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Achtes Kapitel.

Ja, Hylton, nahm Sterling das Wort, wir können Gott danken, daß jener Brief in der vergangenen Nacht gestohlen worden ist. Sein zeitweiliges Verschwinden war eine Fügung der Vorsehung.

Was soll das alles heißen? fragte ich verwundert.

Wenn ich nur selber wüßte, was dies alles bedeutet. Aber heut nachmittag werden wir weiteres erfahren. Wir werden unser Dejeuner in der Maison Dorée zu uns nehmen, wohin ich Madame gebeten habe, ihre Antwort zu schicken. Nachmittags vier Uhr begeben wir uns in Maître Guichards Bureau auf dem Boulevard Haußmann, wo wir dann volle Aufklärung erhalten werden.

Und werden wir dort deine neue Freundin, Mademoiselle Estelle Berthault, treffen?

Ja, wir werden ihre Geschichte ausführlicher erfahren, als sie mir heut morgen mitgeteilt werden konnte.

Was weißt du denn jetzt schon davon?

Folgendes. Du als Journalist bist besser als ich mit dem schmählichen Spioniersystem vertraut, das wie ein Krebs am Herzen Frankreichs nagt. Die nicht enden wollende Affäre Dreyfus scheint eine ganze Legion kleinerer Fälle ähnlicher Art nach sich zu ziehen. Mademoiselle Berthaults Vater ist Hauptmann im französischen Heere. Er sitzt gegenwärtig auf den unbestimmten Verdacht eines Verrates hin in Untersuchungshaft und hat außer seiner Tochter, seinem einzigen Kinde, niemand, der für seine Ehre und seine Freiheit eintritt.

Dann glaubst du, daß Jean Baptistes Brief etwas damit zu tun hat?

Es scheint möglich zu sein, aber natürlich läßt sich etwas Gewisses erst sagen, wenn der Brief eröffnet und gelesen ist.

Ich habe noch nichts von dieser Affäre Berthault gehört; du siehst, ich habe wochenlang außer jeder Berührung mit der Welt gelebt. Was haben denn die Zeitungen darüber gebracht?

Bis jetzt kein Wort. Die Wahrheit ist einfach die, daß die französischen Militärbehörden sich in tödlicher Verlegenheit befinden. Sie wissen nicht, bis wohin sich diese Verzweigungen der Verräterei in ihren eigenen Reihen erstrecken, sofern eine solche Verräterei nicht überhaupt Einbildung ist. Sie wagen es nicht, einen zweiten Skandal dieser Art, er mag auf Wahrheit oder nur auf Verdacht beruhen, in die Oeffentlichkeit dringen zu lassen; bei der gegenwärtigen Lage der Dinge würde er das Volk in Wut versetzen.

Es würde eine Revolution bedeuten, soviel leuchtet mir ein.

Vermutlich; es würde zu einem Ausbruch der Volksentrüstung und des Volksunwillens kommen, der sich nicht eindämmen ließe. Nun, Hauptmann Berthault befindet sich in strenger Haft – er ist einige Monate in Geheimhaft gehalten worden, was das barbarische Militärsystem Frankreichs erlaubt – und seinen besten Freunden, selbst seiner Tochter und seinem Rechtsanwalt, ist der Zutritt zu ihm verweigert worden, sodaß sie sich in völliger Unwissenheit über die näheren Gründe seiner Verhaftung befinden. Aber einige Zeit zuvor hatte der Hauptmann Maître Guichard gegenüber die Befürchtung geäußert, es könne die genaue Beschreibung des Verschlußstückes eines neuen Versuchsgeschützes, ein Amtsgeheimnis, von dem man annahm, es sei nur ihm und einem anderen Offizier, seinem Vorgesetzten, bekannt, in den Besitz eines bestimmten fremden Militärattachés in Paris, den er mit Namen nannte, gelangt sein. Diese Aeußerung, an die sich Maître Guichard später erinnerte, brachte Licht in die Sachlage.

Wie ist denn dieser Verrat begangen worden?

Der Rechtsanwalt hat keine Ahnung davon, und offenbar hatte der Hauptmann selbst zu der Zeit, in der er davon sprach, mehr einen unbestimmten Verdacht als eine bestimmte Kenntnis. Aber er war innerlich beunruhigt, wie daraus hervorgeht, daß er eine solche vertrauliche Aeußerung überhaupt gemacht hatte.

Und Jean Baptiste? Wie steht der mit der Sache in Zusammenhang?

