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Drittes Kapitel.

Von der Haustür aus konnten wir in der dämmerigen Beleuchtung der sternklaren Nacht die Umrisse eines Pferdes und eines Wagens mit hochgeschlagenem Verdeck, der auf der Straße vor der Gartenpforte hielt, nur noch eben unterscheiden. Einen Augenblick zögerten wir, dann rief uns eine Stimme an.

He, Messieurs!

Unsere Augen, die sich nach und nach an die Dunkelheit gewöhnten, bemerkten jetzt die Umrisse eines Mannes am Gitter. Der weiße Hut, den er auf dem Kopfe hatte, verriet sofort, daß es der Kutscher eines gewöhnlichen Mietsfuhrwerks sei.

Messieurs, Messieurs! rief er abermals in dringendem Tone.

Komm mit. Wir wollen sehen, was der Bursche will, sagte Sterling, indem er zur Vorsicht einen kräftigen Spazierstock ergriff, der in der Nähe der Tür seinen Platz hatte.

Du hast recht, erwiderte ich.

Aber ich muß gestehen, ich empfand ein leises Unbehagen, als wir uns der Pforte näherten, denn es war mir sehr wohl bekannt, daß die Pariser Droschkenkutscher, wenn auch zum größten Teil ziemlich gutmütige Leute, doch in ihren Reihen ein paar ausgemachte Halunken zählen, die beinahe vor keinem Verbrechen zurückschrecken, vorausgesetzt, daß der Lohn der damit verbundenen Gefahr entspreche. Außerdem hatte mich die Geschichte, die ich soeben gehört hatte, vorsichtig und vielleicht auch zugleich etwas nervös ängstlich gemacht.

Was wollen Sie hier? fragte Sterling durch das engmaschige Gitter des Torwegs.

Ich habe eine Dame hergebracht, die Sie zu sprechen wünscht, erwiderte der Kutscher zur Seite tretend und mit der Hand auf den Wagen deutend.

Eine Dame, zu dieser Nachtstunde? murmelte Sterling erstaunt.

Geh nicht hinaus, öffne noch nicht, flüsterte ich, indem ich meinen Freund am Rockschoße faßte, da ich seine rasch entschlossene und vertrauende Natur kannte.

Aber es ist eine Dame, die wartet, lieber Freund, erwiderte er etwas ungeduldig, indem er nach dem Schloß griff.

Es kann eine Falle sein, sagte ich dringender. Wer kann wissen, wer in dem Wagen sitzt? Sei vorsichtig!

Unsere Worte konnten draußen vor dem Tore nicht gehört worden sein, aber die bloße Tatsache unserer im Flüstertöne geführten Unterhaltung mußte deutlich genug unsere Bedenken verraten haben, denn gerade in diesem Augenblicke stieg eine Gestalt aus dem Wagen. Es war wirklich und wahrhaftig eine Dame, in einen langen schwarzen Mantel gehüllt.

Verzeihen Sie gütigst die Störung, meine Herren, sagte sie mit einer weichen Stimme, während sie über das Pflaster schritt; aber ich sah die Fenster noch erleuchtet und wagte es, läuten zu lassen, obgleich es schon so spät ist.

Ihre Stimme klang angenehm und tief, ihre Aussprache war rein; es war eine Französin, eine Dame aus den gebildeten Ständen. Soviel konnten wir sofort aus den paar Worten entnehmen, die sie gesprochen hatte; auch lag eine undefinierbare, aber nicht zu verkennende Eleganz in ihren Bewegungen und ihrer gesamten Haltung. Ob aber die Fremde alt oder jung sei, war schwer zu sagen; denn während sie in ihren langen Mantel gehüllt blieb, bemerkten wir nun auch, daß sie tief verschleiert war.

