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Zwölftes Kapitel

Mortunos Tod. Die Silberhöhlen

Mitternacht mochte bereits vorüber sein, da standen in dem Steinkreis der Opferstätte mehrere Männer, die sich leise unterhielten.

»Wir werden ohne Zweifel den Hals brechen«, sagte der eine, der Paul Petersen war.

»Wo ist Egede geblieben?« fragte Olaf.

»Er ist dort am Felsen hinuntergeklettert, weil sein Hund ihn dazu antrieb«, antwortete Paul. »Da kommt er zurück.«

»Eine wichtige Entdeckung!« flüsterte der Quäner. »Stufen führen am Felsen hinab, unten ist eine weite Höhle, durch die der Wind pfeift. Der Hund zog mich an der Leine fort, ich folgte ihm, endlich hörte ich Bäume und Wasser rauschen. Da stand Yern still und knurrte. Ich kehrte sogleich um.«

»Es muß das Tal sein, das du gesehen hast, Olaf«, sprach der Schreiber. »Ich will meinen Hals verwetten, daß die Prinzessin da unten steckt.«

Gustav, der auf dem Opferstein saß, stand auf und sagte: »Geh voran, die Zeit eilt.«

»Mein guter Junge«, lachte Paul, indem er ihn festhielt, »du kommst früh genug dazu, entweder deinen Kopf an den Steinen zu zerschlagen, oder die unangenehme Bekanntschaft einer Lappenkugel zu machen. Steh also ein paar Minuten still und laß uns überlegen.«

»Weshalb sind wir hierher gezogen, wenn wir uns fürchten wollen?« antwortete Gustav ärgerlich.

Nach kurzem Kriegsrat wurde beschlossen, eine nähere Untersuchung anzustellen, und als sie ohne Unfall die tiefe Schlucht erreicht hatten, fanden sie bestätigt, daß dort ein Gang durch die Felsen führe. Bald standen sie am Ausgang und hörten nun in der Ferne den dumpfen Lärm des Wasserfalles. Nach einer neuen Beratung blieb Olaf als Posten im Gewölbe zurück. Die andern kletterten über das Geröll hinunter, bis sie an den Bach gelangten, wo Egedes Spürhund nach der linken Seite hinüberwitterte.

Sie schlichen vorsichtig in derselben Richtung am Bach entlang, bis der Hund plötzlich knurrend stillstand, und die Männer nun zu ihrem Erstaunen das wohlgebaute Häuschen vor sich erblickten, das, wie der matte Sternenschein zeigte, sogar mit Fenstern versehen war.

»Alle Wetter! Ein Blockhaus«, murmelte Paul. »Wer mag darin sein?«

»Fühlt her, wie Yerns Haar gesträubt ist«, sagte der Quäner, der die Hand auf den Rücken seines Hundes gelegt hatte. »Lappen schlafen darin – Afraja! Mortuno! Wart, ich werde euch wecken!«

Er zog zugleich leise lachend sein Messer aus der Lederscheide heraus und horchte.

»Narr«, flüsterte der Schreiber, »Afraja schläft in keinem Hause von Holz. Eher glaube ich, daß sie den Palast für das Lappenmädchen gebaut haben.«

Im selben Augenblick hielt er Gustav fest, der ungeduldig seine Hand nach der Tür ausstreckte.

»Steh still, wenn du nicht alles verderben willst«, fuhr er leise fort. – »Hier ist die kleine Blendlaterne, hier die Zündbüchse. Egede, mach Feuer!«

Der Quäner vollzog den Befehl mit größter Schnelligkeit. Geräuschlos drehte sich die Tür in den Schlingen von Birkenruten. Mit der aufgehobenen Laterne in der Hand trat Paul hinein, dicht gefolgt von seinen Gefährten. Er ließ den Schimmer umherfliegen. Plötzlich streckte er schweigend den Finger aus und deutete auf eine Ecke, wo aus Kissen und Fellen eine Lagerstätte bereitet war, auf der Gula sanft und fest schlief.

Ohne Zögern trat der Schreiber näher, und mit einer raschen Wendung der Laterne ließ er ihr volles Licht auf die arme Verratene fallen.

Die Wirkung erfolgte augenblicklich. Wie von einem elektrischen Funken getroffen, zuckte Gula zusammen und saß in der nächsten Sekunde aufrecht. Ihr Haar flog zurück, ihr Auge fiel auf Gustav, und damit zugleich schallte die Hütte von einem gellenden Schrei.

