die Christen, nach Tacitus nicht der Mordbrennerei, aber odio generis humani "des Hasses gegen die Menschheit" überwiesen. Das ist wahr! "So schuldig sie waren und ob sie schon die härtesten Strafen verdienten" – "in Rom, wo alles Unnatürliche und Schändliche zusammenfließt" "wegen Schandthaten flagitia verhaßte Menschen" (so werden die Christen definirt. Man traute ihnen alles zu – weshalb? Pessimisten

6 [300]

Immer so handeln, daß wir mit uns zufrieden sind – da kommt es auf die Feinheit der Wahrhaftigkeit gegen uns selber an. Zweitens auf den Maaßstab, mit dem wir messen. Ein gutes Gewissen kann also ein sehr starkes Anzeichen von Gemeinheit und intellektueller Grobheit sein: ein schlechtes Gewissen von intellektueller Delikatesse.

Wenn die Anderen mit uns nicht unzufrieden wären, und nicht Vieles schief abliefe, so wäre die Zufriedenheit mit sich selber die Regel. Die unerwarteten unangenehmen Nachwirkungen stören diese Zufriedenheit: beim Unangenehmen suchen wir nach einer Entladung unseres Rachegefühls und treffen damit zumeist uns selber. Das Mißgeschick ist es, das dem Menschen sein böses Gewissen giebt "es hätte anders sein können". Da tadeln wir uns und schätzen unseren Scharfsinn und unsere Absichten gering. Wären wir nicht M<enschen> der Rache, so wären wir viel zufriedener: wie es im allgemeinen die Frauen sind, da in diesen das Rachegefühl nicht so stark ist. – Das Gewissen wird also durch den Erfolg bestimmt: es verurtheilt nachträglich die Absichten, ja es verfälscht nachträglich die Absichten: die ganze Unmoralität und Unredlichkeit eines Menschen zeigt sich in dern Prozesse, den ihm sein Gewissen macht. Das schlechte Gewissen ist ebenso wie das gute Gewissen eines Menschen so dumm, verleumderisch oder lobrednerisch schmeichlerisch bequem – als der ganze Mensch ist. Man hat ein Gewissen nach seinem Niveau.

6 [301]

Manche sind glücklich mit dem Hintergedanken, daß die Anderen, die nach anderen Principien leben, sich an ihrem Glück ärgern sollen: sie wollen mit ihrem Glücke jene widerlegen. (Pique-bonheur)

6 [302]

Plötzliche christliche Strenge läßt auf tiefe innere Nothstände, also begangene Unthaten schließen. – –

6 [303]

Man kann seine Leidenschaften von einem Augenblick an mißverstehen und umtaufen – Wiedergeburt.

6 [304]

Man kann seine Gedanken nicht wiedergeben in Worten, sie sind zu schattenhaft schnell hinter den Empfindungen zu<rück>.

6 [305]

Wenn man noch so genau den Bewegungen siedenden Wassers mit den Augen folgt, man begreift damit das Motiv des Siedens um nichts mehr. So auch bei Handlungen, wenn man das heftig bewegte Netz von Vorstellungen sich klar macht, welche uns dabei überhaupt bewußt werden. Es sind alles Wirkungen, welche auf ein verborgenes Feuer rathen lassen: aber es ist lächerlich, es definiren zu wollen.

6 [306]

Die Bewunderung für die Person Jesu ist wenig bedeutend, wenn sie von der Basis ausgeht, auf welche Christus sich gestellt hat: die tiefe Sündhaftigkeit der Menschen. Was würde ein Grieche um Perikles darüber gedacht haben?

6 [307]

Für einen, der ein Musterbild erreichen will, besteht das Angenehme darin, Menschen zu sehen, die das ihre erreicht haben. Die unreinen unklaren hybriden Gebilde sind ihm peinlich! Das tritt dann an die Stelle von "guten" und "bösen" Menschen!

6 [308]

Die allgemeinen öffentlichen Musterbilder, nach denen bisher moralisches Lob und Tadel ertheilt wurde, machten einseitig und ließen eine Menge Eigenschaften unbelobt: man verlor die Anerkennung des Individuums und der schönen Proportion der Kräfte in ihm aus dem Auge. Es war barbarisch: aus jedem Material dasselbe Bild arbeiten wollen!

6 [309]

Die Vorstellung musterhafter Typen wäre ein Hauptverdienst der Künstler: den Sinn für das Einheitliche und Proportionirte zu entwickeln. Der Künstler wählt aus und lobt dadurch! Die Griechen waren groß in der Lust an Charakteristischem: Thukydides und Sophocles Blüthe des Geschmacks!

6 [310]

Kaum spricht man von den "nicht absoluten Wahrheiten", so begehren alle Schwärmer wieder Eintritt oder vielmehr: die gutmüthigen Seelen stellen sich an's Thor und glauben Allen aufmachen zu dürfen: als ob der Irrthum jetzt nicht mehr Irrthum sei! Was widerlegt ist, ist ausgeschlossen!!

6 [311]

Den Unterschied zwischen Juden und Römern drückt Tacitus so aus: "bei ihnen ist alles heilig, was bei uns unheilig ist, so wie gegentheils bei ihnen alles erlaubt ist, was bei uns verabscheut wird" Diese Paradoxie wurde von den Christen verbreitet, sie machten Propaganda, "sie sind sich unentwegbar treu und unterstützen sich in der Noth, so wie sie alle anderen Menschen als Feinde hassen."

6 [312]

die durch Verdruß und Sorge vergeudete Energie, bewußt geworden: das Kleinwerden dabei

6 [313]

die Frauen sehen in der Wissenschaft einen Vampyr bei einem Manne.

6 [314]

Den angenehmen Rausch geistiger Getränke, die Lust am Spiel sehe ich mit Geringschätzung an – aber die Griechen?

6 [315]

vor mir selber warnen

6 [316]

Schauer und Umwandlung beim Anblick einer schönen That: wie bei großen Felsen und plötzlich entzückenden Ausblicken auf eine blühende Vegetation.

6 [317]

Nicht die Handlung sondern unser Urtheil über die Handlung (sei es auch ein Irrthum) macht unser Gewissen, die private Geschichte unser selbst

6 [318]

Es ist beschränkt, die Pharisäer als Heuchler aufzufassen, sie leben immer in dem festen Zutrauen zu ihren Handlungen, sie sehen sie nicht tiefer und wahrhaftiger an und kennen durch Gewohnheit bei sich nur gute Motive: die anderen sehen sie nicht, ihr Auge ist dafür blind. – Gesetzt, man setzte ihnen ein neues Auge ein und machte sie mit sich unzufrieden: nun, so mehrte man den allgemeinen Jammer. Die Handlungen blieben dieselben in ihren Wirkungen für Andere, und somit wäre es eine überflüssige Menschenquälerei. Diese will das Christenthum.

6 [319]

Gesetzt, wir empfinden eine Handlung als gut, so spielt sich der ganze Vorgang ab. Was eine Handlung an sich ist, ob nützlich oder schädlich, hat damit nichts zu thun. Deshalb ist es so wichtig, daß die guten Handlungen wirklich ausführbar sind und häufig: sonst die moralische Hölle, und das Moralische als Fernblick auf die Heiligen – auch bewunderungswürdige Beleuchtungen und Färbungen hervorrufend!

6 [320]

Deine Moralität ist Sache deines Glücks. Dein gutes Gewissen ist Sache deines Glücks! Bei manchen Dingen überrascht und in die Öffentlichkeit gebracht, wärst du tief zerstört. Daß dein Charakter sich verbessert, ist Sache des Glücks! Die kleinen Schritte und die zahllosen kleinen Unzufriedenheiten sind am mächtigsten! |Nicht nur Mitleid thut noth, sondern wir müssen Weltbetrachtungen für die Bösen und Unglücklichen machen oder dulden! | An Stelle der Beichtiger müssen wir Philosophen stellen wie Sonnen für jede Art von Menschen, während bis jetzt die höchsten Exemplare am meisten für sich Moralen gemacht haben. |

6 [321]

Was andere von uns denken und wissen, kann plötzlich über uns herstürzen. Was wir von uns wissen (im Gedächtniß haben) ist nicht entscheidend!

6 [322]

Die welche an ihrem Leben und Charakter keine Freude haben, suchen sie vielleicht in ihrem Geiste : wie Sch<openhauer>. Aber wer vollständig ist, sollte doch auch an allen zusammen erst froh werden können! Und wie froh! Wir steigen alle zusammen unseren Berg und wollen nicht einzeln auf dem Gipfel ankommen! Mancher ersteigt ihn als Charakter aber sein Geist ist der Situation nicht angemessen (z. B. Bismarck).

6 [323]

Sein Erlebniß so streng und wahrhaftig ansehen, wie ein wissenschaftliches Experiment – da darf man nicht von Wundern und "Engeln um uns" und der Hand des Herrn fabeln: das erscheint einem unredlich.

6 [324]

Die That ist durch die Absolution nicht ausgelöscht. Die Vergangenheit ist nicht vergangen, unsere Thaten sind unser Sein und ebenso gehört das zukünftige Thun bereits zu uns. Das Gedächtniß entscheidet nichts.