Das Schloß knackte, aber ich hielt Sterlings Hand fest. Obgleich ich mit einiger Befriedigung bemerkte, daß der Kutscher sich entfernt hatte und nun vor dem Kopf seines Pferdes stand, hielt ich immer noch den Riegel fest, damit er nicht zurückgeschoben werden könne.

Zu wem wünschen Sie, Madame? fragte ich.

Zu Sir Richard Sterling. Dies ist doch seine Wohnung, nicht wahr? Die Frage klang etwas ängstlich.

Ja. Sie sind zu dem richtigen Hause gekommen. Aber kann Ihre Angelegenheit nicht bis morgen warten? Oder wollen Sie uns jetzt mitteilen, was Sie wünschen?

Ich kann Ihnen unmöglich hier auf der Straße mein Anliegen auseinandersetzen, erwiderte sie, ihre zierlichen, mit weißen Handschuhen bekleideten Hände in beredtem Protest ausstreckend. Und ich muß, ich muß noch heut abend eine Unterredung mit Sir Richard Sterling haben; ich bitte Sie sehr darum.

Ihre Stimme hatte einen flehenden Klang angenommen, und ich fühlte, wie sich Sterlings Finger auf die meinen legten, die noch immer die Klinke festhielten. Aber ich war noch nicht befriedigt.

Sind Sie allein? fragte ich.

O gewiß, ich bin allein.

Und Sie sind allein, ohne Begleitung so spät in der Nacht hierher gefahren?

Sie schwieg einen Augenblick, und ich glaube sogar, sie zitterte unter ihrem Mantel.

Es ist ungewöhnlich, es ist seltsam, ich weiß es, erwiderte sie; aber ich habe keine Wahl. Ich muß Sir Richard Sterling sprechen.

Und der Kutscher?

Er wird warten. Kutscher, rief sie, sich an den Mann wendend, der noch bei seinem Pferde stand, warten Sie eine Stunde hier, bis ich zurückkomme.

Eine Stunde – gerechter Gott! murmelte ich vor mich hin. Sterlings Hand griff nach der Klinke, und ich ließ es nun zu, daß mein Freund die Gartenpforte öffnete.

Bitte, hier, Madame, hörte ich ihn sagen, während er mit einer höflichen Armbewegung auf den Weg deutete, der zum Hause führte. Ich selbst sah nach dem Riegel, und nachdem ich ihn in die Krampe hatte zurückschnappen lassen, rüttelte ich an dem Gitter, um mich zu versichern, daß alles sicher verwahrt sei. Als ich mich umwandte, um meinem Freunde und seinem geheimnisvollen Besuch zu folgen, zündete sich der Kutscher eine Zigarette an, und das Aufflammen des Streichholzes beleuchtete einen Augenblick das Innere des Wagens. Es war leer. So war die Dame doch allein gekommen, wie sie versichert hatte. Ich fühlte mich erleichtert, daß sie sich in dieser Beziehung keine Täuschung hatte zuschulden kommen lassen. Ich blieb ein paar Schritte hinter den beiden anderen zurück, und als ich das Haus betrat, fand ich die Dame allein in dem halbdunkeln Hausflur stehen. Ich konnte Sterling in der Tür des anstoßenden Zimmers sehen; er suchte mit der Hand augenscheinlich nach den elektrischen Knipsern, denn einen Augenblick später flammte das Licht auf.

Darf ich Ihnen beim Ablegen Ihres Mantels behilflich sein? fragte er, indem er zu seinem Besuche zurückkehrte.

Nein, ich danke Ihnen, erwiderte die Dame, höflich, aber bestimmt sein Anerbieten ablehnend. Dann trat sie auf eine einladende Bewegung Sterlings hin in das Zimmer.

Es war ein hübscher kleiner Salon mit schönen alten Möbeln und rosafarbenen seidenen Vorhängen. Die Gestalt in Mantel und Schleier schien in eine solche Umgebung nicht hineinzupassen, aber sie machte keine Miene, den letzteren zurückzuschlagen.

