Friedrich Wilhelm Nietzsche
Fragmente Anfang 1880 bis Sommer 1882, Band 3
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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[Frühjahr 1880]

[Dokument: Notizbuch]

2 [1]

Von der Knechtschaft des Geistes (wir übertragen die Vorgänge der politischen Tyrannis und Knechtschaft auf das Gebiet des Geistes

2 [2]

Der Weinende will daß mitgeweint werde, so übt er Herrschaft aus und freut sich.

2 [3]

Sittlich leben und sichs dabei sauer werden lassen mag gut sein, aber wenn daraus immer, wie es scheint, die Forderung entsteht, daß das Leben durchaus einen ethischen letzten Sinn haben müsse, so müßte man es sich verbitten, denn es wäre dann die Quelle der größten Unverschämtheit.

2 [4]

Viele machen eine Theorie des Handelns und reden stets davon, handeln aber nie darnach. Es ist ihre Huldigung und Abfindung vor der Moral (Engländer) So finden sich katholische Priester mit Gott ab, ihre Devotion ist um so größer, je gottloser ihr Leben ist. Dabei erst fühlen sie sich wohl. – Andere haben auch den Widerspruch, aber befinden sich schlecht dabei. Andere haben den – – –

2 [5]

Stark sinnliche Menschen gewinnen ihre intellektuelle Kraft erst bei der abnehmenden Ebbe ihrer Nerven: das giebt ihrer Produktion den schwermüthigen Charakter.

2 [6]

Die Liebe zum Nächsten ist die Liebe zu unserer Vorstellung vom Nächsten. Wir können nur uns selber lieben, weil wir uns kennen. Die Moral des Altruism ist unmöglich.

2[7]

Das Weibliche erscheint bei Bach religiös befangen und fast nonnenhaft, ich denke z. B. an manche verschleierte schamhafte Klagen, wie die einer Nonne (Bachs Präludien

2 [8]

wo wir nicht wissen, was allein wir eigentlich können, reden wir von „Willen". Die vollkommene Einsicht redet nur von Müssen.

Wir übersehen immer einige Kräfte die zu einer That nöthig sind.

Jede That (Willensakt) ist ein Experiment, ob unser Urtheil (im Willen) richtig war

2 [9]

Die meisten Philosophien sind erdacht, um Übelstände so für die Empfindung zu verändern, daß man sie ins Nothwendige der Welt verlegt – während die Verstimmung und der Übelstand fugitiv sind!

Philosophie gehört in den Kampf gegen den Schmerz, ist also bestimmt zu Grunde zu gehen!

2 [10]

Für einen einzigen Menschen wäre die Realität der Welt ohne Wahrscheinlichkeit. Aber für zwei Menschen wird sie wahrscheinlich. Der andere Mensch ist nämlich eine Einbildung von uns, ganz unser „Wille", ganz unsere „Vorstellung": und wir sind wieder dasselbe in ihm. Aber weil wir wissen daß er sich über uns täuschen muß und daß wir eine Realität sind trotz dem Phantom, das er von uns im Kopf trägt, schließen wir daß auch er eine Realität ist trotz unserer Einbildung über ihn: kurz daß es Realitäten außer uns giebt.

2 [11]

Die eingebildete Welt (wir lieben und hassen meist Einbildungen, nicht Realitäten, Menschen).

2 [12]

Schilderung der Ehe zum Zweck der Erkenntniß St. Mill (Comte)

2 [13]

Gesetz der Welt-Verdüsterungen

2 [14]

In der belebten Welt (von der Pflanze an) sucht sich so viel Individualismus als möglich zu entfalten. Er ist jetzt größer als je, im Ganzen.

2 [15]

Der Mangel an Selbstsucht ist es, woran die Menschheit leidet.

2 [16]

Nur die moralischen Menschen empfinden Gewissensbisse: das Elend des Unmoralischen ist eine Dichtung.

2 [17]

Achtung, Freude an den Verschiedenheiten der Indiv<iduen>! Freude am Fremdartigen der Nationen und Culturen ist ein Schritt dazu (das „Romantische" -)

Erst die Fabel-Menschheit, wie sie in den Köpfen spukt, ist gleichheitlich und bildet die wirklichen Menschen zur Gleichheit (jeden nach ihrem Bilde) Diese "Fabel" zu beseitigen!

