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Zehntes Kapitel.

Könnte ich ein phraseologisches Wörterbuch zur Hand nehmen und für meine Geschichte ein Dutzend synonymer Redensarten für »Blitz aus heiterem Himmel« und dergleichen verwenden, so vermöchte ich nur eine schwache Vorstellung von dem durch Sterlings Ankündigung hervorgerufenen Erstaunen zu geben. Einen Augenblick waren sowohl Estelle wie der alte Rechtsanwalt sprachlos. Der letztere fand zuerst wieder Worte.

Gott steh' mir bei! rief er, der Brief! Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß dies derselbe Brief ist, den wir gesucht haben?

Das kann ich nicht bestimmt behaupten, versetzte Sterling; der Umschlag ist, wie Sie sehen, versiegelt. Aber das weiß ich, daß dies unzweifelhaft der Brief ist, auf den jener Bursche, Sidi Maugras, Jagd machte.

Dann muß es der richtige sein; es muß der richtige sein, rief Estelle unter Freudentränen aus. O, wie soll ich Ihnen je meinen Dank abtragen! und sie sah aus, als sei sie imstande, sich Sterling zu Füßen zu werfen, um ihm ihre Dankbarkeit zu bekunden. Aber in das Gesicht meines Freundes war ein ernster Ausdruck getreten, und bei dieser Wahrnehmung wartete sie seine nächsten Worte ab, die Lippen in angstvoller Spannung leicht geöffnet.

Dieser Brief hat, wie ich fürchte, bereits ein Menschenleben gekostet, sagte er ernst.

Das Mädchen stieß einen leisen Schrei des Entsetzens und des Mitleids aus.

Aber ein wertloses Leben, fügte Sterling hinzu, wie um sie zu beruhigen. Ein Schuldbeladener hat den Tod erlitten, damit ein Unschuldiger vor einem schrecklicheren Schicksal als dem Tode bewahrt werde.

Mein Vater, o mein armer Vater! schluchzte Estelle, ihr Gesicht mit beiden Händen bedeckend.

Dieses Paket, Mademoiselle, fuhr er in mildem Tone fort, wird hoffentlich Ihrem Vater Freiheit und Ehre wiedergeben. Trocknen Sie Ihre Tränen, ich bitte Sie. Der Verstorbene ist nicht wert, von einem Mädchen wie Ihnen beweint zu werden.

Wie ist dieser Brief in Ihren Besitz gekommen? fragte der Rechtsanwalt.

Ich will Ihnen meine Geschichte erzählen, erwiderte Sterling, aber zuerst möchte ich Sie eins fragen. Haben Sie je von einem Manne namens Jean Baptiste gehört?

Jean Baptiste! Jean Baptiste! murmelte Maître Guichard, die Silben wiederholend, als suche er in seinem Gedächtnis nach einer halb vergessenen Tatsache. Ja, ich glaube diesen Namen gehört oder irgendwo gelesen zu haben. Ah, jetzt habe ich es! Ich glaube, der Name steht in den heutigen Zeitungen.

Natürlich! rief Sterling; daran habe ich noch gar nicht gedacht! Sie sehen, Mademoiselle, obgleich ich heut früh eine Zeitung von Ihnen gekauft habe, so habe ich doch noch keine Zeile darin gelesen, mit Ausnahme der Worte, die Sie eigenhändig mit Bleistift darauf geschrieben haben. So, Maître Guichard, es steht also ein Bericht über das Verbrechen im Bois de Boulogne in den Zeitungen?

So ist es, entgegnete der alte Herr; nun erinnere ich mich an alles. Ein Mann wurde erschossen im Bois gefunden, und seine Leiche wurde in der Morgue als Jean Baptiste rekognosziert. Ein charakterloser Bursche, der, wie der Polizei bekannt war, von seiner Schlauheit lebte und zu der Zunft der Gauner und Schwindler gehörte.

Dies ist der Mann, den ich meine. Aber steht nicht noch etwas anderes in dem Bericht?

Sterling sah sich um, als suche er eine Zeitung, um in deren Spalten nachzusehen.

