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Elftes Kapitel.

Die nächsten paar Stunden vergingen mir in einem Zustande der schrecklichsten Aufregung. Kein Detektiv hing sich fester an einen bedrohten Staatsminister oder Millionär aus Furcht für dessen Leben als ich an Sir Richard Sterling. Während wir die Boulevards entlanggingen, faßte ich ihn unter den Arm und deckte das schicksalsreiche Schreiben mit meinem Ellbogen. Als wir in dem überfüllten Restaurant zu Mittag speisten, überwachte ich die Stelle, wo der Brief an Sterlings Brust verwahrt war, wie eine Schildwache die Kronschätze. Ich beargwöhnte jedermann um uns herum; ich blickte sogar den uns bedienenden Kellner mißtrauisch an und bestand darauf, daß wir eine geschlossene Droschke zur Heimfahrt benutzten, anstatt des offenen Wagens, den wir beide sonst vorgezogen hätten. Als wir die Rue Chardon-Lagache erreicht hatten, durchsuchte ich jeden Raum im Hause, jedes Gelaß, jede Kammer mit Einschluß der »Zelle«, überzeugte mich von der Sicherheit jedes Fensterverschlusses, ehe ich mich dazu entschließen konnte, mich niederzusetzen. Was meinen Freund betrifft, so lachte er einfach über meine Befürchtungen. Er war in ausgezeichneter Laune und, wie es schien, mit sich und aller Welt zufrieden. Aber unter der Maske des Scherzes war er, wie ich bemerken konnte, ebenso stark von Aufregung gefoltert wie ich selbst.

Als es gegen halb zehn Uhr ging, beobachtete ich belustigt, mit welcher Sorgfalt Sterling die Vorbereitungen für den Besuch Mademoiselle Estelles und ihres Vormundes traf. Sie sollten im Atelier empfangen werden. Er stellte die Möbel so, daß sie die beste Wirkung hervorbrachten, besserte immer wieder von neuem an der Anordnung der Dekorationen und Kuriositäten herum. Er brachte die Kaffeemaschine aus dem Speisezimmer herauf und deckte eigenhändig einen kleinen Tisch mit zierlichen Tassen aus weißem, vergoldetem Porzellan, mit Biskuits, die, wie ich überzeugt war, niemand essen würde, und mit Konfekt, das unzweifelhaft sehr gut aussah, das aber für einen so ereignisreichen Abend wenig geeignet erschien.

Pünktlich trat Maître Guichard ein und brachte seine junge Pflegbefohlene mit. Obgleich Estelles Gesicht blaß war, trug es doch den Ausdruck fester Entschlossenheit und froher Hoffnung, daß die Stunde ihrer höchsten Belohnung geschlagen habe. Mit raschem weiblichem Blick bemerkte sie die Vorbereitungen, die Sterling für ihren Empfang getroffen hatte, und als sie vom Kaffeetische weg auf sein Gesicht sah, umspielte ein geschmeicheltes leichtes Lächeln der Anerkennung ihre Lippen.

Was mich selbst betrifft, so war ich jetzt kühl und gesammelt. Die Gewißheit, daß das versiegelte Paket in Sicherheit sei und uns nicht mehr »zwischen Lipp' und Kelchesrand« abhanden kommen könne, hatte meine Nerven beruhigt. Ich sah ganz deutlich, wie die Arbeitsteilung sich gestalten würde: Sterling würde die Angelegenheit mit Mademoiselle Berthault ins reine bringen; auf meinen Schultern würde hauptsächlich die Verantwortung für die Verhandlungen mit der unbekannten Dame ruhen. Nun, mag es sein, überlegte ich; die Aufgabe gehörte nicht zu den angenehmsten, aber sie mußte zu Ende geführt werden.

Während des Wartens zeigte ich dem Rechtsanwalt das Gemälde, das Jean Baptiste als Henker darstellte. Er erkannte das Gesicht auf den ersten Blick – der Mann war sicherlich niemand anders als der Abenteurer Max Lorraine, dem es früher gelungen war, in der guten Gesellschaft Fuß zu fassen, obgleich er die ganze Zeit über ein Spion war, der der Polizei die Geheimnisse, die er entdeckte, oder die vertraulichen Aeußerungen, die er durch seine Liebenswürdigkeiten herauslockte, verkaufte.

