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Sechstes Kapitel.

Nun, Sir, wandte ich mich an den Herrn auf dem großen Stuhle, ich ersuche Sie nicht um Ihre Visitenkarte. Sollten wir Ihres Namens und Ihrer Adresse bedürfen, so würde die Polizei unzweifelhaft in der Lage sein, uns die erforderliche Auskunft zu geben. Ich wünsche nur zu wissen, genau und wahrheitsgemäß, wie Sie heut nacht hierher gekommen sind. Denken Sie an unsere Verabredung und auch daran, daß Sie mit Lügen bei mir nicht durchkommen.

O, ich sitze schön in der Patsche, Herr Hauptmann, und mit dem Schwindeln ist es zu Ende. Ich werde Ihnen keine Flausen vormachen, denn ich sehe, Sie sind zwei Herren, die nicht mit sich spaßen lassen.

Die Sprache des Burschen war stark mit Ausdrücken aus dem Gaunerjargon durchsetzt, den ich oft kaum verstand und daher auch nur unvollkommen wiedergeben kann.

Was hat Sie also hierhergeführt?

Wir sind zu dieser Masematte gedungen worden, mein Gespan und ich.

Gedungen? Von wem?

Da fragen Sie mich zuviel. Das weiß ich nicht. Sie sehen, mein Gespan hat mir nichts davon gesagt. Er hat mich mitgenommen, weil ich ein kleiner Kerl bin und mich durch einen engen Spalt zwängen kann. Und ich kann in ein Haus einbrechen, auch wenn viele Leute darin sind, fügte er mit einem Lächeln des Stolzes aus seine Geschicklichkeit hinzu.

Was sollten Sie also stehlen?

Diesen verwünschten Brief natürlich, den mit den roten Siegeln, den Sie gerade in der Hand hatten, als die Glocke an der Tür geläutet wurde. Wir bekamen keinen kleinen Schreck, sage ich Ihnen. Wir saßen auf dem Dache und warteten darauf, daß Sie beide zu Bett gehen sollten. Nach dem Läuten verhielten wir uns ganz still, da wir uns wunderten, wer noch so spät kommen sollte, und auch Angst hatten, es hätte uns jemand über das Gitter klettern sehen. Aber nach einer Weile wußten wir, daß alles in Ordnung war, und als Sie so lange unten blieben und die Luft rein erschien, so riskierten wir frischweg die Masematte. Es war das reine Kinderspiel. Ich zog mir meine Stiefel aus, stieg hinunter und hatte den Brief in einer halben Minute. Ich warf ihn meinem Gespan hinauf. Obgleich wir nun das Geschäft, wegen dessen wir gekommen waren, erledigt hatten, mußte ich doch noch einmal den Schubkasten durchstöbern, und ich hatte zum zweitenmal ein Riesenschwein, als ich das Bündel Banknoten so bequem zur Hand daliegen sah. Ich hatte sie soeben eingesteckt, als ich unten eine Tür gehen hörte. Ich stieg auf diesen Stuhl hier und konnte beinahe die Hand meines Gespans fassen. Aber ich mußte in die Höhe springen und dummerweise glitt ich aus und fiel hin. Ich hatte keine Zeit, es noch einmal zu versuchen, denn ich hörte jemand die Treppe heraufkommen. So versteckte ich mich denn dort hinten. Das war alles, was ich tun konnte, bevor Sie beide hereinkamen und hinterdrein die Dame, die solchen Spektakel machte, als sie fortging. Und Sie würden es auch nie erfahren haben, daß ich hier war, wenn nicht die Diele gerade geknarrt hätte, als alles still war.

Und Ihr Gefährte? Was tat der?

O, der hat den Brief ganz richtig aufgefangen und ist jetzt mit ihm auf und davon.

Sterling stand auf und zog aus einer Ecke hinter der Staffelei eine Stehleiter hervor, die er unter das Oberlichtfenster stellte.

Hätte ich nur gewußt, daß das Ding dastand, so wäre ich schon hinaufgekommen, murmelte der Spitzbube in komischer Nachdenklichkeit.

