Gustav Meyrink
Das grüne Gesicht
Gustav Meyrink

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Achtes Kapitel

Eva wollte früh morgens ihre Tante Bourignon, um sie zu trösten, im Béginenstift aufsuchen und dann den Vormittagsexpreß nach Antwerpen benutzen.

Ein Brief, eilig hingekritzelt und von Tränenspuren benetzt, den sie im Hotel vorfand, ließ sie ihren Entschluß ändern.

Das alte Fräulein war unter der Wucht der Katastrophe am Zee Dyk anscheinend völlig zusammengebrochen und schrieb, sie sei fest entschlossen, keinen Schritt mehr aus dem Stift zu tun, ehe nicht der erste heiße Schmerz verharscht wäre und sie sich wiederum soweit wohl fühlen würde, dem Getriebe der Welt, wie sie es nannte, ein neues Interesse entgegenzubringen. Der Schlußsatz, der in der Klage gipfelte, eine unleidliche Migräne mache es ihr unmöglich, Besuche von wem immer zu empfangen, verriet, daß ernste Besorgnisse um das innere Gleichgewicht der alten Dame zur Zeit angebracht waren. – –

Eva ließ kurz entschlossen ihr Gepäck auf die Bahn schaffen. Um Mitternacht ging ein Zug nach Belgien, den ihr der Portier zu benützen empfahl, da er weit weniger überfüllt zu sein pflegte.

Sie gab sich alle Mühe, das peinliche Gefühl abzuschütteln, das der Brief in ihr erweckt hatte.

So also sah es in weiblichen Herzen aus? – Sie hatte gefürchtet, "Gabriele" werde den Schlag nie verwinden können. Statt dessen? – Kopfweh!

"Der Sinn für alles Große ist uns Frauen abhanden gekommen", sagte Eva sich voll Bitterkeit, – "wir haben es in den süßlichen Großmutterzeiten hineingehäkelt in verächtliche Handarbeit."

In mädchenhafter Angst preßte sie den Kopf zwischen ihre Hände. "Soll ich auch einmal so werden? Es ist eine erbärmliche Schmach, ein Weib zu sein." –

Gedanken der Zärtlichkeit, wie sie die ganze Fahrt hindurch von Hilversum bis in die Stadt umfangen hatten, wollten wieder aufwachen; – das ganze Zimmer schien ihr erfüllt von dem schwülen Duft der blühenden Linden.

Sie riß sich gewaltsam los, setzte sich auf den Balkon und blickte hinauf in den sternenübersäten nächtlichen Himmel.

Früher, in ihren Kinderjahren, hatte es ihr zuweilen einen Trost gewährt, zu denken, dort oben thronte ein Schöpfer, der sich ihrer Winzigkeit erbarme, – jetzt drückte es sie wie eine Schande, so klein zu sein.

Sie verabscheute aus dem Grund ihres Herzens alle Bestrebungen der Frauen, es den Männern auf den Gebieten des äußern Lebens gleichzutun, aber dem, den sie liebte, nichts anders schenken zu können als ihre Schönheit, erschien ihr armselig und gering, – als eine Selbstverständlichkeit, von der viel Wesens zu machen erbärmlich sei.

Die Worte Sephardis, es gäbe einen königlichen, verborgenen Pfad, auf dem ein Weib den Garten mehr sein könne als bloße irdische Freude, leuchtete ihr wie ein ferner Hoffnungsstrahl, aber wo den Eingang suchen?

Zaghaft und furchtsam nahm sie einen kleinen Anlauf, durch Denken zu erkennen, was sie wohl tun müsse, um einen solchen Weg zu finden, – aber es blieb, wie sie bald fühlte, nur ein vergebliches, schwächliches Betteln um Licht an die Mächte dort oben über den Sternen, statt das kraftvolle Ringen um Erleuchtung zu sein, dessen ein Mann fähig gewesen wäre.