Ich kann mich auf jede Zeile der kurzen Notiz entsinnen, antwortete der Rechtsanwalt, seine Gedanken sammelnd. Es wurde außerdem gesagt, der Unglückliche solle einst eine Stellung in der Gesellschaft eingenommen haben.

Der Bericht sagt dies, nicht? Nun, Maître Guichard, Sie haben ohne Zweifel viele Jahre hindurch in der Pariser Gesellschaft verkehrt?

Der alte Herr bejahte diese Frage durch ein Nicken des Kopfes und eine entsprechende Handbewegung.

Und ich glaube, wenn Sie je das Gesicht Jean Baptistes gesehen, Sie würden es nie wieder vergessen haben. Warten Sie einen Augenblick; ich habe mein Skizzenbuch hier, und es enthält mehr als eine Studie nach dem Kopfe dieses Mannes. Sie müssen wissen: er hat mir Modell gestanden.

Modell! hörte ich Estelle überrascht flüstern.

Sterling hatte das kleine viereckige Skizzenbuch aus seiner Brieftasche gezogen, das er beständig hier trug, und begann in ihm zu blättern.

Erkennen Sie dieses Gesicht? fragte er schließlich, indem er das an einer bestimmten Stelle aufgeschlagene Buch dem Rechtsanwalt überreichte. Dieser betrachtete die Zeichnung eine ganze Minute lang prüfend. Dann blickte er in unverhohlener Verwunderung auf.

Wie? Das ist ja Max Lorraine! rief er.

Und zugleich auch Jean Baptiste, sagte Sterling mit ruhiger Entschiedenheit.

Großer Gott! rief der alte Herr und ließ das Skizzenbuch fallen. Der Mann, der in der vergangenen Nacht im Bois de Boulogne ermordet worden ist?

Niemand anders, mein lieber Herr, entgegnete Sterling, indem er sich bückte, um das Skizzenbuch aufzuheben. Doch um die Sache möglichst bald aufzuklären, erzählen Sie mir, bitte, genau, wer Max Lorraine war. Ich habe den Namen nie zuvor gehört.

Max Lorraine, begann der Rechtsanwalt ernsten Tones, war ein Mann, der genau so, wie die Zeitung über Jean Baptiste berichtet, bis vor ein paar Jahren in der guten Gesellschaft dieser Stadt verkehrte.

Sterlings Augen begegneten den meinigen.

Du hattest also recht, alter Junge, bemerkte ich, indem ich seinen bedeutungsvollen Blick erwiderte. Dein Freund aus der Seine hatte eine Vergangenheit.

Ich habe Max Lorraine nicht näher gekannt, fuhr der Rechtsanwalt fort, bin aber oft in den Häusern gemeinschaftlicher Freunde mit ihm zusammengetroffen, und ich entsinne mich sehr genau der Umstände, die zu seiner gesellschaftlichen Aechtung führten. Es war ein großer Skandal.

War eine Frau – eine Dame – dabei im Spiele? fragte Sterling zögernd und mit einem besorgten Blicke auf Estelle.

Nein, das nicht. Aber dieser Mann, der zu einigen der besten Salons Zutritt hatte, erwies sich schließlich als Polizeispion. Die Wahrheit sickerte auf die eine oder die andere Art durch, und er verschwand aus der Gesellschaft. Ich habe seitdem bis zum heutigen Tage nichts mehr von ihm gehört.

Nun, Maître Guichard, so will ich Ihnen sagen, daß dieser gesellschaftliche Abenteurer, Max Lorraine, vor einigen Monaten nach Paris zurückkehrte. Aber er kehrte unter dem Namen Jean Baptiste zurück und scheint damals zufrieden gewesen zu sein, Aufnahme in den niedrigsten sozialen Schichten zu finden, denn er suchte offenbar sein eigentliches Metier als Spion, Erpresser, Gauner, nennen Sie es, wie Sie wollen, nicht länger zu verhehlen. Ohne Zweifel – ich weiß es aus sicherer Quelle – war er in der Lage, von den in seinem Besitz befindlichen Geheimnissen zu leben – ein Umstand, der seine Rückkehr auf den früheren Schauplatz seiner Tätigkeit zur Genüge erklärt. Aber nun möchte ich Ihnen erzählen, wie ich dazu kam, die Bekanntschaft eines solchen Mannes zu machen. Ich werde mich so kurz wie möglich fassen und dabei auch erklären, wie dieser Brief in meine Hände gelangte.