6 [325]

"Narrenstreiche machen aus einer tiefen und leidenschaftlichen Träumerei" wie Stendhal sagt. Ist dies das "Werk des Genie's"?

6 [326]

"Die Alten haben nichts gethan, um zu schmücken, und das Schöne ist bei ihnen nur la saillie de l'utile."

6 [327]

Tiefe und Energie des Gefühls, nicht vergessen; Verzeihen ist ein Opfer (nicht ein lässiges gutmüthiges Fahrenlassen eines Gedankens, mit Lust daran daß man ihn nicht mehr zu tragen hat.) Italiänische Einfachheit, fast Kälte als Mantel dieser leidenschaftlichen Naturen.

6 [328]

In Frankreich möchte sich der esprit gern Genie geben. In Deutschland möchte das Genie sich gern esprit geben.

6 [329]

"der gespannte Stil"!

6 [330]

Novella d' Andrea lehrte in Bologna (14. Jhr.) Hinter einem Vorhange lehrend wegen ihrer Schönheit.

6 [331]

Das Schöne scheint uns zuletzt nur ein Zustand, den das allseitig Nützliche hervorbringt: ein tiefes Wohlergehen, welches aus allen Linien und Bewegungen unserer Handlungen Worte hervorbricht: eine Harmonie vieler Nützlichkeiten, die zum Klingen kommt.

6 [332]

Das Problem der Wahrhaftigkeit hat noch niemand erfaßt. Das, was gegen die Lüge gesagt wird, sind Naivetäten eines Schulmeisters, und zumal das Gebot "du sollst nicht lügen"!

6 [333]

Jeder ausblühende Gedanke treibt zuletzt seine Art Luxus hervor, es ist seine letzte Erscheinung. In Künsten wie in der Kunst des Verkehrs. Jede reife Cultur hat ihren Luxus. – Aber zeigt mir einen Erfinder einer Idee, der nicht Einfachheit und Dürftigkeit auch äußerlich, auch in Worten hatte. – der luxuriirende Gedanke schreibt sich auf jedes Gefäß, zeichnet sich in jede Gebärde hinein (z. B. Größe und Schlichtheit und Anmuth im alten Athen)

6 [334]

Den Deutschen fehlt es an esprit, weil sie keinen Überschuß von Geist besitzen: haben sie den ihren angewendet, so sind sie arm und sitzen da. Sie hassen ihn, und doch fühlen sie, daß ohne ihn die Geselligkeit eine langweilige Flegelei ist: – daher "Gemüth".

6 [335]

Das Effekt-machen-wollen ist eine deutsche Krankheit.

6 [336]

Ein Mann mit Geist erhebt sich in Deutschland zu hoch über seine Mitbürger und wird zum Narren; der Nebel umhüllt seinen Kopf. – Er entartet so leicht, weil nichts neben ihm ihn in Schranken hält, er schießt aus nach allen Seiten und ist von einer häßlichen Fruchtbarkeit.

6 [337]

Das Lächerliche ist in Deutschland nicht furchtbar für den, der Geist hat. Denn es ist nicht das Lachen der geistreichen Leute sondern der jungen Esel, welches hier den Begriff des Lächerlichen macht. – Diese Zucht fehlt.

6 [338]

Von einem Gedanken glühen, von ihm verbrannt werden – das ist französisch. Der Deutsche bewundert sich und stellt sich mit seiner Passion vor den Spiegel, und ruft andere hinzu.

6 [339]

Unsere Meinungen: die Haut, die wir uns umlegen, in der wir gesehen werden wollen, oder in der wir uns sehen wollen; das Äußerlichste, der Schuppenpanzer um die Gedanken eines

Menschen. So scheint es. Andererseits ist die Haut ein Erzeugniß wir wissen nicht welcher Kräfte und Triebe, eine Art Ablagerung, fortwährend sich stückweise lösend und neubildend. – Lautbilder und Sehbilder als Hieroglyphen für bestimmte Eindrücke und Gefühle sind das Material der Meinungen, Verfeinerungen des Ohr- und Gesichtssinnes und eine Relation zwischen beiden.

6 [340]

Unser Bewußtsein hinkt nach und beobachtet wenig auf einmal und während dem pausirt es für Anderes. Diese Unvollkommenheit ist wohl die Quelle, daß wir Dinge glauben und im Werden etwas Bleibendes annehmen: ebenso daß wir an ein Ich glauben. Liefe das Wissen so schnell wie die Entwicklung und so stätig, so würde an kein "Ich" gedacht.

6 [341]

Es ist eine Beschränktheit, aber so empfinde ich. Das Bedürfniß <nach> Luxus scheint mir immer auf eine tiefe innerliche Geistlosigkeit hinzudeuten: wie als ob jemand sich selber mit Koulissen umstellt, weil er nichts Volles Wirkliches ist, sondern nur etwas, das ein Ding vorstellen soll, vor ihm und vor Anderen. Ich meine, wer Geist habe, könne viel Schmerzen und Entbehrung aushalten und dabei noch glücklich sein, ja er müsse sich im Verhältniß zu einem, der Ehren und Luxus und Kameradschaft nöthig hat, schämen, weil er bei der Vertheilung der Güter zu gut weggekommen ist. Ich habe eine tiefe Verachtung gegen einen Banquier. Wer Luxus um sich hat, nun, mitunter muß er sich so stellen, daß er Anderer wegen hineinpaßt, aber dann soll er auch die Ansichten dieser Anderen haben und ertragen. Freisinnige kühne neue Ansichten halte ich für Schwindel oder eine widerliche Art Luxus, wenn sie nicht zur Armut und zur Niedrigkeit drängen. Mit einer Art von weißer Wäsche hat sich z. B. Las<s>alle für mich widerlegt. Leute mit solchen Bedürfnissen sollten fromm werden und als Magistratspersonen Ansehen erstreben, es giebt so viel Gutes zu erhalten und zu repräsentiren. Aber den Geist sollen sie nicht repräsentiren wollen! Wer geistig reich und unabhängig ist, ist so wie so auch der mächtigste Mensch, es ist, wenigstens für so humane Zeiten, schimpflich, wenn er noch mehr haben will: es sind die Unersättlichen. Einfachheit in Speise und Trank, Haß gegen geistige Getränke – es gehört zu ihm, wie die Getränke zu jenen gehören, welche sagen könnten "das Leben wäre völlig reizlos" usw. – Es drängt mich zu einer idealen Unabhängigkeit.- Ort Gesellschaft Gegend Bücher können nicht hoch genug gewählt werden, und anstatt sich zu akkommodiren und gemein zu werden muß man entbehren können, ohne Dulderfalten.

6 [342]

Auch im Intellektuellen z. B. in der Abschätzung von Meinungen führen wir nicht immer Gründe ins Feld, sondern sehr häufig einen intellektuellen Ekel, weil wir sehen, aus kleinen Anzeichen, wie stumpf und kurz und genügsam einer ist, oder wie weit das Selbstvertrauen des Unwissenden und des Neulings geht. D. h. wir beurtheilen die Methode des Erkennens als: schleimig verwest übelriechend Unrath ausgespieen, wiedergekäut, madenzerfressen, schaal, abgestanden, dumpf usw.

6 [343]

"Ich will dies": man unterscheidet "Gegenstand, Schätzung des Gegenstatds und Übung", aber im Grunde ist es nicht ein Gegenstand, den man will, sondern einen angenehmen Zustand von uns, der uns in irgend einer Verbindung mit dem Gegenstand vorgekommen ist: und die Schätzung des Gegenstands ist ein Versuch, die thatsächlich angenehme Empfindung zu erklären, dadurch daß wir das Angenehme als Folge einer Einsicht darstellen (z. B. Essen als Stillung des Hungers, als Erhaltung usw.): während die angenehme Empfindung meistens nicht die Folge der Einsicht in die Zweckmäßigkeit ist. " Ich will" heißt "ich mache etwas mir Angenehmes, soweit ich es machen kann" Uns schwebt ein Zustand von uns vor (z. B. als Schlagenden Essenden) dies Bild ahmen wir nach.

6 [344]

Gedächtniß hat Ursachen der Moralität – und wir haben es nicht in der Hand! NB.

6 [345]

Neugierde, etwas Nachtheiliges herauszufinden, ebenfalls in Bezug auf die Dinge möglich und schämenswerth. NB

6 [346]

Hauptvergnügen, Andere zu kränken – warum unmoralisch? Necken ist nur ein Grad. Hier ist die Unterscheidung von moralisch und unmoralisch nicht auch ein Gegensatz.

6 [347]

Aber muß denn Moralität, wenn sie nothwendig auf Freiheit ruht nach Kant, überhaupt existirt haben? Genügt nicht die Einbildung der Freiheit? Und wenn diese Einbildung nicht mehr möglich ist, ist dann es absolut nöthig, die Moralität aufrecht zu erhalten? Könnte sie nicht ihre Rolle gespielt haben? (gegen

6 [348]

Ich weiß, wie armselig ihr euch neben dem Schwunge dieses Idealism ausnehmt (der den Materialismus und die Skepsis auf seinen Rücken nimmt und gegen die Sonne trägt) aber ich gehe mit euch um und stelle mich euch gleich, mehr noch, ich mache mich schlecht.