Ich glaube nicht, daß es jetzt noch den geringsten Zweck hat, nachzusehen, bemerkte ich, während ich ein aufmerksames Auge auf unseren kleinen Freund hatte, der zwar in einem Kampfe nicht sonderlich zu fürchten war, aber so flink aussah, daß er in einen Affenkäfig gepaßt haben würde.

Wenn der andere sich nicht schon vorher aus dem Staube gemacht hat, so doch sicher jetzt, sagte ich zu Sterling.

Darauf können Sie Ihren letzten Sou verwetten, Herr Major, pflichtete mir der Kleine überzeugten Tones bei.

Ich möchte mich auf alle Fälle selbst überzeugen, erwiderte Sterling, während er die Leiter emporstieg.

Dabei können Sie mir eigentlich meine Stiefel mit herunterbringen, Herr Leutnant, sagte der Dieb grinsend.

Unser Humorist schien sich in militärischen Titeln zu gefallen, die er unterschiedslos und ohne allzuviel Rücksicht auf ihre Angemessenheit austeilte.

Du hast recht, Hylton, der Bursche ist fort, rief Sterling von oben, während er sich mit der Hälfte seines Körpers zum Fenster hinauslehnte. Hol' ihn der Henker, fügte er hinzu, indem er zurücktrat und das Oberlichtfenster hinter sich schloß; ich glaubte bisher, Diebe hätten noch eine gewisse Ehre im Leibe und pflegten einen Kameraden nicht im Stiche zu lassen.

Er hatte wirklich die Stiefel mitgebracht und warf sie nun herunter – zwei abgenutzte Probestücke der Schuhmacherzunft.

Danke bestens, Monsieur, sagte der Dieb mit freundlichem Grinsen. Diese Trittchen würden sich auf einem Bilde gut ausnehmen, nicht? fragte er, nach der Richtung nickend, in der die Staffelei stand.

Ich schnitt seinen Scherz kurz ab.

So hat sich Ihr Gefährte aus dem Staube gemacht? fragte ich mit soviel Strenge in Miene und Ton, als ich annehmen konnte.

Habe ich Ihnen das nicht gleich gesagt? entgegnete der Spitzbube mit einer Gebärde, als verwahrte er sich dagegen, daß seine Worte in Zweifel gezogen würden. Dann fuhr er vertraulich fort: Sie sehen, Leute unseres Gewerbes verstehen einander. Was hätte es für einen Zweck, daß sich zwei erwischen ließen, wenn es an einem genug ist? Das würde nur die größte Dummheit sein. Ich würde schon eine Gelegenheit gefunden haben, später davonzukommen. Außerdem hatten wir ja den Brief, und das war die Hauptsache. Selbst wenn ich eingelocht werde, so wird unser alter Schärfer, Père Lunette, mir meinen Anteil sicher aufheben, bis ich wieder herauskomme. Niemand mit einer so anständigen Summe in der Sparkasse kümmert sich groß darum, wenn er auch ein paar Jahre abzumachen hat, meinen Sie nicht auch?

Wieviel sollten Sie für den Brief bekommen? fragte Sterling, auf die Frage des Burschen eingehend.

Fünfhundert Francs jeder.

Und hier liegen sechshundert Francs, bemerkte Sterling, indem er sich bückte und das kleine Päckchen Banknoten, das auf dem Boden lag, aufhob und durchzählte.

Es ist ein schauderhaftes Pech, dies zu verlieren, nur weil man sechs Zoll zu klein ist, entgegnete der Dieb mit komisch schmerzlichem Lächeln.

Das macht im ganzen sechzehnhundert Francs, fuhr Sterling fort. Nun passen Sie auf, lieber Freund. Verschaffen Sie mir jenes Kuvert mit unverletzten Siegeln wieder, und Sie und Ihr Gefährte sollen zweitausend Francs bekommen, die Sie dann untereinander teilen können.

Zweitausend Francs, Herr General! rief der Kleine aus.

Zweitausend Francs, Sterling! wiederholte ich erstaunt. Ueberlege doch, das ist doch zu vorschnell.

Ich wußte, mein Freund war reich, aber das schien mir doch das Geld zum Fenster hinausgeworfen.