Das zarteste und doch tiefste Leid, das ein junges Frauenherz verzehren kann: mit leeren Händen vor dem Geliebten zu stehen und doch übervoll zu sein von der Sehnsucht, ihm eine Welt an Glück zu geben, machte sie traurig und elend.

Kein Opfer wäre so schwer gewesen, daß sie es nicht jauchzend um seinetwillen gebracht hätte. – Sie begriff mit den feinen Instinkten des Weibes, daß das Höchste, was eine Frau zu tun vermöchte, nur die Aufopferung ihrer selbst sein konnte, aber was sie auch ersann, – es war, gemessen an der Größe ihrer Liebe, nichtig, vergänglich und kindisch.

Sich ihm unterzuordnen in allen Stücken, ihm die Sorgen abzunehmen, jeden Wunsch an den Augen abzulesen – wie leicht mußte es sein. – Würde sie ihn aber damit auch glücklich machen? – Es ging nicht über das Menschentum hinaus, und das, was sie zu schenken begehrte, sollte mehr sein als alles, was sich erdenken ließ.

Was sie früher nur dunkel begriffen hatte: den bittern Kummer einer Seele, reich zu sein wie ein König am Gebenwollen und bettelarm im Gebenkönnen, jetzt stand es riesengroß vor ihr und erfaßte sie mit den gewaltigen Schauern, die einst den Heiligen der Erde durch den Hohn und das Grinsen der Menge hindurch den Weg des Martyriums gewiesen hatten.

Im Übermaß der Pein legte sie die Stirn an das Geländer und schrie mit verkrampften Lippen ein Gebet in sich hinein: nur der Geringste aus der Schar derer, die um der Liebe willen den Strom des Todes durchquert haben, möge ihr erscheinen und ihr den Pfad zur geheimnisvollen Krone des Lebens entdecken, damit sie sie nehmen und verschenken könne.

Als habe eine Hand ihren Scheitel berührt, blickte sie auf und sah, daß sich der Himmel plötzlich verändert hatte.

Querüber ging ein Riß aus fahlem Licht, und die Sterne stürzten hinein wie eine vom Sturmwind gejagte Wolke schimmernder Eintagsfliegen. Dann tat sich eine Halle auf, und an einem langen Tisch saßen uralte Männer in faltigen Gewändern, die Augen starr auf sie gerichtet, als seien sie bereit, ihre Rede zu vernehmen. Der Oberste von ihnen hatte den Gesichtsschnitt einer fremden Rasse, zwischen den Brauen ein leuchtendes Mal, und von seinen Schläfen gingen zwei blendende Strahlen aus wie die Hörner des Moses.

Eva erriet, daß sie ein Gelöbnis tun solle, aber sie konnte die Worte nicht finden. Sie wollte flehen, daß die Alten ihre Bitte erhören möchten, aber das Gebet konnte nicht aufsteigen; – es blieb ihr in der Kehle stecken und ballte sich in ihrem Munde.

Langsam begann sich der Riß wieder zu schließen, und die Milchstraße legte sich, als die Halle und der Tisch immer undeutlicher wurden und verschwammen, wie eine leuchtende Narbe am Himmel darüber.

Nur der Mann mit dem lodernden Mal auf der Stirn war noch sichtbar.

In stummer Verzweiflung streckte Eva die Arme nach ihm aus, daß er warten möge und sie anhören, aber schon wollte er das Gesicht abwenden.

Da sah sie, daß ein Mensch auf einem weißen Pferd in rasender Eile von der Erde durch die Luft empor zum Himmel schoß, und erkannte, daß es Swammerdam war.

Er sprang ab, trat zu dem Mann, schrie auf ihn ein und faßte ihn voll Zorn an der Brust.

Dann deutete er herrisch hinab auf Eva.

Sie wußte, was er wollte.