Verändert, bedeutend verändert, murmelte der Rechtsanwalt, das Porträt scharf betrachtend. Aelter und verwitterter, aber unzweifelhaft Max Lorraine.

Für Estelle, die bis zu diesem Tage den schmachbedeckten Namen nie gehört hatte, hatte das Gemälde lediglich und ausschließlich die Bedeutung eines Kunstwerkes. Sie schaute es lange und schweigend unter kritischer Würdigung an.

O, Sir Richard Sterling, Sie sind ein großer Künstler! Es ist herrlich!

Ich sah, daß dies keine nur von dem Wunsche, ihm eine Höflichkeit oder Schmeichelei zu sagen, eingegebene Bemerkung war. Aus den Worten der schönen Kritikerin klangen ehrliche Bewunderung und Begeisterung heraus, ebenso wie auch ihr Antlitz von denselben Empfindungen erglühte. Sterlings Gesicht errötete vor Freude.

Sie sind allzu liebenswürdig, stammelte er.

Ach, wie sehr wünschte ich, ebenso malen zu können! murmelte das junge Mädchen.

Ich bin überzeugt, erwiderte mein Freund lachend, daß, wenn einer Ihrer Straßenjungen neben diesem Herrn auf der Staffelei hier stände, Ihnen die Ehrenmedaille zufallen würde.

Nein, bemerkte der alte Rechtsanwalt; Estelle kann malen, kann sehr gut malen, Sir Richard, und wird eines Tages noch besser malen. Aber Sie sind ihr doch in der Kunst überlegen.

Ich wünschte, ich wäre es.

Sterlings Lippen sprachen die Worte nicht hörbar aus, aber sie waren um so deutlicher in seinen Augen zu lesen. Und Estelles Herz hatte die Bedeutung dieses Blickes erkannt, denn sie wandte sich in einiger Verwirrung ab und begann die Bronzen auf einer Etagere neben ihr zu betrachten.

Aber in diesem selben Augenblicke schien ein Schauer gleichzeitig durch unser aller Nerven zu gehen, und wir sahen uns alle beinahe verstört an. Die Glocke unten hatte geläutet.

Sterling und ich gingen zusammen zur Gartenpforte. Die Unbekannte war angekommen, allein und ohne Begleitung, in Mantel und Schleier, genau wie in der Nacht zuvor. Wir verbeugten uns schweigend, ließen sie ein und schlossen die Pforte. Als wir den Weg entlang gingen, konnte ich sehen, wie sie, mit Sterling ein paar Schritte voraus, diesen leidenschaftlich am Arme packte.

Sie haben den Brief erhalten? fragte sie erregt.

Er ist in meinem Besitz, antwortete er ernst.

Uneröffnet? Ungelesen?

Er ist so, wie Jean Baptiste ihn mir übergab – mit unverletzten Siegeln.

Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, und eine Minute später befanden wir uns alle drei im Salon. Madame öffnete ihren Mantel und schlug den Schleier zurück. Ich war entsetzt über die tödliche Blässe ihres Antlitzes, den verzerrten Ausdruck ihrer Züge, den halb erwartungsvollen, halb erschreckten Blick in ihren schwarzen Augen. Die vierundzwanzig Stunden voller Angst und Ungewißheit hatten eine traurige Veränderung bei ihr hervorgerufen. Selbst ich konnte nicht umhin, sie zu bemitleiden, und Sterling war, wie ich bemerkte, ganz überwältigt.

Nun, den Brief! rief sie ungestüm und ohne ein weiteres Wort der Einleitung. Ihre mit weißen Handschuhen bekleideten Hände hielt sie gierig ausgestreckt, als sie ihr Gesicht zu dem Sterlings emporhob. Als Antwort wandte er sich mit einem bittenden Blicke an mich. Ich wußte, was er meinte, was er wünschte; ich hatte daher notgedrungen die Pflicht zu übernehmen, die so wenig zu dem Wesen meines weichherzigen Freundes paßte.