Laß mich nur, alter Junge, erwiderte er und legte seine Hand auf meine Schulter. Die Dame muß ihre Briefe unbedingt wiederhaben. Ich bin ohne Zweifel verantwortlich dafür, daß sie sie wiederbekommt.

Und wie willst du dies anstellen?

Ich habe mir einen Plan ausgedacht. Ueberlaß diesen Burschen jetzt mir.

Passen Sie auf, Freundchen, glauben Sie, daß Ihr Gefährte für zwei Tausendfrancsscheine zwischen Sie und die Polizei treten und dabei zugleich seine eigene Haut retten würde?

Ganz gewiß, Herr Gouverneur. Wir sollten nur tausend Francs für den Brief bekommen. Er wird mit Freuden zweitausend dafür nehmen, ganz abgesehen davon, daß ich dadurch freikomme.

Auf welche Weise kann Ihr Gefährte Nachricht erhalten?

O, ich würde sie ihm sofort bringen, rief der Dieb eifrig.

Nein, so ist das nicht gemeint, versetzte Sterling mit grimmigem Lächeln. Ich wünsche zu wissen, wo ein Brief ihn antreffen könnte.

Ein Brief?

Ja; sofort – noch diese Nacht.

Nun, meine Herren, werden Sie auch nichts verraten, wenn ich es Ihnen offen sage?

Sie müssen uns schon vertrauen, wenn Sie aus diesem Hause herauswollen.

Nun, mein Gespan wohnt im Hotel de la Reine Blanche, entgegnete der Bursche nach kurzem Zaudern.

Eine andere berüchtigte Diebsherberge, Sterling, flüsterte ich meinem Freunde vorsichtig zu.

O, das weiß ich. Das stimmt schon. Nun, mein schöner Herr, können Sie schreiben?

Jawohl, ich kann schreiben.

Gut, dann setzen Sie sich hin und schreiben ein paar Zeilen an Ihren Gefährten. Schreiben Sie ganz auf Ihre Weise, aber machen Sie ihm unsere Verabredung recht klar. Jenes Paket soll mir mit unverletzten Siegeln zurückgebracht werden. Ich will ihm bis acht Uhr abends Zeit lassen, dann kann er es eingeschrieben zur Post geben, wenn er es vorzieht, ungesehen zu bleiben. Wenn ich die Dokumente wiederbekommen habe, können Sie dieses Haus frei und mit zwei Tausendfrancsscheinen in der Tasche verlassen.

Ohne Scherz, Herr Gouverneur; Sie bleiben dabei?

Ich bleibe dabei.

Abgemacht. Wo ist das Tintenfaß?

Der Dieb setzte sich an den Tisch und machte sich an die Arbeit. Wahrscheinlich verstand er besser mit dem Brecheisen umzugehen als mit der Feder. Nichtsdestoweniger vollendete er seinen Brief in nicht allzu langer Zeit. Währenddessen verharrten wir in Stillschweigen. Sterling schritt im Zimmer auf und ab. Ich war begierig, wie er sich die Besorgung des Briefes dachte. An einen Besuch einer solchen Mörderhöhle wie des Hotels de la Reine Blanche durch einen von uns persönlich war bei der damit verbundenen Gefahr nicht zu denken.

Hier, Herr General, das wird ihn ganz bestimmt antreffen, sagte unser ungebetener Gast, indem er mit dem geschlossenen Kuvert in der Hand aufstand.

Da ich ihm zunächst stand, so nahm ich ihm den Brief ab. Die Aufschrift lautete: Monsieur Sidi Maugras, Hotel de la Reine Blanche, Rue des Anglais, Quartier Maubert. Ebenso bemerkte ich ein paar sonderbare Hieroglyphen in der rechten Ecke oben. Der Einbrecher bemerkte, daß ich mir diese prüfend ansah.

Das hat den Zweck, es ganz gefahrlos zu machen, Herr Admiral, erklärte er. Niemand wird mit dem Vorzeiger dieses Briefes Händel anfangen.

Eine Art sicheres Geleit, bemerkte ich.

Ungefähr so, erwiderte der Dieb grinsend.