Ihr Herz erdröhnte unter dem Wort der Bibel, daß das Himmelreich mit Gewalt genommen werden müsse, – das Flehen wich von ihr wie ein Schatten, und sie befahl, wie Swammerdam es sie gelehrt, im Siegesbewußtsein ihres ewigen Rechts der Selbstbestimmung: der Lenker des Schicksals sollte sie vorwärts jagen dem höchsten Ziel zu, das ein Weib erringen könne, – erbarmungslos, taub für ihre Bitten, wenn sie schwach würde, vorwärts, schneller als die Zeit, – an Freuden und Glück vorbei und hindurch, ohne ihr Rast zu gönnen, ohne einen Atemzug zu versäumen, und koste es sie tausendfach das Leben.

Sie verstand, daß sie sterben müsse, denn das Zeichen auf der Stirne des Mannes strahlte unverhüllt, und es war bei ihrem Befehl so blendend geworden, daß es ihr Denken verbrannte, – ihr Herz jauchzte dagegen an: sie würde leben, da sie zugleich das Antlitz des Mannes gesehen hatte; – sie zitterte unter der ungeheuren Kraft, die in ihr frei wurde und den Riegel an der Kerkerpforte des Knechttums zerbrach, sie fühlte den Boden unter den Füßen wanken und ihr Bewußtsein schwinden, aber ihre Lippen murmelten ohne aufzuhören immer noch denselben Befehl – wieder und wieder, als das Gesicht am Himmel bereits längst verschwunden war.

Nur allmählich fand sie sich in ihre Umgebung zurück.

Sie wußte, daß sie zum Bahnhof gehen wollte, erinnerte sich, daß sie ihre Koffer vorausgeschickt hatte, sah den Brief ihrer Tante auf dem Tisch liegen, nahm ihn und zerriß ihn in kleine Stücke; alles, was sie tat, geschah mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie früher, und doch kam es ihr neu und ungewohnt vor, – so, als seien ihre Hände, ihre Augen und ihr ganzer Körper nur noch Werkzeuge und nicht mehr mit ihrem Ich untrennbar verbunden. Sie hatte die Empfindung, als lebe sie gleichzeitig an einem fernen Ort irgendwo im Weltall ein zweites, dumpfes, noch nicht völlig erwachtes Leben wie ein Kind, das eben erst geboren worden.

Die Dinge im Zimmer hatten von ihren eigenen Organen nichts wesentlich Verschiedenes mehr für sie, – waren beides Gebrauchsgegenstände für den Willen, nichts weiter.

An den Abend im Park in Hilversum dachte sie wie an eine liebe Erinnerung aus der Kinderzeit, von der eine lange Reihe von Jahren sie trenne, zurück voll Freude und Zärtlichkeit, aber doch mit einem Gefühl, als sei das alles verschwindend und winzig gegenüber der unsagbaren Seligkeit, die eine kommende Zeit bringen werde. – Es war ihr zumute wie einer Blinden, die bisher nichts als finstere Nacht gekannt hat und in deren Herzen alle erlebten Freuden angesichts der neuen Gewißheit verblassen, daß eine Stunde schlagen wird, – wenn auch vielleicht spät und nach langen qualvollen Leiden, – die ihr das Augenlicht schenkt.

Sie versuchte sich darüber klarzuwerden, ob es allein der Abstand zwischen dem soeben Erlebten und den irdischen Dingen war, der ihr die Außenwelt plötzlich so nebensächlich erscheinen ließ, und fand, daß alles, was sie jetzt mit den Sinnen wahrnahm, fast wie ein Traum an ihr vorüberglitt, der, ob leid- oder freudvoll, immer nur ein Schauspiel ohne tiefer einschneidende Bedeutung blieb für das erwachte Ich.

Sogar ihre Gesichtszüge, als sie in den Spiegel blickte und ihren Reisemantel anzog, hätten etwas leise Fremdartiges für sie, – so, als müsse sie sich erst zögernd erinnern, daß sie es sei, die da umherging.