Bitte, Platz zu nehmen, sagte Sterling, indem er einen Fauteuil heranrollte. Wir setzten uns alle drei in geringer Entfernung voneinander, die Dame in der Mitte zwischen uns zwei Männern.

Wer von den Herren ist Sir Richard Sterling, wenn ich fragen darf? begann die Dame, indem sie von einem zum anderen blickte, aber schließlich ihre Augen auf meinem Freunde ruhen ließ.

Ja, erwiderte er lächelnd, ich bin der Herr, den Sie sprechen wollen.

Dann wünsche ich mit Ihnen allein zu sprechen.

Mein erster Impuls war, aufzustehen und hinauszugehen. Aber Sterlings ruhige Stimme hielt mich an meinem Platze fest.

Mit mir allein, Madame? Ich fürchte, davon kann keine Rede sein. Sie müssen das, was Sie zu sagen haben, in unser beider Gegenwart sagen.

Guter, alter Kerl! rief ich in meinem Innern aus, denn mein Herz war mir bei dem Gedanken still gestanden, eine Geschichte zu verlieren und der Entwicklung eines so interessanten Dramas aus dem wirklichen Leben, wie dieses zu werden versprach, nicht beiwohnen zu dürfen. Er lernt auf seine alten Tage tatsächlich noch Vorsicht, fügte ich bei mir hinzu, indem ich mir schmeichelte, daß der Vorteil im Grunde genommen ein wechselseitiger sei. So machte ich keine Entschuldigung, als ich meinen Sitz wieder einnahm.

Ein kleiner Fuß stampfte ungeduldig den Teppich, ein leiser Seufzer des Aergers erklang unter dem schwarzen Schleier, und ich erkannte fast instinktiv, daß sich bereits feindselige Beziehungen zwischen dieser Frau und mir angesponnen hatten. Nach kurzem Zögern faßte sie indessen den Entschluß, sich in das Unvermeidliche zu fügen.

Ich würde mir eine Menge von Unannehmlichkeiten erspart haben, wenn ich Sir Richard allein hätte sprechen können, sagte sie. Sie sind aber beide Engländer und Ehrenmänner?

Wir sind beide Engländer, erwiderte Sterling. Wir sind von Jugend auf miteinander befreundet, und Sie haben die Garantie, daß der eine für den anderen bürgt.

So kann ich also ebenso im Vertrauen zu Ihnen beiden sprechen wie zu einem allein?

Zu uns beiden ebenso wie zu mir allein, Madame. Wenn der Gegenstand vertraulicher Natur ist, so müssen Sie uns beiden gleichmäßig vertrauen.

So sei es denn, entgegnete die Dame, sich ohne weitere Einwendungen in die gegebene Sachlage fügend.

Werden wir das Vergnügen haben, Ihren Namen zu erfahren, Madame? fragte ich, weniger aus allzu großer Neugier, als hauptsächlich in der Absicht, mich am Gespräche zu beteiligen. Mein Name ist Percy Hylton. Den Sir Richards kennen Sie bereits.

Sie verbeugte sich leicht vor mir.

Mit Ihrer Erlaubnis, Sir, erwiderte sie, möchte ich meinen Namen einstweilen noch verschweigen. Sie werden meine Gründe dafür später einsehen.

Nach diesem Mißgriff, den ich getan hatte, und der offenen Zurückweisung, die ich dabei erfahren, versuchte ich keine weitere Bemerkung, sondern fiel in die Rolle des Beobachters zurück.

Was kann ich also für Sie tun? fragte Sterling in seiner gewöhnlichen gutmütigen, edelsinnigen Weise.

Die Dame schwieg ein paar Sekunden, und als sie wieder das Wort ergriff, klang ihre Stimme, obgleich sie vor heftiger Erregung bebte, hart und scharf – der Ton war nicht der, in dem sie wenige Minuten vorher an der Gartenpforte um Einlaß gebeten hatte.

