Gustav Meyrink
Das grüne Gesicht
Gustav Meyrink

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Elftes Kapitel

Woche um Woche verging, aber Eva blieb verschollen. Baron Pfeill und Dr. Sephardi hatten entsetzt von Hauberrisser die Schreckensbotschaft vernommen und alles nur Denkbare aufgeboten, die Verschwundene zu finden; an jeder Straßenecke klebten Aufrufe und Steckbriefe, und bald war der Fall Tagesgespräch geworden unter Einheimischen und Fremden.

In der Wohnung Hauberrissers war ein ewiges Kommen und Gehen, die Leute drängten sich vor dem Hause, einer gab dem andern die Türklinke in die Hand, und jeder wollte irgendeinen Gegenstand gefunden haben, von dem sich vermuten ließ, er gehöre der Vermißten, denn schon auf die kleinste Nachricht über Eva stand eine hohe Belohnung.

Wie Lauffeuer tauchten Gerüchte auf, man hätte sie da oder dort gesehen; anonyme Briefe mit dunklen, geheimnisvollen Andeutungen, von Verrückten oder Böswilligen geschrieben, verdächtigten Unschuldige, Eva verschleppt zu haben oder gefangenzuhalten; Kartenschlägerinnen boten sich zu Dutzenden an; "Hellsehende", von denen früher kein Mensch je etwas gehört, tauchten auf und prahlten mit Fähigkeiten, die sie nicht besaßen: – die Massenseele einer Stadtbevölkerung, die bis dahin harmlos erschien, offenbarte sich in all ihren niedrigen Instinkten von Habgier, Klatschsucht, Wichtigtuerei und verleumderischer Hinterlist.

Bisweilen trugen Schilderungen derart das Gepräge der Wahrhaftigkeit, daß Hauberrisser oft stundenlang, begleitet von einem Polizisten, auf den Beinen war, um in fremde Wohnungen einzudringen, von denen man ihm gesagt hatte, Eva hielt sich darin auf.

Hoffen und Enttäuschung warfen ihn hin und her wie einen Spielball.

Bald gab es keine kleine oder große Straße und keinen Platz mehr, in denen er nicht ein oder mehrere Häuser nach Eva, irregeleitet durch Hiobsbotschaften, von oben bis unten durchsucht hatte.

Es war, als räche sich die Stadt an ihm für seine frühere Gleichgültigkeit.

Des Nachts im Traum schrien hundert Gesichter von Menschen auf ihn ein, mit denen er tagsüber gesprochen hatte, und jedes wollte ihm etwas Neues berichten, bis sie in eine einzige molluskenhafte Grimasse verschwammen, als hätte sich ein Stoß durchsichtiger photographischer Porträts aufeinander gehäuft.

Wie Isabel in dieser Zeit der Trostlosigkeit berührte es ihn, daß jeden Morgen in aller Frühe Swammerdam bei ihm erschien. Wenn er auch stets mit leeren Händen kam und, gefragt, ob er über Eva etwas erfahren habe, den Kopf schütteln mußte, so gab doch seine unerschütterlich zuversichtliche Miene Hauberrisser jedesmal neue Kraft, den Wirrnissen des Tages entgegenzusehen.

Das Tagebuch wurde mit keinem Worte mehr erwähnt, und doch fühlte Hauberrisser, daß ihn der alte Schmetterlingssammler hauptsächlich in dieser Angelegenheit besuchte.

Eines Morgens aber konnte sich Swammerdam nicht länger zurückhalten.

"Erraten Sie noch immer nicht", fragte er mit abgewandtem Gesicht, "daß eine Rotte fremder Gedanken feindselig auf Sie einstürmt und Ihnen jede Besinnung rauben will? – Wenn es wild gewordene Wespen wären, die ihr Nest gegen Sie verteidigen wollten, wüßten sie doch sofort, um was es sich handelt! – Warum sind Sie gegenüber den Fliegenschwärmen des Schicksals nicht ebenso auf der Hut, wie Sie es bei wirklichen Wespen wären?"

Dann brach er schnell ab und ging hinaus.

Beschämt raffte sich Hauberrisser auf. Er schrieb einen Zettel des Inhaltes, er sei verreist und man möge alle Mitteilungen, den Fall Eva van Druysen betreffend, nur mehr an die Polizei richten, und ließ ihn von seiner Wirtschafterin an das Haustor kleben.

Seine Ruhe kehrte jedoch damit nicht zurück; wohl zehnmal in der Stunde ertappte er sich auf dem Wunsche, hinunterzugehen, um den Zettel wieder abzureißen.