Sterling erzählte nun genau so wie mir am Abend zuvor sein mitternächtliches Abenteuer an dem Pont d'Jéna, den Besuch Jean Baptistes im Atelier, das Uebereinkommen betreffs der Sitzungen, das sich daraus entwickelnde nähere Verhältnis zwischen Künstler und Modell und schließlich die Bitte bezüglich der Briefe und Sterlings unbedachte, gutmütige Annahme des Depots.

Nun, sagte der Erzähler, als er bis zu diesem Punkte gelangt war, ich weiß noch nicht, welcher Zusammenhang zwischen dem Inhalt dieses versiegelten Briefes und der falschen Beschuldigung gegen den Hauptmann Berthault besteht. Ich habe natürlich meine eigenen Gedanken; aber ich möchte erst die Ihrigen hören, Maître Guichard, ehe ich es unternehme, Ihnen die meinen darzulegen.

Ich denke mir, erwiderte der Rechtsanwalt nach kurzer Ueberlegung, daß dieser Bursche, Jean Baptiste oder Max Lorraine, der, nach dem zu urteilen, was wir von seinem Vorleben wissen, offenbar ein wahrer König der Spione gewesen ist, sich auf die eine oder andere Weise in den Besitz des Papiers gesetzt hat, das, wie man annahm, sicher im Bureau des Attachés verwahrt wurde. Er hat es unzweifelhaft als Waffe gegen den Verräter benutzt, von dessen Hand es herrührte, und Geld von ihm erpreßt.

Oder von ihr, meinte Sterling.

Wie meinen Sie das? fragte der Rechtsanwalt.

Als Antwort darauf muß ich Ihnen die Fortsetzung meiner Geschichte erzählen. Es erhebt noch jemand anders Ansprüche auf diesen Brief – eine Dame.

Eine Dame! rief Estelle, die der Erzählung Sterlings in zitternder Erwartung gelauscht hatte.

Ja, Mademoiselle, eine Dame. Sie kam in vergangener Nacht in mein Atelier und verlangte dieses selbe versiegelte Kuvert hier, das sie als ihr rechtmäßiges Eigentum beanspruchte. Sie hatte sowohl meinen Freund wie mich halbwegs davon überzeugt, und wir standen schon im Begriff, es ihr auszuhändigen. Aber gerade in diesem Augenblick machten wir die niederschmetternde Entdeckung, daß während unserer Unterredung, die in einem Parterrezimmer meines Hauses stattgefunden hatte, Diebe in das obere Stockwerk eingedrungen waren und dieses selbe Dokument, von dem soeben die Rede gewesen war, gestohlen hatten.

Unter erstaunten Ausrufen von seiten seiner beiden Zuhörer erzählte Sterling nun das Nähere über den Besuch der verschleierten und dem Namen nach noch unbekannten Dame, unseren längeren Waffengang, ihre genaue Beschreibung des Kuverts und seiner Siegel, und ihre feierliche Versicherung, es enthalte das Geheimnis einer Frau – ein Geheimnis, das niemandes Ehre betreffe als die einer Frau und früher gegen diese Dame selbst zum Zweck einer grausamen und schmählichen Erpressung benützt worden sei.

Sodann wurden die Entdeckung des Einbruchs, die Gefangennahme des einen Diebes und das sich daran anschließende Zusammentreffen mit dessen Verbündetem geschildert, welch letzteres nicht nur zur Wiedererlangung der gestohlenen Papiere, sondern auch zu der romantischen Begegnung mit Mademoiselle Berthault geführt habe.

Hier trafen die von Estelle übernommene Aufgabe und die uns selbst aufgedrungene Untersuchung zusammen. Und den Berührungspunkt der beiden Linien bildete der Brief, den Sterling noch in seiner Hand hielt und der unter seinen fünf roten Siegeln das Geheimnis barg, das zum mindesten das Schicksal zweier Menschen entscheiden sollte – das der unbekannten Dame und das des Hauptmanns Berthault, des Opfers einer ungerechten Beschuldigung.

