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Zweites Kapitel.

Die zehnte Abendstunde sah uns im Atelier in der Rue Chardon-Lagache der Vorstadt Auteuil. Es war ein kleines zweistöckiges Haus, das in einem ziemlich großen Garten stand. Das obere Stockwerk bestand aus einem einzigen Raum, der sein Licht vom Dache aus erhielt und als Atelier benutzt wurde.

Du hast ja eine ideale Wohnung hier, bemerkte ich, als ich mich in dem behaglich ausgestatteten Gemache mit seinen bequemen Möbeln umsah. Wie stellst du es nur an, daß du solche Räume findest?

Sie gehören einem jungen Künstler namens Duchâtel. Ich lernte ihn kennen, als ich vor drei Jahren hier war. Er schrieb mir, er wolle auf einige Zeit nach Rom gehen, und fragte an, ob ich nicht jemand wisse, der die Wohnung während seiner Abwesenheit mieten wolle. Dieser Umstand war es, der mich bestimmte, selbst auf ein Jahr herüberzukommen.

Ich dachte, der Grund sei der gewesen, daß du Londons »herzlich überdrüssig« warst, bemerkte ich lächelnd.

O, das kommt auf eins heraus. Gib einem Junggesellen Gelegenheit zu einem Aufenthaltswechsel, und er wird sofort seine Umgebung unerträglich finden. Dies gilt wenigstens für solche Bohemiennaturen, wie wir es sind.

Rede dich nur heraus, lieber Freund! Indessen hoffe ich, du hast einige Zigarren mitgebracht. Ich habe kein anständiges Kraut mehr gesehen, seitdem ich in Neapel mein Schiff verließ.

Zigarren! Nimm sie dir nur selbst von dem Brett dort herunter, alter Junge. Und es wird sich schon eine Kiste für dich finden, mit der du dich in zufriedener Gemütsstimmung heim nach England rauchen kannst.

Wenn dies eine Probe davon ist, so nehme ich dein freundliches Anerbieten an, versetzte ich lachend, indem ich mich in einen Schaukelstuhl setzte und bedächtig an der duftenden Havanna sog. Und da wir nun so gemütlich hier beieinander sitzen, so schieß jetzt mit deiner Erzählung über Jean Baptiste los. Das Gesicht des armen Burschen interessierte mich, es war eins, das man nicht leicht vergißt, selbst unter weniger tragischen Umständen.

Nein, erwiderte Sterling langsam und nachdenklich. Jean Baptistes Gesicht konnte niemals in der Menge unbemerkt verschwinden. Und doch glaube ich, er sah im Tode feiner und vornehmer aus als im Leben. Ich fürchte, es lag ein sehr düsterer Schatten über dem Dasein des Mannes, denn er hatte für gewöhnlich einen versteckten, mißtrauischen Blick, der den angenehmen Eindruck seiner sonst so hübschen Züge nicht wenig beeinträchtigte.

Er stand dir Modell, sagtest du?

Ja, aber unsere Beziehungen waren etwas wärmer, als sie in der Regel zwischen Künstler und Modell bestehen. In unserer ersten Begegnung lag nicht nur ein Stück Romantik, sondern Jean Baptiste hinterläßt auch ein Vermächtnis ganz eigener Art. Und das ist es, was ich dir jetzt auseinandersetzen will. Ich bin froh, daß du in Paris bist, denn ich brauche guten Rat, und ich möchte niemand lieber darum bitten als dich.

Dann schieß nur los mit der ganzen Geschichte. Nur aus der Kenntnis der ganzen Sachlage kann ein guter Rat erwachsen.

Nun, es sind jetzt etwas über drei Monate her, Hylton, da zog ich jenen Mann, Jean Baptiste, aus der Seine.

Wie kam das?

Ich war in einer Gesellschaft am Quai d'Orsay gewesen und hatte es mir in den Kopf gesetzt, bei dem schönen Mondschein den Fluß entlang zu Fuß nach Hause zu gehen. Es war nach Mitternacht.

Ein Spaziergang zu solcher Stunde ist wohl nicht allzusicher?

