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Siebentes Kapitel.

Es hatte geläutet – die Bäckersfrau mit den Morgensemmeln. Auf ein zweites Läuten ging ich wiederum an die Gartenpforte; ich fand die übliche Kanne Milch an dem Gitter hängen. Nirgends aber ließ sich ein dienstbarer Geist blicken, und daraus schloß ich denn, daß mein Freund gewohnt war, sich sein erstes Frühstück nach echter Pariser Junggesellenart selbst zu bereiten. Im Hause eines Freundes befolge stets das Beispiel deines Wirtes: diese Regel habe ich in meinem etwas nomadenhaften Dasein, in dem natürlich die Wirte keine unbeträchtliche Rolle spielten, bewährt gefunden. So nahm ich denn die Kaffeemaschine vor und bereitete Kaffee für uns beide, denn ich war überzeugt, Sterling müsse nun jede Minute von seiner Mission zurückkehren.

Ein drittes Läuten; da Sterling einen Schlüssel hatte, so konnte er es nicht sein. Wenn noch mehr Leute kommen, so hätte ich die Gartenpforte offen lassen sollen. Auf die Gefahr hin, daß die Milch überliefe, eilte ich hinaus. Ein gutgekleideter Mann begehrte Einlaß. Ah, Madames Privatdetektiv – was galt die Wette? Als dieser stellte er sich auch heraus – Monsieur Albert Fleury, wie die Karte auswies, die er mir überreichte, mochte es nun der wahre oder ein angenommener Name sein.

Monsieur Fleury mußte bis zur Rückkehr Sterlings warten. Da die Milch soeben zum Sieden kam, so lud ich ihn sofort ein, mir am Frühstückstisch Gesellschaft zu leisten. Er lehnte die angebotene Semmel ab, nahm aber den Kaffee an. Ich servierte ihn siedend heiß in einer riesigen Tasse. Dies würde seine Aufmerksamkeit auf eine Viertelstunde ablenken. Ich teilte ihm mit, Sir Richard Sterling sei ausgegangen, müsse aber jeden Augenblick zurückkommen.

Der Detektiv war ein zurückhaltender Herr und machte keinen Versuch, die Unterhaltung gewaltsam zu beleben. Ich war froh darüber, denn obgleich ich mich bemühte, meine Unruhe zu verbergen, so stand ich doch förmliche Folterqualen aus. Würde er nie wieder heimkehren?

Mein Besucher hatte seinen Kaffee ausgetrunken. Er ließ sich nicht bewegen, eine zweite Tasse zu nehmen, die ich schon für ihn bereit hielt. Ich überreichte ihm den Figaro; die Zeitung war durch das Gitter geworfen worden, und ich hatte sie gefunden, als ich die Semmeln holte. Aber Herr Fleury schien keine Lust zum Lesen zu haben, ich konnte über die Zeitung hinweg bemerken, daß er mich ruhig beobachtete.

Sollte ich ihn ins Vertrauen ziehen und seinen Rat einholen? Er war Detektiv und würde wissen, was am besten zu tun sei.

Ich überlegte mir diese Frage ernstlich, als ich endlich ein Geräusch an der Pforte hörte, dann das Herumdrehen eines Schlüssels und – Gott sei dank – die Fußtritte meines Freundes auf dem zum Hause führenden Wege. Sterlings Gesicht strahlte vor Freude; ich erkannte sofort, daß etwas Wichtiges vorgefallen, ein wichtiger Schritt getan worden sei.

Hast du das Paket bekommen? fragte ich in erregtem Flüstertone, als ich zur Tür ging und seine Hand in der Freude über seine glückliche Rückkehr drückte. Aber sein Blick war auf Monsieur Fleury gefallen, der sich verbindlich erhoben hatte.

Der Agent, den Madame zu schicken versprochen hat, sagte ich laut in Erwiderung auf seinen fragenden Blick und überreichte ihm des Detektivs Karte.

O, natürlich, erwiderte er. Bitte, behalten Sie Platz, Sir. Ich möchte Ihnen einen Brief an Ihre Auftraggeberin mitgeben.

Ohne ein weiteres Wort an einen von uns zu richten, setzte sich Sterling an den Schreibtisch am Fenster. Sein Brief war in ein paar Minuten fertig. Bevor er ihn zusiegelte, reichte er ihn mir hin.