»Stopf ihr den Mund!« rief Petersen, und Egede schleuderte ihr eine der Decken über den Kopf, war sie nieder und griff mit seiner mörderischen Faust nach ihrer Kehle. Ehe jedoch Gustav ihn davon zurückhalten konnte, erhielt jener von der andern Seite einen so gewaltigen Stoß, daß er kopfüber zu Boden stürzte, und über ihm richtete sich ein weißer Kobold auf, der unter seltsamem Grunzen auf ihm herumtrat. – Es war Gulas Renntier, das, aus seinem Winkel aufgesprungen, seiner unglücklichen Herrin Beistand leistete.

Egede war so erschrocken, daß er lautlos still lag. Sobald er aber seinen Gegner erkannt, war auch sein Messer dem getreuen Geschöpf durch die Rippen gefahren, das an Gulas Lager wankte und ohne einen Laut zu tun, auf seine Vorderfüße zusammensank.

»Hör mich an, Gula!« sagte Gustav, dessen besseres Gefühl erwachte. »Sei ohne Furcht, ich bin es, Gustav.«

»Blut! Blut!« schrie das arme Mädchen, die den fürchterlichen Quäner und das sterbende Tier ansah.

»Mach ein Ende, Egede«, sagte Petersen hervortretend, »wenn es mit uns kein Ende nehmen soll. Dies Geschrei muß ein Lappenohr auf eine Meile hören.«

Aber Gula schien beim Anhören dieser Stimme jede Macht zum Widerstand verloren zu haben. Sobald sie die Gegenwart des Schreibers bemerkte, war ihr Blut zu Eis geronnen. Lautlos verrichtete Egede seine Arbeit und in allerkürzester Zeit hatte er das Mädchen gebunden und ihr den Mund verstopft. Nichts regte sich draußen. Petersen horchte hinaus, kehrte noch einmal um und leuchtete durch die Hütte. Mit seltener Fingerfertigkeit machte er sich an die Untersuchung der Kasten, und was er fand, setzte ihn in Erstaunen. Da lagen Messer, mehrere Dutzend neue Büchsen und allerlei sonstige Waffen. In einer anderen Kiste fand er mehrere Fäßchen, gefüllt mit Pulver und eine Anzahl Bleibarren. Eines der größten Pulverfässer trug Stures Namen, und wohl eine Minute starrte Paul darauf, wobei nach und nach ein teuflisches Lächeln seinen Mund umzog. Er winkte Egede zu, und dieser mußte sämtliches Pulver nach dem Bach tragen und hineinwerfen. Erst als dies geschehen und der Quäner zurückgekehrt war, verließen sie alle mit der Gefangenen die Hütte.

Olaf stand auf seinem Platz im Gewölbe und wurde von dem glücklichen Erfolg benachrichtigt. Er selbst hatte nichts gehört oder gesehen.

»Desto besser«, sagte Paul. »Jetzt fort mit uns! Zwei Stunden haben wir vollauf zu tun. Wenn der Morgen anbricht, müssen wir bei unseren versteckten Pferden und im Sattel sein.«

Egede hob das Mädchen wieder auf und trug sie die Felsentreppe hinauf. Von hier ab ging es an der schroffen Wand hinunter, dann mußte der See eine Strecke lang durchwatet werden, und endlich durch Sümpfe und Büsche. Gustav, Olaf und Egede trugen abwechselnd die leichte Last des Mädchens, und stundenlang schritten sie mit der zähen Kraft dieser Nordländer weiter, bis endlich durch die graue Färbung des Himmels ein Licht zu dringen schien, vor dem die Dunkelheit der Nacht unmerklich zerfloß. Als Petersen sich umwandte, sah er den ungeheuern, rotfunkelnden Scheitel des Kilgis aus Wolken und Nebeln treten.

»Dort liegt die Pitsajaur«, rief er aus, »und hier herum im Grund müssen unsere Pferde stecken. Gustav, setz jetzt die Prinzessin ab und ruh aus von der Anstrengung. Egede wird ihr einen vierbeinigen Träger schaffen.«

Aber Egede folgte dem Gebote nicht. Er stand still und horchte, denn sein Hund, der bisher folgsam hinter ihm hergetrabt war, streckte die Nase in die Luft, murrte und zeigte seine Zähne.