6 [349]

Das Subjektgefühl wächst in dem Maaße, als wir mit dem Gedächtniß und der Phantasie die Welt der gleichen Dinge bauen. Wir dichten uns selber als Einheit in dieser selbstgeschaffenen Bilderwelt, das Bleibende in dem Wechsel. Aber es ist ein Irrthum: wir setzen Zeichen und Zeichen als gleich und Zustände als Zustände.

6 [350]

Nur was wir von Anderen denken und was wir von uns denken, bestimmt unser Verhalten, so weit es bewußt ist. Also die Vorstellung von Anderen und von uns: diese sind aber wieder das Resultat von dem, was die Anderen uns gelehrt und beigebracht haben. Die Interpretation unserer Zustände ist das Werk der Anderen uns angelehrt. Darin bleibt das Moralische hängen, es ist Schatten.

6 [351]

Ich sprach eine halbe Stunde eitel und war zuletzt etwas beschämt und müde – aber ich hatte mich erniedrigen wollen um Jemandem Gelegenheit zu geben von sich weniger erbärmlich zu denken, durch den Ausruf: ach die erbärmliche Welt! – denn er dachte von mir augenblicklich so; daß er sich nicht mehr vor mir schämte, es erleichterte ihn sichtlich.

6 [352]

das "doppelte Gelächter" (Epictet) wenn er eine erhabenere Position als er ertragen konnte einnimmt und wieder verläßt. Ach, auch dies wollen wir ertragen, ja wir wollen zum Schein zurückkehren und unseren Mitmenschen zu ihrem Leben Muth machen, dadurch daß wir ihnen Gelegenheit geben, doppelt über uns zu lachen. – Wir wollen unser Ziel auf Umwegen erreichen und, indem wir uns den Anderen nähern, sie täuschen, um ihretwillen. – Die geradlinigen Wege z. B. Christus Napoleon setzen Verachtung der Menschen voraus, wie weit auch die Liebe Ch<risti> zu den Menschen gieng (denn die gnädige Liebe Chr<isti> ist doch fern davon, ein Sünder sein zu wollen um der Sünder willen)

6 [353]

Eine Umgebung, vor der man sich gehen läßt, ist das Letzte, was man sich wünschen sollte, eine Art Krone für den Überwinder seiner selbst, der sich selber vollendet hat und Vollendung ausströmen möchte. Andere werden zu Scheusälern. Vorsicht in der Ehe. Der Mangel an Pathos und Form in der Familie, in der Freundschaft ist ein Grund der allgemeinen Erscheinung von Schlumperei und Gemeinheit (Eigenschaften des Gebahrens nicht nur sondern auch der modernen Charaktere) – man läßt sich gehen und läßt gehen.

6 [354]

Die eigentliche Unverschämtheit der Güte habe ich am besten bei Juden beobachtet. Man denke an die Anfänge des Christenthums.

6 [355]

Mit den Fürsten der Unterwelt selber habe ich Würfel gespielt.

6 [356]

Skepticismus! ja, aber ein Scepticismus der Experimente! nicht die Trägheit der Verzweiflung

6 [357]

Die Spannung zwischen dem immer reiner und ferner gedachten Gott und dem immer sündiger gedachten Menschen – einer der größten Kraftversuche der Menschheit. Die Liebe Gottes zum Sünder ist wundervoll. Warum haben die Griechen nicht eine solche Spannung von göttlicher Schönheit und menschlicher Häßlichkeit gehabt? Oder göttlicher Erkenntniß und Menschlicher Unwissenheit? Die vermittelnden Brücken zwischen zwei solchen Klüften wären Neuschöpfungen, die nicht da sind (Engel? Offenbarung? Gottessohn?)

6 [358]

Jeden Augenblick kann eine moralische Empfindung so stark werden, daß sie partielle Unfruchtbarkeit erzeugt z. B. der Trieb nach Wahrheit könnte die Kunst tödten und den geselligen feinen Verkehr, ebenso die Beredsamkeit. Die Keuschheit. Die Freigebigkeit. Der Fleiß. Die Reinlichkeit. (Puritaner gegen das Theater. Xenophon gegen die Agone. Plato

6 [359]

Gesetzt, unsere Cultur müßte die Frömmigkeit entbehren. Sie könnte sie aus sich nicht erzeugen. Eine gewisse letzte innere Entschlossenheit und Beschwichtigung wird fehlen. Mehr als je kriegerische und abenteurerische Geister! Die Dichter haben die Möglichkeiten des Lebens noch zu entdecken, der Sternkreis steht dafür offen, nicht ein Arkadien oder Campanerthal: ein unendlich kühneres Phantasiren an der Hand der Kenntnisse über Thierentwicklung ist möglich. Alle unsere Dichtung ist so kleinbürgerlich-erdenhaft, die große Möglichkeit höherer Menschen fehlt noch. Erst nach dem Tode der Religion kann die Erfindung im Göttlichen wieder luxuriiren.

6 [360]

Eins thut noth: die Isolation der begabten Menschen, ihre Selbsternährung, ihre Abstinenz von Ruf und Amt, die Geringschätzung aller aus großen Menschen-Haufen resultirenden Menschen und Vorgänge. Eine Großstadt-Emeute und -Zeitung ist durch und durch "Schauspiel", "unecht".

6 [361]

Unser System angenehmer und unangenehmer Empfindungen verzweigt und verfeinert sich, und unser Gedankenleben auch. Letzteres glaubt lange Zeit das Bewußtsein ganz zu sein und den Grund aller angenehmen und unangenehmen Dinge zu wissen. Naive Leute glauben es noch, daß wir wissen, warum wir wollen. Wir haben auch vor einer Handlung eigentlich nur Möglichkeiten vorzustellen, welche unsere Handlung erklären können, je nach dem Grade unserer Kenntniß von uns: aber was uns bewegt, das wissen wir auch durch die That selber noch nicht, ja nie! Wir interpretiren unsere Handlung vor und nach der That nach dem Kanon unserer Annahmen über menschliche Motive. Diese Interpretation kann das Rechte treffen, aber in der Interpretation selber liegt nichts, was die That wirklich bewegt oder thut. Sich einen Zweck setzen: d. h. einem Triebe ein Gedankenbild entgegenhalten, welches ihn denken soll. Dies ist vollständig nie der Fall! Das Gedankenbild besteht aus Worten, ist etwas höchst Ungenaues, es hat gar keine Hebel, um Bewegungen zu veranlassen – an sich. Nur durch Association, durch eine logisch unzugängliche und absurde Beziehung zwischen einem Gedanken und dem Mechanism eines Triebes (sie begegnen sich vielleicht in einem Bilde z. B. dem eines streng Befehlenden) kann ein Gedanke (z. B. beim Commandowort) eine Handlung "hervorbringen". Eigentlich ist es ein Nebeneinander. Es ist nichts von Ursache und Wirkung zwischen Zweckbegriff und Handlung, sondern dies ist die große Täuschung, als ob es so wäre!

6 [362]

Wir denken in Worten! Weiß man, was Worte sind, wie kann man glauben, daß Denken Bewegungen direkt hervorbringen kann! Es sind lauter kleine Irrthümer, aber unsere Triebe sind so nahe an dieser Region des Irrthums angelegt, und jedem Triebe entspricht eine Anzahl dieser bunten willkürlichen Dinge genannt "Worte", daß ein Wort oft ein Signal ist, keine Ursache, zur Bewegung (wie ein Hornton die Lokomotive stehen macht) Je strenger wir erkennen, je fester wir die Worte begrenzen, es sind Bilder auf dem Spiegel, ja Abbilder dieser Bilder! Der Übergang zur Erkenntniß von Ursache und Wirkung ist nie zu machen. Unser Erkennen ist Beschreiben, mehr oder weniger ungenau, das genaue Nacheinander und Nebeneinander, ein Gedächtniß zu einer Art von Bild (einer zeitlosen Einheit) scheinbar vereinigt: – – –

6 [363]

Da hinten im Holze, wo die Bäume noch nichts von der Stadt gehört haben, da fängt der Knabe an, über die Stadt hinweg zu denken.

6 [364]

Unendlichkeit! Schön ist's "in diesem Meer zu scheitern."

