Richard Muther
Geschichte der Malerei. III
Richard Muther

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III. Die Vereinigung der Stile.

10. Rafael

Auf die Mehrer des Reiches folgen die Erben. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts hatte Gozzoli die Forschungsresultate Castagnos und Uccellos zu großen populären Werken verarbeitet. Die Ergebnisse des nächsten Menschenalters faßte Ghirlandajo zusammen. Der große Profiteur des Cinquecento heißt Rafael.

Wohl fühlt man, wenn man das Selbstporträt Rafaels betrachtet, das Persönliche seines Stils. Dieser Jüngling mit den intelligenten sympathischen Zügen, mit dem nackten Hals und den langen Künstlerlocken, mit dem reinen sanften mädchenhaften Auge, das an Peruginos Madonnen gemahnt. – er entspricht dem Bild, das Vasari von Rafaels Persönlichkeit zeichnet. »Jede üble Laune verschwand, wenn seine Genossen ihn sahen, jeder niedrige Gedanke war aus ihrer Seele verscheucht, und dies kam daher, daß sie durch seine Freundlichkeit, durch seine schöne Natur sich überwunden fühlten.« Wie er nie Trauriges erlebte, ist seine Kunst von sonniger Heiterkeit. Wie sein Leben ohne Stürme, ohne erschütternde Katastrophen verlief, hat er nie ein erschütterndes, seelisch ergreifendes Bild gemalt. Selbst wenn es um Schreckliches, um gewaltsame Aktion, um blitzartige Dramatik sich handelt, bleibt er mild und sanft, gefällig und freundlich. Wie sein Porträt mehr typisch als individuell wirkt, ist in seinen Bildern alles Individuelle getilgt und zum Typischen verallgemeinert. Wie er niemals, weder mit seinen Auftraggebern noch mit seinen Gehilfen, Konflikte hatte, sondern liebenswürdig schmiegsam Befehle ausführte und erteilte, giebt es in seiner Kunst keine Dissonanzen. Alles, was in der Natur hart und kantig ist, wird gemildert, weich abgerundet. Nicht nur die Einzelform. Auch die Komposition bewegt sich in geschmeidigen Wellenlinien. Wie sein eigenes Leben Harmonie war, fügt in seinen Bildern die bunte Vielheit des Lebens sich zu sanften Harmonien zusammen, in denen keine Bewegung, keine Gewandfalte den wohlgefälligen Einklang stört.

Aber auch die andere Seite seines Wesens kommt in dem Selbstporträt zum Ausdruck. Ein Grübler, der sich mit Problemen quälte, war dieser schöne Kavalier nicht. Er kannte nicht die bangen Stunden des Zweifels, die der Genius hat. Statt auszugeben, saugt er ein. Statt männlicher Zeugungskraft überwiegt bei ihm das weibliche Element, Empfänglichkeit für das von anderen Geleistete. Nur so erklärt sich die ungeheure Zahl von Werken, die er während seines kurzen Lebens schuf. Die receptivste Künstlernatur, die es je gegeben, faßt er alle Fäden in seiner Hand zusammen, formt die Werte, die die einzelnen Genien geschaffen, zu einer neuen Stileinheit um. Bald ist Perugino oder Leonardo, bald Fra Bartolommeo oder Sebastiano, bald Michelangelo oder ein griechischer Bildhauer seine Quelle. Nur hinter der Leinwand, fast wesenlos, steht der schöne Jüngling des Selbstporträts, die Ecken seiner Vorbilder abschleifend, ihre Eigenart besänftigend, ihre Schroffheiten mildernd.