»Was ist das?« sagte Paul. »Ist das Gesindel uns auf den Fersen? Fort mit euch hinter die Steine! Egede, such die Pferde, so schnell du kannst. Sieh da – Mortuno, so wahr ich lebe! Er ist allein und läuft wie ein junger Luchs. Nun warte, du kommst mir gerade recht!«

Der Schreiber stand auf einem freien Raum, hinter dem ungeheure Steinblöcke zerstreut umherlagen.

Auf einer fernen Bodenwelle war eine menschliche Gestalt sichtbar geworden, die sich beim Näherkommen wirklich als Afrajas Neffe erwies. Er lief gerade auf Petersen los. Doch dreißig Schritte von ihm stand der Lappe plötzlich still und suchte Atem zu schöpfen.

»Wie?« schrie Paul, »bist du es, mein guter Freund, der uns in solcher Früh einen Besuch macht? Komm, setz dich zu uns, unser Feuer soll dich wärmen.«

»Wo hast du Gula gelassen?« rief der Lappe, indem er seine Büchse aufhob.

»Ist dir deine Braut davongelaufen, armer Junge?« antwortete der Schreiber. »Tritt näher, wir wollen sie dir suchen helfen.«

»Falscher Mann, du hast sie gestohlen!« schrie Mortuno. »Gib sie heraus! Wo ist sie?«

»Hier, Mortuno, hier! Gula hat uns selbst Nachricht von ihrem Aufenthalt gegeben, wie hätten wir sie sonst auffinden können? Ihr innigster Wunsch ist, wieder bei ihrem Wohltäter Helgestad zu leben. Wie kannst du darüber so böse sein?«

»Du lügst!« rief Mortuno. »Ein Geschrei hat mich aufgeweckt. Ich habe Gulas treues Tier gefunden, das du gemordet hast. Wohin dein Fuß tritt, ist Blut, wohin dein Auge sieht, verdorrt Gras und Blume.«

»Ich habe es immer gesagt«, lachte Paul, indem er langsam sein Gewehr aufhob und den Hahn spannte, »daß du eine dichterische Ader hast. – Für jetzt aber rühr dich nicht, ich bitte dich darum, denn sowie du eine Bewegung machst, gibt es ein Unglück.«

Indem er dies sagte, hörte Mortuno einen gellenden Schrei. Er stand der Büchsenmündung des listigen Schreibers gegenüber, der auf ihn angelegt hatte, und zweifelte nicht, daß die geringste Bewegung ihn niederstrecken würde. Bei dem Schrei jedoch rollten seine Augen nach dem Stein hin. Er sah Gula nicht, aber es war ihre Stimme, und mit Blitzesschnelle duckte er sich zusammen, machte einen Sprung dem Versteck entgegen und drückte seine Waffe in demselben Augenblick auf Paul ab, als die Gefangene zwischen den Steinen hervor ihm entgegenlief. Paul schoß mit einem Fluch nach dem Lappen, der jedoch ohne Zweifel unverletzt geblieben wäre, hätte nicht fast zugleich noch ein Schuß geknallt, der besser traf. –

Mortuno stürzte lautlos nieder, und Gula warf sich über ihn, ohne einen weiteren Versuch zur Flucht zu machen, die nicht gelingen konnte, denn Gustav war dicht hinter ihr, und Olaf sprang mit seinem rauchenden Gewehr an ihr vorüber. Aber alle blieben stehen, und selbst Paul, so boshaft er war, sagte kein freches Wort, als er das arme Kind an der Seite des unglücklichen Jünglings knien sah. Sie hatte ihm das Haar zurückgestrichen und blickte stumm und tränenlos in seine starren, gebrochenen Augen.

»Warum habt ihr sie schreien und laufen lassen, wir hätten ihn gewiß lebendig bekommen«, sagte Paul zornig.

»Sie hatte Gustav flehentlich gebeten, ihre Arme loszuschnüren«, antwortete Olaf, »und wurde wie toll, als sie den Burschen hörte.«

»Sie wird ihn niemals mehr hören«, murmelte der Schreiber. »Einen guten Zoll tiefer hast du ihm seinen Meisterschuß durch deinen Hut zurückgegeben, das reicht hin für alle Zeit. Aber wahrhaftig«, fuhr er fort, indem er an seine Seite faßte, »ich glaube, der Schelm hat nicht dir allein den Hut, sondern auch mir den Rock verdorben.«

Er merkte erst jetzt, daß Mortuno eine Kugel in seinem Lauf gehabt, und als er an seine linke Seite faßte, brachte er die Finger blutig zurück.