2 [18]

Die bildenden Künste und der Roman sind auf dem rechten Wege!

2 [19]

es giebt viel mehr Moralität (latente) Mor<alische> M<enschen> im Affekt bejahen die Moralität der vorletzten Stufe, die effektvolle Moralität. Diese wird weit überschätzt

2 [20]

Unser Leben muß gefährlicher werden.

2 [21]

Wie kann sich der moderne Mensch den Vortheil der Absolution verschaffen, dem Gewissensbiß ein Ende machen? Ehemals hieß es: "Gott ist gnädig": es hilft nichts, die Menschen müssen es jetzt sein!

2 [22]

Trauer um die Todten – sie sind nicht unglücklich! also egoistisch

2 [23]

Je mehr Erkenntnisse und Vernunft ich habe, um so mehr nimmt der Glaube an die Freiheit ab, es steht uns nicht viel zu wählen offen

2 [24]

Mit Hülfe der Wissenschaft kann jeder Mensch seine Originalität fortschreiten lassen

2 [25]

Zügellosigkeit der Trauer wie der Liebe ist gemeiner Seelen Art.

2 [26]

2 [27]

Gang und Eintritt in die Cultur!

2 [28]

Ein Corse hält Betteln für unmoralisch, als Bandit leben nicht: Tödten der vendetta sogar moralisch. Stolz! als Maßstab.

2 [29]

100 tiefe Einsamkeiten bilden zusammen die Stadt Venedig – dies ihr Zauber. Ein Bild für die Menschen der Zukunft.

2 [30]

Die dramatische Musik ist ein Mittel zur Erregung oder Steigerung von Affekten: sie will nicht Freude an der Musik selber geben, wie die Musik für Kenner und Liebhaber (Kammermusik)

Weil sie von etwas überzeugen will, was außer ihr liegt, gehört sie in die Rhetorik.

2 [31]

Durch die Worte, die uns umschweben, kommen wir auf Gedanken.

2 [32]

Wer wird das lesen wollen! Gott weiß es nicht, ich auch nicht.

2 [33]

Südliche Musik. Haydn empfand bei der ital<ienischen> Oper, wohl das, was Chopin bei einer ital<ienischen> Barcarole! Beide machten Musik der Sehnsucht mit Verwendung der wirklichen ital<ienischen> Musik.

2 [34]

Warum erscheint es uns verächtlich, daß jemand sich öffentlich schmeicheln läßt, etwa ein alter Mann durch Jünglinge? Weil er der Scham ins Gesicht schlägt: die Scham will, daß eine so große Begierde wie die nach der Schmeichelei gar nicht oder nur im Verborgenen befriedigt werde: jene allzugroße Unsinnigkeit macht der allgemeinen menschlichen Vernunft Schande.

2 [35]

Vermöge des Wissens um das Leid kann man es verringern. Das eigentliche Mitleiden verdoppelt eben nur das Leid und ist vielleicht selbst Quelle des Unvermögens zu helfen (beim Arzte). – Weshalb hilft der Wissende aber? Weil ein Übel nicht verhindern, das man hindern kann, beinahe so schlimm ist als es thun.

2 [36]

Malerische Moralität"

Die Effekt-Moralität ist gewaltsam, ein Ausbruch, der so viel angehäufte Unmoralität (z. B. feiges Nachgeben gegen ungerechte Herrn usw.) zurückwerfen muß. Im Kleinen, aber beständig das Ungerechte hemmen ist weniger pathetisch für Andere und für uns selber. Ebenso die absolute Abstinenz effektvoller als die relative kleine

2 [37]

Eine diätetische Vorschrift gegeben, und wir handeln nicht darnach: unmoralisch (weil unvernünftig, weil sich selber schädlich). Aber "sich selber will man nicht schaden": es ist eine Illusion: der Selbstschaden

also weil wir nicht schaden wollen. – Wesh<alb> aber wollen wir nicht schaden? – Aus Gewohnheit jetzt – und aus Furcht ursprünglich.