Bitte, Platz zu nehmen, Madame, begann ich.

Sie erschrak beim Tone meiner Stimme, warf einen raschen, forschenden Blick nach der Richtung, in der ich stand, und machte eine ungeduldige Bewegung des Protestes gegen meine Einmischung. Aber ich blieb standhaft und fest.

Haben Sie die Güte, einen Stuhl zu nehmen, wiederholte ich dringender. Es sind noch ein oder zwei Punkte, die einer Aufklärung bedürfen, ehe die Siegel erbrochen werden können.

Meine Haltung zeigte ihr, daß sie sich zu fügen hatte, denn ohne weitere Einwendungen ließ sie sich in einen Sessel fallen und wartete auf meine nächsten Worte in der gefaßten Haltung jemandes, der sich in ein hartes Schicksal ergibt, gegen das anzukämpfen nutzlos ist.

Sie erheben Anspruch auf diesen Brief, fuhr ich fort, der Sir Richard Sterling von Jean Baptiste zur Aufbewahrung übergeben worden ist.

Er ist mein Eigentum, erwiderte sie.

Und Sie haben uns Ihr Wort gegeben, daß dies Paket hier weiter nichts enthält, als das Geheimnis einer Frau.

Ich habe mich Ihrer Bedingung gefügt, daß der Umschlag in Ihrer Gegenwart geöffnet werden soll. Oeffnen Sie das Kuvert! Sie werden sich alsbald überzeugen, daß der Inhalt mir gehört.

Ich rollte einen kleinen Tisch in die Mitte des Zimmers und beobachtete, als ich mich setzte, die Vorsicht, ihn zwischen der Dame und mir zu lassen. Eine verzweifelte Frau ist ebenso zu überwachen wie ein verzweifelter Mann, und ich war keineswegs sicher, daß ihre Bereitwilligkeit, den Inhalt des Umschlages unseren Blicken zu unterbreiten, nicht lediglich Verstellung sei, um es ihr zu ermöglichen, ihn im gegebenen Augenblicke an sich zu reißen und es uns zu überlassen, ob wir ihn ihr wieder durch Gewalt abnehmen würden. Als habe sie den Zweck meiner Maßregel richtig erkannt, machte sie keine Bewegung und sprach kein Wort. Aber während dieses beharrlichen Schweigens konnte ich ihre raschen, erregten Atemzüge hören, die wie die eines wilden Panthers klangen.

Der äußere Umschlag besagt, fuhr ich fort, indem ich die Aufschrift des versiegelten Dokumentes las, daß er nicht in Abwesenheit Jean Baptistes geöffnet werden darf, wenn nicht ein untrüglicher Beweis vorliegt, daß der Mann tot ist. Wir sind, denke ich, alle davon überzeugt, daß Jean Baptiste tot ist.

Ich bin davon überzeugt, erklärte Sterling.

Und Sie, Madame?

Er ist tot – tot, erwiderte sie in überzeugtem Tone, mit geballter Faust in nervöser Ungeduld auf den Tisch trommelnd.

Nun, dann ist die Zeit gekommen, das Kuvert zu öffnen.

Und ohne weiteres zog ich mein Taschenmesser hervor und schnitt den leinenen Umschlag mit einem leise kreischenden Geräusch auf, das in dem schweigenden Gemache laut widerklang.

Ich wußte natürlich nicht im geringsten, welcher Art der Inhalt sei, und Sterling selbst hatte, wie er mitgeteilt, die Aufschrift des inneren Kuverts nicht gelesen, als es in den äußeren Umschlag hineingesteckt wurde. Dieses Kuvert lag jetzt in meiner Hand. Ich besah zuerst das einzige, große, runde Siegel. Es zeigte denselben Abdruck der geometrischen Zeichnung, der die äußere Umhüllung an fünf verschiedenen Stellen verschlossen hatte.