Olaf sah hin und sagte dann: »Die Haut ist fortgerissen und ein tüchtiges Stück Fleisch dazu.«

»Nun, er hat seinen Lohn dafür erhalten!« sagte Paul. »Jetzt aber müssen wir dieser Szene ein Ende machen. Da kommt Egede mit den Pferden, gib acht auf sein liebenswürdiges Lächeln, wenn er den Burschen, den er so lange haben wollte, ohne ihn je bekommen zu können, jetzt als einen stillen Mann vor sich sieht, der ihm nie wieder entspringen wird.

Hier trennen sich unsere Wege. Ich muß geradeaus an den Lyngenfjord, wo morgen der Markt eröffnet wird, du wirst mit Gustav und Egede und dem Mädchen links auf die hohe Jaur losziehen, die sich soeben im Morgenschein sehen läßt. Hinter ihr liegt der Quänarnerfjord. Egede ist dort gut bekannt, er hat einen Vetter an der Lachs-Elf wohnen, dessen Boot euch zu Diensten steht, um damit nach Loppen hinüberzufahren, wo wir vorläufig das Mädchen verbergen wollen.«

»Du willst sie nicht an Helgestad geben?« fragte Olaf.

»Nicht früher, als bis der Markt vorüber ist«, versetzte Paul. »Brächten wir jetzt Gula dahin, würde Lärm und Geschrei entstehen. Sie muß verschwinden, bis wir den alten Schelm Afraja in unserer Macht haben. – Wo hast du das Götzenbild, das er dir verkaufte?«

»In meiner Tasche.«

»Gut, verwahr es wohl. Jubinal wird trefflich für uns sorgen. Wind gibt es vollauf, der Himmel sieht danach aus. Zu meiner Hochzeit bist du jedenfalls wieder in Örenäesgaard. Ilda würde den besten Tänzer vermissen, obenein da der dänische Junker fehlt.«

Der Nordländer fühlte den Spott. »Hör«, sprach er mit einem finsteren Blick, »ich bin kein Mann für deine Witzeleien. Ich hab den Burschen niedergeschossen, weil ich nicht anders konnte, weil er auf dich losbrannte, und weil er es verdient hat, aber lachen kann ich weder darüber noch über den Jammer und die Not des Mädchens. Alles Böse in dieser Sache fällt auf dich.«

»Kannst du nicht lachen, so laß es bleiben«, sagte Paul, »im übrigen nehme ich alle Folgen auf mich.«

Die Aufmerksamkeit der Männer wurde jetzt durch Egede in Anspruch genommen. Er stand vor dem Toten, gegen den er die Fäuste ballte, in die Luft sprang, in wahnsinniger Lustigkeit auflachte und eine Reihe der schändlichsten Hohn- und Schimpfwörter ausstieß, die Mortuno nicht mehr hörte. Wohl aber hörte sie Gula, die noch immer auf ihren Knien leise betete und weinte, plötzlich aber aufstand und vor den Leichnam trat.

»Schamloser Mann«, sagte sie, »wagst du es, ihn anzusehen? Solange er lebte, hattest du Furcht vor ihm, solange er lebte, verachtete und verlachte er dich. Geh und laß diesen Toten, dem du einst Rede stehen mußt vor Gottes Richterstuhl.«

Die Würde und Gewalt ihrer Worte waren so überraschend, daß der Quäner davor erschrak und, obwohl er die Fäuste ausstreckte und seine Zähne fletschte, doch zurückwich, denn der Gedanke an Gottes Richterstuhl hatte wenigstens eine augenblickliche Wirkung hervorgebracht.