Du wirst gleich sehen. Ein bestimmtes Dokument, das verschwunden ist, würde sofort Berthaulds Unschuld klarlegen, da es den Beweis für die Schuld des wirklichen Verräters enthält. Es ist zwecklos, hier irgend etwas vertuschen oder beschönigen zu wollen: Mademoiselle Berthault hat – kluger- oder unklugerweise – in ihrer Verzweiflung und mit Unterstützung ihres Vormundes selbst zur Spionage gegriffen in der Absicht, ihres Vaters Unschuld an den Tag zu bringen. Unter anderem brachte sie dabei in Erfahrung, daß das bewußte, im Besitz des fremden Attachés befindliche Dokument selbst aus dessen Bureau in Paris gestohlen worden ist.

Gestohlen, sagst du?

Ja, gestohlen; wahrscheinlich schon vor einiger Zeit, obgleich sein Verlust erst jetzt entdeckt worden ist. Und der Attaché selbst setzt Himmel und Erde in Bewegung, um es wiederzuerlangen.

Ah, dann ist unsere verschleierte Dame von vergangener Nacht wohl seine Agentin?

Ich glaube nicht. Die ganze Sache ist mir völlig rätselhaft. Ich habe gehört, was Mademoiselle Berthault und Maître Guichard zu sagen hatten, aber bis jetzt habe ich selbst ihnen wenig oder nichts mitgeteilt. Ich wollte die ganze Angelegenheit erst mit dir besprechen.

Nun, alter Junge, ich muß gestehen, ich tappe genau so im Dunkeln wie du. Wenn die unbekannte Dame nicht die Agentin des Attachés ist, für wen anders kann sie dann tätig sein?

Ich sehe nicht ab, wie sie seine Agentin sein kann, Hylton; er müßte denn gerade zwei Gruppen von Leuten in seinen Diensten haben, deren Pläne sich kreuzen, und die sich in der Tat gegenseitig ihre Zwecke vereitelt haben.

Wie meinst du das?

Maître Guichards Spione haben auch herausgebracht, daß der in seinen Mitteln skrupellose Attaché nach dem Prinzip, einen Spitzbuben durch den anderen zu fangen, gerade diesen Schurken Sidi Maugras mit der Aufgabe, das entwendete Dokument wieder zur Stelle zu schaffen, betraut hat.

Sidi Maugras!

Ja. Wir müssen annehmen, daß unsere Freunde, die beiden Einbrecher, vergangene Nacht im Interesse des fremden Geheimagenten hier waren.

So verdankt die Dame ihren Mißerfolg ihnen?

Unbedingt; und dies bringt mich auf die Vermutung, daß noch ein Dritter seine Hand im Spiele hat.

Der Verräter selbst! rief ich aus, der wirkliche Spion, der natürlich in beständiger Angst vor Entlarvung schwebt.

Ich dachte auch schon daran, erwiderte Sterling. Wenn das Geschwätz über das Geheimnis einer Frau auf reiner Erfindung beruht –

Wovon ich fest überzeugt bin – – –

Dann ist es möglich, daß jene Dame in der Tat im Interesse des wahren Verräters handelt. Einstweilen will ich jedoch das Rätsel auf sich beruhen lassen, Hylton. Ich begnüge mich damit, sich die Ereignisse von nun an selbst entwickeln zu lassen.

Es ist jedoch noch ein Punkt vorhanden, über den ich Aufklärung haben möchte. Du sagst, Maître Guichard wisse, daß dieser Dieb, Sidi Maugras, in den Diensten des fremden Attachés stehe. Dann ist der letztere nicht willens, Mademoiselle Berthault in ihren Bemühungen, die Unschuld ihres Vaters an den Tag zu bringen, zu unterstützen.

Nicht im geringsten. Ihr gegenüber hat der Attaché alles kühl geleugnet. Seine verzweifelten Anstrengungen, das aus seinem Bureau gestohlene Dokument wiederzuerhalten, sind einzig und allein durch den Wunsch veranlaßt, die Persönlichkeit des wahren Verräters in der Armee, der in seinem Sold gestanden hat, zu verheimlichen.

Wie kam es denn nur, daß Mademoiselle Berthault heut im Café Béarnais war?

Nun, dieses brave Mädchen, Estelle, hat, seitdem die Maugras zugefallene Aufgabe zu ihrer Kenntnis gelangt ist, dessen Bewegungen beständig überwacht in der Hoffnung, hierdurch etwas Genaues darüber zu erfahren, ob ihm sein Vorhaben geglückt ist oder nicht.