Er nahm die Rolle vor und wollte sich zum Lesen zwingen, aber nach jeder Zeile wanderten seine Gedanken hinaus und suchten nach Eva, und wenn er seine Aufmerksamkeit auf das Papier bannen wollte, flüsterten sie ihm zu, es sei Narretei, in dem Geschreibsel nach abseits liegenden, rein theoretischen Fragen zu fahnden, wo jede Minute nach Taten schrie.

Schon wollte er das Heft wieder in den Schreibtisch sperren, da hatte er plötzlich und so deutlich das Gefühl, von einer unsichtbaren Macht überlistet worden zu sein, daß er einen Augenblick innehielt und nachsann. Es war mehr ein Lauschen als ein Sinnen.

"Was ist das für eine unheimliche Kraft", fragte er sich, "die da so unschuldig tut und, um ihr Sondersein vor mir zu verbergen, sich als mein eigenstes Ich gebärdet und meinen Willen zum Gegenteil von dem mißbraucht, was ich mir kaum eine Minute früher fest vorgenommen habe? Ich will lesen und darf nicht?" – Er blätterte in den Seiten, und bei jedem Hindernis, das sich ihm bei dem Versuch, den Inhalt zu ordnen, entgegenstellte, meldeten sich die zudringlichen Gedanken von neuem: "Laß es bleiben, du findest den Anfang nicht; es ist vergebliche Arbeit." – Aber er stand Wache vor der Türe seines Willens und ließ sie nicht hinein. Seine alte Gewohnheit, sich selbst zu beobachten, fing leise an, wieder in ihre Rechte zu treten.

"Wenn ich nur den Anfang fände!" stöhnte wieder heuchlerisch eine Selbstbelügung in ihm auf, während er mechanisch die Seiten umschlug, aber diesmal gab ihm die Rolle selbst die richtige Antwort:

"Der Anfang" – las er, an einer x-beliebigen Stelle beginnend, und stutzte über den eigentümlichen Zufall, gerade auf dieses Wort gestoßen zu sein – "ist es, der dem Menschen fehlt.

Nicht, daß es so schwer wäre, ihn zu finden, – nur die Einbildung, ihn suchen zu müssen, ist das Hemmnis.

Das Leben ist gnädig; jeden Augenblick schenkt es uns einen Anfang. Jede Sekunde drängt uns die Frage auf: Wer bin ich? – Wir stellen sie nicht; das ist der Grund, weshalb wir den Anfang nicht finden.

Wenn wir sie aber einmal im Ernste stellen, dann bricht auch schon der Tag an, dessen Abendrot für jene Gedanken den Tod bedeutet, die in den Herrschersaal eingedrungen sind und an der Tafel unserer Seele schmarotzen.

Das Korallenriff, das sie sich mit infusiorienhaftem Fleiß im Lauf der Jahrtausende aufgebaut haben und das wir 'unsern Körper' nennen, ist ihr Werk und ihre Brut- und Heimstätte; wir müssen in dieses Riff aus Kalk und Leim zuerst eine Bresche legen und es dann wiederum in den Geist auflösen, der es von Anbeginn war, wenn wir freies Meer gewinnen wollen. – – Ich will dich späterhin lehren, wie du dir aus den Trümmern dieses Riffs ein neues Haus erbauen kannst."

Hauberrisser legte das Tagebuch einen Augenblick aus der Hand und dachte nach. Ob, wie es schien, diese Seite die Abschrift oder der Entwurf eines Briefes war, den der Verfasser an irgend jemand gerichtet hatte, interessierte ihn weiter nicht; das "Du" hatte ihn gepackt, als gelte es ihm allein, und in diesem Sinne wollte er es von jetzt an auch auffassen.

Eines fiel ihm besonders auf: Was hier geschrieben stand, klang zuweilen beinah wie eine Rede, bald aus dem Munde Pfeills oder Sephardis, bald aus dem Swammerdams. Er verstand jetzt, daß sie alle drei von demselben Geist gefärbt waren, der aus dieser Tagebuchrolle wehte, – daß der Strom der Zeit, um ihn, den jetzt so hilflosen, weltmüden, kleinen Herrn Hauberrisser, zu einem wahren Menschen zu erziehen, fast Doppelfiguren aus ihnen machte. –

"Jetzt aber höre, was ich dir zu sagen habe:

Rüste dich für eine kommende Zeit!

Bald schlägt die Uhr der Welt die zwölfte Stunde; ihre Zahl auf dem Zifferblatt ist rot und in Blut getaucht. Daran kannst du sie erkennen.

Der neuen ersten Stunde geht ein Sturmwind voraus.

Sei wach, damit er dich nicht schlafend finde, denn die mit geschlossenen Augen hinübergehen in den heranbrechenden Tag, werden die Tiere bleiben, die sie waren, und nicht mehr zu erwecken sein.