»Genug des Geschwätzes«, schrie Petersen, »es ist Zeit zum Aufbruch. – Egede, greif zu, setz die Prinzessin auf das beste Pferd, und dann fort mit euch allen!«

Die schwere Faust des Quäners wollte das unglückliche Opfer emporreißen, doch Gustav stieß ihn zurück und nahm Gulas Hand. Er sah sanft und niedergeschlagen aus, seine Augen waren scheu und unsicher. »Komm, Gula, komm mit mir«, sagte er leise. »Ich verlasse dich nicht, niemand soll dich anrühren, du hast nichts zu fürchten.«

»O Gustav!« antwortete sie, »ist es denn möglich, daß du bei diesen blutigen Männern bist? Erbarm dich meiner Not und bring mich zu meinem Vater zurück. Lieber Gustav, bring mich zu ihm!«

»Ich kann dich nicht zu deinem Vater bringen, Gula!« murmelte Gustav. »Ich habe einen schweren Eid geschworen.«

»Geschworen, Gustav? Geschworen, Böses zu tun?«

Sie sah flehend zu ihm auf, er stand bleich und stumm, aber an seiner Stelle rief Paul: »Bist du ein Mann, Gustav?«

Dies eine Wort brachte Helgestads verleiteten Sohn zum Entschluß. Wie eine Feder hob er den leichten Körper des Mädchens auf, und in der nächsten Minute hatte er es auf den Sattel gesetzt. Den Zaum ergreifend, lief er mit dem Pferd rasch durch das trümmervolle Fjeld der hohen Jaur zu.

Egede sprang mit seinem Hund voran und suchte den besten Pfad, Olaf folgte, und als sie ein Stück entfernt waren, bestieg Paul das andere Pferd und klopfte befriedigt dessen Nacken. »Los wären wir sie«, sagte er, »und nun, mein Gaul, trage mich an den Lyngenfjord hinunter. Jetzt habe ich sie, Helgestad samt seinem Geld, Afraja, den elenden Dänen – ich habe sie alle in meinen Fingern, und bei Jubinal und Pekel! Keine Macht soll diese Finger öffnen!«

Er trieb sein Tier an, ohne einen Blick auf den Toten zu werfen, vor dem das Pferd zurückprallte, und jagte, nachdem er sich durch das Geröll und Gestrüpp hindurchgearbeitet hatte, über die moosbedeckten Fjelden im vollen Lauf dahin.

Als Henrik Sture aus seiner Bewußtlosigkeit erwachte, überzeugte er sich nach und nach zu seiner Verwunderung, daß er sich in einem weiten, hohen Gewölbe befand, in dem ein lautloses Schweigen herrschte, und durch dessen Nacht zuweilen ein rotes Licht blitzte.

Nach einigem Besinnen erinnerte sich der junge Mann, was zuletzt mit ihm geschehen war. Aber dies war weder das Zelt auf der Opferstätte, noch Gulas Hütte. – Er saß in der Ecke eines Felsenpfeilers am Boden, in einem Spalt flammte eine Fackel, und vor ihm hockte eine Gestalt, in der er ohne Mühe Afraja erkannte.

»Afraja, wo sind wir?« fragte er. »In einer Höhle?«

»Du sagst es«, antwortete der greise Mann.

»Was soll ich hier? Wie bin ich hergekommen?«

»Jubinals Boten trugen dich, er wollte es so. Steh auf und folge mir. Sprich nicht, aber laß deine Augen sehen.«

Er nahm die Fackel aus dem Spalt und schritt voran. Der leiseste Ton schallte verzehnfacht von dem Gewölbe wider, der Fackelschein fiel in Klüfte und Gänge. In der Nähe funkelten die Wände, als wären sie mit zahllosen Diamanten oder Sternen besetzt, und jetzt spaltete sich die Felsen wand, und Afraja leuchtete in einen abwärtsführenden Gang, während sein Begleiter einen Ausruf der Bewunderung nicht unterdrücken konnte.

Es war ihm, als hätte er in das Zauberreich der Feen und Elfen geschaut. Von dem strahlenden Gefunkel wurden seine Augen geblendet; das war Metall, schweres, vollwichtiges Metall – das war Silber, reines Silber. Er hatte von Märchen gehört, von Grotten, wo alles Silber war, wo Blumen und Bäume von Silber wuchsen, wo silbernes Moos, aus dem Boden sproß, hier sah er das Wunder staunend vor sich. Von der Decke hingen Blätter und Ranken nieder, große, strahlende Blumen und Gewinde. Aus den zackigen Wänden ragten sie und umgitterten gediegene Stufen, die darunter wie in Netzen und Grotten lagen.

Ungeheure Reichtümer waren hier ohne alle Mühe zu sammeln. Dieser unscheinbare Greis in seinen Fellen besaß mehr, als je in eines Königs Schatzkammer gelegen hatte.