Schon sein Vater Giovanni Santi hatte diese eklektische Vielseitigkeit, folgte mit viel Anpassungsvermögen bald der paduanischen, bald der umbrischen Schule und vereinte mit dem Malerberuf den des Schriftstellers. Beim Sohne wurde der Eklekticismus zur Genialität. Während Leonardo und Michelangelo gleich in ihren Erstlingswerken, dem Engel und der heiligen Familie, mit neuer Kraft einsetzen, verwendet Rafael seine Kraft darauf, noch einmal die Entwicklung der italienischen Kunst von Perugino bis Michelangelo zu durchlaufen. Wie die ersten Zeichnungen, die sich vom Knaben erhalten haben, Kopien nach den Philosophenbildnissen sind, die Justus von Gent in der herzoglichen Bibliothek von Urbino malte, bewegt er in seinen frühesten Bildchen sich ganz in den Bahnen seines umbrischen Lehrers. Die Madonna der Sammlung Solly, die Jungfrau zwischen Franziskus und Hieronymus, die Madonna Connestabile unterscheiden sich nicht von den Erzeugnissen der umbrischen Schule, enthalten die nämlichen weichen sentimentalen Gesichter mit den melancholischen Taubenaugen, wie Perugino sie liebte. Ebenso wiederholt er in seinen ersten Altarwerken mit rührender Einfalt die Vorbilder seines Meisters. Perugino hatte gerade damals, als Rafael bei ihm arbeitete, eine Kreuzigung, eine Himmelfahrt, eine Krönung und Vermählung der Maria gemalt. Dieselben Gegenstände behandelt Rafael. Nur wirkt er schon damals, namentlich im Sposalizio, eleganter, geschmeidiger.

Auch die Einseitigkeit der Umbrer ist ihm fremd. Wahrend Perugino nur still und beschaulich war, malt Rafael Bewegtes: jenen heiligen Georg, der auf weißem Rosse durch die Landschaft sprengt und das Schwert gegen den schnaubenden Drachen schwingt. Ebenso erweitert er nach anderer Seite das Stoffgebiet. Perugino als Nachfolger Savonarolas hatte nur in religiösen Themen sich bewegt. Rafael, wie er im Pferd des Georgsbildes eines der Rosse der Dioskurengruppe kopiert, betritt als erster Umbrer wieder das Gebiet der Antike. Siena, wohin er als Gehilfe Pinturicchios gekommen war, besaß eines der schönsten antiken Bildwerke, die das 16. Jahrhundert kannte: die Gruppe der drei Grazien. Rafael kopierte sie in dem Bild, das heute im Museum von Chantilly hängt. Noch bestrickender in ihrer schüchternen Zartheit wirkt die umbrische Antike in dem Louvrebildchen »Apollo und Marsyas«. Und in dem dritten noch vorher entstandenen Werkchen »Herkules am Scheideweg« malte er den Scheideweg, den es für ihn selbst nicht gab. Hatten zu Peruginos Tagen Antike und Christentum im Streit gelegen, so nimmt Rafael beide Frauen unter den Arm und geht mit ihnen in heiterer Bigamie durchs Leben.

Nachdem er sich mit seiner umbrischen Heimat auseinandergesetzt, tritt er das florentinische Kunsterbe an. Er sitzt in der Brancaccikapelle, und Masaccios Werke enthüllen ihm das Geheimnis des großen Stils. Er weilt im Chor von Santa Maria Novella und benützt Ghirlandaros Krönung der Maria als Vorbild für sein Fresko in San Severo. Er studiert Donatello und entnimmt dessen Relief an Orsanmichele das Motiv für sein Georgsbild der Ermitage. Doch noch mehr als von den Alten lernt er von den Lebenden. Leonardo weilte 1503–1506 in Florenz, und Fra Bartolommeo hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Lehrsätze, die der große Mailänder für linearen Gruppenbau aufgestellt hatte, zu beweisen. Rafael, noch ganz Umbrer in der zarten Madonna del Granduca, schafft nun eine Reihe von Marienbildern, die sich ebenso eng an die Felsgrottenmadonna anlehnen, wie vorher die Madonna Connestabile an Perugino. Die Madonna im Grünen, die mit dem Stieglitz und die Belle jardinière sind die bekanntesten Beispiele. Wie bei Leonardo sind in allen drei Bildern die Figuren durch ein gleichschenkliges Dreieck begrenzt. Von Leonardo stammt das pausbackige Christkind mit dem praxitelischen Contraposto. Nur tritt bei Rafael, namentlich in der Madonna Canigiani, das Berechnete des Aufbaus mehr hervor, weil die Linienkomposition durch keine Lichtkomposition durchsetzt ist. Außerdem zeigt sich seine Eigenart im Madonnentypus. Seine Maria ist nicht überirdisch schön, hat nichts von der Delikatesse Leonardos, sie ist nur freundlich und sanft, die echte Schwester des Rafael, den man aus seinem Selbstbildnis kennt. Als Doppelgänger Fra Bartolommeos erscheint er in der Madonna del Baldachino. Maddalena Doni bekommt die Haltung, nur nicht den rätselhaften Zauber der Mona Lisa. Schließlich gelingt es ihm, in einem einzigen Werk Perugino, Mantegna, Michelangelo und Fra Bartolommeo zu kombinieren. Denn als er seine Grablegung in Angriff nahm, ging er zunächst auf Peruginos Pietà zurück. Dann gab Mantegnas Kupferstich ihm neue Gesichtspunkte. Den Christusleichnam nimmt er aus Michelangelos Pietà, die sitzende Frau rechts aus Michelangelos heiliger Familie. Und Fra Bartolommeos Geist zeigt sich in der Art, wie er den Stimmungsgehalt des Themas ganz den kompositionellen Gesichtspunkten unterordnet.