O, Betrachtungen dieser Art lassen mich ziemlich kühl, erwiderte er mit einer leichten Bewegung der Arme, die den geübten und auf seine Kraft vertrauenden Athleten verriet. Als ich gerade an den Pont d'Jéna gekommen war, hörte ich einen Hilferuf. Ich eilte die Treppe an der Brücke hinunter auf den sich am Flusse hinziehenden Flußpfad. Ich erblickte inmitten eines Wirbels eine aus dem Wasser hervorragende Hand. Die leitete mich. Ich zog den Mann heraus.

Indem du selbst hineinsprangst?

Versteht sich. Aber die ganze Geschichte ist nicht der Rede wert. Er befand sich nur etwa zehn Fuß von der Quaimauer entfernt. Er behauptete jedoch, mir großen Dank zu schulden. Aber wie so viele dankbare Leute hatte er sofort ein zweites Anliegen an mich. Niemand hatte ihn ins Wasser fallen sehen, niemand hatte gesehen, wie ich ihn herauszog, und er bat mich, niemand etwas von dem Vorfall zu sagen. Nachdem ich ihm das Leben gerettet, sei meine Verschwiegenheit der größte Dienst, den ich ihm erweisen könne. Ich vermutete, er hatte seine Gründe, die Oeffentlichkeit zu scheuen. Natürlich willigte ich ein, und er schien sich durch mein Versprechen sehr erleichtert zu fühlen. Dann gingen wir zusammen mit triefenden Kleidern über die Brücke. Er ging seines Weges, und ich fuhr in einer Droschke nach Hause. Dies war meine erste Begegnung mit Jean Baptiste.

Und die nächste?

Fand am darauffolgenden Nachmittag statt. Er kam hierher, um mir bei Tage und in trockenen Kleidern zu danken. Er saß gerade dort, wo du jetzt sitzst. Die Sonne schien voll auf ihn, und ich konnte nicht umhin, des Mannes blendende Erscheinung und seine edlen Züge zu bewundern – edel trotz des versteckten Ausdrucks, den ich schon erwähnt habe, und der den günstigen Eindruck, den er sonst erweckte, stark herabminderte. Er wünschte zu wissen, auf welche Weise er mir seine Dankbarkeit für meine Hilfe in der vorhergehenden Nacht bezeigen könne, und ich antwortete rasch: Indem Sie mir ein halbes Dutzend Sitzungen gewähren, lieber Freund.

So hast du ihn gemalt?

Ja, versetzte Sterling; einige Zeit vorher hatte ich den Plan zu einem Gemälde entworfen – »meinem Lebenswerk«, um mich des Atelierjargons zu bedienen, fügte er lachend hinzu. Ich hatte es schon flüchtig skizziert und war dabei, mit der Ausführung zu beginnen, als sich mir ein ideales Modell für meine Hauptfigur bot, das gerade im richtigen Augenblick vom Himmel herab …

In die Seine fiel!

Nun, wenn du es so buchstäblich ausdrücken willst, mir soll es recht sein. Jean Baptiste konnte mir zur Verwirklichung meines Planes behilflich sein. Dies sah ich sofort, als er sich auf den Stuhl niederließ, auf dem du jetzt sitzest.

Ich bewegte mich ein bißchen unbehaglich hin und her. Man liebt es in der Regel nicht, ausdrücklich daran erinnert zu werden, daß man den Platz einnimmt, auf dem ein Verstorbener gesessen hat – und nun gar einer, der vor so kurzer Zeit gestorben ist!

Und er hat dir gesessen – als was? fragte ich.

Als Henker – als französischer Henker aus dem siebzehnten Jahrhundert.

Ich pfiff durch die Zähne. Du hast recht. Ein solches Gesicht und eine solche Figur würden zu diesem Berufe passen. Wo ist das Gemälde?

Hier, entgegnete der Künstler, indem er das elektrische Licht am entgegengesetzten Ende des Ateliers aufdrehte und den Vorhang vor einer großen Staffelei beiseite schob.

Und in der weichen, strahlenden Beleuchtung erblickte ich das Porträt des Mannes, den wir nur wenige Stunden vorher tot in der Morgue hatten liegen sehen – groß, nervig, mit mächtigen Fäusten, schwarzbärtig, von bleicher Gesichtsfarbe, auf den Lippen dasselbe zynische Lächeln, das sie selbst noch im Tode zeigten. In dem beinahe strahlenden Glanze, der von diesem herrlichen Gesichte ausging, bemerkte ich kaum die furchtbaren Nebendinge, den Block, die Axt in der einen Hand, die abgenommene Maske in der anderen, die hin- und herwogende Menge unten, von der sich die Mittelfigur soeben abgewendet zu haben schien.

