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Zwölftes Kapitel.

Die Minuten schienen Schwingen von Blei zu haben; fünf von ihnen dünkten mich beinahe eine Ewigkeit. Aber weder Madame Boissy-Rennes noch ich brachen das peinvoll lastende Schweigen. Sie saß nach wie vor am Tische, den Kopf auf beide Hände gelegt; ich schritt langsam in meiner Ecke des Zimmers hin und her. Als sodann die anderen kamen, bemerkte ich auf den ersten Blick, daß Sterling sie vorbereitet hatte.

Madame Boissy-Rennes, sagte der alte Rechtsanwalt, als er unbemerkt von der Dame, die er anredete, neben sie getreten war.

Beim Klange seiner Stimme sprang sie auf.

Maître Guichard, Sie hier! rief sie, während sich grenzenloses Erstaunen in ihren Zügen malte.

Zum Unheil und zum Heil, zum Glück und zum Unglück bin ich hier, erwiderte er mit ruhiger Würde. In meinem langen Leben bin ich der Hüter vieler Familiengeheimnisse gewesen. Es schmerzt mich, auch das Ihrige zu kennen. Aber vielleicht ließe es sich geschickteren Händen anvertrauen.

Jetzt erst fielen Madame Boissy-Rennes' Augen auf Estelle, die bleich und zitternd an der Tür stand. Das schuldige Weib fuhr mit einem Aufschrei des Schreckens beim Anblick der edlen Gestalt des jungen Mädchens zurück, dem sie zuerst so grausames Unrecht zugefügt und das sie dann so herzlos hintergangen hatte.

Mademoiselle Berthault – auch – hier? stammelte sie. O, um des Himmels willen, führen Sie sie fort, bat sie mich. Es sind der Zeugen genug für meine Schande.

Sterling hörte diese Worte. Er sah mich fragend an, und auf mein bejahendes Nicken geleitete er Estelle aus dem Zimmer. Die beiden Damen hatten kein Wort miteinander gewechselt. Sterling kam nicht zurück.

Der Rechtsanwalt und ich blieben nun mit der Schuldigen allein, dem gewissenlosen Weibe, das so viel Elend über andere gebracht hatte, das meiste jedoch über sein eigenes unseliges Haupt.

Maître Guichard, begann ich, wollen Sie die Güte haben, dieses Kuvert zu öffnen? Prüfen Sie den Inhalt des Kuverts, und wenn einer von den darin enthaltenen Briefen ohne Nachteil für Ihren Freund, den Hauptmann Berthault, dieser Dame überlassen werden kann, so mag er ihr überlassen werden.

Das Kuvert ist an Sie gerichtet, Madame, erwiderte er, zögernd von dem Papier aufblickend, das ich ihm überreicht hatte.

Oeffnen Sie es, murmelte sie.

Der Rechtsanwalt folgte ihrer Aufforderung. Er las langsam und bedächtig, erst einen Brief, dann einen zweiten. Darauf erhob er seine Augen zu mir.

Dieser rettet meinen Freund, sagte er, indem er eins der Dokumente in die Höhe hielt.

Dann nehmen Sie, bitte, von ihm zugunsten Mademoiselle Berthaults Besitz.

Er steckte sofort das Papier in seine Seitentasche.

Und das andere, fügte er traurig hinzu, kann nur für Madame Boissy-Rennes von Wert sein.

Er hatte es mir überreicht; ohne jedoch einen Blick auf das Schreiben zu werfen, händigte ich es der Dame ein. Sie steckte es vorn in ihr Kleid und ließ sofort den Schleier fallen.

Haben Sie die Güte, sagte ich zu dem Anwalt, meinem Freund mitzuteilen, daß ich mich entfernt habe, um Madame Boissy-Rennes nach Hause zu begleiten.

Sie sollen nicht mit mir kommen! rief sie, Sie, der Sie mich zugrunde gerichtet, der Sie mich unter Ihre Füße getreten haben!

Ich bedaure, daß Sie solche Gedanken hegen, Madame, aber ich verlasse Sie auf keinen Fall, bis Sie wohlbehalten zu Hause sind.

Ich sah, wie sie ihre Hände in ohnmächtigem Grimme rang; aber nach kurzem Kampfe mit sich selbst fügte sie sich meinem Willen.

Keines von uns sprach ein Wort während der langen Fahrt bis nach dem Boulevard Malesherbes, aber ich konnte hören, wie sie jenen verhängnisvollen Brief Stück für Stück in Fetzen riß, und bei dem Dämmerlicht der sternhellen Nacht konnte ich bemerken, wie die schmalen weißen Papierschnitzel auf die Straße flatterten.

Als ich die Glocke am Torweg ihrer Wohnung berührt hatte und die von dem unsichtbaren Portier gezogene Schnur das Schloß hatte aufspringen lassen, wollte ich ihr einige Worte des Trostes zum Lebewohl sagen. Aber sie gab mir keine Gelegenheit, sie auszusprechen; sie war ins Haus geschlüpft, und die Tür hatte sich hinter ihr geschlossen, fast ehe ich bemerkte, daß sie fort war.

