Richard Muther
Geschichte der Malerei. III
Richard Muther

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IV. Venedigs und Spaniens Kampf gegen Rom.

13. Lorenzo Lotto

Der Gang der Kunst war im 16. Jahrhundert ganz der nämliche wie im 15. Auf die große heidnische Renaissance folgt eine kirchliche Reaktion. Und wie sich damals der Orkan, der mit Savonarola herniederplatzte, lange vorher durch Blitz und Donner ankündigte, reichen die Anfänge der Gegenreformation in die 20er Jahre des Jahrhunderts zurück. Man beobachtet, wie in das Schaffen der Renaissancemeister plötzlich ein fremder Ton hineinklingt, wie mit der antiken Heiterkeit, der hellenischen Formenfreude ein seltsam visionäres, aufgerütteltes Element sich mischt. Michelangelos Gestalten scheinen wie von Alpdrücken verfolgt, als ließe der Gedanke an den Nazarener sie nicht ruhen. Die Augen des Johannes in Fra Bartolommeos Grablegung, die Augen des Täufers in der Madonna di Foligno, die Cäcilies und der Madonna di San Sisto – sie verraten, daß selbst diese Meister berührt wurden von der kirchlichen Strömung, deren Wellen von Deutschland nach Italien herüberschlugen. Nur blieb bei ihnen die Berührung äußerlich. Die paar Tropfen Christentum mischten sich nicht mit dem hellenischen Blute.

Anders lagen die Verhältnisse in Venedig. Venedig war seit seinem Bestehen eine kirchliche Stadt, eine byzantinische Enklave auf italienischem Boden. Während des ganzen Quattrocento blieb es ein Bollwerk gegen die Renaissance. Selbst nachdem von auswärts – durch Gentile da Fabriano und Pisanello – die weltlich realistische Kunst eingeführt war, hielt die einheimische Schule von Murano an den mittelalterlichen Traditionen fest. Am Schluß des Jahrhunderts, als die Savonarolaströmung Italien überflutet, benutzt Crivelli die Gelegenheit noch einmal den Byzantinismus herauf zu beschwören. Freilich, nun folgt eine Zeit, da Venedig einer Insel der Cythere gleicht, von erdentrunkener Sinnlichkeit, von rauschender Festesluft durchwogt. Keiner denkt mehr an den Himmel. Die Erde selbst ist zum Himmel geworden. Gondolieri singen, schöne Frauen lachen. Jeder ist reich, jeder stolz und glücklich. Es ist eine weiche, sinnlich schwüle Luft – das malt Giorgione; ein majestätisch festlicher, stolz vornehmer Glanz – das malt Tizian. Doch mögen diese Werte den Höhepunkt venetianischer Kunst bedeuten – unter den Führern der Bewegung war kein Venetianer. Aldus Manutius, der Venedig zum litterarischen Centrum des Humanismus machte, stammte aus Florenz. Alle Künstler kamen von der Terra Ferma: Giorgione aus Castelfranko, Palma aus Serinalta, Tizian aus Pieve. Selbst diese Meister wahren in ihren antiken Bildern einen heiligen Ernst. Nichts Lüsternes giebt es, wie bei Correggio, nichts Wolllüstiges, wie bei Sodoma. Tizian, der Heide, malt zugleich jene Magdalenenbilder mit dem Totenkopf, die wie ein Vorklang der Jesuitenkunst anmuthen. In keinem antiken Bild, sondern in der Dornenkrönung klingt das Schaffen des Meisters aus. Sebastiano hat in Rom nichts Antikes, nur Wunder und Martyrien gemalt. So gern man bei dem Worte Venedig an Mandolinenklang und Sonnenschein denkt, der erste Eindruck ist die schwarze Gondel, die düster wie ein Totenwagen über die dunkelgrünen Lagunen gleitet. Düster, ernst ist der Charakter der Paläste. Dumpf und feierlich klingen die Glocken von Murano. So blieb für Venedig der Paganismus eine Episode. Den Renaissancemeistern, die von auswärts stammten, steht schon zu Beginn des Jahrhunderts ein geborener Venetianer als Nachfolger Savonarolas und Vorbote Caraffas gegenüber. Lorenzo Lotto wandelt inmitten jenes sinnenfrohen Geschlechtes wie ein Bußprediger, wie ein Gespenst daher. Seine Bilder klingen in den jubelnden, bacchantischen Hymnus seiner Zeitgenossen dumpf wie die Glocken von Murano herein.