Nun passen Sie einmal auf, lieber Freund, sagte ich scharf; Sie glauben doch nicht, wir würden zu dieser Nachtstunde nach so einer Räuberhöhle wie dem Hotel de la Reine Blanche gehen, selbst unter dem Schutze eines so wertvollen Schriftstücks, wie Sie es soeben aufgesetzt haben?

Nun, wenn Sie meinem Worte keinen Glauben schenken wollen, erwidert er etwas betreten, so kann ich Ihnen sagen, wo Sie Sidi Maugras des Morgens treffen können.

Wo ist das?

Im Café Béarnais in der Straße gleichen Namens am Boulevard St. Germain.

Das lautet schon besser.

Dort nimmt er seine Briefe in Empfang. Sie werden ihn sicher gegen halb acht treffen, wie er dort seinen Kaffee trinkt.

Und wie soll ich den Mann erkennen?

Zeigen Sie dem Kellner die Adresse. Jedermann kennt Sidi Maugras.

Wenn er aber nicht zufällig dort sein sollte?

So lassen Sie den Brief zurück. Sie können ganz ruhig sein, daß er ihn richtig erhält, ehe der Tag noch viel älter ist.

Ich nickte Sterling zu. Diese Auskunft hatte wenigstens das Gute, daß der Brief ohne unnötige Gefahr für uns rechtzeitig in die Hände Monsieur Maugras' gelangte.

Dann sind Sie sicher, daß Sie ihm unser Abkommen vollständig klar gemacht haben?

Es steht so deutlich drin wie die Adresse auf der Außenseite.

In diesem Falle, lieber Freund, sagte Sterling kühl, habe ich zunächst dafür zu sorgen, daß Sie sicher untergebracht werden. Beachten Sie wohl, daß, wenn Sie auch nur den leisesten Versuch machen, zu entwischen, unsere Verabredung null und nichtig ist

Der Kleine deutete durch eine Handbewegung an, daß er die Vertragsbedingungen vollkommen verstanden habe.

Dann kommen Sie mit.

An dem einen Ende des Ateliers befand sich ein geräumiges Gelaß, das als Dunkelkammer für photographische Zwecke benutzt wurde. Es hatte eine Ventilationsöffnung in der Nähe der Decke, aber kein Fenster, sodaß die in das Atelier führende Tür die einzige Möglichkeit des Entkommens bot.

Der Dieb wurde in die Kammer geführt. Auf ein Zeichen Sterlings hin hatte er seine Stiefel aufgehoben und trug sie in der Hand.

Ziehen Sie Ihre Jacke und Ihre Beinkleider aus, sagte mein Freund, in der Tür der improvisierten Einzelzelle stehen bleibend.

Der Bursche tat dies ohne Zandern, als gehorche er dem Befehl eines Gefängniswärters. Er war augenscheinlich an ein Leben unter strenger Disziplin gewöhnt.

Das genügt. Nun binden Sie die Sachen in das große Handtuch dort. So, nun stopfen Sie die Stiefel ebenfalls dazu und reichen Sie mir das Bündel heraus.

Sterling lächelte, als er sich mit dem Kleiderpacken in der Hand mir zuwandte. Das ist sicherer als Hand- und Fußschellen, meinte er befriedigt.

Sie werden mir doch eine kleine Erfrischung reichen, Herr Gouverneur? fragte unser Gefangener, indem er ein Gesicht schnitt.

Ich wußte nicht, was ich mehr bewundern sollte, die Gelassenheit des Gauners, mit der er sich in seine Lage fügte, oder seine kühle Zuversicht.

Halte eine Minute lang Wache, Hylton, bis ich zurückkomme.

Sterling verließ das Zimmer, das Bündel bedächtig mit sich nehmend. Eine Minute später kehrte er zurück ohne die Kleider, aber mit Brot, Käse und einer Flasche Wein.

Wir können ihn doch nicht verhungern lassen, sagte er gleichsam entschuldigend.

Der Dieb bekundete seine Dankbarkeit durch einen Blick; für Leute seines Schlages sind Speise und Trank wirksamere Sittenlehren als Predigten oder Traktätchen.