Mit Weglassung der üblichen Höflichkeitsformeln zu Anfang und zu Ende lautete der Brief folgendermaßen:

Kommen Sie heut abend, bitte, unter allen Umständen zu mir. Ich werde dann wieder im Besitz des vermißten Kuverts sein, das, wie verabredet, in Ihrer Gegenwart geöffnet und Ihnen übergeben werden soll, wenn der Inhalt mit Ihren Angaben übereinstimmt. Haben Sie die Güte, mir vor zwei Uhr nachmittags einige Zeilen nach der Maison Dorée, Boulevard des Italiens, zu senden und mich wissen zu lassen, zu welcher Stunde nach neun Uhr ich Sie erwarten darf.

Als ich mit dem Lesen des Briefes fertig war, verschloß Sterling den Umschlag und siegelte ihn sorgfältig mit seinem Ringe, den er stets an seinem kleinen Finger trug.

Nun, Monsieur, bitte, übergeben Sie diesen Brief Madame eigenhändig. Ich muß notgedrungen den Brief ohne Aufschrift lassen.

Der Agent zog seine Augenbrauen etwas erstaunt in die Höhe.

Ich erhielt aber den Auftrag, erwiderte er, die sorgfältigste Untersuchung aller Umstände vorzunehmen, die einen in vergangener Nacht in diesem Hause verübten Einbruch begleiteten.

Gewiß. Die Untersuchung ist aber nicht mehr notwendig. Der vermißte Gegenstand ist aufgefunden worden.

Ah!

Der Mann war wie aus den Wolken gefallen. Er war zweifelsohne über diese unvermutete Erledigung, die sich ganz ohne seine Hilfe vollzogen hatte, und über die Vereitelung eines seiner Meinung nach längere Zeit in Anspruch nehmenden und gewinnbringenden Geschäftes enttäuscht. Sterling ließ ihm jedoch keine Zeit, über diesen Punkt nachzudenken.

Sie bürgen mir dafür, daß in der Ablieferung dieses Briefes kein Aufschub Eintritt?

Er wird bestimmt innerhalb einer Stunde abgeliefert werden.

Dann guten Morgen, mein Herr. Und Sterling begleitete seinen Besucher bis an die Pforte.

Was in aller Welt hat sich denn nun ereignet? fragte ich mit brennender Neugier, als wir allein im Zimmer waren.

Eine Menge Dinge, mein Junge. Ich weiß nicht, wie ich dir die Abenteuer erzählen soll, die ich erlebt habe.

Schlage den einzig vernünftigen Weg ein. Beginne mit dem Anfange und laß mich deine Geschichte in der richtigen Ordnung erfahren. Willst du erst Kaffee trinken?

Nein, ich danke dir; ich habe meinen Kaffee schon getrunken.

So hast du also hübsch gefrühstückt, während mir deinetwegen der Angstschweiß aus allen Poren getreten ist.

Höre jetzt! Ich ging bis zum Bahnhof in Auteuil, der hier in der Nähe ist, und nahm eine Droschke. Dann fuhr ich nach der Place de la Concorde und entließ das Fuhrwerk. Du weißt, die Droschkenkutscher dieser Gegend kennen mich.

Ich nickte Sterling wegen seiner Vorsicht, die er gegen alle Erwartung bewiesen hatte, Beifall zu. Ich begann einzusehen, daß selbst ich, der ich ihn so lange Zeit kannte, die feinen Eigenschaften seines warmen, impulsiven Charakters noch nicht recht zu würdigen wußte.

Dann nahm ich eine andere Droschke, fuhr Sterling in seiner Erzählung fort, und hieß den Kutscher nach dem Quartier Maubert fahren. Die Straßen waren belebt, und es lag nicht die geringste Veranlassung vor, irgendwelche Nervosität zu empfinden. Wir fuhren den Boulevard St. Germain entlang. Ich fand das Café Béarnais ganz richtig an der Ecke der Rue des Anglais. In Wirklichkeit hatte ich große Lust, direkt nach dem von Monsieur Sidi Maugras beehrten berüchtigten Hotel de la Reine Blanche zu fahren, die Straße sieht im Grunde genommen gar nicht so schrecklich aus.

Aber wir kennen doch ihren schlechten Ruf, unterbrach ich den Erzähler. Eine solche Dummheit würde dir ähnlich gesehen haben, Sterling.