Auch Lotto ward als junger Mensch von den Ideen der Renaissance berührt. Den Reigen seiner Werke eröffnet die Danae einer englischen Sammlung, der man sich nicht wundern würde im Böcklinwerk zu begegnen. Ein grüner Anger ist dargestellt, auf dem, wie bei Böcklin, gelbe, blaue und weiße Blümchen wachsen. Rings Bäume, die fein und geradlinig, wie auf Böcklins »Sommertag«, sich in den blauen Aether erheben. In der Mitte der Wiese sitzt ein Mädchen in weißem Gewand und nimmt in ihrem Schoß den goldschimmernden Regen auf. Ein kleiner, bocksfüssiger Satyr lauscht hinter dem Baum. Doch schon das nächste Bild gehört einer andern Geisteswelt an. Am Abhang eines steil emporsteigenden Felsens kniet halbnackt vor dem Kreuze des Heilandes ein Einsiedler. Rabenschwärme flattern über seinem Haupt, während er die Geißel in der Faust büßend sich kasteit. Hieronymus ist Lottos zweiter Held, der alte Mann, der von der Menschheit sich abwendet, um in der Einsamkeit Ruhe zu finden, der müde Greis, auf dem die Vergangenheit mit ihrem erdrückenden Gewichte lastet.

Lotto, der Sohn des konservativen Venedig, warf sich zum Bannerträger der großen kirchlichen Vergangenheit auf. So erklärt sich der seltsame Archaismus seiner frühen Werke. Die Giorgione, Tizian und Palma wurden, als er seine Thätigkeit begann, noch als fremde Eindringlinge betrachtet. Selbst Giovanni Bellini galt als Abtrünniger der religiösen Kunst, die seine Vorgänger, die Muranesen, noch in ihrer Majestät und byzantischen Feierlichkeit begriffen. An diese klammert daher Lotto sich an. Er sieht im 16. Jahrhundert zu Tizian und Giorgione ebenso wie im 15. Crivelli zu Bellini. Sein Ideal ist Alwise Vivarini, der letzte Ausläufer der alten Schule von Murano, der in den Tagen des Giovanni Bellini noch einmal das Evangelium der Weltentsagung, das Evangelium des Byzantinismus kündete.

Die Bilder in Neapel, der Borghesegalerie und Asolo sind die hauptsächlichsten Dokumente seines muranesischen Stils. Cima, der Bellinischüler, hatte den Thron Marias statt in ernster Kirchennische in freier Landschaft errichtet. Bellini schon, sein Lehrer, hatte mit der alten Form der Flügelaltäre, den Predellen und Lünetten gebrochen, seine Altarbilder als einfach monumentale Tafeln im Sinne des Cinquecento behandelt. Giorgione hatte einen weiteren Schritt gethan, der Madonna nicht die Demut der Gottesmagd, sondern den Liebreiz des irdischen Weibes gegeben. Nichts von alledem bei Lotto. In einer Kirchennische von ernst düsterer Architektur, streng in der Mitte steht der Thron Marias. Oder auf kleineren Bildern wachsen die Gestalten aus dem Nichts, aus schwarzem Hintergrund hervor. Stets hält er an der mittelalterlichen Form des Flügelaltars und der Predellen fest. Ernst, von unnahbar byzantinischer Hoheit ist Marias Ausdruck, finster und schreckhaft das heilige Gefolge, das sich um ihren Thron vereint. Die wilden Wüstenmenschen Castagnos und des alten Donatello, die asketischen Einsiedler und fanatischen Bußprediger des Savonarolajüngers Botticelli feiern in Lottos Werken ihre Auferstehung. Namentlich die Leargestalt des greisen Onofrius auf dem Bilde der Galerie Borghese wirkt wie ein Nachklang aus der aufgerüttelten Zeit, als der greise Donatello die wilden Reliefe im Santo von Padua schuf, als Zoppo und Schiavone, Tura und Bartolommeo Vivarini ihre herb zelotischen Bilder malten.