Afraja neigte seine Fackel nieder und beleuchtete schweigend eine Reihe großer Töpfe und alter Kasten, die unter der Wölbung standen. Sie waren mit großen Geldstücken gefüllt, grün und blind von Schmutz und Feuchtigkeit; das mußte der Schatz sein, den seine Vorfahren seit Jahrhunderten aufsparten. Ohne ein Wort zu sprechen, sah Afraja den Junker an, und sein triumphierendes Lachen bewies, daß er mit dem Eindruck zufrieden war.

»Es ist kein Traum!« sagte Henrik, an seine Stirn fassend. »Ich sehe es wirklich, oder sollte es doch zauberisches Blendwerk sein?«

»Überzeug dich«, antwortete der Greis, riß eines der Geflechte los und legte es in Stures Hand. »Im Enare Träsk«, fuhr er fort, »gibt es andere Höhlen, größer noch als diese, ganz von Silberadern durchzogen, und alles sollst du haben, alles soll dein sein. Du hast gesehen, was noch keiner von deinem Volk sah, und ich habe dich hierher geführt, damit du erkennen kannst, daß ich die Mittel besitze, mein Werk zu vollenden. Hilf mir, du bist kühn, ich liebe dich. Dankbarer will ich dir sein als dein eigener Stamm.«

»Was ich sehe, ist wunderbar!« rief der Junker. »Ich stehe erstaunt und kann es nicht fassen. Doch sollten auch alle diese Schätze mein sein, so würde ich sie dennoch fortwerfen, ehe ich täte, was du wolltest.«

»Du willst nicht?« fragte der Lappe, indem er seine funkelnden Augen starr auf ihn heftete.

»Ich kann nicht«, antwortete Henrik. »Ich begehe kein Verbrechen.«

»Hier straft dich niemand«, flüsterte Afraja.

»Aber mein Gewissen! Ich bin ein Mensch, ein Christ! Ich habe geschworen, dir zu allem Guten zu helfen. Gern will ich nach Kopenhagen eilen, will mich dem König zu Füßen werfen, will ihm deine Geschichte erzählen. Und was die Gewalt der Wahrheit und des Rechtes nicht tut, das wird dein Silber vermögen. Laß ab von deinem Vorhaben, das dich und dein Volk verderben muß.«

Afraja schüttelte zornig den Kopf.

Im roten Schein der Fackel sah er wie einer der tückischen, zauberkundigen Zwerge aus, die einst in solchen Höhlen und Klüften des Nordens wohnten, und als ihn Sture anschaute, konnte er sich eines unheimlichen Grausens nicht erwehren.

»Laß uns gehen«, sagte er hastig, »was soll ich hier noch unter deinen Schätzen?«

»Du willst mich verraten«, rief Afraja, »aber du sollst nicht fort!«

»Was willst du tun?« fragte Sture, und griff nach dem Arm des Lappen, dessen wildes, drohendes Gesicht ihn Böses ahnen ließ.

Aber mit jugendlicher Gelenkigkeit sprang Afraja zurück, und ein entsetzliches Gelächter ausstoßend, floh er mit der Fackel durch die Gänge, und plötzlich war überall um Sture Nacht und Schweigen.

Nach wenigen strauchelnden Schritten hatte der hilflose Mann die Verfolgung eingestellt. Er tappte bis an die Wand der Höhle. Mit unbezwinglicher Gewalt ergriff ihn jetzt der Gedanke, daß er hier elend mitten unter Schätzen umkommen könnte, wenn Afraja seine Grausamkeit bis zum Äußersten triebe. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand, ob nah ob fern vom Kilgis, ob in den Eingeweiden dieses heiligen Berges, ob in der Tiefe eines Fjelds.

»Ich weiß nicht, ob du mich hörst«, sagte er endlich, indem er sein steigendes Entsetzen niederzukämpfen suchte, »aber ich hoffe es von deiner Redlichkeit. Du willst mich erschrecken, doch du wirst nichts dadurch erreichen. Lieber will ich tausendmal umkommen, ehe ich mein Seelenheil verliere.«