2 [38]

Keiner weiß genau, was er thut, wenn er ein Kind zeugt; für den Weisesten ist es ein Lotteriespiel. Und der Mensch soll frei sein! der nicht einem Vernunft-Akte sein Dasein dankt!

2 [39]

Mitwissen um das Leiden –

Leidet man wirklich durch das Mitleid, so nimmt man sich ein Leid ab. Nur wenn man drum weiß, aber nicht leidet, kann man um des Nächsten willen handeln, wie der Arzt.

Solche welche drum wissen und sich freuen (die Götter der Kannibalen und Asketen)

2 [40]

Hoffentlich giebt es noch genug von solchen, welche wissen was ein olympisches Gelächter ist: es entsteht, wenn jemand erleichtert darüber ist, daß Andere nicht seinen Geschmack theilen.

2 [41]

Kein Blut sehen können – ist das moralisch?

2 [42]

sich dem Schmerz hingeben ist ein Vergnügen (Napoleon)

2 [43]

2 [44]

Das zweite Greisenalter, das Leben im Hades, auch mit der unwürdigen Gier nach Leben wie sie alte Leute haben.

2 [45]

Wie ist der entmenschte Mensch zu denken wenn der Mensch das entthierte Thier ist?

2 [46]

Menschen des labilen Gleichgewichts, deren gefährliche Kleinigkeiten im Sittlichen und Gesunden.

2 [47]

Moralität: wir legen unseren Handlungen einen imaginären Werth zu (abhängig vom Erfolge) die Empfindung des Nicht-mehr-Sklaven! auf alles drückt er, das Siegel der neuen Freiheit. Stärkstes Gefühl der Veränderung, wenn der Sklave thun kann, was er will

2 [48]

Ermüdungen unvermeidlich – also angenehm!

Warum Verstimmungen, peinlich, gefährlich?

2 [49]

Moralität, wenn nothwendig Verantwortlichkeit, dann nur die Handlungen, die aus klarstem Verstande hervorgegangen, die oberflächlichsten, deren Motive wir kennen können. "Warum habe ich dies gethan?" Bei den aus dem Gemüth kommenden ist Verantwortlichkeit unmöglich, weil wir die Motive nicht kennen. Insofern hieße moralisch handeln immer nur oberflächlich handeln, ohne Passion-Nachdruck? Verantwortlichkeit ist eine Großthuerei. Wo wir empfinden, sind wir unverantwortlich, also "unmoralisch"?

Der Glaube an die Freiheit genügt, zur Moralitit: die Illusion.

2 [50]

Es ist schwer, etwas zu thun, was denen, die wir am höchsten verehren, mißfällig ist, auch wenn wir nur ihre Schwächen verehren würden, falls wir uns der Handlung enthielten.

2 [51]

Pfui über alle Parteien! Sie fälschen die Freundschaft die reinste Ergebenheit, die stärkste Wahrheitsliebe – ihre fortwährende Thätigkeit ist Falschmünzerei. Der bedeutendste Mensch ist nicht weit vom Schurken und Verleumder, wenn er eine Partei machen will.

2 [52]

Der Altruism gilt nicht andren Individuen, sondern imaginären gleichen Wesen. Dem Individuum zu helfen ist unmöglich, weil man es nicht erkennen kann. Das Unerkennbare – das ist der Nächste.

2 [53]

Unter Ausländern kann man hören, daß die Juden noch nicht das Unangenehmste sind, was aus Deutschland zu ihnen komme.

2 [54]

Abnahme der Nerven und ihre Philosophie.

2 [55]

Mor<al> im Dienste physiologischer Funktionen.

2 [56]

Die "Möglichkeit einer äußeren Einwirkung, das Bedingt-werden-können" setzt gerade nicht „Freiheit" sondern „Bedingtheit" voraus.

Zwei unbedingte Dinge können nicht aufeinander wirken.

2 [57]

Das vollkommene Wissen hätte den Begriff "Freiheit" nicht entstehen lassen und so die moralische Abschätzung der Thaten verhindert. Wenn es keine unmoralischen Taten gäbe, so gäbe es keine Moral.