Der Berufung nach Rom entspricht sofort eine neue Wandlung. War er in Perugia zartfühlender Umbrer, in Florenz gelehriger Schüler Leonardos gewesen, so erhebt er sich jetzt zum großen Stil. Etwas von der feierlichen Erhabenheit und ernsten Majestät der ewigen Stadt strömt in seine Werke über.

Allein die Disputa, das erste der Bilder, die er in den vatikanischen Gemächern malte, läßt noch den Zusammenhang mit dem florentinischen Rafael fühlen. Wie er zahlreiche Gestalten aus Leonardos »Anbetung« herübernimmt, befolgt er kompositionell die Grundsätze, die dieser für die Anordnung von Historienbildern aufstellt. Ebenso ist in dem Bild des Dekretalenerlasses noch der Zusammenhang mit dem Quattrocento, mit Melozzos »Ernennung Platinas« ersichtlich. Aus der Schule von Athen – obwohl auch hier manches Motiv an Leonardos Anbetung, Melozzos Platina und Donatellos Paduaner Reliefe anklingt – scheint plötzlich ein anderer Meister zu sprechen. Man braucht nicht anzunehmen, daß Bramante ihm die Zeichnung lieferte, – er malt die Ideen des Bramante ebenso, wie Masaccio die des Brunellesco, Piero della Francesca die des Leo Battista Alberti gemalt hatte. Im Verkehr mit dem großen Baumeister aus Urbino, der damals Räume erstehen ließ, die ein neues Zeitalter der Architektur eröffneten, ist aus dem Linienkünstler ein großer Raumkünstler, ein gewaltiger Architekt geworden.

Das Hauptbild des zweiten Saales, die Vertreibung des Heliodor, bezeichnet den Höhepunkt dieser von Bramante beeinflußten Richtung. Wie auf dem Philosophenbild dehnt eine weite Halle sich aus, die, von weniger Figuren belebt, desto mehr den Eindruck der Tiefendimension giebt. Und innerhalb dieser Halle spielt ein Vorgang von stürmischer Bewegung sich ab. Rafael, noch vor zehn Jahren so umbrisch schüchtern, in dem Philosophenbild so feierlich, überbietet hier den Filippino Lippi an barocker Bewegtheit. In einem anderen Bild dieses Saales, der Befreiung des Petrus, glückt ihm sogar die Verschmelzung der rein zeichnerischen Principien mit dunkel glühender Koloristik und strahlenden Lichteffekten. Sebastiano del Piombo, gerade damals nach Rom gekommen, hat aus dem Umbrer Rafael einen Venetianer gemacht.

In den folgenden Werken entschwindet das Persönliche noch mehr, weil Rafael jetzt durch seine Gehilfen und Schüler seine Werke ausführen läßt. Ein neues Princip, das für Rafael ebensosehr wie für das ganze Jahrhundert bezeichnend ist, tritt damit in Kraft. Das 15. Jahrhundert war das des Individualismus. All die Meister, die in der sixtinischen Kapelle thätig waren, arbeiteten unabhängig nebeneinander. Noch Michelangelo malte seine Riesenbilder, ohne die Hand eines Gehilfen zu benutzen. Rafael, wie er sich selbst der Persönlichkeit anderer beugt, wird zugleich der Diktator, unter dessen Oberbefehl ein Heer kleinerer Meister exerziert. An die Stelle individueller Schöpfungen treten Werke, die nur noch allgemeine Leistungen cinquecentistischen Kunstschaffens sind.

Und zwar verarbeitet er seit dem Jahre 1514 wieder andere Vorbilder. Nachdem er schon früher, in der Grablegung, einzelne Gestalten von Michelangelo entlehnt, schafft er jetzt in den Sibyllen ein Werk, das wie eine Uebersetzung Michelangelos in den Rafaelstil anmutet. Michelangelesk ist die plastische Durchbildung der Formen und der heroische Faltenwurf, rafaelisch der gefällige Rhythmus der Anordnung und die freundlich milde Art, wie er die titanischen Wesen Buonarotis auf maßvolle Menschlichkeit zurückführt.