Nun, ich habe es ja nicht getan, entgegnete er lachend. In der Tat wünschte ich alle Verwickelungen zu vermeiden, die den Erfolg hätten in Frage stellen können. So begnügte ich mich mit dem äußerst anständig aussehenden Café Béarnais. Ich trat ein und wandte mich an den harmlosesten und intelligentesten Kellner, den ich finden konnte, und zeigte ihm meinen Brief, indem ich sagte, ich hätte eine Verabredung mit dem Herrn, an den das Schreiben adressiert sei und der, wie mir gesagt worden sei, zu den Stammgästen des Restaurants Béarnais gehöre. Es waren vielleicht ein Dutzend Gäste im Zimmer. Der Kellner bezeichnete mir einen von diesen, der allein an einem kleinen Tische in der Nähe der Tür saß. Und diesem Menschen überreichte ich das Schreiben unseres Freundes.

Und es war wirklich Sidi Maugras?

Niemand anders – ein gutgekleideter junger Mann, der sehr vertrauenerweckend aussah und nicht im geringsten an den schäbigen mitternächtlichen Einbrecher erinnerte, kann ich dich versichern.

Also nicht gleich seinem Spießgesellen oben?

Keine Spur. Dieser war ein Gentlemangauner. Aber sein Gesicht nahm einen häßlichen, bösartigen Ausdruck an, als er die Botschaft seines Kumpans öffnete und las. Zuerst fluchte er auf seinen Gefährten, daß er ihn verraten habe.

Und fluchte ebenfalls auf dich, nehme ich an?

O ja! Aber ich brachte den Burschen sehr bald zur Vernunft. Er gab denn auch klein bei. Ich erklärte ihm, wenn er den geringsten Lärm mache oder die Aufmerksamkeit der Umsitzenden auf mich lenkte, würde im Handumdrehen eine Schar von Polizisten zur Stelle sein. Ich sei nicht zu einer solchen Unterredung gekommen, ohne vorher meine Vorsichtsmaßregeln getroffen zu haben. Außerdem zeigte ich ihm die Hieroglyphen auf dem Briefumschläge, die dem Ueberbringer des Schreibens freies Geleit zusicherten.

Und dann?

Ich bestellte zwei Tassen Kaffee, und wir setzten uns ganz gemütlich zu unseren geschäftlichen Verhandlungen nieder. Ich will dich nicht mit allen Einzelheiten unserer Unterredung langweilen. Er machte viele Winkelzüge, während ich ihm, ich kann wohl sagen mit ruhiger Entschiedenheit, entgegentrat. Das Ende vom Liede aber war, daß er einwilligte, seinen Gefährten durch Auslieferung jenes Kuvertes auszulösen.

Bravo! So hast du die Papiere erhalten?

Nicht so rasch, lieber Freund. Du darfst nicht vergessen, daß Monsieur Sidi Maugras Geschäftsmann ist. Der Brief wird ausgehändigt werden, wenn sein Gefährte und die zweitausend Francs ihm übergeben worden sind.

Und wann soll dies geschehen?

Ich kam mit Maugras überein, daß er sich um zwölf Uhr hier einfinden solle.

Wird er auch sein Wort halten?

Es liegt nicht die mindeste Gefahr vor, daß er ein falsches Spiel treibe. Du siehst, ich hatte inzwischen meinen Mann ganz kirre und zahm gemacht. Er weiß nämlich, daß, wenn er seinem Bundesgenossen sein Wort bricht, der Kerl eben sofort zum nächsten Polizeikommissar gebracht wird, und daß er selbst, und wenn auch fünfzig Polizisten ausgesandt werden müßten, um ihn aus seinen Schlupfwinkeln im Quartier Maubert herauszuholen, ebenfalls hinter Schloß und Riegel sitzt, noch ehe viel Tage in der Woche vergehen.

So befindet sich das Paket also in Sicherheit?

Vollständig. Er versuchte gar nicht zu leugnen, daß es in seinem Besitz sei.

Mit unverletzten Siegeln?

Ja. Er hätte es seinem Auftraggeber um zehn Uhr ausgehändigt; es war also die höchste Zeit für uns, mein Junge.

Und wer ist dieser Auftraggeber?

Das konnte ich aus dem Burschen nicht herausbekommen. Ich muß gestehen, daß, während er ganz offen über das gestohlene Kuvert sprach, er genügend Klugheit besaß, sich zu weigern, andere mit in die Affäre von vergangener Nacht zu verwickeln. Als ich ihm jedoch tüchtig zusetzte, teilte er mir mit, wie er zu der Kenntnis gekommen sei, daß der versiegelte Brief sich überhaupt in meinem Hause befinde. Es scheint, daß Maugras im Besitze eines kleinen Notizbuchs ist, das einst Jean Baptiste gehört hat.

Und das er dem Ermordeten im Bois de Boulogne abgenommen hat?