Es gibt auch eine geistige Tag- und Nachtgleiche. Die neue erste Stunde, von der ich spreche, ist der Wendepunkt. In ihr gewinnt das Licht das Gleichgewicht gegenüber der Dunkelheit.

Ein Jahrtausend und länger noch haben die Menschen gelernt, das Gesetz der Natur zu durchschauen und sie sich dienstbar zu machen. Wohl denen, die den Sinn dieser Arbeit erfaßt und begriffen haben, daß das Gesetz des Innern dasselbe wie das des Äußern ist, nur um eine Oktave höher: sie sind zur Ernte berufen, – die andern bleiben ackernde Knechte, das Antlitz zur Erde gebeugt.

Der Schlüssel zur Macht über die innere Natur ist verrottet seit der Sintflut. Er heißt: – – Wach sein.

Wach sein ist alles.

Von nichts ist der Mensch so fest überzeugt wie davon, daß er wach sei; dennoch ist er in Wirklichkeit in einem Netz gefangen, das er sich selbst aus Schlaf und Traum gewebt hat. Je dichter dieses Netz, desto mächtiger herrscht der Schlaf; die darein verstrickt sind, das sind die Schlafenden, die durchs Leben gehen wie Herdenvieh zur Schlachtbank, stumpf, gleichgültig und gedankenlos.

Die Träumenden unter ihnen sehen durch die Maschen eine vergitterte Welt, – sie erblicken nur irreführende Ausschnitte, richten ihr Handeln darnach ein und wissen nicht, daß diese Bilder bloß sinnloses Stückwerk eines gewaltigen Ganzen sind. Diese 'Träumer' sind nicht, wie du vielleicht glaubst, die Phantasten und Dichter – es sind die Regsamen, die Fleißigen, Ruhelosen der Erde, die vom Wahn des Tuns Zerfressenen; sie gleichen emsigen, häßlichen Käfern, die ein glattes Rohr emporklimmen, um von oben – hineinzufallen.

Sie wähnen, wach zu sein, aber das, was sie zu erleben glauben, ist in Wahrheit nur Traum, – genau vorausbestimmt und unbeeinflußbar von ihrem Willen.

Einige unter den Menschen hat's gegeben und gibt es noch, die wußten gar wohl, daß sie träumen, – Pioniere, die bis zu den Bollwerken vorgedrungen sind, hinter denen sich das ewig wache Ich verbirgt, – Seher wie Goethe, Schopenhauer und Kant, aber sie besaßen die Waffen nicht, um die Festung zu erstürmen, und ihr Kampfruf hat die Schläfer nicht erweckt.

Wach sein ist alles.

Der erste Schritt dazu ist so einfach, daß jedes Kind ihn tun kann; nur der Verbildete hat das Gehen verlernt und bleibt lahm auf beiden Füßen, weil er die Krücken nicht missen will, die er von seinen Vorfahren geerbt hat.

Wach sein ist alles.

Sei wach bei allem, was du tust! Glaub nicht, daß du's schon bist. Nein, du schläfst und träumst.

Stell dich fest hin, raff dich zusammen und zwing dich einen einzigen Augenblick nur zu dem körperdurchrieselnden Gefühl: 'Jetzt bin ich wach!'

Gelingt es dir, das zu empfinden, so erkennst du auch sogleich, daß der Zustand, in dem du dich soeben noch befunden hast, dagegen wie Betäubung und Schlaftrunkenheit erscheint.

Das ist der erste zögernde Schritt zu einer langen, langen Wanderung von Knechttum zu Allmacht.

Auf diese Art geh vorwärts von Aufwachen zu Aufwachen.

Es gibt keinen quälenden Gedanken, den du damit nicht bannen könntest; er bleibt zurück und kann nicht mehr zu dir empor; du reckst dich über ihn, so wie die Krone eines Baums über die dürren Äste hinauswächst.

Die Schmerzen fallen von dir ab wie welkes Laub, wenn du einmal so weit bist, daß jenes Wachsein auch deinen Körper ergreift.

Die eiskalten Tauchbäder der Juden und Brahmanen, die Nachtwachen der Jünger Buddhas und der christlichen Asketen, die Foltern der indischen Fakire, um nicht einzuschlafen, – sie alle sind nichts anderes als erstarrte äußerliche Riten, die wie Säulentrümmer dem Suchenden verraten: Hier hat in grauer Vorzeit ein geheimnisvoller Tempel des Erwachenwollens gestanden.

Lies die heiligen Schriften der Völker der Erde: durch alle zieht sich wie ein roter Faden die verborgene Lehre vom Wachsein; – es ist die Himmelsleiter Jakobs, der mit dem Engel des Herrn die ganze 'Nacht' gerungen hat, bis es 'Tag' wurde und er den Sieg gewann.