Die unglückliche Frau war an jenem Abend aus meinem Gesichtskreise und zugleich aus der Welt verschwunden; denn die Abendblätter vom nächsten Tage meldeten einen traurigen Unglücksfall: Oberst Boissy-Rennes und seine Frau waren an Kohlendunst erstickt in ihrem Schlafzimmer gefunden worden.

Die Ereignisse dieser zwei schrecklichen Tage hatten mich außer Fassung gebracht. Ich konnte nicht nach London zurückkehren und meine alltägliche Beschäftigung wieder aufnehmen. Außerdem war meine Anwesenheit dort nicht unbedingt nötig. Auch Sterling bat mich, zu bleiben. So hielt ich mich noch eine Woche in Paris auf. Das Atelier war mein Heim, und die Lektüre der Zeitungen schien unsere Hauptbeschäftigung zu bilden, denn morgens und abends wurden sie in fast fieberhafter Aufregung verschlungen.

Das Publikum erhielt niemals auch nur die leiseste Andeutung des wahren Grundes von jenem Unglücke am Boulevard Malesherbes.

Auch der Fall Berthault wurde nie in der Presse erörtert. Denn obgleich wir wußten, daß der Hauptmann sofort in Freiheit gesetzt worden war, so wurde doch die Tatsache seiner Rechtfertigung ebenso streng geheim gehalten wie die Umstände der ursprünglichen Anklage, die mehrere Monate über seinem Haupte geschwebt hatte. Wir waren jedoch geneigt zu glauben, daß die Behörden alle Fäden in den Händen hatten und daß die ganze Angelegenheit wie andere, von denen ich flüstern hörte, im Interesse der Armee und der vermeintlichen Interessen der nationalen Sicherheit vertuscht wurde.

Ein Vorfall, der diese Meinung unterstützte, war ein Zeitungsartikel, der die nach heftigem Widerstande erfolgte Verhaftung eines berüchtigten Verbrechers namens Sidi Maugras in einer der Herbergen des Quartiers Maubert meldete. Man behauptete, daß dieser Spitzbube zwölf Monate lang von den Behörden gesucht worden sei. Und doch hatten wir ihn selbst am hellichten Tage umhergehen sehen! Daraus ließ sich der untrügliche Schluß ziehen, daß irgend eine Behörde es für geraten hielt, diesen Maugras für ein paar Jahre sicher hinter Schloß und Riegel zu haben. In einem solchen kritischen Augenblicke konnte man nicht daran denken, weitere Enthüllungen über die Tätigkeit der fremden militärischen Spione in Paris und die verächtlichen Werkzeuge zu machen, deren sich diese zu einem oder dem anderen Zwecke bei ihrem ehr- und gewissenlosen Treiben bedienten. Die Politik der Unterdrückung des Uebels durch den Versuch, die Wahrheit zu verhehlen, kam damals immer mehr in Aufnahme.

Was unseren anderen Bekannten, den kleinen Einbrecher betrifft, so hatten wir nie seinen Namen erfahren und wußten auch nichts von seinen weiteren Schicksalen. Wahrscheinlich war er ein zu Unbedeutender, als daß er die Aufmerksamkeit der Behörden in einer Sache der hohen Politik auf sich gezogen hätte.

Am Tage vor meiner Abreise aus Paris kam Hauptmann Berthault in Begleitung seiner Tochter und seines alten Freundes, Maître Guichards, in das Atelier, um Sterling für den Dienst zu danken, den er ihm durch die Rettung seiner so ungerechterweise angegriffenen Ehre geleistet hatte. Er war ein stattlicher Mann von mittlerem Alter, von strammer, militärischer Haltung, jeder Zoll ein echter Soldat. Er sagte wenig; wie er selbst andeutete, zog er es vor, wenig zu sprechen. Aber er schloß Sterling nach französischer Sitte in seine Arme und drückte seine Dankbarkeit in wenigen männlichen Worten aus. Und er war so liebenswürdig, auch mir zu danken, obgleich die Rolle, die ich in dem kurzen, aber aufregenden Drama gespielt hatte, eine herzlich unbedeutende war.

An jenem Abend stellte Sterling, wie ich bemerkte, das noch unvollendete Gemälde mit Jean Baptiste als Hauptperson beiseite. Ohne daß er ein Wort der Erklärung hätte fallen lassen, verstand ich seine Empfindungen – er wünschte nicht mehr an die peinlichen Zwischenfälle des Abenteuers erinnert zu werden. Seine Gedanken waren, wie aus seiner Unterhaltung hervorging, jetzt ausschließlich von Estelle in Anspruch genommen; er konnte sich im Preise ihrer Schönheit, ihres Mutes, ihrer Pietät nie genug tun.

Er begleitete mich am nächsten Abend zum Bahnhof und wartete, bis der Zug abfuhr. Er war immer noch mit demselben Lieblingsthema beschäftigt.

Ich vermute, du willst versuchen, demnächst ihre Hand zu gewinnen? sagte ich lachend, als ich ihm die Hand schüttelte, während der Zug sich in Bewegung setzte.

Ich will auf alle Fälle mein möglichstes tun, rief er, mir mit der Hand ein Lebewohl zuwinkend.

Und er gewann wirklich ihre Hand. Nur sechs Monate waren vergangen, da lag eine Karte auf meinem Schreibtisch, die mich nach Paris zur Hochzeit einlud.

*


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