Sie waren heut nachmittag in der Morgue? begann sie.

Ich war starr vor Erstaunen, und ich glaube, Sterling erging es ebenso. Er antwortete jedoch ruhig:

Ja, mein Freund und ich waren beide dort.

Und Sie rekognoszierten die Leiche eines Mannes?

Jawohl!

Eines Mannes namens Jean Baptiste?

Unter diesem Namen war der Unglückliche bekannt, wenigstens mir. Aber darf ich Sie fragen, auf welche Weise Sie dies alles in Erfahrung gebracht haben?

In den Abendblättern stellt ein Bericht über einen geheimnisvollen Mord im Bois de Boulogne. Obgleich kein Name genannt werden konnte, wurde das Opfer des Verbrechens doch beschrieben. Aus dieser Beschreibung glaubte ich den Mann zu erkennen.

Dann kannten Sie Jean Baptiste?

Er war mir bekannt. Ich fuhr zur Morgue, um mich zu überzeugen, ob ich recht hatte. Die Leiche war nicht mehr zur öffentlichen Besichtigung ausgestellt, und es wurde mir mitgeteilt, daß sie vor einer Stunde rekognosziert worden sei.

Durch mich?

Ja, durch Sie. Ich erhielt die Erlaubnis, das amtliche Schriftstück einzusehen, das Sie unterzeichnet hatten, und aus diesem erfuhr ich Ihren Namen und Ihre Adresse. Dies ist die Erklärung meines Hierseins.

Zu so später Stunde?

Ich konnte nicht früher abkommen. Ich hatte eine Abhaltung. Aber ich mußte Sie unbedingt noch heut nacht sprechen.

Und welchen Dienst darf ich das Vergnügen haben, Ihnen zu leisten?

Sie zögerte einen Augenblick, dann sagte sie mit tiefer, ernster Stimme:

Jean Baptiste hinterließ ein Paket mit Papieren.

Sterling konnte einen Ausruf des Staunens nicht unterdrücken und blickte nach der Richtung, in welcher ich saß. Ich erhob warnend einen Zeigefinger und gab ihm durch Blick und Gebärden zu verstehen, er möge die Dame ruhig anhören, ohne einstweilen seinerseits Zugeständnisse zu machen.

Nun, und was ist damit? fragte er in zurückhaltendem Tone.

O, ich weiß alles über jene Papiere, erwiderte sie mit Entschiedenheit. Sie schien seine Gedanken erraten zu haben und zeigte durch ihre Art und Weise, daß sie mein Zeichen bemerkt und verstanden habe.

Jean Baptiste teilte mir vorher mit, was er zu tun im Begriffe stand. Ich kann sogar angeben, in welcher Weise das Dokument gesiegelt ist.

Sie scheinen gut unterrichtet zu sein.

Ja; er wollte das Paket mit einem seiner Manschettenknöpfe siegeln, die er immer trug.

Ganz richtig, versetzte Sterling ernst. Wie ist aber dieser Umstand zu Ihrer Kenntnis gelangt?

Jean Baptiste schwur mir – Sie hatte den Satz in leidenschaftlicher Erregung begonnen, brach aber plötzlich ab und änderte Ton und Ausdrucksweise. Jean Baptiste teilte mir mit, daß er gewisse Briefe, auf diese Art versiegelt, der Obhut eines ehrenwerten Mannes anvertrauen wolle.

Sie schwieg.

Nun? erwiderte Sterling, um die Pause auszufüllen.

Einem ehrenwerten Mann, wiederholte sie, einem Engländer. Er wollte mir keinen Namen nennen. Als ich aber den Ihrigen in der Morgue las, war ich sofort davon überzeugt, daß Sie dieser vertrauenswürdige Freund sind.

Verzeihen Sie, protestierte Sterling, indem er sich stolz aufrichtete, es herrschte kein Vertrauen und daher auch keine Freundschaft zwischen Jean Baptiste und mir.