6 [365]

Alle Triebe ursprünglich relativ zweckmäßig in ihrer Wirkung ("gut" und "böse"). Moral ensteht a) wenn ein Trieb über andere dominirt z. B. Furcht vor einem Gewaltigen oder Trieb zum geselligen Leben. Da müssen schwächere Triebe gespürt, aber nicht befriedigt werden. Die Antworten auf das hier entstehende Warum? sind so roh und falsch wie möglich, aber sie sind Anfang moralischer Urtheile, einen Werthunterschied der Handlungen zwischen nöthig zulässig unzulässig festsetzend. Einen Trieb haben und vor seiner Befriedigung Abscheu empfinden ist das "sittliche" Phänomen. Oder z. B. die Liebe zu den Jungen zum Eigenthum, derentwegen man selber hungert, sich Gefahren aussetzt. Junge und Eigenthum sind etwas so Angenehmes: aber wenn man Gründe wollte, so genügte dies nicht zu sagen "sie sind angenehm" – die Vernunft der Moral ist das Bemühen, die Instinkte zu übersehen und uns den Schein zu geben als ob wir nach Zwecken handelten, also unser Bestes wollten. Thatsächlich ist das Angenehme meistens unser Bestes, aber dies Beste vermochte man nicht zu erfassen, dazu hatte man die Kenntnisse der Natur und des Menschen nicht. Man construirte ein Bestes nach seiner Annahme über Natur und Mensch. Dazu gehört z. B. das Heil der Seele. Oder die Ehre. Oder die Gebote eines Gottes. Der Mensch affektirt überall nach Zwecken zu handeln – diese große Komödie geht durch, er thut „verantwortlich". Aber zu den Motiven der Instinkte kommen die Zweckbegriffe hinzu und hinterdrein und treffen fast nie den bewegenden Punkt. Die menschliche Maschine würde fast stille stehen, falls sie einmal nur von den vermeintlichen Motiven geleitet werden sollte. Auch jetzt noch ist die Täuschung sehr groß.

6 [366]

Nicht die vergessenen Motive und die Gewöhnung an bestimmte Bewegungen ist das Wesentliche – wie ich früher annahm. Sondern die zwecklosen Triebe von Lust und Unlust, man will das Angenehme und nicht wegen des damit zu erlangenden Vortheils, sondern weil die Handlung selber angenehm ist. Der Zweck wird erreicht, aber nicht gewollt. Die Arten von lustvollen Bewegungen, welche dem Zweck der Erhaltung dienen, sind durch Selektion erhalten.

6 [367]

Wenn er mich sehr bäte oder ich erriethe, daß er meiner sehr bedürfte, ich würde, trotz allem besseren Wissen, auf seine Seite treten. Dies wäre meine Schwäche. Lieber uns im Stiche lassen und die, die unser bedürfen! Und wir sind vieler Verstellung fähig: und folglich auch vieler Umbildung und zweiter Ehrlichkeit.

6 [368]

Empfindet ihr nichts von der Noth, gegen einen Menschen Recht zu haben und es öffentlich zu bezeugen? Wird euch Kritik so leicht? Ist es nur, daß ihr euch aufstellt, nachdem jener sich aufstellte? Merkt ihr nicht, daß er euch sein Bestes geben wollte und daß ihr es annehmen solltet, selbst wenn es euch nicht werthvoll, ja schädlich schiene? Aber ihr thut, als solche die in der Nothwehr leben, ihr habt auch Recht. Mit Mühe haltet ihr euch aufrecht, und jener will euch etwas auflegen, das ihr nicht tragen könntet. Er sagt: ein Geschenk!, ihr sagt: eine Aufgabe

6 [369]

Das Leben von euch Beamten und Politikern hat etwas Rauschendes, ein Bad und Mühlenräder tönen um euch, sie machen mit ihrem Lärm euer Denken kraftlos: wie wollt ihr noch eurer Seele Melodien hören! Ihr werdet hohl und hart: und oberflächlich! Und eure "Pflicht" wird zum Schrecken für Andere und führt sie irre, es scheint ein edles Selbstopfern, aber es ist nur eine Selbstvergeßlichkeit; von dem Augenblick an, wo das bischen "Selbst" eben sichtbar werden wollte: mehr Nachlässigkeit als Opfer.

6 [370]

In Anbetracht, daß jagen die Hauptbeschäftigung war, viele Jahrtausende: so ist auch unser wissenschaftlicher Trieb nichts anderes. Wie Knaben immer auf der Jagd sind.

6 [371]

Wenn ich von Bosheiten Anderer gegen mich höre, so ist eine meiner nächsten Empfindungen eine Art Genugthuung: es scheint mir billig, daß Leute, mit denen ich so wenig übereinstimme, und gegen die ich so viel Recht auf meiner Seite habe, ihrerseits sich einen guten Tag machen. Auch glaube ich es nie an Handlungen und Gedanken fehlen zu lassen, welche diesen Anderen das Gefühl ihrer eigenen Überlegenheit und ein gutes Recht auf dies Gefühl geben. Denn so ist die Natur der Dinge: wir machen mit unseren Fehlern und Versehen viel Freude und vielleicht mehr.

6 [372]

Vor diesem Menschen und beim Denken an ihn fühlen wir Produktivität ebenso bei dieser Landschaft usw., nach dieser Nahrung.

6 [373]

Wenn wir einen Zweck verfolgen, so würden wir nie mit voller Energie die Mittel handhaben; aber unsere Instinkte geben uns die nöthige Blindheit. Alle Männer des Glaubens sind solche Instinktive, ihr Glaubensartikel ist nicht aus Gründen entstanden: sondern sie haben innerliche unberechenbare Freude an ihm. Die Neigung zu Gedanken wird vererbt und angezogen d. h. zu Gedankentrieben.

6 [374]

Der Mensch handelt immer nach der ihm verhältnißmäßig angenehmsten Vorstellung. Aber diese Rechnung ist oft sehr schwer, und die Übung im Unterscheiden der zahllosen Grade zu gering, namentlich da die Phantasie die Kraft haben müßte, zukünftige Freuden und Leiden als voll anzusetzen, gleich dem gegenwärtigen Genuß, der vielleicht schon in Aktivität ist.

6 [375]

Wenn ich über Motive bestimmter Personen rede, so ist es eine Ehrensache für mich. NB.

6 [376]

Ich will den Leuten keine neue große Last auflegen, sondern ihnen eine Last abnehmen NB

6 [377]

So wenig als möglich Staat! Ich bedarf des Staates nicht, ich hätte mir, ohne jenen herkömmlichen Zwang, eine bessere Erziehung gegeben, nämlich eine auf meinen Leib passende, und die Kraft gespart, welche im Sichlosringen vergeudet wurde. Sollten die Dinge um uns etwas unsicherer werden, um so besser! ich wünsche, daß wir etwas vorsichtig und kriegerisch leben. Die Kaufleute sind es, die uns diesen Ohne-Sorgenstuhl Staat so einladend machen möchten, sie beherrschen mit ihrer Philosophie jetzt alle Welt. Der "industrielle" Staat ist nicht meine Wahl, wie er die Wahl Spencer's ist. Ich selber will so viel als möglich Staat sein, ich habe so viele Aus- und Einnahmen, so viele Bedürfnisse, so viel mitzutheilen. Dabei arm und ohne Absicht auf Ehrenstellen, auch ohne Bewunderung für kriegerische Lorbeeren. Ich weiß, woran diese Staaten zu Grunde gehen werden, an dem Nonplusultra-Staat der Socialisten: dessen Gegner bin ich, und schon im jetzigen Staate hasse ich ihn. Ich will versuchen, auch im Gefängniß noch heiter und menschenwürdig zu leben. Die großen Jammerreden über menschliches Elend bewegen mich nicht, mitzujammern, sondern zu sagen: das fehlt euch, ihr versteht nicht als Person zu leben und habt der Entbehrung keinen Reichthum und keine Lust an der Herrschaft entgegenzustellen. Die Statistik beweist, daß die M<enschen> zunehmen im Gleichwerden d.h. daß –

6 [378]

Um den Menschen umzubilden: müssen wir einmal davon ausgehen, daß unsere Werthschätzung von guten und bösen Handlungen falsch und willkürlich ist, alles muß neu untersucht werden, Jahrhunderte lang, wie es zur Heilung des Körpers noth that, alle Theorien der Medizin gleichmäßig zu verwerfen! Die Instinkte auf diesem Gebiete sind zu entwurzeln, zunächst ist Achtung für den zu pflanzen, welcher hier auf Versuch lebt – es ist die wichtigste Gattung von Menschen, wie für den Arzt das Versuchsthier die wichtigste Gattung von Thier ist.

6 [379]

1) Es ist so schwer den Menschen wehe zu thun! O daß es nöthig ist! Was nützt es mir, mich zu verbergen, wenn ich nicht für mich behalten will, was den Menschen Ärgerniß giebt?

6 [380]

An unseren größten Qualen und Sorgen andere theilnehmen lassen, die dieselben nicht haben, sondern nur leiden machen – ist das nicht grausam? Ist es nicht aus jenem Gefühle entsprungen, welches bei allem Schlimmen was uns trifft, etwas leidend sehen will, eine feine Emanation der Rache? Und ist also nicht die Ehe und die Freundschaft voller Gefahr, weil sie solche Grausamkeit der Übertragung von Leid fördert? Es ist schwer, ein Leid nicht mitzutheilen – also sollten wir uns die Gelegenheit dazu nehmen und in der Einsamkeit leben.

6 [381]

Ich finde Schopenhauer etwas oberflächlich in seelischen Dingen, er hat sich wenig gefreut und wenig gelitten; ein Denker sollte sich hüten, hart zu werden : woher soll er dann sein Material bekommen? Seine Leidenschaft für die Erkenntniß war nicht groß genug, um ihrethalben leiden zu wollen: er verschanzte sich. Auch sein Stolz war größer als der Durst nach Erkenntniß, er fürchtete für seinen Ruf, im Widerrufen.