Von einer Sprosse immer hellern und hellern Wachseins zur andern mußt du steigen, wenn du den Tod überwinden willst, dessen Rüstzeug Schlaf, Traum und Betäubung sind.

Schon die unterste Sprosse dieser Himmelsleiter heißt: Genie; wie erst sollen wir die höheren Stufen benennen! Sie bleiben der Menge unbekannt und werden für Legenden gehalten. – Auch die Geschichte von Troja galt jahrhundertelang als Sage, bis endlich einer den Mut fand und grub selber nach.

Auf dem Wege zum Erwachen wird der erste Feind, der sich dir entgegenstellt, dein eigner Körper sein. Bis zum ersten Hahnenschrei wird er mit dir kämpfen; erblickst du aber den Tag des ewigen Wachseins, der dich fernrückt von den Nachtwandlern, die da glauben, die seien Menschen, und nicht wissen, daß sie schlafende Götter sind, dann verschwindet für dich auch der Schlaf des Körpers, und das Weltall ist dir untertan.

Dann kannst du Wunder tun, wenn du willst, und mußt nicht wie ein wimmernder Sklave demütig harren, bis es einem grausamen Götzen gefällig ist, dich zu beschenken oder – dir den Kopf abzuschlagen.

Freilich, das Glück des treuen, wedelnden Hundes: einen Herrn über sich zu kennen, dem er dienen darf – dieses Glück wird für dich zerschellen, – aber frag dich selbst, würdest du als Mensch, der du jetzt noch bist, mit deinem Hunde tauschen?

Laß dich nicht abschrecken durch die Angst, das Ziel in diesem Leben vielleicht nicht erreichen zu können! – Wer unsern Weg einmal betreten hat, der kommt immer wieder auf die Welt in einer innern Reife, die ihm die Fortsetzung seiner Arbeit ermöglicht, – er wird als 'Genie' geboren.

Der Pfad, den ich dir weise, ist besät mit wundersamen Erlebnissen: Tote, die du im Leben gekannt hast, werden vor dir aufstehen und mit dir reden! – Es sind nur Bilder! – Lichtgestalten, glanzumflossen und beseligend, werden dir erscheinen und dich segnen. – Es sind nur Bilder – Hauchformen, von deinem Körper ausgesendet, der unter dem Einfluß deines verwandelnden Willens den magischen Tod stirbt und aus Stoff zu Geist wird, gleich wie starres Eis, vom Feuer getroffen, sich in formenballenden Dunst auflöst.

Erst wenn du alles Kadaverhafte von ihm abgestreift hast, kannst du sagen: Jetzt ist der Schlaf für immer von mir gewichen.

Dann aber ist das Wunder vollbracht, das die Menschen nicht glauben können, – weil sie, durch ihre Sinne betrogen, nicht begreifen, daß Stoff und Kraft dasselbe ist, – jenes Wunder: daß, wenn man dich auch begräbt, keine Leiche im Sarg liegt.

Dann erst, nicht früher, wirst du Wesenhaftes vom Schein trennen können; wem du dann begegnest, kann nur einer sein, der vor dir den Weg gegangen ist. – Alle andern sind Schatten.

Bis dahin bleibt es ungewiß auf Schritt und Tritt, ob du das glücklichste oder das unglücklichste der Wesen wirst. – Aber fürchte dich nicht –: noch ist keiner, der den Pfad des Wachseins betreten hat, auch wenn er in die Irre ging, von den Führern verlassen worden.

Ein Merkmal will ich dir sagen, an dem du erkennen kannst, ob eine Erscheinung, die du hast, wesenhaft ist oder ein Trugbild: Wenn sie vor dich tritt und dein Bewußtsein ist getrübt, und die Dinge der Außenwelt sind für dich verschwommen oder verschwunden, dann traue nicht! Sei auf der Hut! Es ist ein Stück von dir. Wenn du das Gleichnis nicht errätst, das es in sich birgt, ist es nur ein Gespenst ohne Bestand – ein Schemen, ein Dieb, der von deinem Leben zehrt.

Die Diebe, die die Kraft der Seele stehlen, sind schlimmer als die Diebe der Erde. Sie locken dich wie Irrlichter in die Moräste einer trügerischen Hoffnung, um dich in der Finsternis allein zu lassen und für immer zu verschwinden.

Laß dich durch kein Wunder blenden, das sie scheinbar für dich tun, durch keinen heiligen Namen, den sie annehmen, durch keine Prophezeiung, die sie aussprechen, auch nicht, wenn sie in Erfüllung geht, – sie sind deine Todfeinde, von der Hölle deines eigenen Körpers ausgespien, mit dem du um die Herrlichkeit ringst.