Ich las nun laut die Worte, die auf dem zweiten Kuvert geschrieben standen:

Ich, Jean Baptiste, übergebe Sir Richard Sterling diesen Brief zur Verwahrung, indem ich ihm stillschweigend das Vertrauen schenke, daß er als ein Mann von Ehre das feierlich ausgesprochene Verlangen eines Verstorbenen erfüllen werde. Ich wünsche, daß er diesen Umschlag uneröffnet und unverletzt eigenhändig und unter absoluter Geheimhaltung der Dame übergebe, deren Namen und Adresse ich jetzt niederschreibe.

Ich brach kurz ab. Ich hatte den Namen, der nun folgte, gesehen aber nicht laut gelesen. Ich blickte zu der Dame mit einem Erstaunen und einem Entsetzen in meinen Augen auf, die wohl imstande gewesen wären, ihr Herz mit Schreck zu erfüllen.

Aber ich sah nur ein Lächeln stillen Triumphes auf ihren bebenden Lippen nach Ausdruck ringen.

Das ist genau das, was er mir versprochen hat, rief sie. Sie sehen, der Brief gehört mir.

Er ist adressiert an – –?

An mich. Ich bin Madame Boissy-Rennes.

Gerechter Gott! rief Sterling beim Klang dieses Namens.

Seine Augen suchten die meinen, und wir lasen gegenseitig in unseren Zügen denselben Gedanken.

Oberst Boissy-Rennes war, nach allem zu urteilen, der Verräter, der doppelt verächtliche Schurke, der zuerst sein Vaterland verraten und dann seinen Kameraden geopfert hatte. Seine Frau war hier, um die Beweise für das Verbrechen ihres Gatten wieder in ihren Besitz zu bringen, und, damit ihr dies gelänge, hatte sie sich selbst davor nicht gescheut, ihren eigenen guten Namen zu beflecken. Denn hatte sie nicht Sterlings Vermutung bestätigt und selbst zugegeben, die Briefe enthielten das beschämende Geheimnis einer Frau, das Geheimnis ihrer eigenen Schande?

Für den Augenblick schwoll mein Herz vor Mitleid mit der Frau, die errötend und erwartungsvoll auf der anderen Seite des Tisches stand. Es war eine weitere Geschichte von der heroischen Aufopferung einer Frau für den Mann, den sie liebte – eine widerwärtige, aber trotzdem rührende Geschichte. Gott helfe beiden!

Ich war am Ende meiner Kraft angelangt und erhob mich. Sterling kam uns jetzt in dem peinlichen Schweigen zu Hilfe.

Dies ist eine verhängnisvolle Verwickelung, rief er.

Wie meinen Sie das? keuchte die Dame in rasch aufsteigender Angst, denn ihre triumphierende Haltung hatte sich sofort in Schreck verwandelt. Ihre Hände waren fest ineinander verschränkt. Mein Freund wandte sich mit einem unterdrückten Stöhnen ab.

Doch jetzt hatte ich meine Geistesgegenwart wiedergefunden.

Madame Boissy-Rennes, sagte ich traurig und ernst, glauben Sie, ich fühle aus tiefster Seele mit Ihnen. Aber es erhebt noch jemand anders Anspruch auf diesen Brief.

Ums Himmelswillen, was meinen Sie damit? flehte sie abermals, ihre Frage jetzt an mich richtend.

Eine andere Frau erhebt Anspruch auf die in diesem Umschlage enthaltenen Dokumente – die Tochter des Hauptmanns Berthault.

Beim Klange dieses Namens stieß sie einen kurzen, erschreckten Schrei aus. Dann sah ich, wie sie sich auf die Lippe biß, so daß die weißen Zähne beinahe in dem rosigen Fleische verschwanden.

Aber das Paket gehört mir, protestierte sie stammelnd. Es gehört mir! Sie sehen mit Ihren eigenen Augen die schriftlich geäußerten Wünsche des Verstorbenen, von dem es hier zur sicheren Aufbewahrung hinterlegt worden ist.

Die Wünsche eines Verstorbenen – eines Mannes wie Jean Baptiste, dessen Charakter wir alle kennen – dürfen aber nicht die Begehung eines Verbrechens gestatten.

Sie sah mich an, vor Schreck und Entsetzen einer Ohnmacht nahe.

Das Verbrechen, einen Unschuldigen zu verurteilen, setzte ich feierlich hinzu.