6 [382]

Bisher gab es Verherrlicher des Menschen und Verunglimpfer desselben, beide aber vom moral<ischen> Standpunkte aus. La Rochefoucauld und die Christen fanden den Anblick des Menschen häßlich: dies ist aber ein moralisches Urtheil und ein anderes kannte man nicht! Wir rechnen ihn zur Natur, die weder böse noch gut ist und finden ihn dort nicht immer häßlich, wo ihn jene verabscheuten, und da nicht immer schön, wo ihn jene verherrlichten. Was ist hier schön und häßlich? Das Complicirt-Zweckmäßige, was den Verstand irrt und überlistet, das Taschenspielerhafte daran; dann die Ausdrucksfähigkeit und die Macht des Ausdrucks selber: der große Bogen seiner Pläne und Ideale. Seine Geschichte . Seine Art sich zu berauschen. Es ist ein Studium ohne Ende, dieses Thier! Es ist kein Schmutzfleck in der Natur, das haben wir erst hinein gelegt. Wir haben diesen "Schmutz" zu oberflächlich behandelt. Es gehören Niederländer-Augen dazu, auch hier die Schönheit zu entdecken.

6 [383]

Antike Merkmale: die Freundschaft, die Orakel, die Sklaven, otium, keine Sündengötter und keine gesellschaftliche Scham. Thukydides ist mir der Typus, der mir am nächsten steht: er hat die Freude an den Typen, findet, daß zu jedem Typus ein Quantum von guter Vernunft gehört, und sucht dies zu entdecken: das ist seine praktische Gerechtigkeit.

6 [384]

Auch wenn ich mir Wort für Wort überlege, was ich sagen will und es nachher mit vollem Bewußtsein thue, so ist doch das Gesprochene hundertfältig reicher und anders (z. B. im Tone, in den Pausen, in den begleitenden Gebärden), und das Überlegte daran ist ein kleiner Theil davon. Was ist denn nun das Unüberlegte davon, das Improvisirte?

6 [385]

Großer Unterschied: einem Anderen gefallen wollen, um jenes willen oder um unsertwegen. Etwas um seinetwillen lieben – warum moralisch?

6 [386]

Der Selbstmord als Maßstab der Cultur: deutsch. Der Verbrauch der Seife: englisch.

6 [387]

Manche mögen sagen und schreiben, was sie wollen – es ist immer etwas darin von guter Musik. Und bei anderen etwas von schlechter. Bei den Meisten fehlt alle Musik.

6 [388]

Die feinsten Farben in Litteratur und Musik sind nur beruhigten Menschen sichtbar und voller Lust – was wollen sie in unserer Zeit!

6 [389]

Das Widerwärtige wird jetzt sehr genau gemalt – warum? – Dahin gehört auch der Pessimismus. Nicht Entartung der Sitten, sondern Überbeschäftigung ist der Grund.

6 [390]

Man leidet an der Schande, nicht am Verbrechen. Wenige sind so fein, hierzu unterscheiden.

6 [391]

Das Bedürfniß zu beten, auch das des Bußredens, Lobpreisens, Segnens, Fluchens, alle religiösen Gewohnheiten brechen heraus, sobald ein Mensch pathetisch wird: zum Beweis, daß pathetisch werden heißt eine Stufe zurück treten. Wann sind wir davon am entferntesten? Wenn wir spielen, Geist zeigen, und austauschen, freudig-heiter sind und schalkhaft dabei, im Scherz über alles Emphatische in Wort, Ton, Trieb – vielleicht erreichen wir hier einen Vorsprung über unsere Zeit. Der heroische Mensch, der vom Kampf und den Strapatzen und dem Hasse ausruht und sich des Pathos schämt – und dort der Priester!

6 [392]

Der moralische Fanatism der antiken Philosophen hat dem Christenthum vorgearbeitet, es ist viel zu viel Werth auf das Heil der Seele gelegt worden. Wir sind tief unmoralisch im Verhältniß zum Alterthum, und das ist unser Vorzug. Und tief unreligiös gegen das Christenthum.

6 [393]

Die Naturen, welche überhaupt nicht über sich denken, namentlich aber gewisse Dinge an sich nicht ins Auge fassen mögen (Frauen z. B. schon die Thätigkeit des Magens nicht, geschweige den Geschlechtstrieb) – diese deuten sich alle Phänomene anders und wollen den einfachen Grund nicht sehen und nicht zugeben. So erlangt ihre Passion etwas Träumerisches und für sie selber Mystisches, sie unterliegen ihr viel eher und heftiger, weil sie idealistisch von sich denken. Was wissen unvermählte Frauen von dem abartenden Geschlechtstrieb, in ihrer Leidenschaft für die Kunst und gewisse Richtungen derselben, oder im Mitleid oder in der Art von blinder Hingebung an einen Gedanken!

6 [394]

Die Liebe Gottes zum Menschen ist die Ausschweifung des Gedankens von ungeschlechtlich lebenden Menschen, dem Alterthum konnte so etwas nicht einfallen.

6 [395]

Die vollkommene Zufriedenheit (Epiktets, und Christus ebenso!) mit allem, was geschieht – denn alles kann er benutzen. Der Weise benutzt es als Werkzeug, nur für die Unweisen giebt es Übel. Die Consequenz wäre freilich, daß die Welt dem Weisen keine Milderung des Übels, keine Beseitig<ung> verdankt. Er begreift das Übel als Übel nicht – das die Folgen der Lehre vom freien Willen! von der absol<uten> Seele!

6 [396]

Das Alterthum schließt mit einem moralischen und religiösen Quietismus – das müde Alterthum und das Individuum allmächtig und einzig sich wichtig haltend, es legt die Ereignisse aller Welt zu seinem Heil aus, alles was geschieht, hat für es Sinn. Es ist die Astrologie, auf Staaten, Naturereignisse, Umgang und den Ziegel auf dem Dach bezogen: alles hat nur für das Individuum einen Sinn, den dies finden kann, davon abgesehen ist es der Aufmerksam<keit> des Weisen unwürdig. Die moralisch-religiöse Benutzung und Ausdeutung des Geschehens – alles andere wurde gleichgültig und verächtlich. Der wissenschaftliche Sinn unterlag

6 [397]

Erhebt euch und geht, Freunde, schon viel zu lange habt ihr mich reden lassen. Der Wind wird kühler und lebhafter, das Gras auch – diese stille Höhe zittert, und es geht gen Abend. Geht und thut sofort, ich bitte euch, wenn ihr in das Thal kommt, eine kleine Thorheit, damit alle Welt sehe, wessen ihr hier von mir belehrt seid.

6 [398]

Man wird von seinen Meinungen über die Leidenschaften mehr gequält als von den Leidenschaften selber. – Wo die Menschen nicht den Zweck eines Triebes als nothwendig zur Erhaltung mit Händen greifen, wie beim Koth- und Urinlassen, Nahrungnehmen usw., da glauben sie ihn als überflüssig beseitigen zu können z. B. den Trieb zu neiden, zu hassen, zu fürchten. Und das Nicht-loswerden-können betrachten sie als ein Unrecht, mindestens Unglück: während man so bei Hunger und Durst nicht denkt. Er soll uns nicht beherrschen, aber wir wollen ihn als nothwendig begreifen und seine Kraft zu unserem Nutzen beherrschen. Dazu ist nöthig, daß wir ihn nicht in seiner ganzen vollen Kraft erhalten, wie einen Bach, der Mühlen treiben soll. Wer ihn nicht ganz kennt, über den fällt er her, wie nach den Winterzeiten ein Gebirgsbach zerstörend herunterkommt.

6 [399]

Wir können unseren Leidenschaften ein höheres Leben geben, wenn wir ihre direkten Entladungen verhindern. Aber mitunter ist es ekelhaft z. B. beim Geschlechtstrieb.

6 [400]

Die Thatsache war, daß im griechisch-römischen Alterthum der Mensch an seinen Leidenschaften wie an seinen unrechten Handlungen nicht intensiv genug litt, es war zumeist das Leiden von der Art, wie man sagt "wie dumm war ich, dies zu thun!" Etwas dem Sündengefühle Ähnliches konnte nur bei Philosophen entstehen, auf Grund von der reinen göttlichen Seele und deren Verunreinigungen: nicht nur eine Dummheit und ein wirklicher Nachtheil, sondern ein Gefühl der Erniedrigung und Beschmutzung, eine Beleidigung einer erhabenen Vorstellung von uns. Seine Meinung über die Leidenschaften und das Böse verstörte den Philosophen, nicht so sehr die üblen Folgen. Aber alles ging auf Einem Gleise vorwärts in dieser Richtung, das Christenthum brachte den stärksten Ausdruck, indem es die wirklichen Folgen ganz außer Acht ließ und beinahe als indifferent behandelte. Also die Wirkung des Handelns selber für das Organ des Handelns. Das Ideal Epiktets: sich selber wie einen Feind und Nachsteller immer im Auge haben: der kriegerische Einsiedler, der ein kostbares Gut zu vertheidigen und vor Verderbniß zu wahren hat, nachdem er es errungen hat. Nicht auf die Menschen giebt er Acht, er glaubt sie zu kennen, er hat von dem Interesse des Individuellen keine Ahnung: sie sind die Schatten, das Wahre in ihnen sind ihre Gedanken und Triebe, welche er philosophisch rubrizirt hat. In dieser Geisterwelt lebt er und kämpft seinen Kampf. Er hat nur Freude als Krieger. Ebenso hat das Christenthum keinen Genuß am Menschen. Wir aber rechnen ihn wieder zur Natur und genießen die Natur: wir sind nicht nur gerecht gegen alle Natur, wir finden sie reich, erstaunlich, unerkannt, forschungswürdig. Der Roman und die psychologische Beobachtung aus Lust am Menschen ist unser! Wir verzeihen uns viel mehr, wir verachten uns viel weniger, wir wünschen vieles nicht weg, wenn wir gleich gelegentlich daran leiden. Wir mögen die entsetzliche Simplifikation des tugendhaften Menschen nicht: so wenig wir nur fruchtbare Felder wollen.