Wisse, daß die wunderbaren Kräfte, die sie besitzen, deine eignen sind, – von ihnen entwendet, um dich in Sklaverei zu erhalten; – sie können nicht leben, außer von deinem Leben, aber wenn du sie überwindest, sinken sie zu stummen, gehorsamen Werkzeugen herab, die du nach deinem Willen handhaben kannst.

Unzählig sind die Opfer, die sie unter den Menschen gefordert haben; lies die Geschichte der Visionäre und Sektierer, und du wirst erkennen, daß der Pfad der Beherrschung, den du wandelst, mit Totenschädeln bedeckt ist.

Die Menschheit hat sich unbewußt eine Mauer gegen sie gebaut; – den Materialismus. Diese Mauer ist ein unfehlbarer Schutz, – sie ist ein Sinnbild des Körpers, aber sie ist zugleich auch eine Kerkermauer, die den Ausblick hemmt.

Heute, wo sie langsam zerbröckelt und der Phönix des innern Lebens aus seiner Asche, in der er lange Zeit wie tot gelegen, mit neuen Schwingen wieder aufersteht, regen auch die Aasgeier einer andern Welt die Flügel. Darum hüte dich. Die Waagschale, in die du dein Bewußtsein legst, zeigt dir allein an, wann du Erscheinungen trauen darfst; je wacher es ist, desto tiefer neigt sie sich zu deinen Gunsten.

Will dir ein Führer, ein Helfer oder ein Bruder aus einer geistigen Welt erscheinen, so muß er es können, auch ohne dein Bewußtsein zu plündern; du darfst, wie der ungläubige Thomas, deine Hand in seine Seite legen.

Es wäre ein leichtes, den Erscheinungen und ihren Gefahren auszuweichen: – Du brauchst nur zu sein wie ein gewöhnlicher Mensch. – Aber was ist damit gewonnen? Du bleibst ein Gefangener im Kerker deines Leibes, bis der Henker-'Tod' dich zum Richtblock schleppt.

Die Sehnsucht der Sterblichen, die Gestalten der Überirdischen zu schauen, ist ein Schrei, der auch die Phantome der Unterwelt weckt, weil eine solche Sehnsucht nicht rein ist – weil sie Habgier ist statt Sehnsucht, weil sie 'nehmen' will in irgendeiner Form, statt zu schreien, um das 'geben' zu lernen.

Jeder, der die Erde als ein Gefängnis empfindet, jeder Fromme, der nach Erlösung ruft, – sie alle beschwören unbewußt die Welt der Gespenster.

Tu du es auch. Aber: bewußt!

Ob es für jene, die es unbewußt tun, eine unsichtbare Hand gibt, die die Sümpfe, in die sie geraten müssen, in Eilande verzaubern kann? Ich weiß es nicht. Ich will nicht streiten, – – aber ich glaub's nicht.

Wenn du auf dem Wege des Erwachens das Reich der Gespenster durchquerst, wirst du allmählich erkennen, daß es nur Gedanken sind, die du plötzlich mit den Augen sehen kannst. Das ist der Grund, weshalb sie dir fremd und wie Wesen erscheinen; denn die Sprache der Formen ist anders als die Sprache des Gehirns.

Dann ist der Zeitpunkt gekommen, wo sich die seltsamste Wandlung vollzieht, die dir geschehen kann: aus den Menschen, die dich umgeben, werden – Gespenster werden. Alle, die dir lieb gewesen, werden plötzlich Larven sein. Auch dein eigener Leib.

Es ist die furchtbarste Einsamkeit, die sich ausdenken läßt, – ein Pilgern durch die Wüste, und wer die Quelle des Lebens in ihr nicht findet, verdurstet.

Alles, was ich dir hier gesagt habe, steht auch in den Büchern der Frommen jedes Volkes: das Kommen eines neuen Reiches, das Wachen, die Überwindung des Körpers und die Einsamkeit, – und doch trennt uns von diesen Frommen eine unüberbrückbare Kluft: sie glauben, daß ein Tag naht, an dem die Guten in das Paradies eingehen und die Bösen in den Höllenpfuhl geworfen werden, – wir wissen, daß eine Zeit kommt, wo viele erwachen werden und von den Schlafenden getrennt sein wie die Herren von den Sklaven, weil die Schlafenden die Wachen nicht begreifen können, – wir wissen, daß es kein Böse und kein Gut gibt, sondern nur ein 'Falsch' und ein 'Richtig'; – sie glauben, daß 'wachen' ein Offenhalten der Sinne und Augen und ein Aufbleiben des Körpers während der Nacht sei, damit der Mensch Gebete verrichten könne, – wir wissen, daß das 'Wachen' ein Aufwachen des unsterblichen Ichs bedeutet und die Schlummerlosigkeit des Leibes eine natürliche Folge davon ist; – sie glauben, der Körper müsse vernachlässigt werden und verachtet, weil er sündig sei; wir wissen: es gibt keine Sünde, der Körper ist der Anfang, mit dem wir zu beginnen haben, und wir sind auf die Erde herabgestiegen, um ihn in Geist zu verwandeln; – sie glauben, man solle mit dem Leib in die Einsamkeit gehen, um den Geist zu läutern; wir wissen, daß zuerst unser Geist in die Einsamkeit gehen muß, um den Leib zu verklären.