Unterdessen war Alwise Vivarini gestorben. Keiner arbeitete mehr in Venedig, im Sinne der alten Zeit, und allein zu stehen fehlte Lotto die Kraft. So erklärt sich die brüske Wandlung, die er plötzlich durchmacht. Er suchte, nachdem die muranesische Kunst ins Grab gesunken, nach anderen Vorbildern, die über jeden Zweifel erhaben wären. Keine Kunst konnte kirchlicher, fester begründet sein, als die, der der Statthalter Christi selbst seinen Segen gab. So macht er sich auf und pilgert nach Rom. Nicht in die ewige Stadt, die Stadt der Antike, sondern in das Centrum der Christenheit. Die römischen Ideale, die der Papst billigt, sollen die seinen werden. Doch nachdem er vier Jahre lang, von 1508/12 in der Nähe Rafaels gearbeitet, ist das Ergebnis das nämliche wie zwanzig Jahre vorher bei Savonarola. Gerade das, was er in Rom sah, hatte den reformatorischen Eifer des Dominikanermönches entzündet. Der Libertinismus, der an heiligster Stätte herrschte, bestärkte ihn in dem Glauben, daß ein neuer Prophet kommen müsse, die Kirche vor dem Untergang zu retten. So fühlte auch Lotto gerade im Verkehr mit den römischen Künstlern, daß an der christlichen Kunst, wie man sie dort betrieb, gar nichts Christliches war, daß sie dem, was einst die Kirche verehrt, noch viel ferner stand, als all jene Werke der Bellini, Tizian und Giorgione, die er zu Hause mit so ängstlichen Augen betrachtete.

Das Bild des heiligen Vincenzo Ferrer, das er für den Altar von Recanati malt, ist wie ein Blitz der Gegenreformation, der in die venetianische Renaissance hereinzuckt. Nicht nur das Thema kündigt den Geist des Ignatius von Loyola an. Denn Vincenzo Ferrer ist ein Heiliger, den die Spanier als apokalyptischen Propheten verehren. Auch der düster mönchische Zug, die aufgerüttelte Wildheit des Bildes hat mehr mit Zurbaran als dem Cinquecento gemein. Im Bartolommeoaltar von Bergamo hat sich sein Empfinden wieder beruhigt. Keine Kampfstimmung, sondern milde Resignation ist über das Werk gebreitet. Lotto hatte, wie es scheint, einen Halt gefunden in einer kirchlichen Bewegung, die sich gerade damals vollzog. Schon während des Pontifikates Leos X. hatte eine Art Freimaurerbund sich gebildet, dem vornehme Herren und feingebildete Frauen aus allen Teilen Italiens angehörten, »schöne Seelen«, die ebenso unbefriedigt von der heidnischen Philosophie wie von den Formen des offiziellen Kultus sich zu einem »Pantheistischen Christentum« bekannten. Ist Lotto Mitglied dieser »Vereinigung der göttlichen Liebe« gewesen? Man möchte es glauben in Anbetracht der Werke, die er in den nächsten Jahren (1515 – 1524) schuf, als Bergamo, das stille Bergamo sein Wohnsitz geworden. Denn der Grundzug dieser Bilder ist ein pantheistisches Christentum. Er empfindet eine Leibesgemeinsamkeit mit allem Seienden. Die Natur, die ihm vorher im Sinne der Muranesen etwas Gottloses gewesen, die verfluchte Schädelstätte, auf der das Kreuz des Heilandes stand, wird ein vom Finger Gottes geschriebenes Buch, die große Allmutter, der Mensch und Tier, Baum und Blume ihr Dasein danken. Eine neue Religion hat sich ihm aufgethan, die an Spinoza anklingt oder an die ersten begeisterten Tage des Franziskanerordens, als der Heilige von Assisi, in Reaktion gegen die starre Scholastik, das Evangelium der Liebe verkündete, die Liebe zu Gott auf die ganze Welt übertrug, Christus und Maria, die Menschen und Tiere, die Pflanzen und die Sterne am Himmel als seine Brüder und Schwestern bezeichnete.