6 [401]

Wir können nur die Charaktere begreifen, die wir aus uns bilden können, und nur soviel von ihnen. Wie unser Auge nur sehen kann, wozu es sich geübt hat.

6 [402]

Ich sehe einen Baum und halte es für ein Kind. Ich sehe Gesichtszüge ganz deutlich im Gespräch, aber ich imaginire sie in dieser Schärfe.

6 [403]

Eine Trivialität, die diesem Jahrhundert eigen ist: Gott ist nicht damit zu beweisen, daß einer die Guten belohnen, die Bösen bestrafen muß. Daran, daß dies nöthig sei, glaubt niemand (wie noch Kant) Über Gerechtigkeit denken wir anders.

6 [404]

seinen guten Glauben heirathen

6 [405]

Wer sein höheres Selbst nicht angehört hat, sondern der Gesellschaft dient oder einem Amte oder seiner Familie, der spricht immer von "Pflichterfüllung" – damit sucht er sich zu beschwichtigen. Namentlich aber fordert er von den Anderen den Gehorsam gegen die bestehende Ordnung: er rechtfertigt sich, indem er Gewalt vermöge seiner Handlungsart ausübt.

6 [406]

Der neue Gedanke entzückt mich, ich verlerne immer mehr zu empfinden, daß er von mir oder einem anderen ist. Wie albern hierin eifersüchtig zu sein! Und doch welche furchtbare Geschichte für die Verdunkelung des Wahren hat diese Eifersucht!

6 [407]

Die Menschen mit der Maske, die sogenannten Charaktere, die sich nicht schämen, ihre Maske zu zeigen.

6 [408]

2) Durch nachgiebiges Wohlwollen vor sich wieder gut machen, daß man ein großes anmaaßliches Ziel verfolgt: und eitel mit den Eiteln, verliebt mit den Verliebten, häuslich mit den Häuslichen und schwärmerisch mit den Schwärmern sein. An den Einzelnen es sühnen, was wir an Allen sündigen, durch Abweichen, Wehe thun usw. Ja es gern sehen, wenn die Menschen an uns ihre Rache nehmen – es ist billig bei einem solchen übermüthigen Grade von Abweichung.

6 [409]

Ehemals bewies man die Unfreiheit des Willens durch den Hinweis auf die Wahrsager. Dies hat die Lehre in Mißkredit gebracht, als die W<ahrsager> in M<ißkredit> kamen.

6 [410]

Wir verstehen von einem uns fremdartigen Wesen eben nur die Eindrücke, die seine Form auf uns hinterläßt: also wir erleben eine Formveränderung an uns und dieses Negativum verstehen wir als Positiv: wir nennen z. B. den, welcher uns schädlich ist, böse.

6 [411]

Wie grausam wir unsere paar Tugenden den anderen Menschen anrechnen und sie auf diesem Punkte zwicken und plagen! Ich will's auch mit dem Sinn für Wahrheit menschlich treiben NB. Sobald wir es mit ihm übertreiben und ihn wie im Treibhaus schnell wachsen lassen, so verdirbt uns das Leben, und die Menschen werden uns ekelhaft, ja wir uns selber!

6 [412]

Ursache und Wirkung sind für uns unbegreiflich, weil beide nur als negative Abbilder uns bewußt werden und zwischen denen giebt es nur Succession. Aus solchen Successionen besteht der "Körper" "das Ding". Wir nehmen keine Bewegung wahr, sondern mehrere gleiche Dinge in einer gedachten Linie, wir nehmen auch keine Zeitdauer linie wahr, sondern unsere Empfindung hat bewußte Momente (getrennt von einander) und diese fügen wir aneinander, legen sie an sich und bauen so einen bestehenden dauernden Körper aus einzelnen Empfindungen. Aber wie das gleiche Ding in der Bewegung eine Illusion ist, also die Bewegung, welche wir construiren, jedenfalls etwas anderes ist als die "Wirklichkeit" so ist auch dies Gebilde aus mehreren negativen Eindrücken auf uns construirt und zurechtphantasirt, jedenfalls etwas anderes als die Wirklichkeit. Es kann nicht vollständig sein, denn es besteht nur aus Relationen zu uns, und das an uns, wozu es keine Relationen haben kann, verhindert einen vollen Abdruck Selbst als Abbild ist es nicht vollständig. Sodann hat es zur Voraussetzung, daß das Ding in diesem Augenblick, wo es einen Eindruck auf uns macht, dasselbe Ding ist, welches in einem anderen Augenblick (im "nächsten" – sagen wir, und täuschen uns) wieder einen neuen Eindruck d. h. eine zweite Relation auf uns macht. Ein Baum der lang, dann rund, dann grün usw. erscheint.

6 [413]

Der Raum von drei Dimensionen gehört in die Vorstellung, ebenso wie die Bewegung, die dritte Dimension "vollendet sich nur in der Zeit". Wir verbinden Flächen zu einer Einheit, die uns nach einander sichtbar werden. Wir selber als erkennende Wesen sind eine immer neue rotirende Kraft und bringen so ein Nacheinander hervor, auch bei festen Objekten.

Wir sind die Bewegten, welche sich um die Dinge bewegen: wir stehen nicht still, das Umgekehrte ist wahr von dem, was der Augenschein ist.

6 [414]

"Seien wir nur natürlich! Die Natur ist böse – um so mehr macht sie Effekt" – so denken die Großen, die alle unverschämt sind!

6 [415]

Wie schwach ist die Verantwortlichkeit bei indirekten oder entfernten Wirkungen! Dagegen fällt die nahe Wirkung furchtbar über uns her, und was um uns geschieht, das macht uns ein Gefühl des Schuldtragens, auch wenn wir nichts dazu können. Optik!

6 [416]

Sobald wir die Gerechtigkeit zu weit treiben und den Felsen unserer Individ<ualität> zerbröckeln, unsern festen ungerechten Ausgangspunkt ganz aufgeben, so geben wir die Möglichkeit der Erkenntniß auf: es fehlt dann das Ding, wozu alles Relation hat (, auch gerechte Relation) Es sei denn, daß wir alles nach einem anderen Individ<uum> messen, und die Ungerechtigkeit auf diese Weise erneuern – auch wird sie größer sein (aber die Empfindung vielleicht reiner, weil wir sympathisch geworden sind und im Vergessen von uns schon freier)

6 [417]

sie verstecken sich ins Innere und ihr Äußeres wird maskenhaft und wie gelähmt. Ah der Blick – ganz Oberfläche, kalt.

6 [418]

Wir erkennen nur die negative Seite aller wirkenden Dinge, gleichsam wie den Abdruck und Eindruck derselben auf uns: nicht das Wesen dieser Dinge, sondern unsere Natur allein in einer bestimmten Hemmung und Begrenzung.

6 [419]

Ein anderer Mensch wird von uns nicht anders verstanden als durch die Hemmung und Beschränkung, die er auf uns ausübt d. h. als Abdruck in das Wachs unseres Wesens. Wir erkennen immer nur uns selber, in einer bestimmten Möglichkeit der Veränderung; manche Menschen wirken nicht auf uns, weil hier unser Wachs zu hart ist oder zu weich. Und zuletzt erkennen wir die Möglichkeiten unserer Strukturverschiebung, nichts mehr.

Ebenso steht der "Mensch an sich" zu allen eterogenen Dingen: sie drücken ihre Form an ihm ab, so weit er sie annehmen kann, und er weiß nichts von ihnen, als durch die Veränderung seiner Form.

6 [420]

Die Zeitdauerempfindung wie die Raumempfindung des Menschen ist gewiß von der jedes Thiers verschieden, ja hierin wird jeder Mensch von jedem Menschen verschieden sein. Eine Stunde ist nie gleich einer anderen Stunde in einem anderen Kopfe: ja auch nie für uns selber wieder. Aber auch die Durchschnittsempfindung einer Stunde ist für jeden Menschen anders! und für alle Menschen zusammen anders als für eine Ameise.