Bei dir allein steht es, deinen Weg zu wählen – ob unsern oder jenen. Es soll dein freier Wille sein.

Ich darf dir nicht raten; es ist heilsamer, aus eigenem Entschluß eine bittere Frucht zu pflücken, als auf fremden Rat eine süße auf dem Baume – hängen zu sehen.

Nur mach's nicht wie die vielen, die da wohl wissen, es steht geschrieben: 'Prüfet alles, und das Beste behaltet' – aber hingehen, nichts prüfen und das – Erstbeste behalten."


Die Seite war zu Ende, und das Thema brach ab.

Hauberrisser glaubte nach einigem Suchen, den anschließenden Teil gefunden zu haben. Der Unbekannte, an den das Schriftstück gerichtet war, schien sich zu dem heidnischen Wege der Gedankenbeherrschung" entschlossen zu haben, denn der Verfasser der Rolle fuhr auf einem neuen Blatt, das die Überschrift trug:

Der Phönix

folgendermaßen fort:

"Mit dem heutigen Tag bist du aufgenommen in unsere Gemeinschaft und ein neuer Ring in der Kette, die von Ewigkeit zu Ewigkeit reicht.

Damit erlischt mein Amt und geht in die Hände eines andern über, den du nicht sehen kannst, solange deine Augen noch der Erde gehören.

Er ist unendlich fern von dir und dennoch dicht in deiner Nähe; er ist nicht räumlich von dir getrennt und dennoch weiter weg als die äußersten Grenzen des Weltalls; du bist von ihm umgeben, wie ein Mensch, der im Ozean schwimmt, von Wasser, aber du nimmst ihn nicht wahr, – so wie der Schwimmer das Salz nicht schmeckt, das das Meer durchdringt, wenn die Nerven seiner Zunge tot sind.

Unser Sinnbild ist der Phönix, das Symbol der Verjüngung – der sagenhafte ägyptische Adler des Himmels mit rotem und goldenem Gefieder, der sich in seinem Nest aus Myrrhen verbrennt und immer neu aus der Asche ersteht.

Ich habe dir gesagt, der Anfang des Weges ist der eigene Körper; wer das weiß, kann jeden Augenblick die Wanderung beginnen.

Ich will dich jetzt die ersten Schritte lehren:

Du mußt dich vom Leibe trennen, aber nicht, als wolltest du ihn verlassen: – du mußt dich von ihm lösen wie jemand, der Licht von Wärme scheidet.

Schon hier lauert der erste Feind.

Wer sich vom Körper losreißt, um durch den Raum zu fliegen, der geht den Weg der Hexen, die nur einen gespenstischen Leib aus dem groben, irdischen herausgezogen haben und auf ihm wie auf einem Besen zur Walpurgisnacht reiten.

Die Menschheit hat sich aus richtigem Instinkt eine Brustwehr gegen diese Gefahr errichtet, indem sie ein Lächeln über die Möglichkeit solcher Künste bereithält. – Du brauchst als Schutz den Zweifel nicht mehr – du hast in dem, was ich dir gegeben habe, ein besseres Schwert. Die Hexen glauben, auf dem Sabbat des Teufels zu sein, und in Wirklichkeit liegt ihr Körper bewußtlos und starr in der Kammer. Sie vertauschen bloß die irdische Wahrnehmung gegen eine geistige – sie verlieren das Bessere, um das Schlechtere zu gewinnen; – es ist ein Ärmerwerden statt ein Reichersein.

Schon daraus siehst du, daß es nicht der Weg des Erwachens sein kann. – Um zu begreifen, daß du nicht dein Körper bist, – wie die Menschen von sich wähnen, – mußt du erkennen, mit welchen Waffen er kämpft, um die Herrschaft über dich zu behaupten. – Jetzt stehst du freilich noch so tief in seiner Gewalt, daß dein Leben erlischt, wenn sein Herz aufhört zu schlagen, und du in Nacht versinkst, sobald er die Augen schließt. Du glaubst, du könntest ihn bewegen, – es ist eine Täuschung: nein, er bewegt sich und nimmt nur deinen Willen zu Hilfe. Du glaubst, du schaffst Gedanken: nein, er schickt sie dir, damit du meinst, sie kämen von dir, und alles tust, was er will.