Das macht die Sache behaglich, Herr General, muß ich sagen, erklärte er in befriedigtem Tone. Ich werde einem Herrn, wie Sie sind, keine Ungelegenheiten machen. Ich werde warten. Der Brief wird schon zur rechten Zeit eintreffen, Sie werden sehen. Und der Tag wird mir in dieser gemütlichen Ecke und mit der Flasche Wein als Gesellschaft ganz angenehm vergehen.

Dann drehten wir den Schlüssel hinter dem philosophischen Spitzbuben um.

Die Ateliertür ließen wir weit offen, als wir ein paar Minuten später die Treppe hinunterstiegen; Sterling wollte, daß wir ebenfalls etwas äßen. An Schlaf war diese Nacht nicht zu denken; wir waren beide abgespannt und bedurften einer Erfrischung; auch konnten wir unsere weiteren Pläne bei einem Butterbrot und Whisky mit Sodawasser besprechen.

In welcher Weise wird nun der Brief an seinen Bestimmungsort gelangen? fragte ich, als wir behaglich im Speisezimmer saßen. Du denkst doch natürlich nicht daran, nach dem Hotel de la Reine Blanche zu gehen?

Nein, aber ich gedenke, meinen Morgenkaffee gemeinsam mit Monsieur Sidi Maugras zu trinken.

Ach, Unsinn, Sterling. Selbst das ist nicht sicher.

Sicher, beim hellen Tageslicht und auf dem Boulevard St. Germain? Wer zum Teufel sollte da Lust haben, mit mir anzubinden?

Kein vorsichtiger Mann würde sich unter eine solche Bande von Schuften begeben, die zu allem fähig sind.

Nun, alter Junge, ich bin nie ein vorsichtiger Mann gewesen und werde es auch nie sein.

Dann muß ich mit dir kommen.

Nein, du mußt hier auf deinem Posten bleiben. Und mit seinem Daumen wies er nach oben, um mich an unseren Gefangenen zu erinnern.

Da soll ich wohl den ganzen Tag über bei diesem unbezahlbaren Halunken Wache halten?

Zweifellos.

Wie wird es aber mit meiner Rückkehr nach London?

Ich fürchte, lieber Junge, du wirst genötigt sein, hier zu bleiben. Du mußt mir beistehen, bis die Angelegenheit völlig erledigt ist.

Ich glaube dies selbst, erwiderte ich lächelnd. Ich sage dir, Sterling, dies wird genau so aufregend wie bei Omdurman.

O, der Spaß beginnt erst jetzt. Aber Hylton, ich denke, wir werden bald wieder im Besitz der Briefe sein, meinst du nicht?

Vielleicht. Und wenn wir sie haben, was dann?

Unsere schöne Freundin muß ihre Briefe bekommen, das ist klar. Nur ihretwegen stürze ich mich ja in all diese Abenteuer.

Natürlich! Aber sie hat nichtsdestoweniger den äußeren Umschlag in unserer Gegenwart zu öffnen.

Ja, stimmte Sterling nach kurzer Ueberlegung zu. Ich halte die Bedingungen, die du gestellt hast, für ganz vernünftig. Du witterst Argwohn hinter all und jedem. Ich hätte nie an derartige Verklausulierungen gedacht oder den Mut besessen, einer Dame gegenüber auf ihnen zu bestehen.

Ohne meine moralische Hilfe glaube ich nicht, daß du es fertig bringen würdest, gab ich lachend zur Antwort. Wenn aber eine Frau sich weigert, ihren Namen zu nennen, so kann sie nicht erwarten, daß man ihr kindliches Vertrauen entgegenbringe oder sie mit Sammethandschuhen anfasse. Nicht wahr?

Sie ist trotzdem eine Dame von hohem Rang. Man konnte dies selbst mit einem halben Auge sehen.

Ich bin geneigt, dir hierin beizupflichten. Aber wir wissen ja gar nicht, wer sie ist, und vielleicht hast du nicht einmal eine Ahnung, auf welche Weise wir uns wieder mit ihr in Verbindung setzen sollen.