Ohne Zweifel; aber natürlich kam mir kein solcher kompromittierender Gedanke, wie du ihn eben aussprichst. Nun, Jean Baptiste war offenbar ein Mann von methodischen Gewohnheiten. Er hatte das genaue Datum des Tages, an dem er mir den Brief einhändigte, und ebenso meinen Namen und meine Adresse ausgezeichnet.

Wer hätte Jean Baptiste für einen solchen Einfaltspinsel in seinem Berufe gehalten? rief ich aus.

Keine so voreiligen Schlüsse! Die Notiz war chiffriert; aber unser Freund Maugras war der Aufgabe gewachsen, sie zu entziffern. Die Arbeit kostete ihn einen halben Tag, aber um neun Uhr gestern abend wußte er, wie er mir sagte, wo das Dokument sei, und daß mein Haus durchsucht werden müsse, um es zu finden. Wie du weißt, hat er keine Zeit verloren, seine Absicht zur Tat werden zu lassen.

Aber, großer Gott, Sterling! rief ich aus, nicht wenig erstaunt über die kühle Art, in der er seine überraschende Erzählung vorbrachte: nach dem, was du erfahren hast, erzählst du mir, daß du diesen Halunken frei ausgehen lassen willst? Es ist so klar wie die Sonne am Mittag, daß er der Mörder oder wenigstens ein Helfershelfer des Mörders Jean Baptistes ist.

Augenblicklich kann ich nichts dazu tun, versetzte er achselzuckend. Die Polizei muß da eingreifen. Ich erfuhr das alles erst, nachdem ich mein feierliches Ehrenwort gegeben hatte, daß, vorausgesetzt der Brief wird mir zu Mittag hier ausgehändigt, ich keine Anzeige erstatte, die zweitausend Francs bezahle und den Gefangenen eben seines Weges gehen lasse.

Das heißt ein Verbrechen vertuschen.

Mag sein. Wer ich war entschlossen, das Paket wieder in meinen Besitz zu bringen. Ich hatte es mir zu meiner eigenen Beruhigung gelobt und ebenso im Interesse unserer geheimnisvollen Fremden von vergangener Nacht.

Etwas in seinem Ton erregte meine Aufmerksamkeit.

Hast du etwas Näheres über sie in Erfahrung gebracht?

Nicht direkt. Aber eigentlich komme ich jetzt erst zu dem seltsamsten Abschnitt meiner Geschichte.

Wie? Die Geschichte ist noch nicht zu Ende?

Noch lange nicht. Während Maugras und ich in unsere Unterhaltung vertieft waren, bemerkte ich einen Knaben, der umherging und die Morgenzeitungen zum Kauf anbot. Ein paarmal schien es mir, als suche er meinen Blick auf sich zu lenken. Er erregte auch Maugras' Aufmerksamkeit, denn als er zuletzt an unseren Tisch kam, jagte ihn mein Freund, der Einbrecher, unter einer Flut von groben Schimpfreden aus dem Café. Ich hatte den Zwischenfall beinahe vergessen, aber als ich in den Fiaker stieg, drückte mir, weiß Gott, der Junge eine Zeitung in die Hand. »Lassen Sie sich nichts merken,« flüsterte er; »sehen Sie unter dem Datum nach.« Ich unterdrückte mein Erstaunen, bezahlte die Zeitung mit einem reichen Trinkgeld und fuhr davon.

Donner und Doria! rief ich in äußerster Spannung, in die sich etwas wie Neid mischte, das nennt man doch noch ein Abenteuer.

O, ich bin bis jetzt erst am Anfang, schmunzelte Sterling vor Freude über die Spannung, die seine Geschichte erregte. Sieh, hier ist die betreffende Zeitungsnummer. Ich will sie unter meinen liebsten Erinnerungen aufbewahren. Ich denke, ich werde sie einrahmen lassen, alter Junge. Dabei breitete er ein Exemplar des Matin vor mir aus. Lies das, fügte er triumphierend hinzu.

Gerade unter der Datumsangabe auf dem ersten Blatte las ich die sauber mit Bleistift geschriebenen Worte: »Kommen Sie in einer Stunde nach dem Café de Paris. Ich will Ihnen noch mehr über jenen Brief mitteilen.« Keine Unterschrift; das war alles.

Du fuhrst also nach der Avenue de l'Opéra?