6 [421]

Der gute Gedanke ist nur eine Ausnahme, die meisten originellen Gedanken sind Narrheiten. Die gewohnten Gedanken sind deshalb so hoch geachtet, ja zur Pflicht gemacht, weil sie eine Art Bewährung haben, mit ihnen ist der Mensch nicht zu Grunde gegangen. Dies "nicht zu Grunde gehen" gilt als der Beweis für die Wahrheit eines Gedankens. Wahr heißt " für die Existenz des Menschen zweckmäßig". Da wir aber die Existenzbedingungen des Menschen sehr ungenau kennen, so ist, streng genommen, auch die Entscheidung über wahr und unwahr nur auf den Erfolg zu gründen. Woran ich zu Grunde gehe, das ist für mich nicht wahr d. h. es ist eine falsche Relation meines Wesens zu anderen Dingen. Denn es giebt nur individuelle Wahrheiten – eine absolute Relation ist Unsinn. Die Art zu denken, die Anspannung und Häufigkeit, die Gegenstände, das Nichtsehenkönnen, Nichtfühlen vieler Dinge alles ist eigentlich eine Bedingung unserer Existenz. Jeder Fehler ist ihr schädlich. Meistens also machen wir Fehler, meistens sind wir fortwährend irgendwie krank durch unser Denker, wir können ja nur experimentiren, und das ganz individuell uns Nothwendige im Erkennen ist die Ausnahme.

6 [422]

Das Wahre an einem historischen Ereigniß: alles geht in Köpfen vor sich, die sich gegenseitig falsch und unvollständig sehen.

6 [423]

Niemals jemandes Sünden mittheilen! Aber unseren Verkehr abbrechen!

6 [424]

Was an uns bemerkbar ist, das wächst oder verwelkt unter dem Einflusse des Lichtes das von den anderen Menschen auf uns strahlt: gleichsam als ob die Augen der Menschen für uns nothwendige Wärme- und Lichtquellen wären. Als bemerkbar und bemerkt, regulirt sich das Wachsthum nach den Anderen z. B. unsere Haltung Miene. – Dann was wir bemerken, aber andere nicht wissen können! – und endlich das, was auch wir nicht bemerken! Die Grenzen sind verschieden, vieles ist mir im Licht, was anderen im Dunkel ist und entwickelt sich folglich anders, z. B. Religiosität, Sinn für Wahrheit, Sympathie, Laster.

6 [425]

Während einer Sonnenfinsterniß fallen die Tagthiere rasch in Schlaf.

6 [426]

Die Nachtthiere werden erst beim Eintreten der Dunkelheit munter. Sie, haben so gut entwickelte Augen wie die Tagthiere. Warum fliegen sie nur in der Nacht herum? Die Thiere hängen vom Lichte ab durch Vermittlung der Augen.

6 [427]

"Es war Mode, daß die jungen Frauen, wenn sie Voltaire begegnen, erbleichen, sich aufregen, gerührt und selbst unwohl werden, sich ihm in die Arme werfen, stammeln, weinen, kurz in einen Zustand gerathen, der der leidenschaftlichsten Liebe ähnelt." Huldigen!

6 [428]

Die Aneignung der Vergangenheit – wie viel Sympathie, Leidenschaft, Selbstvergessen, ja Selbstverachtung ist nöthig, um die Seele der Vergangenheit wieder entstehen zu lassen! Es ist ein Anfang, es ist eine Schwärmerei dabei, viel Trotz und Fanatism. Voran die Deutschen – worauf weist es! – Zu vergleichen die Reformation Luthers (ebenfalls Historie!): Widerwille gegen die Vernunft, die Helligkeit, das Pietätlose, Traditionslose, gegen den Mangel an festem Halt.

Aber die Historie, aus dem genannten Motiv betrieben, bringt eine ungewollte Wirkung! Die Vergangenheit bewies nicht, was man suchte!

6 [429]

Alle die Relationen, welche uns so wichtig sind, sind die der Figuren auf dem Spiegel, nicht die wahren. Die Abstände sind die optischen auf dem Spiegel, nicht die wahren. "Es giebt keine Welt wenn es keinen Spiegel giebt" ist Unsinn. Aber alle unsere Relationen, mögen sie noch so exakt sein, sind Beschreibungen des Menschen, nicht der Welt: es sind die Gesetze dieser höchsten Optik, von der uns keine Möglichkeit weiter führt. Es ist nicht Schein, nicht Täuschung, sondern eine Chiffreschrift, in der eine unbekannte Sache sich ausdrückt, – für uns ganz deutlich, für uns gemacht, unsere menschliche Stellung zu den Dingen. Damit sind uns die Dinge verborgen.

6 [430]

Die Fliege die nicht durch das Glas kann

6 [431]

Wir sehen den Spiegel nicht anders als die darauf sich spiegelnde Welt.

6 [432]

Der Mensch verhüllt uns die Dinge.

6 [433]

Auf diesem Spiegel geht es regelmäßig zu, ein Ding folgt immer wieder auf das andere – wir nennen's Ursache und Wirkung, aber begreifen können wir nichts, weil wir die Bilder der Ursache und der Wirkung allein sehen.

Wir reden, als ob es seiende Dinge gebe, und unsere Wissenschaft redet nur von solchen Dingen. Aber ein seiendes Ding giebt es nur nach der menschlichen Optik: von ihr können wir nicht los. Etwas Werdendes, eine Bewegung an sich ist uns vollen<d>s unbegreiflich. Wir bewegen nur seiende Dinge – daraus besteht unser Weltbild auf dem Spiegel. Denken wir uns die Dinge fort, so auch die Bewegung. Eine bewegte Kraft ist Unsinn – für uns.

Versuchen wir den Spiegel an sich zu betrachten, so entdecken wir nichts als Dinge. Wollen wir die Dinge fassen, so kommen wir zuletzt wieder auf nichts als den Spiegel.

Unser Denken ist wirklich nichts als ein sehr verfeinertes zusammengeflochtenes Spiel des Sehens Hörens Fühlens, die logischen Formen sind physiologische Gesetze der Sinneswahrnehmungen. Unsere Sinne sind entwickelte Empfindungscentra mit starken Resonanzen und Spiegeln.

6 [434]

Wenn wir beachten, zu welchen Irrungen uns die Sinne am liebsten verführen, können wir errathen, welcher Art ihre Grundirrthümer sein werden (z. B. der Glaube an Körper

6 [435]

Ein Spiegel, auf dem die Dinge nicht als Flächen sondern als Körper sich zeigen.

6 [436]

Der Enthusiasmus nimmt sich bei denen ganz anders aus, welche sich vergessen müssen, um glücklich zu sein – Selbstentäußerung. Die Übung des Bewußtseins ist bei ihnen dem Glücksgefühl entgegengesetzt und sie nehmen an, daß der Verstand und die Gluth der Empfindung sich ausschließen. Mit scharfen Adlersaugen sich aufschwingen – das können sie nicht, sie wollen Blindheit, Überwältigtsein!

6 [437]

Wir wähnen, allmählich stelle sich die Wahrheit fest – aber nur der Mensch in seiner Relation zu anderen Kräften stellt sich fest. Er bildet sich die Fülle der Relationen aus: d. h. die Fülle von Beschränktheiten und Irrthümern. Es sind keine absoluten Irrthümer, sondern von der Art der optischen. Wir fördern die Wissenschaft? nein, den Menschen! er wird fester dauerhafter dadurch.

6 [438]

Wäre nach irgend einem Moralsystem streng gelebt worden, so wäre die Menschheit zu Grunde gegangen. Ebenso am Christenthum. Wir leben auch durch die Unmoralität.

6 [439]

Wir thun nicht mehr mit der Erkenntniß als die Spinne mit Netz und Jagd und Aussaugen: wir stellen unsere Bedürfnisse und deren Befriedigung fest, dazu gehören Sonne Sterne und Atome, es sind Umwege zu uns, ebenso die Ablehnung eines Gottes. Auf die Dauer leiden wir Schaden an jeder fehlerhaften Relation (Annahme einer Relation) Deshalb hat an sich unsere Erkenntniß keinen Werth: es sind lauter optische Gesetze (gleichnißweise) Der Mensch selber, in seinem Raum von 5 Fuß Länge, ist eine willkürliche Annahme, auf Schwäche der Sinnesorgane hin construirt.

6 [440]

Das Nachbilden (Phantasiren) wird uns leichter als das Wahrnehmen, Nur-percipiren: weshalb überall wo wir meinen, bloß wahrzunehmen (z. B. Bewegung) schon unsere Phantasie mithilft, ausdichtet und uns die Anstrengung der vielen Einzelwahrnehmungen erspart. Diese Thätigkeit wird gewöhnlich übersehen, wir sind nicht leidend bei den Einwirkungen anderer Dinge auf uns, sondern sofort stellen wir unsere Kraft dagegen. Die Dinge rühren unsere Saiten an, wir aber machen die Melodie daraus.