Ein Meisterwerk, alter Junge, murmelte ich begeistert; ich vergaß über dem Kunstwerk die Person des Modells. Bei Gott, Sterling, nach allem bist du auf dem besten Wege, ein Maler zu werden, trotz deines Titels.

Ich hoffe es, Hylton, erwiderte mein Freund mit einem Klange von Niedergeschlagenheit in der Stimme, indem er den Vorhang fallen ließ. Wenn es aber dieses Werk ist, mit dem ich mir meine akademischen Sporen verdiene, so verdanke ich meinen Erfolg zum nicht geringen Teile jenem armen Teufel in der Morgue – Jean Baptiste.

Ah, ja! Erzähle mir jetzt den Schluß der Geschichte deines Modells, bat ich in der Erwartung einer spannenden und aufregenden Erzählung.

Ueber den Mann selbst kann ich dir nichts mehr mitteilen. Er kam in mein Atelier nicht nur ein halbes Dutzendmal, sondern gegen zwanzigmal. Er war das beste und geduldigste Modell, das ich je gehabt hatte, und war auf das Werk meines Pinsels noch stolzer als ich selbst. Auf meine Bitten schien er auch imstande zu sein, seinen gewöhnlichen unsteten, lauernden Blick in den stolzen, halb höhnischen, halb mißtrauischen Ausdruck zu verwandeln, den ich auf der Leinwand wiederzugeben versucht habe und den nun auch der Tod seinem Gesichte aufprägte, als die Pistolenkugel seinem Leben ein Ende machte. Wenn aber unser Tagewerk vorüber war und wir eine Zeitlang geplaudert hatten, erhielt ich einige Einblicke in Jean Baptistes wahren Charakter und sah den Mann, wie er tatsächlich war – den schamlosen Schurken, der sich beinahe rühmte, niemals angestrengt gearbeitet, sondern es die ganze Zeit über verstanden zu haben, von der Dummheit anderer bequem zu leben – den typischen Pariser chevalier d'industrie, den von der menschlichen Gesellschaft Ausgestoßenen, immer auf der Hut, den ihm von allen Seiten drohenden Gefahren zu entgehen, und kein Bedenken tragend, ein einem anderen angehörendes Geheimnis zu verraten, wenn es sich zu einem lohnenden Geschäfte verwerten läßt.

Ein Erpresser und Schwindler also? fragte ich, meine Augenbrauen erstaunt in die Höhe ziehend, denn ich schreckte vor der unverkennbaren Gemeinheit des Bildes zurück, das sich meinem geistigen Auge darbot.

Ein Schwindler? o ja, zweifellos, wenn sich die Gelegenheit dazu bot, erwiderte Sterling, aber kaum so ganz und gar niedrig und verworfen wie in anderer Beziehung, will ich hoffen. Indessen wußte ich tatsächlich nichts von der Lebensweise des Mannes. Ich wollte nichts davon wissen. Er kam zu mir als Modell. Zuerst hatte er mich interessiert, aber das Interesse endete damit, daß ich seine Anwesenheit im Atelier nicht mehr gern sah, und ich war ganz froh, als vor etwa einem Monat mein Gemälde soweit vollendet war, daß ich ihn seiner Wege schicken konnte. Aber er ging nicht fort, ohne mich um einen anderen Dienst zu ersuchen, und dies ist gerade der Punkt, über den ich deinen Rat zu hören wünsche.

Und bei dem die Manschettenknöpfe eine Rolle spielen?

Jawohl, bei dem die Manschettenknöpfe eine Rolle spielen. Natürlich hast du nur darauf gewartet, sie wieder aufs Tapet zu bringen. Nun, der Dienst, um den er mich ersuchte, bestand in folgendem. Jean Baptiste hatte, wie ich wußte, eine Wohnung in einem der verrufensten Viertel von Paris. Er machte kein Hehl daraus, daß seine Hausgenossen zum größten Teil Diebe und sehr wohl imstande seien, jemand die Kehle abzuschneiden. Er besaß einige Papiere, für die er einen sicheren Aufbewahrungsort brauchte und die er selbst unter Schloß und Riegel nicht an einem Orte wie seiner Wohnung lassen konnte. Daher bat er mich, sie in mein Gewahrsam zu nehmen.