Nein, ich fuhr nach dem Bahnhof St. Lazare, bezahlte meinen Droschkenkutscher und trieb mich ein bißchen in der dichten Menschenmenge umher, die aus dem Bahnhof strömte, und begab mich dann zu Fuß nach dem Orte meines Stelldicheins, für den Fall, daß mein neuer Bekannter, Monsieur Maugras, es sich in den Kopf gesetzt haben sollte, sich an meine Fersen zu heften.

Meiner Seel', Sterling, murmelte ich in aufrichtiger Bewunderung, ich hatte keine Ahnung davon, daß du ein so durchtriebener Schlaukopf bist.

Nun, du siehst, böse Gesellschaften und so weiter. Man kann nicht jahrelang täglich mit einem Menschen wie du verkehrt haben, ohne einige der kleinen Diplomatenkünste des Lebens zu erlernen.

Du verstehst es ausgezeichnet, diese Künste in der Praxis anzuwenden, erwiderte ich.

So ist es, versetzte er lachend, ich denke, ich habe mir den Meistergrad in dem Großorden der Augenverblender erworben. Doch zurück zu meiner Geschichte! Im Café de Paris bestellte ich mir, sowohl um meinen Eintritt zu rechtfertigen wie um meinen Appetit zu stillen, Kaffee und Semmeln. Ich hatte mein Frühstück kaum verzehrt, als mein geheimnisvoller Freund erschien. In ihrem neuen Kostüm sah sie einfach – – –

Sie! Noch eine Frau ist an der Sache beteiligt? rief ich in maßloser Verblüffung aus.

Ja, erwiderte Sterling mit weicher Stimme. Eine Frau, Hylton, ein zartes Mädchen, aber eines der schönsten, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. Bei Gott, sie ist reizend.

Und der Zeitungsjunge? Was ist mit dem?

Na, merkst du denn nicht, daß der Zeitungsjunge natürlich mit dem Mädchen identisch ist?

Ich konnte kein Wort hervorbringen, so groß war meine Ueberraschung; er änderte mit einem Male seinen Ton.

Du kannst wohl ein erstauntes Gesicht machen, sagte er aufspringend und im Zimmer auf- und abgehend; alle Heiterkeit, die ihn wenige Minuten vorher beseelt hatte, war verflogen, und selbst die Begeisterung, mit der er das Mädchen geschildert hatte, machte nüchterner Ueberlegung Platz. Es ist ein Roman – nichts mehr und nichts weniger als ein niederschmetternder Roman, und ich kenne bis jetzt nur den kleinsten Teil davon. Mit der jungen Dame war ein feiner alter Herr gekommen, ein Rechtsbeistand der Familie oder etwas dergleichen. Sieh, hier ist seine Karte:

Georges Guichard,
Dr. jur., Rechtsanwalt.

Ich sah auf das Stück weißen Kartons, den er mir in die Hand gedrückt hatte. Ein Rechtsanwalt, ein Rechtsanwalt, ein Doktor der Rechte! murmelte ich.

Ja, und einer der prächtigsten, die ich je in Frankreich kennen zu lernen das Vergnügen hatte. Gegenwärtig ist er der Vormund des Mädchens.

Und gestattet seinem Mündel, in den Straßen von Paris in dem verrufensten und gefährlichsten Stadtteil um sieben Uhr früh als Zeitungsjunge maskiert umherzulaufen. Es ist unglaublich!

Mein lieber Hylton, erwiderte Sterling, seine beiden Hände auf meine Schultern legend und mir gerade in die Augen sehend, du hast nicht nötig gehabt, den ganzen Weg bis nach Omdurman zurückzulegen, um tapfere Männer und Helden zu finden. Es gibt furchtbarere Tragödien im Leben als die Tragödien des Schlachtfeldes.

In deren einer diese junge Dame eine Rolle spielt?

Ja, Estelle Berthault – dies ist ihr Name – ist die Heldin eines wirklichen Lebensdramas, das dein Herz mit Mitleid, aber zugleich auch mit Bewunderung erfüllen wird.

Und ihre Verbindung mit dieser Geschichte – mit der Hinterlassenschaft Jean Baptistes? fragte ich.

Diese Briefe gehören von Rechts wegen ihr, wie sich herausstellen wird, entgegnete er.

Wie? Mademoiselle Berthault?

Ja.

Und die unbekannte Dame? stotterte ich, die Frau, deren fahrender Ritter du warst, als du heut früh ausgingest?

Ah! ich weiß jetzt ein gut Teil mehr, mein lieber Junge, als vorher. Es scheint wenigstens nicht ausgeschlossen, daß die geheimnisvolle Fremde von voriger Nacht im Grunde genommen eine Betrügerin ist.


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