6 [441]

Unser Erkennen und Empfinden ist wie Ein Punkt im Systeme: wie Ein Auge, dessen Sehkraft und Sehfeld langsam wächst und mehr umfaßt. Damit ändert sich nichts in der wirklichen Welt, aber diese beständige Thätigkeit des Auges versetzt alles in eine beständige wachsende herzuströmende Thätigkeit

Wir sehen unsere Gesetze in die Welt hinein und wiederum können wir diese Gesetze nicht anders fassen als die Folge dieser Welt auf uns. Der Ausgangspunkt ist die Täuschung des Spiegels, wir sind lebendige Spiegelbilder.

Was ist also Erkenntniß? Ihre Voraussetzung ist eine irrthümliche Beschränkung, als ob es eine Maaßeinheit der Empfindung gebe; überall wo Spiegel und Tastorgane vorkommen, entsteht eine Sphäre. Denkt man sich diese Beschränktheit weg, so ist Erkenntniß auch weggedacht – ein Auffassen von "absoluten Relationen" ist Unsinn. Der Irrthum ist also die Basis der Erkenntniß, der Schein. Nur durch die Vergleichung vieler Scheine entsteht Wahrscheinlichkeit, also Grade des Scheins. – Ebenso ist die Sprache eine angebliche und geglaubte Basis von Wahrheiten: der Mensch und das Thier bauen zunächst eine neue Welt von Irrthümern auf und verfeinern diese Irrthümer immer mehr, so daß zahllose Widersprüche entdeckt werden und dadurch die Menge der möglichen Irrthümer verringert wird, oder der Irrthum weiter getrieben wird. "Wahrheit" giebt es eigentlich nur in den Dingen, die der Mensch erfindet z. B. Zahl. Er legt etwas hinein und findet es nachher wieder – das ist die Art menschlicher Wahrheit. Sodann sind die meisten Wahrheiten thatsächlich nur negative Wahrheiten "dies und das ist jenes nicht" (obschon meist positiv ausgedrückt.) Letzteres ist die Quelle alles Fortschrittes der Erkenntniß. Die Welt ist also für uns die Summe der Relationen zu einer beschränkten Sphäre irriger Grundannahmen. Die Gesetze der Optik sind sämtlich Irrthümer, ebenso die des Ohrs. Gesetzt, es giebt zahllose empfindende Punkte in dem Dasein: jeder hat eine Sphäre, wie weit und wie stark er Relationen wahrnimmt, d. h. eine Sphäre der Beschränktheit und des Irrthums. Ebenso hat jede Kraft ihre Sphäre, sie wirkt so weit und so stark und nur auf das und jenes, auf anderes nicht, eine Sphäre der Beschränktheit. Ein eigentliches Wissen um alle diese Sphären und Beschränktheiten ist ein unsinniger Gedanke, weil hier ein Empfinden ohne ein "wie weit" "wie stark" "auf dies und jenes" gedacht werden soll: und ebenso eine Kraft ohne Grenzen, und zugleich mit allen Grenzen, die alle Relationen schafft – das wäre eine Kraft ohne bestimmte Kraft, ein Unsinn. – Also die Beschränktheit der Kraft, und das immer weiter in Verhältniß Setzen dieser Kraft zu andern ist "Erkenntniß". Nicht Subjekt zu Objekt: sondern etwas Anderes. Eine optische Täuschung von Ringen um uns, die gar nicht existiren, ist die Voraussetzung. Erkenntniß, ist wesentlich Schein.

6 [442]

Unsere Handlungen sind, da wir Skeptiker sind, Experimente, Rechnungen mit einigen unbekannten Größen – also sehr interessant, weil es nicht alberne Äußerungen unserer Macht sind, die, wenn sie mißrathen, uns ärgern, sondern Versuche, irgend worüber einen Aufschluß zu erhalten, durch den Erfolg. Wir lassen uns weder durch unsere Handlungen noch durch unsere Erfolge tyrannisiren.

6 [443]

Bei dem nimmt sein wohlwollender Trieb zu, wenn sein Gefühl der Macht zunimmt: seine Freudigkeit und seine größere Verantwortung machen ihn ausspähend nach guten Handlungen.

6 [444]

Wir glauben Alle, in der Empfindung des Neides, Hasses usw. zu wissen, was Neid Haß usw. ist – ein Irrthum! ebenso im Denken: wir glauben zu wissen, was Denken ist. Aber wir erleben einige Symptome einer uns wesentlich unbekannten Krankheit und meinen, hierin eben bestehe die Krankheit. Alle moralischen Zustände bemessen und nennen wir nach dem, was wir dabei bewußt empfinden – und auch dies nicht fein, sondern ganz grob. – Nun haben wir gelernt, daß wir das Wollen nach Zwecken fundamental mißverstehen. Es ist also auch möglich, daß wir alle moralischen Affekte mißverstehen; daß wir die Symptome schon falsch auslegen, nämlich nach den Vorurtheilen der Gesellschaft, welche ihren Nutzen und Schaden im Auge hat.

6 [445]

Moralische Zustände sind physiologische Zustände – deutlich z. B. bei der Liebe. Fast alle wesentlich angenehm, wesentlich nöthig für den Organismus des Einzelnen.

6 [446]

Die Liebe, die auf Einen ablegt, was Vielen zukommt, ist trotzdem verherrlicht, als antiegoistische Macht: als was sie gröblich angesehen erscheint und weil sie wohlthun will. Indessen: sie entzieht allen übrigen Menschen und Dingen beinahe alles Interesse, und häuft dies auf Einen; ihre Folge ist also nicht-wohlthuend, im Ganzen betrachtet.

6 [447]

Die Musiker und Schriftsteller, die immer etwas vorstellen, was sie nicht sind, die Rhetoriker und Schauspieler

6 [448]

Diese Dinge kennt ihr als Gedanken, aber eure Gedanken sind nicht eure Erlebnisse, sondern das Nachklingen von denen Anderer: wie wenn euer Zimmer zittert, wenn ein Wagen vorüberfährt. Ich aber sitze im Wagen, und oft bin ich der Wagen selber.

6 [449]

Die Sünden-Betonung hat den egoistischen Gedanken an die persönlichen Folgen jeder Handlung hundertfach verschärft, und davon abgelenkt, die Folgen für Andere auszudenken. Das Unrecht gegen Gott – dadurch ist die Gedanken losigkeit über Handlungen und allgemeine Nachwirkung<en> derselben für <die> Menschheit groß geworden. Die Reue der Gewissensbiß! Der Christ denkt nicht an den Nächsten, er ist ungeheuer mit sich beschäftigt.

6 [450]

Wenn wir ein Buch nicht um des Anderen Willen zu lesen wissen, wie arm wird es sein! Wir müssen es empfinden wie der Autor – ist das moralisch? – Die ganze Küste mit Gebirge Meer und Oelbäumen und bezaubernden einsamen Pinien, alles müssen wir entdecken. Und so aus uns herausgehend können wir auch mit den Menschen umgehen, als ihre Bereiser und Entdecker, Gutes und Böses ihnen erweisen, damit sie die ihnen eigene Schönheit zeigen, sonnenhaft oder gewitterhaft.

Bleiben wir in uns hängen, woran sollten wir wachsen und reicher werden! Zur Nahrung haben wir die Lust am Fremden, eben an der Nahrung nöthig. Die Lust am Menschen ist unserer Nahrung wegen nöthig –

6 [451]

Die Freundschaft höher herauf heben. NB E<merson> 149

6 [452]

NB. Die brüderliche Empfindung mit den großen Geistern aufnehmen und die Rivalität ablehnen! Keine Isolation!

6 [453]

Das Herz wird zusammengeschnürt, wenn man ansieht, wie die Menschen sich ihrer Antipathie gegen etwas gar nicht schämen. Wer sich selber haßt, den haben wir zu fürchten, wir sind die Opfer seiner Rache. Wir müssen ihn zur Liebe zu sich verführen.

6 [454]

Der unverschämte Egoism der Liebe, das allein Besitzenwollen das allein Geschätzt-werden-wollen – es hätte nicht diesen Ruf, wenn es nicht so angenehm wäre!

6 [455]

Handlungen werden als sittlich erst dann empfunden, wo ihre Nützlichkeit nicht mehr eingesehen wird: also befohlene, vererbte, geheiligte Nützlichkeit. Wohl wird mit Strafe und Lohn gewinkt: aber nicht um der Strafe und des Lohnes willen werden sie gefordert, sondern weil eine Autorität sie fordert, aus unbekannten Gründen!

6 [456]

Es ist nicht wahr, daß gut und schlecht die Ansammlung von Erfahrung über zweckmäßig und unzweckmäßig ist. Alle bösen Triebe sind in eben so hohem Grade zweckmäßig und arterhaltend als die guten! NB gegen Spencer. Auch das, was der Gemeinschaft zweckmäßig ist, ist nicht der einzige Gesichtspunkt. Das wichtigste: blindes Gehorchen, wo befohlen wird, und Übergang der Furcht in Verehrung. Heiligung des Verehrten!

6 [457]

Zur Geschichte derRedlichkeit.

6 [458]

Vertraulichkeiten mit dem nächsten Freund und dem nächsten Feinde.

6 [459]

Die Leidenschaft der Redlichkeit.

6 [460]

Die Emigranten.

6 [461]

Passio nova

oder

Von der Leidenschaft der Redlichkeit.


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