Doch noch mehr als Michelangelo leitet ihn die Antike. Gerade damals waren jene berühmten Schöpfungen antiker Plastik dem Boden entstiegen, die bis auf Winckelmann, Lessing und Goethe als höchste Offenbarungen hellenischen Geistes galten: der Apollo, die schlafende Ariadne, ein Antinous, die Laokoongruppe. Man hatte die Titusthermen ausgegraben und das Ornamentierungsprincip der spätrömischen Epoche kennen gelernt. Das Museum des Belvedere war gegründet, und Rafael nach Bramantes Tod nicht nur Baumeister des St. Peter, auch Konservator der Altertümer geworden.

Die Loggien sind das erste Werk, das er als Konservator der Altertümer schuf. Es handelte sich darum, mit heiterem Linienspiel Decke und Wände eines Korridors des vatikanischen Palastes zu umkleiden. Der Auftrag kam also seiner Neigung zu melodischer Formenanmut, zur »optischen Cantilene« besonders entgegen. In diesen heiteren olympischen Scenen, diesen Amoretten und Vögeln, diesen Mädchen, die sich in Laubguirlanden schaukeln oder hinter zierlichen Säulen lauschen, diesen Festons und Vasen, Tritonen und Satyrn, Najaden und Sphinxen ist alles kopiert, was das 16. Jahrhundert von antiken Kunstwerken kannte, und über dem Ganzen schwebt die »graziosissima grazia« seines Wesens.

Dann, nachdem er in tändelndem Spiel der Antike gehuldigt, gewinnt sie stilistischen Einfluß. Nicht mehr die Bewältigung von Raum und Farbenproblemen reizt ihn. Nur noch aus Statuen setzt er seine Bilder zusammen. Der Triumph der Galatea ist ein bezeichnendes Beispiel. Allein das Bewegungsmotiv der Hauptfigur geht auf ein modernes Werk, auf Leonardos Leda zurück. Alles übrige, der Seekentaur, die Nereide, der Triton, der Putto mit dem Delphin ist antiken Sarkophagreliefen entnommen. Raum und Farbe scheint so gleichgültig, daß er in einem Seebild nicht das Wasser malt, sondern die Gestalten statuenhaft sich vom trockenen Boden abheben läßt. Die Psychebilder der Farnesina liefern dazu die Ergänzung. Wie die Deckenfresken mit dem Göttergericht und der Hochzeitsfeier einem in der Luft schwebenden Statuenwald gleichen, wachsen die Gestalten der Gewölbekappen plastisch wie Bildsäulen aus dem Nichts hervor.

In demselben plastischen Stil sind seine christlichen Bilder gehalten. Ein Feuersbrunst, die durch das Zeichen des Kreuzes gelöscht wurde, galt es in dem Hauptbild der dritten Stanze zu schildern. Unter Rafaels Händen ist aus dem Brand des Borgo der Brand von Troja geworden. Und selbst diese Bezeichnung knüpft nur an die Gruppe an, die als Aeneas und Anchises gedeutet wird. In Wahrheit ist das Ganze eine Sammlung von Akten. Man sieht einen nackten Mann, der sich an der Mauer herabläßt, einen anderen, der ein Kind auffängt, sieht die windumbrausten Gestalten der Wasserträgerinnen. Und wie die sachliche Motivierung fehlt der äußere Zusammenhang der Figuren. Das ganze Thema dient ihm dazu, Formenmathematik zu treiben, ein paar schönbewegte plastisch durchgearbeitete Körper aneinanderzureihen. In den Teppichkartons hat dieses antike Empfinden sich zu ruhiger Klassicität geklärt. Man hat sie die Parthenonskulpturen der christlichen Kunst genannt, und in dieser Bezeichnung liegt Wahres. Wer, wie Ruskin, der Herold der Prärafaeliten, die Teppiche auf ihren seelischen Inhalt prüft, empfindet das Aeußere des hellenischen Linienschwunges. Wer eine Kunstperiode nicht mit dem Maßstab einer anderen mißt, fühlt, daß die Aufgabe, die das Jahrhundert gestellt hatte, von Rafael am vollendetsten gelöst ward.