2 [58]

M<enschen> müssen ihrer täglichen Ärger haben.

2 [59]

Die Anmaßenden aus früheren Gewohnheiten, die es nicht mehr merken (und doch nicht den Stolzen gleichen, weil ihre Gebärden Accente usw. anders sind)

2 [60]

Manche wollen für anmaßend gelten, weil es immer noch besser ist als für einen armen gedrückten Teufel zu gelten.

2 [61]

Wir lernen Gewohnheiten und Meinungen der Anderen, nicht Individuen kennen. So setzen wir uns im späteren Leben auch nicht mit Individuen auseinander d. h. wir behandeln uns selber nicht wie Individuen.

2 [62]

Die schwere physische Arbeit wie die der Packträger Rudermeister Ackerbauer wird schlecht bezahlt, der welcher sie thut geringgeschätzt. Der Handelsmann läßt sich seinen Überschuß an Geist zu hoch bezahlen; höhere Rassen wie z. B. die jüdische gerathen auch in den schrecklichsten Lagen nicht leicht in die äußerste Noth, sich als physische Maschinen vermiethen zu müssen.

2 [63]

Die Emotionen sind eine physiologische Gegenkraft.

2 [64]

Einer, der etwas nachempfindet, schätzt es darauf höher, ja er will es wiederhergestellt haben z. B. das Religiöse (F. Schlegel)

2 [65]

Es kommt. darauf an, daß eine Tugend erreicht werde, nicht auf welchem Wege. Der Erfolg sei das Glück: es handelt sich darum, eine schwere Mechanik so zu lernen, daß sie so leicht wie ein Spiel wird.

2 [66]

Jede Handlung, jeder Gedanke, jede Regung baut an dem Glück oder Unglück deiner Zukunft; sie bauen dein Gemüth, deine Gewohnheiten, es giebt nichts Indifferentes. Dein logischer Leichtsinn wird zu büßen sein. Das Gemüth ist die große Cisterne, klares Bewußtsein ist das Mittel, endlich ein klares Gemüth zu haben – aber vielleicht erst in der 3 ten Generation.

2 [67]

Die moralischen Handlungen sind Mittel, deren Zwecke man aus den Augen verloren hat und die an sich zu erreichen jetzt schon Vergnügen macht.

2 [68]

Es giebt kein eigenes Organ des „Gedächtnisses": alle Nerven z. B. im Beine, gedenken früherer Erfahrungen. Jedes Wort, jede Zahl ist das Resultat eines physischen Vorgangs und irgendwo in den Nerven festgeworden. Alles was den Nerven anorganisirt worden, lebt in ihnen fort. Es giebt Wellenberge der Erregung, wo dies Leben ins Bewußtsein tritt, wo wir uns erinnern.

2 [69]

Wer jetzt zum Christenthum eine zweideutige Stellung einnimmt, sieht sich sofort von der besten strengeren edleren Gesellschaft verlassen.

2 [70]

Die bewußte Erfahrung des einzelnen Individuums ist eine zu kurze Kette und mißt nicht bis an sein Ende.

2 [71]

Der Eitle bleibt beim Mittel zum Zweck stehen und bekommt es lieb, so daß er den Zweck vergißt.

2 [72]

Es ist so viel überflüssiger Verdruß Leid und Elend in den unabhängigen Klassen, weil so wenige ihres Wirkens froh werden können – in Folge falscher Lebensführung, falschen Berufes d. h. in Folge einer überflüssigen Abhängigkeit.

2 [73]

Widerlich! jemand kommt uns mit einem Lobspruch entgegen, er will uns damit für sich einnehmen d. h. er will von uns Besitz ergreifen, weil er glaubt, daß wir dem Lobenden eine freie Hand machen. Aber der Lobende stellt sich über uns, er will uns besitzen – es ist unser Feind.

2 [74]

Liebe zum Nächsten

2 [75]

ich gestehe, es ist angenehm daß nicht alle guten Gedanken über das Thema schon darin stehen

2 [76]

nicht mehr bewußtes Denken bei Mutter und Kind

2 [77]

der faut<e>-de-mieux-Mann Dühring


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