Setz dich aufrecht hin und nimm dir vor, kein Glied zu rühren, mit keiner Wimper zu zucken und regungslos zu bleiben wie eine Bildsäule, und du wirst sehen, daß er haßentbrannt augenblicklich über dich herfällt und dich zwingen will, ihm wieder untertan zu sein. – Mit tausend Waffen wird er auf dich losstürzen, bis du ihm wieder erlaubst, sich zu bewegen. – An seiner grimmigen Wut und der überstürzten Kampfesweise, mit der er Pfeil auf Pfeil auf dich abschießt, kannst du ersehen, wenn du schlau bist, wie bange ihm um seine Herrschaft sein muß und wie groß deine Macht, daß er sich so vor dir fürchtet.

Aber es steckt doch dabei eine List von ihm dahinter: er will dich glauben machen, daß hier, im äußern Willen, die Entscheidungsschlacht um das Zepter geschlagen wird; nein, es sind nur Scharmützel, die er dich, wenn's sein muß, gewinnen läßt, um dich dann um so tiefer unters Joch zu beugen.

Diejenigen, die solches Geplänkel gewinnen, werden die ärmsten Sklaven – sie dünken sich Sieger und tragen auf der Stirn das Schandmal: 'Charakter'.

Deinen Körper zu bändigen ist nicht der Zweck, den du verfolgst. Wenn du ihm verbietest, sich zu bewegen, so sollst du es nur deshalb tun, damit du die Kräfte kennenlernst, über die er gebietet. Es sind Heerscharen, fast unüberwindlich durch ihre Zahl. Er wird sie gegen dich in den Kampf schicken, eine nach der andern, wenn du nicht nachläßt, mit dem so einfach scheinenden Mittel des Stillsitzens: zuerst die rohe Gewalt der Muskeln, die beben und zittern wollen, – das Sieden des Blutes, das dir den Schweiß ins Gesicht treibt, – das Hämmern des Herzens, – das Frösteln der Haut, bis dein Haar sich sträubt, – das Schwanken des Leibes, das dich durchfährt, – als habe die Schwerkraft die Achse verändert, – sie alle kannst du besiegen, – scheinbar durch den Willen – dennoch ist es nicht der Wille allein: es ist in Wahrheit bereits ein höheres Wachsein, das unsichtbar hinter ihm steht in der Tarnkappe.

Auch dieser Sieg ist wertlos; selbst wenn du Herr würdest über Atmung und Herzschlag, wärest du nur ein Fakir – ein 'Armer' auf deutsch.

Ein 'Armer'! – das sagt genug. – – –

Die nächsten Kämpfer, die dir den Körper stellt, sind die ungreifbaren Fliegenschwärme der Gedanken.

Gegen sie hilft das Schwert des Willens nicht mehr. Je wilder du nach ihnen schlägst, desto wütender umschwirren sie dich, und glückt es dir nur einen Augenblick, sie zu verscheuchen, so fällst du in Schlummer und bist in anderer Form der Besiegte.

Ihnen Stillhalten zu gebieten ist vergebens; nur ein einziges Mittel gibt es, ihnen zu entrinnen: die Flucht in ein höheres Wachsein.

Wie du das zu beginnen hast, mußt du allein lernen.

Es ist ein vorsichtiges, immerwährendes Tasten mit dem Gefühl und ein eiserner Entschluß zugleich.

Das ist alles, was ich dir darüber sagen kann. Jeder Rat, den dir für dieses qualvolle Ringen irgend jemand gibt, ist Gift. Hier liegt eine Klippe, über die dir kein anderer hinweghelfen kann als du selbst.

Es braucht dir nicht zu gelingen, die Gedanken für immer zu bannen, – der Kampf mit ihnen dient nur dem einen Zweck: den Zustand höheren Wachseins zu erklimmen.

Hast du diesen Zustand erlangt, naht das Reich der Gespenster, von dem ich dir bereits gesprochen habe.

Gestalten, schreckhafte und solche in Strahlenglanz werden dir erscheinen und dich glauben machen wollen, sie seien Wesen aus einer andern Welt. – Es sind nur Gedanken in sichtbarer Form, über die du noch nicht völlig Macht besitzt!

Je erhabener sie sich gebärden, desto verderblicher sind sie, das merke dir!

So mancher Irrglaube hat sich auf solchen Erscheinungen aufgebaut und die Menschheit in die Finsternis zurückgerissen. Trotzdem steckt hinter jedem dieser Phantome ein tiefer Sinn: sie sind nicht bloß Bilder, sie sind für dich – gleichgültig ob du ihre symbolische Sprache verstehst oder nicht – die Merkmale der geistigen Entwicklungsstufen, auf denen du dich befindest.