Hinter allem, was sie tat, stand eine beinah totenhafte Ruhe; sie sah in die Zukunft hinein wie in undurchdringliche Finsternis und doch voll Gleichmut, wie jemand, der weiß, daß das Schiff seines Lebens Anker gefaßt hat, und den kommenden Morgen gelassen erwartet, unbesorgt, welche Stürme die Nacht noch bringen wird. – –

Sie dachte daran, daß es Zeit sein müsse, zur Bahn zu gehen; – ein Vorgefühl, daß sie Antwerpen nie mehr sehen werde, hielt sie ab, aufzubrechen.

Sie griff nach Papier und Tinte, um an ihren Geliebten einen Brief zu schreiben, – kam nicht über die erste Zeile hinaus; die innere Gewißheit, alles, was sie jetzt aus eignem Willen begänne, sei vergeblich, und daß es eher möglich wäre, eine abgeschossene Kugel im Laufe aufzuhalten, als die geheimnisvolle Macht, in deren Hände sie ihr Schicksal gelegt, in die Zügel zu fahren, lähmte jeden Entschluß in ihr. – – – – – – –


Das Murmeln einer Stimme, das durch die Wände des Nebenzimmers zu ihr herübergedrungen war, ohne daß sie ihm irgendwelche Beachtung geschenkt hatte, erstarb mit einem Ruck und ließ eine Stille zurück, die in ihr die Empfindung weckte, als sei sie plötzlich taub für äußere Geräusche geworden.

Statt dessen glaubte sie nach einer Weile tief im Ohr, wie aus einem andern Land kommend, ein beharrliches Flüstern zu hören, das allmählich zu dumpfen Kehllauten einer fremden, wilden Sprache anschwoll.

Sie verstand die Worte nicht – begriff nur aus dem übermächtigen Zwang, der sie nötigte, aufzuspringen und zur Tür zu gehen, daß der Sinn der Mitteilung ein Befehl war, dem sie gehorchen mußte, ohne sich dagegen wehren zu können.

Auf der Treppe erinnerte sie sich, ihre Handschuhe vergessen zu haben, aber ihr Versuch, umzukehren, wurde von einer Kraft, die ihr fremd und bösartig und dennoch in den tiefsten Wurzeln als die eigene erschien, im selben Augenblick beiseite geschoben, als sie kaum den Gedanken gefaßt hatte.

Rasch und dennoch frei von Eile oder Hast schritt sie durch die Straßen, nicht wissend, ob sie an der nächsten Ecke geradeaus gehen solle oder nicht, und trotzdem sicher, daß sie im letzten Moment nicht zweifeln werde, welchen Weg sie einzunehmen habe.

Sie zitterte an allen Gliedern und wußte, daß es aus Todesangst entsprang, aber ihr Herz hatte keinen Anteil daran; sie war nicht imstande, die Furcht ihres Körpers in sich aufzunehmen – stand abseits davon, als seien ihre Nerven die einer andern.

Als sie auf einem freien Platz gelangte, in dessen Hintergrund der dunkle massige Würfel der Börse auftauchte, glaubte sie einen Augenblick, sie ginge zur Bahn und alles sei nur Täuschung gewesen, dann riß es sie plötzlich nach rechts durch enge, winklige Straßen.

Die wenigen Leute, die ihr entgegenkamen, blieben stehen und sie fühlte, daß sie ihr nachsahen.

Mit einem neuen Ahnungsvermögen, das sie früher nie an sich gekannt hatte, war sie plötzlich fähig zu erraten, was jeden einzelnen tief innerlich bewegte. – Aus manchen fühlte sie eine Besorgnis hervorbrechen wie einen Gedankenstrom voll heißen Mitleids, das ihr galt, und doch wußte sie, daß die Betreffenden selbst nicht die leiseste Ahnung hatten von dem, was in ihnen vorging, – daß sie mit keiner Faser begriffen, weshalb sie sich nach ihr umblickten, und gesagt haben würden, sie täten es aus Neugierde oder ähnlichen Motiven, wenn sie darüber Rechenschaft hätten geben müssen.