Er schwieg und es verging eine geraume Zeit, ohne daß ein Laut zu hören war. Der verlassene Mann wagte es nicht, die Stelle aufzugeben, wo er sich befand. Er wußte nicht, ob er nicht beim nächsten Schritt in die Tiefe stürzen oder, wenn er einen Ausweg suchte, sich unrettbar in diesen Klüften und Gängen verlieren könnte. Je mehr er überlegte, um so weniger konnte er sich darauf besinnen, wie er hierher gelangt war. Nur soviel war ihm gewiß, daß Afraja ihm irgendein schwer betäubendes Getränk gereicht haben mußte, und daß er dann seine Bewußtlosigkeit benutzt hatte, um ihn an diesen verborgenen Ort zu bringen. Vielleicht war er dicht bei dem Tal, vielleicht ganz in Gulas Nähe, hinter der Wand ihrer Hütte, und sie konnte seinen Ruf vernehmen. Von dieser Vorstellung ergriffen, rief er plötzlich mit großer Gewalt ihren Namen.

»Gula! Gula!« rief er, und »Gula, Gula« donnerte das Echo aus den Klüften und Gängen zurück.

»Gula!« schrie er noch einmal in Verzweiflung.

»Komm!« sagte Afraja, indem er ihm am Arm ergriff. Er mußte dicht neben ihm gestanden haben.

Dies einzige Wort goß einen neuen Lebensstrom durch Henriks Adern. In diesem Augenblick erst empfand er das Grausige seiner Verlassenheit, und mit einem fieberhaften Griff packte er den Lappen.

»Du rufst nach Gula«, sagte der Alte, »ich will dich zu ihr fuhren, du starrsinniger Mann! Mag sie versuchen, dein Herz zugunsten ihres Volkes zu erweichen.«

Sture überließ sich der Leitung seines Führers, der ungeachtet der dichten Finsternis sicher, jedoch so lange Zeit vorwärts schritt, daß danach zu urteilen, diese Gewölbe eine große Ausdehnung haben mußten. Endlich gelangten beide an einen jäh abwärts führenden Spalt, aus dem ihnen plötzlich ein scharfer Zugwind entgegenwehte. Gleich darauf erblickte Sture über sich einen Stern. Er atmete auf, Himmel und Luft hatten ihn wieder.

Das erste Morgengrauen drang jetzt durch die Finsternis, aber vergebens suchte Henrik zu erraten, wo er war. Der Spalt senkte sich tiefer und tiefer, bis er auf seinem Grund das Bett eines kleinen Wassers bildete, das die Wanderer durchwaten mußten. Sie stiegen die andere Seite empor, gelangten in eine zweite Schlucht, und als eine neue Höhe gewonnen war, ließen aufsteigende Nebel nichts erkennen, obschon es der Stunde nach jetzt heller Tag war. Da auf einmal faßte der Wind die bleifarbigen Dünste, löste sie auf oder warf sie in die Einschnitte des zerrissenen Landes, und plötzlich tat sich dies auf und zeigte die hohen Alpen und das rotglänzende Haupt des Kilgis, in dessen Nähe sich der Junker zu befinden gewähnt hatte, und den er nun zu seiner Verwunderung mehrere Stunden entfernt ihnen gerade gegenüberliegen sah.

»Wohin soll ich dir folgen, Afraja?« fragte Sture, als sein Begleiter Halt machte.

»Zu der, die dich erwarten wird. – Hörtest du nichts?«

»Nein«, sagte Henrik.

»Es war ein Schrei«, murmelte Afraja. »Noch einmal! Hörst du noch nichts?«

»Es war mir, als fiele ein Schuß, doch kann es Täuschung sein.«

Eine große, braune Möwe mit weißer Brust flog schreiend gegen den Wind her, umkreiste ihre Köpfe und schwang sich höher und höher, bis sie mit ihrem klagenden, wilden Ruf wieder dieselbe Richtung nahm, aus der sie gekommen war. Der Lappe sah ihr eine Zeitlang nach. »Wer schickt dich?« fragte er dann. »War es eine Seele, die mir ihren Scheidegruß bringt?«

Sture wunderte sich nicht über diese Frage, denn er kannte den Aberglauben der Lappen. Allein er folgte unwillig, als er sah, daß Afraja, statt auf den Kilgis loszuschreiten, dem Flug des Vogels folgte und ohne sich an seinen Ruf zu kehren, einen sehr beschwerlichen Weg über ein hochaufsteigendes Fjeld von Geröll nahm. Alle Lappen sind rüstige Fußgänger, und auch Sture erkannte, daß selbst dieser alte Mann ausdauernder war als er selbst.