Wer kann diese Dame sein? fragte Estelle im Tone der Bestürzung.

Das vermag ich nicht zu sagen, erwiderte Sterling. Mein Freund Hylton hier wird besser imstande sein, Ihnen eine Beschreibung ihrer persönlichen Erscheinung zu entwerfen. Beschreibungen schlagen in sein Fach, fügte er scherzend hinzu.

Mein lieber Junge, entgegnete ich mit anzüglichem Lächeln, wenn es sich um Lobeshymnen auf schöne Gesichter handelt, so muß ich dir die Palme zuerkennen.

Aber Estelle achtete entweder nicht auf dies Wortgeplänkel oder wollte nicht darauf achten.

War die Dame jung? fragte sie. War es wirklich eine Dame?

Das letztere unzweifelhaft, erwiderte ich – vornehm aussehend, hübsch – schön – so würde sie meines Erachtens bezeichnet werden müssen.

Sterling schnitt jedoch meine Aufzählung ihrer Eigenschaften ab.

Einstweilen dürften diese Angaben wohl genügen. Sie werden zugeben, Mademoiselle, daß die Persönlichkeit dieser Dame eine Frage von ziemlich verwickelter Natur in sich schließt.

Nun, alle Zweifel können gelöst werden, fiel Maître Guichard ein, wenn Sie jetzt das Kuvert öffnen und feststellen, was es eigentlich enthält.

Ich kann dies leider nicht tun, erwiderte mein Freund höflich, aber bestimmt. Bei reiflicher Ueberlegung werden Sie die peinliche Lage anerkennen, in der mein Freund Hylton und ich uns befinden. Jene Dame gibt uns ihr Wort, daß das versiegelte Paket Briefe enthalte, die ihr gehören; sie pflichtet unserer Bedingung bei, daß wir uns in ihrer Gegenwart von der Wahrheit dieser Angabe überzeugen, und wir sind bei unserer Ehre verpflichtet, die Bedingungen, die wir selbst gestellt haben, einzuhalten.

Ja, ja, das ist richtig, murmelte Estelle.

Sie können jedoch versichert sein, fügte Sterling hinzu, daß wir, bevor wir die Dokumente hergeben, uns volle Gewißheit über ihren wirklichen Inhalt verschaffen. Dieses Versprechen gebe ich Ihnen, Mademoiselle.

Ich bin Ihnen für Ihre Hilfe aufrichtig dankbar, entgegnete sie artig, und ich überlasse alles weitere Ihrem eigenen Ermessen.

Wer ist aber diese geheimnisvolle Unbekannte? Wo ist sie zu treffen? fragte der Rechtsanwalt.

Sie wird heut abend um zehn Uhr in meinem Hause sein.

Sind Sie dessen sicher?

Ich habe ihr den Vorschlag gemacht; sie hat zugestimmt.

Wenn sie aber die Verabredung nicht einhält? Damen ändern mitunter ihre Gesinnung.

Wir wollen ihr dreißig Minuten Frist geben.

Und dann?

Dann, Maître Guichard, werden wir, denke ich, vollständig in unserem Rechte sein, wenn wir das Paket in Ihrer Anwesenheit öffnen.

Und dies wollen Sie tun?

Gewiß.

Der Rechtsanwalt warf Estelle einen fragenden Blick zu, um ihre Meinung zu erfahren. Doch sie wandte sich unmittelbar an Sterling.

Sie wünschen, daß auch wir heut abend in Ihr Haus kommen? fragte sie.

Wenn Sie die Güte haben wollen.

Um wieviel Uhr?

Es sind vielleicht vorher noch einige Punkte zu erörtern. Ich bitte Sie, um halb zehn dort zu sein.

Das Mädchen nahm die Hand des alten Rechtsanwalts in die ihrige und antwortete in ihrer beider Namen.

Wir werden kommen, sagte sie einfach. Und Sterling steckte den versiegelten Brief wieder in die Innentasche seiner Weste.


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