Mit Staunen wurde sie gewahr, daß ein geheimes, unsichtbares Band die Menschen umschloß, – daß ihre Seelen einander erkannten über die Köpfe hinweg und mitsammen sprechen konnten in unwägbaren Schwingungen und Gefühlen, die nur zu fein waren, um von den äußern Sinnen erfaßt zu werden. – Wie Raubtiere, schelsüchtig, gierig und mordbereit, machten sie sich das Leben streitig, und doch bedurfte es vielleicht bloß eines winzigen Risses in dem Vorhang, der über ihren Augen lag, um aus den erbittertsten Feinden die treuesten Freunde zu machen.

Immer einsamer und unheimlicher wurden die Gassen, in die sie geriet; sie zweifelte nicht länger, daß die nächsten Stunden ihr etwas Gräßliches, – sie glaubte, den Tod durch die Hand eines Mörders – bringen würden, wenn es ihr nicht gelänge, den Bann zu brechen, der sie vorwärts zog, – und doch machte sie nicht einmal den Versuch, dagegen anzukämpfen. Sie duldete ohne Widerstand den fremden Willen, der ihr den Weg in die Finsternis aufzwang, in ruhevoller Zuversicht, daß alles, was ihr zustoßen würde, nur einen Schritt weiter dem Ziele entgegen bedeutete.

Durch eine Lücke zwischen Häusergiebeln, als sie einen schmalen eisernen Steg über eine Gracht passierte, sah sie einen Augenblick die Silhouette der Nikolaskirche mit ihren beiden Türmen sich vom Horizont abheben wie eine warnend erhobene dunkle Hand und atmete unwillkürlich erleichtert auf bei dem Gedanken, es könne vielleicht nur Swammerdam sein, der in seinem Leid um Klinkherbogk mit dem Herzen nach ihr riefe.

Die Feindseligkeiten, die sie um sich her lauern spürte, belehrte sie, daß sie sich irrte. Es ging ein finsterer Haß von der Erde aus, der sich gegen sie richtete, – der kalte, unbarmherzige Grimm, den die Natur auf den Menschen wirft, wenn er es wagt, an den Fesseln seiner Knechtschaft zu rütteln.

Es war das erstemal, daß sie sich fürchtete, seit sie ihr Zimmer verlassen hatte; – das Bewußtsein äußerster Hilflosigkeit ließ sie fast zusammenbrechen.

Sie versuchte stehenzubleiben, aber die Füße trugen sie weiter, als habe sie jede Gewalt über sie verloren.

In ihrer Verzweiflung blickte sie zum Himmel auf, und eine erschütternde Fülle von Trost ergoß sich über sie, als sie das Heer der Sterne mit tausend wachsamen Augen wie allmächtige Helfer, die nicht dulden würden, daß man ihr auch nur ein Haar krümme, drohend auf die Erde herabfunkeln sah. – Sie gedachte der alten Männer in der Halle, in deren Hände sie ihr Schicksal gelegt hatte, wie einer Versammlung von Unsterblichen, die nur mit der Wimper zu zucken brauchten und der Erdball zerfiel in Staub.

Abermals hörte sie im Ohr die fremden, befehlenden Kehllaute, – rauh und eindringlich, wie dicht in ihrer Nähe und sie zur Eile anspornend; dann erkannte sie plötzlich in der Dunkelheit das schiefe Haus wieder, in dem Klinkherbogk ermordet worden war.

Auf dem Geländer über den zusammenfließenden Grachten saß ein Mann, regungslos vorgebeugt, als horche er gespannt auf ihre herankommenden Schritte.

Sie fühlte, daß von ihm die dämonische Kraft ausging, die sie gezwungen hatte, an den Zee Dyk zu gehen.

Ehe sie noch sein Gesicht unterscheiden konnte, wußte sie bereits aus dem lähmenden Todesschrecken, der ihr Blut erstarren machte, daß es der grauenhafte Neger war, den sie in der Kammer des Schusters gesehen hatte.