Die Enthüllung, daß mir alles bekannt sei, schien sie wie ein tatsächlicher physischer Schlag zu treffen. Einen Augenblick schwankte sie, dann sank sie auf das Sofa, neben dem sie stand, verbarg ihr Gesicht in die Kissen und schluchzte herzzerbrechend im Uebermaß des Schmerzes und der Verzweiflung.

Ich wartete, bis der Sturm vorüber war, und setzte mich wieder vor den Tisch, während Sterling sich einen Stuhl an meine Seite zog. Ich begrüßte die kurze Pause, die jetzt eintrat, mit Freuden, denn sie bot mir Gelegenheit, über mein nunmehr zu beobachtendes Verhalten nachzudenken.

Als die unglückliche Frau ihr Gesicht erhob, schien sie in diesen wenigen Sekunden um zehn Jahre gealtert zu sein, so verändert war der Ausdruck ihrer Züge. Sie sah eingefallen aus, ihre Augen waren vom Weinen gerötet, auf Stirn und Wangen zeigten sich Linien, die vorher nicht dagewesen waren. Ein kalter Schauer von Schreck, von Mitleid überlief mich.

Ach, jetzt verstehe ich, rief sie, ihre Tränen niederschluckend. Sie haben sich vorgenommen, den Hauptmann Berthault zu retten. Aber ich schwöre Ihnen, daß dieses Kuvert nichtsdestoweniger die Geschichte meiner – meiner Schande enthält.

Die Art, in der sie die letzten Worte gesprochen hatte, ließ mich klarer erkennen, worum es sich handelte. Einen Augenblick schwieg ich, um nachzudenken, um die einzelnen Glieder der Kette miteinander zu verbinden; dann, als ich volle Klarheit gewonnen hatte, war es mir, als gerinne mir das Blut in den Adern zu Eis. Ich blickte von neuem in ihr Gesicht und las darin das ganze furchtbare Geheimnis.

Gerechter Gott im Himmel droben! Die Frau, die ich ein paar Minuten auf das Piedestal einer edlen, sich selbst aufopfernden Heldin erhoben hatte, war, nach allem zu urteilen, zehnmal verworfener, als ich mir unter dem Eindruck des ersten instinktiven Mißtrauens je hätte träumen lassen. Diese zweite Enttäuschung brachte mein Gehirn förmlich zum Wirbeln.

Dann rühren diese Briefe nicht von der Hand Ihres Gatten, des Obersten Boissy-Rennes, her, Madame? fragte ich endlich in strengem Tone und mit strenger Miene.

Nein, nein, nein! erwiderte sie; es sind meine Briefe, nur meine.

So sind Sie die Verräterin der Geheimnisse Ihres Vaterlandes?

In einem Anfall von Wahnsinn kopierte ich einige Zeichnungen – für einen Mann, den ich schwach genug war, zu lieben.

Das niederschmetternde Geständnis dieser Infamie, die ich bereits geahnt hatte, kam in einem heiseren Flüstern heraus, und ich fühlte, wie Sterling in grenzenloser Ueberraschung meinen Arm packte.

Sie haben dies getan? murmelte er ungläubig, zusammenschaudernd.

So wahr ein richtender Gott über mir waltet, stöhnte sie als Antwort, so wahr hatte ich, als ich ihm die Zeichnung übergab, keine Ahnung von dem Zweck, zu dem sie verwendet werden sollte.

Sie wissen, daß sie zunächst an eine fremde Regierung verkauft wurde? fragte ich.

Ja, ja, ich weiß es. Ich erfuhr es, als es zu spät war.

Und dann, vermute ich, wurde das belastende Papier später von derselben Hand zurückgestohlen. Zum Zwecke der Erpressung gegen Sie, die Verfertigerin der Zeichnung?

O Gott, o Gott! rief sie. Dieses Grauen, dieser Ekel vor sich selbst, ja, auch nur einen Tag lang, einen solchen Mann geliebt zu haben!

Ihr Liebhaber war also dieser Schurke Jean Baptiste! rief ich laut.

Und hätte es mein Leben gegolten – ich konnte nicht anders, ich mußte ihr diesen Namen mit zorniger Verachtung ins Gesicht schleudern.