Daß er auch jetzt noch über einen Fonds von Naturalismus verfügte, der ihm gestattete, Bildnisse zu schaffen, die neben Tizians Werken zu den größten Erzeugnissen cinquecentistischer Porträtkunst zählen, ist ein weiteres Zeugnis seiner erstaunlichen Vielseitigkeit. Und das Höchste im Vereinigen der Stile leistet er in den Werken seiner letzten Jahre, in denen auch die Macht wieder hervortritt, die so lange vergessen war: das Christentum.

Seine älteren römischen Madonnen unterscheiden sich von den florentinischen ebenso wie die Schule von Athen von der Disputa. Ein mehr heroisches Frauengeschlecht, majestätisch gebaut, kühn in den Bewegungen, tritt an die Stelle der freundlich milden Wesen von früher. Nicht mehr die sanften Hügel des Arnothals, sondern die ernsten Formen der Campagna, von antiken Ruinen und Aquaedukten belebt, bilden den Hintergrund. Die Anordnung, damals mühsam konstruiert, wahrt jetzt innerhalb kunstvollster Verschlingungen machtvolles Leben. Das weltlich Repräsentierende des Papsttums, etwas von der Majestät des antiken Rom ist über die Werke gebreitet. Die christliche Note fehlt.

Da kam die Zeit, als in Wittenberg Luther seine Thesen anschlug, und ein Hauch dieser religiösen Begeisterung zitterte über den Boden Italiens. Fra Bartolommeos Grablegung, Tizians Assunta und Sodomas Verzückungsbilder sind demselben Gefühlsleben entflossen, das ein Menschenalter vorher zu Savonarolas Tagen durch die Welt ging. Rafael stammte aus jener Zeit. In den Visionsbildern, die den Schlußaccord seines Schaffens bilden, ist der große Stil, bisher so kalt und plastisch, erwärmt und beseelt vom Hauche des Christentums, von jener mystischen Schwärmerei, die einst in Peruginos Werkstatt den Knaben durchzitterte.

Den Uebergang zu diesem christlichen Stil bildet die heilige Cäcilie: Rafael selber gleichsam, der zum erstenmal wieder himmlische Musik vernimmt. Wohl stammt der Paulus aus Leonardos Anbetung, und Magdalena entspricht den Typen, die in Sebastianos Chrysostomusbild vorkommen. Aber der schwärmerische Augenaufschlag Cäcilies ist neu. Perugino lebt auf, und Guido Reni kündigt sich an. Für die Madonna di Foligno war Leonardos Auferstehungsbild maßgebend. Aber der ekstatische Kopf des Franziskus und die brennenden Augen des Täufers zeigen gleichfalls, daß der Hellene wieder christlicher Maler geworden. In der Transfiguration geht er noch einen Schritt weiter in der Mischung der Stile. Unten dramatisches Leben, gestikulierende Hände und – in der Frauengestalt – antik plastische Schönheit. Oben der Christuskopf aus Leonardos Auferstehung kopiert, zugleich eine archaische Feierlichkeit, die an Perugino mahnt. Und in der Sixtinischen Madonna, obwohl auch sie von Leonardos Auferstehungsbild angeregt wurde, klingt das Streben seines Lebens harmonisch in einem großen Accorde aus. Da ist der ganze Adel der Antike. Einer Bildsäule von statuarischer Majestät gleicht Maria. Da ist eine Linienkomposition von vollendetster Harmonie, die trotz des mathematischen Schemas nichts von kalter Berechnung hat. Da ist ein Raumgefühl, das den Eindruck erweckt, als schwebe Maria aus dem Unendlichen herbei. Da ist ein kühner Kolorismus, ein zartes Dämmerlicht, aus dem die Gestalten goldig herausstrahlen. Farbe, Linienschönheit, Raumgefühl und hellenischer Formenadel verbinden sich. Und noch ein Letztes kommt hinzu, ohne das alles andere tot bliebe. Das Bild hat psychische Qualitäten, die weit über Rafaels gewöhnliches Niveau hinausgehen. Diese mädchenhaft schlanke, von Himmelsluft umhauchte, in goldenem Aetherlicht herschwebende Heilandsmutter; dieser Jesusknabe, der so tiefernst mit großen Augen ins Unendliche starrt – sie wirken gar nicht, als hätte Rafael, sie wirken als hätte Murillo sie gemalt. Mit der formalen hat sich wieder die seelische Schönheit geeint.


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