Deutlich zeigt sich die Wandlung seiner Anschauungen im Madonnentypus. Bei den Muranesen war Maria finster und abwehrend. Bellini malte die Sibylle der Savonarolazeit, die mit großen Augen traurig ins Leere starrt, Tizian die feierliche Königin des Himmels. Bei Lotto ist sie nun die selige Mutter, die mit ihrem Knaben kost, in strahlendem Mutterglück ihre Wangen an die des Kindes preßt. Bilder, wie das Dresdener, enthalten für die Kunstgeschichte nichts Neues, denn ähnliches hatten Leonardo und Correggio gemalt, sind aber neu für die Malerei Venedigs, die der Madonna stets etwas willenlos Apathisches gegeben, zärtliches Mutterglück noch nicht gekannt hatte. Auch der Gegensatz von Reichtum und Armut ist überwunden. In den älteren italienischen Madonnenbildern ist Maria entweder seelenvoll, dann ist sie das arme Mädchen. Oder sie trägt kostbare Gewänder, dann ist sie hochfahrend, stolz. Lottos Madonnen sind reich gekleidet, Perlen schmücken ihr Haar, weiß und zart ist die Hand. Doch auch sie vibrieren von Gefühl. Nicht unter einem Bettlergewand nur, auch unter seidenem Mieder kann ein zärtliches Herz schlagen, die Liebe Gottes sich regen.

Diese Liebe überträgt sich auf die Landschaft. Nicht mehr in einer Kirche thront Maria. In Gottes freie Natur ist sie versetzt. Weit und grenzenlos dehnt die Landschaft sich aus, von Strömen durchzogen, die ins ferne Meer sich ergießen. Und wie er in einem einzigen Bild die ganze Unendlichkeit des Alls zu malen sucht, bringt er dem Kleinen, den zarten Gebilden der Pflanzenwelt eine Beobachtung wie kein gleichzeitiger Venezianer entgegen. Da ragt ein Rosengebüsch voller Blüten über die Mauer herab. Dort bildet eine dichte Jasminwand den Hintergrund. Oder Blütenzweige sind über den Boden verstreut. Sind Innenräume dargestellt, malt er wie ein holländischer Stilllebenmaler die Becher und Bücher, die Leuchter und Kannen. Feines Licht durchzittert wie mit überirdischen Harmonien den Raum. Selbst seinen Fresken giebt dieser pantheistische Zug ein neues Gepräge. Während sonst die italienische Freskomalerei etwas großzügig Monumentales, den feierlichen Charakter des Wandteppichs wahrt, leugnet Lotto die feste Wand, giebt weite Ausblicke auf sonnenbeschienene Straßen und Plätze, wo hohe Häuser sich erheben und Menschen in alltäglichem Verkehre wandeln. Und während die anderen Meister ihre Werke architektonisch durch Friese und Pilaster begrenzen, sieht Lotto von jeder bildmäßigen Umrahmung ab, läßt – wie die Japaner in ihren Holzschnitten – nur Zweige von Weintrauben und Kirschen mitten in die Felder hereinragen.

Auch als Bildnismaler schlägt er Töne an, die man von keinem italienischen Porträtisten vernimmt. Alle anderen Porträts des Cinquecento sind feierliche Repräsentationsbilder. Die Menschen lassen sich nicht gehen, sondern geben sich so würdevoll, als fühlten sie die Augen der Welt auf sich gerichtet. Solche Leute, die in der Welt eine Rolle spielten, gab es in dem kleinen Bergamo nicht. Oder sie waren kein Verkehr für den stillen Lotto. Nur solche, die ihm lieb und wert geworden, bat er zu sich ins Atelier. Schon dadurch unterscheiden sich seine Bildnisse von denen Rafaels oder Tizians. Während wir sonst das Italien des Cinquecento nur aus Bildern repräsentierender Männer kennen, malt Lotto Arbeiter des Geistes, eine Menschheit, die in Denken und Fühlen uns näher steht. Die dekorative Erscheinung ist ihm gänzlich gleichgültig. Er zeigt sie nicht, wie sie in der Welt sich bewegen, sondern wie der Mensch ist in jenen Stunden, wenn er Einkehr in sich selbst hält. Und er beschränkt sich nicht darauf, in ihren Mienen zu lesen, ihnen wie ein Beichtvater alle Geheimnisse zu entlocken. Oft ist es, als wollte er ihnen Ratschläge erteilen, sie beschwören und warnen: so wenn er dem Jüngling der Borghesegalerie einen Totenschädel unter Rosen- und Jasminblättern beigiebt oder auf dem Bilde des nervösen Mannes der Galerie Doria eine Grabplatte anbringt und darauf das Lebensalter des Dargestellten »38« wie die Inschrift eines Leichensteines notiert. Das Weib ist der Vampyr, der den Männern das Lebensmark aussaugt. Dieser Gedanke scheint durch seine Gruppenbilder zu gehen. Man betrachte etwa auf dem Londoner Werk das messalinenhafte Weib mit dem harten kalten Blick, und daneben den bleichen Mann mit den zitternden Händen, der so resigniert, so müde vor sich hinschaut.