Sie haben doch jene Briefe in Ihrem Verwahrsam? fragte sie mit einschmeichelnder Artigkeit.

Ah, das ist etwas anderes. Aus reiner Gefälligkeit gegen den Mann ging ich darauf ein, zeitweilig ein Kuvert für ihn aufzubewahren, wie Sie es beschrieben haben.

Unter dem Schleier drang ein halbunterdrückter Ausruf der Freude hervor, in die sich sowohl Dankbarkeit wie Triumph mischten, wie ich zu bemerken glaubte.

Dann gehören diese Briefe mir! rief sie, eine Hand ausstreckend, als erwarte sie, daß sie ihr sofort ausgeliefert würden.

Sterling wandte sich mit bestürzter Miene mir zu. Ich sah, er stand in Gefahr, widerstandslos nachzugeben. Aber mein eigenes Ermessen sträubte sich auf das heftigste gegen einen solchen unüberlegten Abschluß der geheimnisvollen Angelegenheit. Es war Zeit für mich, in das Gespräch einzugreifen.

Sind Sie mit den näheren Umständen bekannt, Madame, fragte ich, unter denen Jean Baptiste vergangene Nacht im Bois seinen Tod fand?

Sie wandte sich voller Aerger und Ungeduld mir zu. Hätte ich ihr Gesicht sehen können, so weiß ich, ich würde keinen angenehmen Ausdruck in ihm entdeckt haben, wie auch immer der Schnitt ihrer Gesichtszüge sein mochte, denn Aerger auf einem hübschen Gesicht kann sogar abstoßender wirken als auf einem unscheinbaren.

Ich habe Ihnen schon gesagt, antwortete sie kühl, daß ich den Bericht über den Fall in den Abendblättern gelesen habe.

Nun, Jean Baptiste ist ermordet worden.

Das wissen wir alle.

Und Sie meinen, daß die Papiere eines Ermordeten so ohne weiteres dem ersten besten ausgehändigt werden dürfen, der sie verlangt?

Dieser Einwand schien Eindruck auf sie zu machen. Sie schwieg einen Augenblick und wandte sich dann an Sterling.

Wissen Sie, was dieser Jean Baptiste für ein Mensch war? fragte sie unvermittelt.

Ich kann nicht sagen, daß ich viel von ihm wüßte, erwiderte Sterling; aber ich habe mir denken können, daß sein Lebenswandel nicht gerade zu den ehrenhaftesten gehörte.

Haben Sie eine Ahnung davon, wie unehrenhaft er war? zischte sie beinahe, so rasch und heftig wurden die Worte gesprochen.

Sterling blickte auf die Fragerin, erstaunt über ihr leidenschaftliches Wesen und ohne zu antworten.

Er war ein Erpresser, ein feiger, verächtlicher Erpresser! rief sie aus, indem sie mit gerungenen Händen im Uebermaß ihrer Erregung in die Höhe sprang.

Ein Erpresser! hörte ich Sterling in seinen Bart hineinmurmeln. Der gottverfluchte Halunke! Die Heftigkeit war nun auf seiner Seite, und ich konnte die zornige Röte gewahren, die sich über seinen Brauen gebildet hatte.

Sie meinen dies im vollsten Ernste? fragte er.

Gewiß. Jean Baptiste war nichts mehr und nichts weniger als ein gewerbsmäßiger Erpresser.

Sie sprach jetzt ruhiger und überlegter. Auch Sterling hatte sich mit geradezu bestürzter Miene erhoben.

Und da ich mich durchaus darüber rechtfertigen soll, fuhr die Dame fort, weshalb ich mich an Sie gewandt habe – der versteckte Stachel in ihren Worten sollte mir gelten, wie ich sehr wohl erkannte – so muß ich Ihnen noch mehr mitteilen. Eben die Briefe, die sich in Ihrem Gewahrsam befinden, wurden von Jean Baptiste zu Erpressungen benutzt.