In ihrem Entsetzen wollte sie einen Schrei um Hilfe ausstoßen, aber die Verbindung zwischen Wollen und Handeln war in ihr wie abgeschnitten; ihr Körper stand unter einer andern Macht. Als sei sie gestorben und getrennt von ihrem Leib, sah sie sich auf den Mann zutaumeln und dicht vor ihm stehenbleiben.

Er hob den Kopf und schien sie anzublicken, aber seine Augäpfel waren nach oben gedreht wie die eines Menschen, der mit offnen Lidern schläft.

Eva begriff, daß er starr war wie eine Leiche und daß sie ihm nur einen Stoß vor die Brust zu versetzen brauchte, um ihn rücklings hinab in das Wasser zu stürzen; – trotzdem war sie völlig unter seinem Bann und nicht imstande, es auszuführen.

Sie sah sich als wehrloses Opfer in seine Hand gegeben, wenn er erwacht sein würde, – konnte die Minuten berechnen, die sie noch von dem Verhängnis trennten; über sein Gesicht lief von Zeit zu Zeit ein Zucken als erstes Vorzeichen, daß sein Bewußtsein allmählich zurückkehrte.

Oft hatte sie von Frauen gehört und gelesen, besonders von blonden, die trotz heftigsten Abscheus vor Negern ihnen zu willen sein müßten, – daß das wilde afrikanische Blut einen magischen Zwang auf sie ausübte, gegen den jeder Widerstand vergebens sei; sie hatte es nie geglaubt und solche Geschöpfe als niedrig und tierisch verachtet, jetzt erkannte sie an sich selbst mit kaltem Grauen, daß eine finstere Macht dieser Art existierte. – Die scheinbar unüberbrückbare Kluft, die Entsetzen und Sinnenrausch auseinanderhielt, war in Wirklichkeit nur eine dünne, durchsichtige Scheidewand, die, wenn sie brach, die Seele einer Frau rettungslos zum Tummelplatz bestialischer Instinkte werden lassen mußte.

Was konnte diesem Wilden, halb Raubtier, halb Mensch, indem er innerlich nach ihr rief, die unerklärliche Gewalt verleihen, daß es sie wie eine Mondsüchtige durch fremde Gassen zu ihm zog, wenn nicht Saiten in ihr unbewußt unter dem Schrei seiner Brunst mit erklangen, von deren Vorhandensein sie sich stolz frei geglaubt?

Besaß dieser Neger eine teuflische Macht über jede weiße Frau, fragte sie sich, bebend vor Angst, oder stand sie selbst so viel tiefer als die vielen andern, die seinen magischen Lockruf nicht einmal gehört, viel weniger ihm Folge geleistet hätten?

Sie sah keine Rettung mehr vor sich. Alles, was sie für ihren Geliebten und für sich ersehnt hatte an Glück, ging mit ihrem Leib zugrunde. Was sie über die Schwelle des Todes hinüberzuretten vermochte, war gestaltlos und konnte ihr das nicht geben, wonach sie begehrte. – Sie hatte sich von der Erde abwenden wollen, aber der Erdgeist hielt fest mit eisernem Griff, was ihm gehörte. – Wie eine Verkörperung seiner Allgegenwart stand der Neger riesenhaft vor ihr.

Sie sah, daß er aufsprang und seine Betäubung abschüttelte. Dann packte er sie an den Armen und riß sie an sich.

Sie schrie auf, und ihr Hilferuf gellte von den Mauern der Häuser wider, aber er preßte ihr die Hand auf den Mund, daß sie fast erstickte.

Um den entblößten Hals hingen ihm, wie einem Fleischerhund, ein dunkelroter lederner Strick, – sie faßte darnach und hielt sich krampfhaft daran fest, um nicht zu Boden gedrückt zu werden.

Einen Augenblick bekam sie den Kopf frei. Mit dem Aufgebot ihrer letzten Kraft schrie sie nochmals um Hilfe.