So hat sie diesen Schuft tatsächlich beobachtet, während du heut früh mit ihm verhandeltest?

Jawohl. Sie hat die Schlupfwinkel und Gewohnheiten des Burschen in Erfahrung gebracht und weiß, daß er jeden Morgen nach dem Café Béarnais kommt, um seine Briefe abzuholen. Als sie mich heut vorfahren sah, hatte sie eine Vorahnung, daß schließlich ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt würden. Sie schlich deshalb um uns her. Ich sprach wohl etwas zu laut, und Maugras war, namentlich anfangs, so außer Fassung, daß er seine gewohnte Vorsicht außer acht ließ. Auf alle Fälle hörte sie soviel von unserer Unterredung, um sich zu überzeugen, daß sich unsere Verhandlung um die vermißten Briefe drehte. Sie faßte nun einen raschen Entschluß und gedachte, sich mir anzuvertrauen und meine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Und sie hat wohl daran getan, fügte Sterling mit grimmiger Betonung hinzu, die nichts Gutes für die andere Frau ahnen ließ, die erst in der vergangenen Nacht ebenfalls sein leicht erregbares Herz gerührt hatte, und der es beinahe gelungen wäre, ihn zu ihrem Werkzeuge zu machen.

Ich konnte mich, und wenn es mein Leben gekostet hätte, nicht enthalten, über diesen gänzlichen Umschwung zu lächeln, der im Verlauf weniger Stunden in seiner Gesinnung eingetreten war. Aber seine ernste Miene verriet mir, daß er den Schritt nicht leichthin getan hatte.

Was haben wir nun zunächst zu tun? fragte ich.

Was mich betrifft, erwiderte er lachend, so will ich ein Bad nehmen und mich umziehen. Halte dich für den Rest des Tages bereit, alter Junge. Ich glaube, wir werden eine Menge Geschäfte zu erledigen haben.

Nun, entgegnete ich, vor allem hoffe ich, daß die erste und allerwichtigste Verabredung innegehalten wird.

O, Maugras wird uns nicht im Stich lassen; in dieser Hinsicht kannst du ganz ruhig sein.

Und zu Mittag erschien Monsieur Sidi Maugras wirklich – ein gutgekleideter und sehr anständig aussehender junger Mann, wie Sterling ihn beschrieben hatte, aber mit der niederen verschlagenen Stirn und dem scheuen Blicke des Verbrechers. Ich hatte den Vorschlag gemacht, den Schurken zu weiteren Geständnissen zu drängen; Sterling aber hatte – unzweifelhaft mit besserer Einsicht – sich dem widersetzt. Wir hatten eine völlig sichere Fährte gefunden, und weitere Verhandlungen mit einem solchen Lumpen konnten nur zu Verwickelungen führen, die unsere Pläne vielleicht zerstört hätten.

Ich war bei der kurzen Unterredung zugegen, überließ es aber Sterling, das Geschäft mit dem Herrn aus dem Café Béarnais abzuwickeln. Bis dahin hatte mein Freund mit einer Entschlossenheit und Umsicht gehandelt, die mir ganz neu an ihm waren, und deren ich unter ähnlichen Umständen sicherlich nicht fähig gewesen wäre, geschweige denn, daß ich meine Sache besser gemacht hätte. Und er spielte seine Rolle meisterhaft zu Ende.

Unsere Verabredung ist ganz klar, begann er, als Maugras das Zimmer betreten hatte.

Ich habe den Brief, erwiderte der Bursche; wo ist mein Gespan?

Kommen Sie mit. Wir stiegen alle drei die Treppe zum Atelier hinauf. Sterling öffnete die Tür des kleinen Gelasses, und der Gefangene wurde in dem Halbdunkel sichtbar.

Beim Anblick dieser grotesken Gestalt, die trübselig dastand und sich in ihrer dürftigen Unterkleidung betrachtete, wand sich Sidi Maugras förmlich vor Lachen. Ich habe mich oft gewundert, wie Verbrecher, die stets in Gefahr schweben, gehängt oder geköpft zu werden, es übers Herz bringen, sich der Heiterkeit hinzugeben. Aber diese lustigen Spitzbuben schienen sich über die komische Situation königlich zu amüsieren.

Nun den Brief, sagte Sterling brüsk, zur Sache übergehend.

Das Geld, erwiderte Maugras frech und patzig, indem er erwartungsvoll die eine Hand ausstreckte.