Und du nahmst das Depot an? fragte ich erstaunt.

Ja, ich tat es nach kurzer Ueberlegung. Er schien die Papiere seit Monaten bei sich getragen zu haben, da dies das einzige Mittel war, sie sicher aufzubewahren, und ich konnte sogar bemerken, daß selbst bei seiner abgehärteten Konstitution diese beständige Wachsamkeit ihm sein Leben tatsächlich zur Hölle auf Erden machte. Er erklärte mir nun, man habe versucht, ihn seiner wertvollen Papiere zu berauben, und ihn dabei in jener Nacht, in der ich ihn aus der Seine fischte, ins Wasser geworfen. Er flehte mich inständigst an, ihm zum zweitenmal das Leben zu retten, indem ich die Dokumente in meine Obhut nähme. Einer solchen Bitte kann man schwerlich widerstehen, nicht wahr?

Und worin bestehen diese Dokumente?

Das weiß ich nicht. Sie befinden sich unter Siegel.

Dann kannst du gestohlene Staatspapiere, Aktien, Banknoten und wer weiß was in deinem Gewahrsam haben. Ein ziemlich unvorsichtiges Geschäft, meinst du nicht auch?

O, ich war durchaus nicht so vertrauensselig, wie du glaubst, erwiderte Sterling nach einer kleinen Pause, in der er sich eine frische Zigarre angezündet hatte. Ich vergewisserte mich auf das bestimmteste, daß die Geschichte keinen Haken habe. Die fraglichen Papiere waren einfach nur ein paar Privatbriefe, für deren Aufbewahrung er Familienrücksichten anführte. In meiner Gegenwart steckte er sie in einen Umschlag, auf den er dann eine Adresse oder eine Anordnung oder etwas der Art schrieb. Dann versiegelte er den Umschlag, schloß diesen in ein zweites Kuvert und versiegelte dieses ebenfalls.

Mit einem seiner Manschettenknöpfe, vermute ich?

Eine natürliche und logische Folgerung. Aber jetzt kommt der wichtigste Teil meiner Depotübernahme.

Und dieser ist?

Mein Versprechen lautete dahin, daß ich, solange ich in Paris bliebe, die Papiere sicher für ihn aufbewahren wolle, bis er komme und sie zurückfordere.

Du hast ja eine nette Verantwortung übernommen. Du wußtest, daß der Mann bei einem Streite um den Besitz dieser selben Papiere in die Seine geworfen worden war; du liefst also, wenn es je herauskommen sollte, daß du sie in deinem Verwahrsam hättest, in Zukunft genau dieselbe Gefahr wie früher Jean Baptiste.

Ich muß gestehen, daß ich die Angelegenheit nie in diesem Lichte betrachtet habe, sagte Sterling mit trübem Lächeln. Ich glaube jetzt selbst, es war ein tollkühnes Unternehmen. Indessen, es war einmal geschehen, und jetzt kommt die Sache zum Abschluß.

Vielleicht auch nicht, entgegnete ich. Mit dem Tode dieses Mannes können deine Verlegenheiten möglicherweise erst beginnen.

Wieso?

Natürlich mußt du dieses geheimnisvolle Depot der Polizei aushändigen.

O, davon bin ich keineswegs überzeugt. Du siehst, Jean Baptiste traf Vorkehrungen für den jetzt eingetretenen Fall. Im Fall seines Todes habe ich die Anweisungen zu befolgen, die er auf dem äußeren Umschlag niedergeschrieben hat.

Und welcher Art sind diese?

Vorausgesetzt, ich habe die absolute Gewißheit, daß er tot ist, so soll ich diesen Umschlag öffnen und lesen, was auf dem zweiten Kuvert steht, und das Vermächtnis, wie er es nannte, nach meinem Ermessen ausführen.

Da du nun diese absolute Gewißheit hast, so ist augenscheinlich das nächste, daß du das Kuvert unverzüglich öffnest.