Man mußte sie gehört haben, denn eine Glastür klirrte, Gewirr von Stimmen schlug an ihr Ohr, und ein breiter Lichtschein fiel grell über die Gasse.

Dann fühlte sie, daß der Neger mit ihr in wilden Sätzen dem Schatten der Nikolaskirche zujagte; zwei chilenische Matrosen mit orangegelben Schärpen um die Hüften waren ihnen bereits dicht auf den Fersen, – sie sah die offenen Messer in ihren Händen blitzen und ihre bronzenen, mutigen Gesichter immer näher kommen.

Instinktiv hielt sie die Halsschnur des Negers fest und streckte die Beine, um ihn, so gut sie vermochte, am Laufen zu hindern, aber er schien ihre Last kaum zu spüren; mit einem Ruck hob er sie hoch vom Boden auf und raste mit ihr die Mauer des Kirchengartens entlang.

Sie sah die wulstigen Lippen um die gefletschten Zähne wie den Rachen eines Raubtiers dicht vor sich, und der Ausdruck lodernder Wildheit in seinen weißen Augen fraß sich in ihre Sinne ein, daß sie wie hypnotisiert erstarrte, unfähig, auch nur den geringsten Widerstand mehr zu leisten.

Der eine der beiden Matrosen hatte den Neger überholt, warf sich, zusammengeduckt wie eine Katze, vor seine Füße, um ihn zu Fall zu bringen, und stach mit dem Messer von unten nach ihm; das Knie des Zulus, der blitzschnell in die Höhe gesprungen war, traf ihn vor die Stirn, daß er sich lautlos überschlug und mit zerschmettertem Schädel liegenblieb.

Dann fühlte sich Eva plötzlich über das Gittertor des Kirchengartens geworfen, daß sie glaubte, alle Knochen im Leibe seien ihr zerbrochen, und sah, mit den Kleidern in den eisernen Spitzen verfangen, durch die Stäbe, wie der Neger mit seinem zweiten Gegner rang. –

Der Kampf dauerte nur wenige Sekunden, – wie ein Ball geschleudert, flog der Matrose die Wand des gegenüberliegenden Hauses empor an ein Fenster, dessen Scheiben und Kreuze unter der Wucht mit lautem Knall zerbarsten.

Eva hatte sich, zitternd vor Todesschwäche, von dem Gitter befreit und suchte zu entfliehen, aber der schmale Garten bot keinen Ausweg; – wie ein gehetztes Tier verkroch sie sich unter einer Bank; sie begriff, daß sie trotzdem verloren war, denn ihr helles Kleid leuchtete aus der Dunkelheit und mußte sie im nächsten Augenblick verraten.

Mit bebenden Fingern, kaum mehr fähig zu denken, suchte sie an ihrem Halse nach einer Nadel, um sie sich ins Herz zu stoßen, denn schon hatte sich der Neger über die Mauer geschwungen, und sie wollte ihm nicht lebend in die Hände fallen.

Ein stummer, verzweifelter Schrei zu Gott, etwas zu finden, womit sie sich den Tod geben könnte, ehe ihr Peiniger sie entdeckte, drängte sich ihr auf die Lippen.

Es war das letzte, woran sie sich erinnern konnte, dann bildete sie sich einen Moment lang ein, wahnsinnig geworden zu sein, denn sie sah plötzlich ihr Spiegelbild ruhig und lächelnd mitten im Garten stehen.

Auch der Neger schien es erblickt zu haben, er stutzte und ging überrascht darauf zu.

Sie glaubte zu hören, daß er mit der Erscheinung sprach, – sie konnte die Worte nicht verstehen, aber seine Stimme klang mit einemmal wie die eines Menschen, der, von Entsetzen gelähmt, kaum zu stammeln vermag.

Überzeugt, daß sie sich irren müsse – vielleicht längst das Opfer des Wilden geworden sei und den Verstand darüber verloren habe, – konnte sie den Blick von den beiden nicht wenden.