Die Verwandlung deiner Mitmenschen in Gespenster, von der ich dir sagte, daß sie auf diesen Zustand folgen wird, birgt, wie alles auf geistigem Gebiet, zugleich ein Gift und eine Heilkraft in sich.

Bleibst du dabei stehen, die Menschen nur für Gespenster zu halten, so trinkst du bloß das Gift und wirst wie jener, von dem es heißt: 'Hat er die Liebe nicht, bleibt er leer wie tönendes Erz.' Findest du aber den 'tieferen Sinn', der in jedem dieser Menschenschemen verborgen liegt, so siehst du mit dem Auge des Geistes nicht nur ihren lebendigen Kern, sondern auch den deinen. Dann wird dir alles, was dir genommen worden, tausendfach zurückgegeben wie dem Hiob; dann bist du – wieder da, wo du warst, wie die Törichten so gerne höhnen; – sie wissen nicht, daß es ein anderes ist, wieder heimzukehren, wenn man lang in der Fremde war, als immer zu Hause geblieben zu sein.

Ob dir, wenn du so weit vorgedrungen bist, jene Wunderkräfte, die die Propheten des Altertums besessen haben, zuteil werden oder du statt dessen in den ewigen Frieden eingehen darfst, das weiß niemand.

Solche Kräfte sind ein freies Geschenk derer, die die Schlüssel dieser Geheimnisse bewahren.

Wenn du sie bekommst, um sie zu handhaben, geschieht es nur der Menschheit wegen, die solcher Zeichen bedarf.

Unser Weg führt bloß bis zur Stufe der Reife, – bist du zu ihr gelangt, so bist du auch würdig, jenes Geschenk zu erhalten; ob man es dir gibt? Ich weiß es nicht.

Ein Phönix aber wirst du geworden sein – so oder so; dies zu erzwingen steht in deiner Hand.

Ehe ich jetzt von dir Abschied nehme, sollst du noch erfahren, aus welchem Zeichen du erkennen kannst, ob du einst in der Zeit der 'großen Tag- und Nachtgleiche' berufen sein wirst, die Gabe der Wunderkräfte zu bekommen. Höre:

Einer von denen, die die Schlüssel der Geheimnisse der Magie aufbewahren, ist auf der Erde zurückgeblieben und sucht und sammelt die Berufenen.

So, wie er nicht sterben kann, so kann auch die Sage, die über ihn im Umlauf ist, nicht sterben. –

Die einen munkeln, er sei der 'Ewige Jude'; die andern nennen ihn Elias; die Gnostiker behaupten, er wäre Johannes der Evangelist; – aber jeder, der ihn gesehen haben will, schildert sein Aussehen anders. Laß dich dadurch nicht beirren, falls du Menschen in der sprießenden Zeit der Zukunft begegnen solltest, die auf solche Art von ihm erzählen.

Es ist nur natürlich, daß jeder ihn anders sieht: – ein Wesen wie er, das seinen Leib in Geist verwandelt hat, kann an keine starre Form mehr gebunden sein.

Ein Beispiel wird dir erklären, daß auch seine Gestalt und sein Gesicht nur Bilder sein können – gespenstischer Schein sozusagen für das, was er in Wahrheit ist:

Nimm an, er erschiene dir als ein Wesen von grüner Farbe. Grün ist an sich keine wirkliche Farbe, trotzdem du sie sehen kannst, – sie ist aus einer Mischung von Blau und Gelb entstanden. – Wenn du Blau und Gelb miteinander innig vermengst, erhältst du Grün.

Jeder Maler weiß das, – daß aber die Welt, die man um sich sieht, gleicherweise im Zeichen der 'grünen' Farbe steht und in Wahrheit nicht das ist, das sie zu sein scheint, nämlich: gelb und blau, – das wissen die wenigsten.

Erkenne du aus diesem Beispiel, daß er, wenn er dir als ein Mann mit grünem Antlitz begegnen sollte, sein wahres Gesicht dir trotzdem noch immer nicht offenbar ist.

Wenn du ihn siehst als den, der er in Wirklichkeit ist: als ein geometrisches Zeichen, als ein Sigill am Himmel, das kein anderer schauen kann als du allein, – dann wisse: du bist berufen zum Wundertäter.

Mir ist er begegnet als leibhaftiger Mensch, und ich habe meine Hand in seine Seite legen dürfen.

Sein Name war – – – – – – – – –"

Hauberrisser erriet den Namen; er stand auf dem Blatt, das er beständig bei sich trug, – es war der Name, der ihm immer wieder entgegensprang:

Chidher Grün.


 << zurück weiter >>