Wohl eine Stunde verging. Afraja hatte einen großen Vorsprung gewonnen und verschwand auf der Höhe des Fjelds. Als auch der Junker endlich nach vieler Mühe oben stand, sah er plötzlich vor sich eine von Felsen umgebene Bodensenkung, in deren Mitte Afraja saß und eine menschliche Gestalt betrachtete, die ausgestreckt vor ihm lag. Es war der Platz, wo kurze Zeit vorher Mortuno geendet hatte.

Als Henrik in das blutige Gesicht des Toten sah, stieß er einen Schrei des Entsetzen aus. Wer konnte ihn erschlagen haben? Wer hatte diese Tat vollbracht? Wie kam Mortuno hierher? – Sein zersplitterter Schädel, das Blut, das eine Lache bildete, und der rund umher zertretene Boden bewiesen, daß Kampf und Tod auf dieser Stelle erfolgt sein mußten.

Eine Ahnung kam über ihn, aber er mochte sie nicht aussprechen.

Afrajas Gesicht war ernst und würdig, sein Schmerz mußte groß sein, doch er wußte ihn zu tragen. Während er den Leichnam betrachtete, schien er in Nachdenken versunken, bis er zuletzt nach der Sitte seines Volkes eine Totenklage zum Lob des Verschiedenen begann.

»Da liegst du«, sagte er, »und gestern noch sah ich dich so froh und leicht über die Heide gehen, wie der junge Hirsch, wenn die Morgensonne ihn weckt. Wer hatte Füße wie du, wer hatte Augen wie du, wer hatte dein Herz voll Mut und Treue? Oh! Mortuno, warum bist du von uns gegangen, warum hat Jubinal dich nicht behütet? – Wehe über meinen alten Kopf! Wehe über deine Wunden! Weinen wird über dich, wer Tränen hat. Deine Tiere selbst werden Tränen vergießen, nur deine Mörder werden sich freuen. Fliege, Seele, fliege in die Arme Jubinals, er wird dich in den ewig blühenden Garten führen, wo seine Töchter dich umringen, aber sorge nicht – sorge nicht – die dich schlugen, werden geschlagen sein. Ihren Leib sollen Schlangen verzehren, ihre Seelen sollen Eis werden!«

»An wen denkst du? Wer soll es sein?« rief Sture.

Afraja erhob sich und deutete auf die Spuren verschiedener Füße. »Sieh her«, sagte er, »das waren Männer, die feste Sohlen an ihren Stiefeln trugen, und hier sind die Hufe von Pferden.« – Er verstummte und schritt gebückt auf der Spur weiter, bis nach dem Felsstück, hinter dem Olaf gestanden hatte. Plötzlich nahm er etwas auf. Es war ein kleines blaues, mit roten Fäden gesticktes Tuch, und auf der Stelle erkannte er, wem es gehört hatte. Der Stab fiel ihm aus den Fingern, er hielt den Fetzen mit beiden Händen vor sich ausgestreckt, gedankenlos, stier, als könnte er nicht glauben, was seine Augen sahen.

Da bellten Hunde und auf die Höhe des Fjeldes sprangen Männer in braunen Kitteln, die wilde und entsetzte Mienen zeigten.

»Guter Vater!« schrie der vorderste, »oh, was ist geschehen! Deine Gamme ist leer, deine Tochter haben Räuber genommen. Alles liegt zerwühlt, auch Gulas treues, weißes Tier hat den Tod gefunden. Wehe, wehe! Was sollen wir tun?«

Da brach Afrajas Mut zusammen. Seine Fäuste ballten sich und streckten sich in ohnmächtiger Wut zum Himmel. Hohn, Grimm und Verzweiflung malten sich in seinem Gesicht. Seine Augen wurden groß und flammend, seine Lippen zitterten, er konnte keine Worte finden. – Endlich entrang sich ein wirrer Schrei seinem Mund. Er fiel mit dem Gesicht zu Boden und faßte mit seinen Händen in Stein und Staub.

Was halfen die Trostworte und Klagen. Nach einer Weile hob ihn Henrik auf; der alte Mann schien in einem fast fühllosen Zustand zu sein. Er antwortete auf keine Anrede. Seine Leute trugen ihn dem Kilgis zu. Andere verfolgten mit ihren Hunden die Spuren der Räuber. Sture schloß sich ihnen voll Zorn und Abscheu an.


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