Das wunderbare Bild des Palazzo Rospigliosi, das – wohl mit Unrecht – der Triumph der Keuschheit genannt wird, steht am Ende dieser ruhigen Schaffenszeit, die er in Bergamo verbrachte. Fünfzig Jahre ist er alt geworden und hat noch so wenig gesagt von dem, was den Jüngling durchzitterte. Er muß die Welt wiedersehen, sich unterrichten über das, was dort die Künstler bewegt. So macht er sich auf, zieht eine Zeit lang in den Marken umher, ist 1527 beim Sacco di Roma in der ewigen Stadt und kommt 1529 nach Venedig.

Zunächst war der Erfolg nur der, daß, was er um sich sah, sich in seinen Bildern zu einem seltsamen Potpourri verband. Er, der Grübler und Denker, ahmt Palma nach und wirft sich dem Tizian zu Füßen. Da aber scheint das Schicksal ihm günstig. Die reformatorische Bewegung begann. Neben den milden, versöhnlichen Contarini, der schon vorher für die Reform gearbeitet, stellte sich der finstere Neapolitaner Caraffa, der 1527, nach der Plünderung Roms, seine Wirksamkeit nach Venedig verlegte. In dem Garten neben dem Kloster San Giorgio Maggiore versammelten sich die Freunde allwöchentlich bei dem Abt Cortese. Gleichmäßig war der Adel, die Gelehrtenwelt, die Geistlichkeit vertreten. Nach Venedig blickten mit stiller Hoffnung alle, die eine Reform der Kirche ersehnten. Eine Reform der Kunst war zugleich beabsichtigt. Die rituell starren Formen der Byzantiner wurden von Caraffa den Malern wieder als wahrster Ausdruck kirchlich feierlicher Frömmigkeit empfohlen. So kommt in Lotto plötzlich ein ähnliches Kraftbewußtsein, wie es Botticelli fühlte, als Savonarola die Ideale seiner Jugend bestätigte. Auch er will predigen, auch er kämpfen. Er hat ein festes Ziel, einen Grund seines Schaffens gefunden! Begeisterung und Pathos durchglüht seine Werke: mächtige Bischofsgestalten, Kreuzigungen, Madonnen.

Doch vorläufig war der Paganismus noch stärker als Christentum. Contarini wurde von seinen Anhängern verlassen. Tizian, der in einigen Werken sich zum Christen bekannt, ging wieder seinen alten hellenischen Weg. Für Lotto bedeutete das den Zusammenbruch seiner Hoffnungen. An die allerältesten Meister klammert er hilfesuchend sich an: malt die Kreuzigung in Mailand, die düster wie ein Nachklang des Trecento anmutet, die Mailänder Pietà, die in ihrem grimassierenden Schmerz an Crivelli streift, das Altarbild von Ancona, das barocke Wildheit mit muranesischem Archaismus eint. Das Altarwerk der Kirche San Giovanni e Paolo – menschliche Hände, die in zitterndem Heilsverlangen wie auf Lempoels' »Schicksal« sich emporrecken – schenkt er den Mönchen, damit sie ihn kostenlos begraben. Hieronymus, der Greis, der aus dem Weltgetümmel schied, bemächtigt sich wieder seines Geistes. Auch er will nichts mehr mit dem Profanen gemein haben, will fern von der Welt in einem stillen Winkel sich einnisten und als Eremit seine Tage beschließen. So verlost er den Bestand seines Ateliers – ein Bild der rationalen Seele, ein Bild des Kindes, das das Kreuz trägt, ein Bild des Kampfes zwischen Kraft und Glück – und zieht nach Loreto, wo er bei den Mönchen sich einkauft. Hier an heiliger Stätte starb Lotto als Märtyrer seines Glaubens. Er war gescheitert, weil sein Losungswort zu früh kam. Der Geistesrichtung, die in seinen Werken sich ankündigt, gehörte gleichwohl die Zukunft.


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