O doch! Hylton. Wir können ihr Nachricht durch den Privatdetektiv zugehen lassen, der heut früh zu mir kommen soll.

Glaubst du ganz bestimmt, daß er sich einfinden wird?

O, er wird gewiß erscheinen. Wir müssen dem Manne Sand in die Augen streuen. Die Madame selbst muß heut abend herkommen, um sich ihre Briefe zu holen. Wir werden dann erfahren, was das Paket enthält.

Ja, aber auch dann werden wir das Geheimnis erst zur Hälfte aufgeklärt haben. Wer sind jene anderen, die die Dokumente in ihren Besitz bringen wollen? Wie kommen sie dazu, zu wissen oder zu ahnen, daß du sie in deinem Verwahrsam hast?

Nun, ich kann nicht sagen, daß ich imstande bin, all deine Fragen zu beantworten, erwiderte Sterling. Aber soviel wissen wir bereits, daß die beiden Kerle gedungen worden sind, das Kuvert zu stehlen.

Es muß etwas verteufelt Wichtiges in den Briefen stehen, wenn ihretwegen ein Einbruch gewagt wird und tausend Francs für ihren Besitz bezahlt werden.

Ein skrupelloses Wagnis und eine vorteilhafte Kapitalsanlage zu Erpressungszwecken.

Möglich, erwiderte ich zweifelnd.

Auf jeden Fall werde ich mehr wissen, wenn ich mich eine halbe Stunde mit Monsieur Sidi Maugras unterhalten habe, wer auch immer der Herr sein mag, der sich so nennt.

Sterling, mein Junge, du stürzst dich geradeswegs in ein unbesonnenes Abenteuer, wenn du den Brief persönlich abgibst.

Unsinn! erwiderte er lachend.

Wenn du meinen Rat befolgst, so schick ihn durch einen Boten.

Wir wollen die Sache ein paar Stunden beschlafen, entgegnete er mit einem leichten Gähnen, was bedeuten sollte, er wünsche von etwas anderem zu sprechen.

Ich sah, daß sein Entschluß gefaßt war und daß weitere Einwendungen nutzlos sein würden.

Einer von uns muß Wache halten, bemerkte ich.

O, das läßt sich leicht einrichten. Du kannst in mein Schlafzimmer gehen oder das Sofa hier benutzen. Ich werde mich auf den Divan im Atelier legen und ihn vor die Tür zur Zelle unseres Gefangenen schieben.

Da die Nacht schon so weit vorgeschritten war, wählte ich das Sofa. Kurz vor sechs Uhr hörte ich Sterling die Treppe herabkommen. Inzwischen hatte ich mit Hilfe einer kleinen Spirituslampe, die ich nebst allem nötigen Zubehör auf einem Wandbrett gefunden hatte, Tee bereitet. Vergnügt sah er meinen Vorbereitungen zu.

Du bist der richtige alte Feldsoldat, rief er heiter, als ich ihm seine Tasse reichte.

Sterling, laß mich gehen und den Brief abliefern. Du weißt, wie riesig vorsichtig ich bin, und ich weiß, wie furchtbar vorschnell du bist. Laß uns die Rollen tauschen. Bleib du hier.

Mein lieber Hylton, ich möchte das Frühstück mit Monsieur Maugras nicht um alle Welt versäumen.

Warum willst du dich nicht damit begnügen, den Brief im Café einfach abzugeben?

Das wird sich nach den Umständen richten. Wenn ich ohne Gefahr den anderen Spitzbuben sprechen kann, so will ich ihn dahin zu bringen suchen, daß er mir seine Karten vollständig aufdeckt.

Nun gut, bedenke aber, daß du bald zurück sein mußt. Der Detektiv der unbekannten Dame wird ohne Zweifel zeitig hier sein.

Halte ihn auf, bis ich zurück bin. Laß mir ungefähr zwei Stunden Zeit.

Dann erwarte ich dich spätestens um neun.

Ich werde um neun zurück sein.

*

Es war neun Uhr geworden, ebenso zehn, und die Zeiger der Uhr auf dem Kaminsims standen beinahe auf elf. Sterling war noch nicht zurückgekehrt.


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