Als Antwort schloß jedoch Sterling zunächst die Dunkelkammertür wieder ab. Dann sagte er so laut, daß der darinnen befindliche Mann es hören konnte:

Ich möchte nicht, daß zwei solche Bursche wie Sie in meinem Hause frei umhergehen. Wir wollen ins Speisezimmer hinuntergehen, und ich werde Ihnen tausend Francs zahlen, sobald Sie mir das Dokument einhändigen. Dann können Sie gehen. Ihr Gefährte kann Ihnen folgen, sobald er sich angekleidet hat, und er soll ebenfalls seine tausend Francs haben.

Maugras runzelte die Stirne, und für einen Augenblick schien er Einwendungen machen zu wollen; aber da ertönte eine piepende Stimme aus dem Inneren des Gelasses heraus:

Das ist ganz in der Ordnung, Sidi! Du kannst dich auf sie verlassen. Es sind Ehrenmänner vom Scheitel bis zur Sohle. Und ihr Wein ist geradezu großartig.

Wir alle mußten gegen unseren Willen lachen. Dies gab den Ausschlag, und wir gingen in das Speisezimmer hinunter. Es wurde keine Zeit mit Förmlichkeiten vergeudet. Erst erhielt Maugras seine tausend Francs in zehn Hundertfrancsscheinen, und dann hielt Sterling den an Schicksalen reichen Brief in seiner Hand.

Es war das echte Dokument, kein einziges Siegel verletzt, Jean Baptistes saubere Aufschrift auf dem Umschlag, Sterlings eigenhändiger Namenszug quer über den gummierten Rand unbeschädigt – ein Beweis dafür, daß kein Versuch gemacht worden war, das Kuvert zu öffnen.

Gehen Sie jetzt, sagte Sterling kurz, indem er nach der Tür wies.

Sie werden Ihr Wort halten? fragte Maugras zum Schluß. Das Geschäft zwischen uns muß geheim bleiben. Ich kann ja sagen, die Sache sei mir mißglückt.

Sie können sagen, was Sie wollen, erwiderte Sterling mit kalter Verachtung. Meinem Versprechen gemäß wird durch mich niemand etwas von dem Einbruch erfahren. Hinaus!

Und damit entfernte sich Herr Maugras.

Zunächst wurde nun der Gefangene befreit. Wir gestatteten dem Spitzbuben, seine Toilette in der Abgeschlossenheit der Dunkelkammer zu machen. Als er fertig war, kam er heraus, seine grüne Mütze auf dem Kopfe, ein gutmütiges Grinsen auf seinem Gesichte. Aber er schien noch etwas zu wünschen und uns durch sonderbare, geheimnisvolle Kopf- und Handbewegungen darum zu bitten. Schließlich faßte er an sein eines Bein gerade oberhalb des Stiefels. Nun verstand ich, was er meinte.

Nein, nein, sagte ich ruhig. Wir wollen das Brecheisen und den Totschläger als Erinnerung an unsere kurze Bekanntschaft behalten.

Auch gut, Herr Oberst. Ich glaube, sie sind beide gut und gern ihre tausend Francs wert. Dann steckte er seinen übelgewonnenen Verdienst in die Tasche und trollte sich.

Währenddessen war die Aufwartefrau, die die Junggesellenwohnung in Ordnung zu halten hatte, erschienen und blickte der davoneilenden Gestalt aus der Hefe der menschlichen Gesellschaft mit unverhohlenem Erstaunen nach. Sterling äußerte jedoch kein Wort der Erklärung, obgleich ich hörte, wie er ihr den Auftrag gab, das kleine Gelaß von der Decke bis zum Fußboden sorgfältig zu reinigen.

Wenige Minuten später machten wir uns auf den Weg nach der Maison Dorée. Der Brief, der uns schon so viel Aufregung verursacht hatte und uns weitere Abenteuer verhieß, war in einer eigens für die sichere Aufbewahrung von Banknoten bestimmten Innentasche von Sterlings Weste gut aufgehoben.

Hier kommt er nicht mehr weg, hatte er gesagt, als er ihn an diesem sicheren Orte unterbrachte, bis der richtige Augenblick dafür gekommen ist.

Im Restaurant fanden wir einen an Sterling gerichteten Brief. Er enthielt eine einfache Karte, auf der nur zwei Worte standen: Zehn Uhr.

Mein Freund tippte bedeutungsvoll auf seine Brust an der Stelle, wo der Brief steckte.

So, nun kann Madame kommen, sagte er.


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