Dann wieder hatte sie die deutliche Gewißheit, sie selbst sei jenes Spiegelbild und der Neger stünde auf unbegreifliche Weise in ihrer Macht, – um im nächsten Augenblick abermals voll Verzweiflung nach einer Nadel an ihrem Halse zu tasten.

Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen, – wollte sich klarwerden, ob sie wahnsinnig sei oder nicht, und starrte das Phantom unverwandt an, da sah sie, daß es wie aufgesogen von ihrer Aufmerksamkeit jedesmal verschwand und in ihren Körper zurückkehrte wie ein magischer Teil ihrer selbst, wenn sie sich anstrengte, es mit den Augen in der Finsternis zu unterscheiden.

Sie konnte es an sich ziehen und wieder aussenden wie den Atem, aber immer sträubte sich ihr unter eisigen Kälteschauern das Haar, als trete der Tod sie an, sooft es von ihr wich.

Auf den Neger machte das jeweilige Verschwinden des Spiegelbildes keinen Eindruck. Ob es kam oder ging, – beständig sprach er halblaut vor sich hin, als rede er im Schlaf mit sich selbst. –

Eva ahnte, daß er wieder in den seltsamen Zustand von Bewußtlosigkeit verfallen war, in dem sie ihn auf dem Geländer der Gracht hatte sitzen sehen.

Immer noch zitternd vor Angst, faßte sie endlich den Mut, ihr Versteck zu verlassen.

Sie hörte Rufe und Stimmen die Gasse heraufkommen; – in den Fenstern der Häuser hinter der Gartenmauer glänzte der Widerschein von laufenden Laternen und verwandelte die Schatten der Bäume an der Kirchenwand in eine tanzende Geisterschar.

Sie zählte die Schläge ihres Herzens: – jetzt, jetzt mußte die Menge, die nach dem Neger suchte, in nächster Nähe sein! – dann lief sie mit brechenden Knien dicht an dem Zulu vorbei an das Gittertor und schrie gellend um Hilfe.

Mit erlöschendem Bewußtsein begriff sie, daß ein Frauenzimmer mit rotem, kurzem Rock mitleidig neben ihr kniete und ihre Stirn mit Wasser benetzte.

Bunte, halbnackte Gestalten kletterten, Fackeln schwingend, über die Mauer, blitzende Messer zwischen den Zähnen, – ein Heer phantastischer, behender Teufel, die aus dem Boden zu wachsen schienen, um ihr Hilfe zu bringen; – Feuerschein lohte durch den Garten und machte die Heiligenbilder an den Glasfenstern der Kirche lebendig; wilde, spanische Flüche schrillten durcheinander: Dort steht der Nigger, reißt ihm die Gedärme heraus!

Sie sah, daß die Matrosen sich heulend vor Wut auf den Zulu warfen, – daß sie, von den furchtbaren Schlägen seiner Fäuste getroffen, niederstürzten, – hörte seinen markerschütternden Siegesschrei die Luft zerreißen, wie er sich, einem losgelassenen Tiger gleich, Bahn durch die Meute brach, sich auf einen Baum schwang und mit gewaltigen Sätzen von Nische zu Nische, von Giebel zu Giebel auf das Kirchendach schnellte.


Sekundenlang, als sie aus tiefer Ohnmacht erwachte, träumte sie, ein alter Mann mit einer Binde um die Stirn habe sich über sie gebeugt und sie beim Namen gerufen. – Sie glaubte, es sei Lazarus Eidotter, dann trat durch seine Züge hindurch, wie hinter einer gläsernen Maske hervor, wiederum das Gesicht des Negers mit den weißen Augen und den wulstigen Lippen um die gefletschten Zähne, wie es sich unauslöschlich in ihr Bewußtsein eingegraben hatte, als er sie in seinen Armen getragen, – und die hexenhaften Ausgeburten des Fieberreichs zerpeitschten ihr von neuem die Besinnung.


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