Der Teufel hole ihn! rief er aus; seine Stimme bebte vor Scham, Selbstvorwürfen, Empörung, jetzt, da er erfahren hatte, welcher Mißbrauch mit seiner Gutmütigkeit getrieben worden war.

Ich schwöre es, fuhr sie fort; aber nun ist er ja tot, er kann mit all seiner Verworfenheit und Erbärmlichkeit keinen Schaden mehr anstiften. Nicht wahr?

Sie stand dicht neben Sterling, in ihrer Stimme lag wieder der Ton inständigsten Flehens.

Ich fange an, alles zu verstehen, murmelte er bitter, mehr zu sich als zu ihr.

Aber eine Stimme in meinem Innern flüsterte mir immerwährend zu, daß bis jetzt weder er noch ich das geringste davon verstand.

Diese elenden Briefe enthalten das Geheimnis einer Frau, fügte er ernst hinzu. Trifft dies zu?

Für einen Augenblick gab sie keine Antwort. Dann fuhr sie zusammen und stieß einen Ton aus, der mir wie der Schrei unterdrückten Jubels klang. Ich konnte in ihrem Herzen lesen, ich konnte ihr Gesicht sehen, obgleich sie mir den Rücken zukehrte und es noch hinter ihrer Maske von Krepp versteckt war. Ich konnte den Triumph in ihren Augen aufblitzen, ein freudiges Lächeln ihre Lippen umspielen sehen, als die Worte meines Freundes ihr ein Mittel andeuteten, durch das sie ihren Zweck, das Paket ohne vorherige Prüfung seines Inhalts in ihre Hände zu bekommen, erreichen könnte.

Ja, ja! rief sie zitternd vor Erregung aus, die Briefe enthalten das Geheimnis einer Frau.

Der infame Schurke! brummte Sterling.

Aber Sie werden sie mir zurückgeben, und zwar sogleich? fragte sie so sanft, so bittend, daß auch ein weniger empfängliches Herz als das meines Freundes zu einer sofortigen, besinnungslosen Gewährung einer so rührend ausgesprochenen Bitte hätte bewogen werden können.

Dann gehören die Briefe Ihnen? Seine für diese Frau so demütigende Frage war so leise gestellt worden, daß die Worte kaum zu meinem Ohre drangen.

Die Briefe gehören mir, hörte ich die Dame als Antwort flüstern. Sie ließ den Kopf auf die Brust sinken, ihre Haltung verriet die äußerste Beschämung, und sie begann leise zu schluchzen.

Und das in ihnen enthaltene Geheimnis gehört Ihnen? fuhr er fort.

Ach! ja. Sie preßte ihre mit den weißen Handschuhen bekleideten Hände vor ihr Gesicht und wahrscheinlich weinte sie unter ihrem Schleier. Aber mir, der ich unüberzeugt, ungerührt, als kühler Beobachter dasaß, kam es vor, als sei ihre Haltung angenommen, als finde ihr Kummer in ihrem Herzen keinen Widerhall.

Dann sollen Sie diese Briefe auf jeden Fall haben, rief mein Freund mit lauter Stimme.

Bei diesen verheißungsvollen Worten schien sich ihre Stimmung zu ändern. Stimme und Haltung verrieten ihr stürmisches Entzücken, als sie, zu seinem ernsten, männlichen Gesichte aufblickend, flüsterte: O Dank, Dank, tausend Dank!

Sie zögerte einen Augenblick. Und Sie wollen sie mir übergeben, fragte sie angstvoll, jetzt gleich – uneröffnet – ungelesen?

Bevor er aber seine Einwilligung, die ihm auf den Lippen schwebte, geben konnte, trat ich einen Schritt vorwärts.

Halt, Sterling! Da habe ich ein Wort hineinzureden.


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