Gerade dies bin ich eben willens zu tun, mein Junge. Ich will es öffnen; da aber die Ermordung Jean Baptistes der ganzen Sache einen ernsteren Anstrich gibt, so bin ich froh, dich hier zu haben, um die Verantwortung mit dir teilen zu können.

Das ist außerordentlich liebenswürdig von dir, versetzte ich lachend, mit einem Anflug von Ironie in meinem Tone, aber Sterlings verstörter, bittender Blick entwaffnete mich. Bringe das Paket her, alter Knabe, beeilte ich mich hinzuzufügen; dann werden wir schon sehen, was es enthält.

Ich habe es hier in meinem Schreibtisch, antwortete er, indem er sich dem genannten Möbel näherte. Du wirst die Siegel auf den ersten Blick wiedererkennen. Und nach kurzem Suchen legte er einen großen viereckigen Briefumschlag auf den Tisch.

Ich nahm ihn mit nicht geringer Neugier in die Hand. Auf den zusammengeklebten Rändern des Kuverts waren nicht weniger als fünf rote Siegel angebracht, in der bei den eingeschriebenen Briefen in Frankreich üblichen Anzahl und Stellung. Auf jedem derselben war der Abdruck einer geometrischen Zeichnung zu erkennen – eines Dreiecks, eines Kreises und eines Quadrats – eine Figur stets von der anderen umschlossen, der deutliche und unbezweifelbare Abdruck der Knöpfe, die der jetzt in der Morgue liegende Tote getragen hatte.

Auf dem Umschlag standen in klarer, sauberer Schrift folgende Worte:

Sir Richard Sterling in Verwahrung gegeben, um mir, Jean Baptiste, auf mein Verlangen wieder ausgehändigt, unter keinerlei Umständen aber geöffnet zu werden, wenn Sir Richard Sterling nicht die untrügliche Gewißheit hat, daß ich tot bin.

Darunter stand in kräftigen Zügen die Unterschrift: Jean Baptiste.

Auf der Rückseite des Dokuments bemerkte ich Sterlings eigenhändigen Namenszug, der zum Teil über den gummierten Rand hinweg geschrieben war, augenscheinlich als besondere Bürgschaft dafür, daß der Inhalt des Umschlags unberührt aufbewahrt werden sollte.

Mein Freund wartete, bis ich mit der Prüfung fertig war. Du erkennst auf den Siegeln den genauen Abdruck der Manschettenknöpfe?

Auf das bestimmteste.

Nun, dies ist der Grund, weshalb ich wünschte, du möchtest dir die Knöpfe genau betrachten. Soweit ich in Betracht kam, bedurfte ich natürlich keines weiteren Beweises, als des Zeugnisses meiner Augen. Ich bin aber froh, daß sich außer mir noch jemand anders davon überzeugt hat, ehe ich diesen Brief öffne. Du bist also davon überzeugt, daß Jean Baptiste tot ist?

Absolut überzeugt.

Dann, Hylton, können wir daran gehen, die Siegel zu erbrechen.

Aber gerade in diesem Augenblick ertönte die elektrische Klingel in dem Hausflur unten schrill und anhaltend.

Wir sahen einander verwundert und ein wenig erschrocken an, in unserem Schweigen aber war die Frage zu lesen: Wer mochte dieser mitternächtliche Eindringling sein?

In diesem Augenblick vollkommener Stille konnte ich in kurzer Entfernung außer dem leisen Wiehern eines Pferdes und dem Stampfen von Hufen das Knarren eines ledernen Geschirres vernehmen.

Du hast doch die Gartenpforte verschlossen? fragte ich etwas nervös.

Ja, aber der Knopf zur elektrischen Glocke befindet sich dort. Herr Duchâtel und seine Freunde waren, wie du siehst, gewohnt, lange aufzubleiben.

Und wir sind allein im Hause?

Ganz allein.

Die Glocke ertönte wieder – ungestüm, dringend – drei rasch aufeinanderfolgende Triller.

Dann wollen wir zusammen an die Gartenpforte gehen, schlug ich vor.

Und dieser Brief?

Schließe ihn einstweilen wieder weg.

Als dies geschehen war, gingen wir hinunter, um zu sehen, was die zu so ungewohnter Stunde erfolgte Störung zu bedeuten habe.


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