Die Frau verbarg ihr Gesicht in den Händen und beugte sich in qualvoller Beschämung tief auf den Tisch herab.

Ihr Liebhaber, Madame, war der ehrlose Polizeispion Max Lorraine!

Sie zeigte keine Ueberraschung, daß ich den wahren Namen des Erpressers kannte. Nur ihr krampfhaftes Schluchzen gab Antwort.

Madame, sagte ich nach einer kurzen Pause, während sie in ihrer Stellung verharrte; es gibt nur einen Weg, der eingeschlagen werden kann.

Aus dem teilweisen Aufhören ihres Schluchzens entnahm ich, daß sie gespannt auf meinen Ausspruch lauschte, der ihr Schicksal entscheiden sollte.

Dieser Brief, fuhr ich fort, muß in Gegenwart Ihres Gatten geöffnet werden. Er ist ein Ehrenmann und wird ein unparteiisches Urteil fällen.

Nein, nein; ersparen Sie mir wenigstens dies! rief sie. Ich habe gesündigt, aber seitdem sind Jahre verflossen, und mein ganzes Leben ist von da an eine einzige große Buße gewesen. Schützen Sie die Ehre einer Frau in den Augen ihres Gatten, der sie liebt und seiner Liebe für würdig hält.

Wie können wir Sie schonen, ohne anderen grausames Unrecht zuzufügen? fragte Sterling mild.

Sie hob ihr tränenüberströmtes Antlitz zu ihm auf.

Gewähren Sie mir nur noch eine Gnade, bat sie. Ich fange an, die Dinge klarer zu sehen. Ich sehe ein, daß Sie mich vor den Folgen des Verbrechens, das ich gegen mein Vaterland begangen habe, nicht schützen können. Aber schonen Sie mich in diesem anderen Punkte, ich flehe Sie an. Für meinen Gatten ist die eine Enthüllung sicherlich schon furchtbar genug, denn sie bedeutet seinen Ruin – seinen dienstlichen Ruin – und ein gebrochenes Herz.

Was wünschen Sie demnach, daß wir tun sollen?

Es sind zwei Papiere in diesem Umschlage, antwortete sie rasch. Das eine enthält die Zeichnungen und Abbildungen, die ich aus meines Gatten Geheimbuch kopiert habe, das andere ist der Brief, den ich schrieb, als ich jene Zeichnungen an – Max Lorraine sandte.

Sie sprach den Namen nur mit Anstrengung und Schauder aus.

So enthält also das erste Papier das Geheimnis Ihres Landes, das zweite Ihr persönliches Geheimnis, entgegnete Sterling.

Geben Sie mir das zweite zurück, nur das zweite, bat sie mit dem flehenden Blick eines stummen Tieres, welches weiß, daß es verurteilt ist, zu sterben.

Das können wir tun, Hylton, zweifellos, erklärte Sterling bereitwillig, sich an mich wendend.

Dann soll das Kuvert in Gegenwart beider Parteien geöffnet werden, und wenn es sich so verhält, wie uns gesagt wurde, so mag jede den Brief an sich nehmen, der ihren Zwecken dienlich ist.

Ich fällte mein Urteil mit der ganzen Strenge eines unerbittlichen Richters, denn das Bild Estelle Berthaults stieg vor meinem geistigen Auge auf, wie sie in ihrem bitteren Harme zu diesem falschen Weibe ging und dankerfüllten Herzens dessen Freundschaftsbezeigungen entgegennahm. Welches Erbarmen konnte ich noch mit der Frau haben, die nicht nur ihr Vaterland und ihren Gatten verraten hatte, sondern die selbst jetzt noch einen Unschuldigen zu grunde gehen lassen wollte, nur damit ihre Sünden unentdeckt und unbestraft blieben?

Sterling erkannte aus dem Tone meiner Stimme, daß ich mein letztes Wort gesprochen hatte, und verließ das Zimmer, um den beiden oben Wartenden unsere Entscheidung mitzuteilen. Madame Boissy-Rennes saß in sich gekehrt und stumm da. Sie hatte noch keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken, was nun kommen werde.


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