Gustav Meyrink
Das grüne Gesicht
Gustav Meyrink

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Siebentes Kapitel

Der Wagen bog in das Villenviertel von Hilversum ein und fuhr geräuschlos durch die Lindenallee in den Park, der das in der Sonne weiß schimmernde Landhaus Buitenzorg umgab.

Baron Pfeill stand auf der Freitreppe und kam freudig heruntergelaufen, als er Hauberrisser aussteigen sah.

"Famos, daß du gekommen bist, alter Kranich; ich fürchtete schon, meine Depesche hätte dich in deiner häuslichen Tropfsteingrotte nicht mehr angetroffen. – Ist dir etwas passiert? Du siehst so versonnen aus. – Übrigens: Gott lohne es dir, daß du mir den wundervollen Grafen Ciechonski geschickt hast; er ist eine Labsal in dieser trostlosen Zeit." – Pfeill war so gut aufgelegt, daß er seinen Freund, der heftig protestierte und ihn über den Hochstapler aufklären wollte, gar nicht zu Wort kommen ließ. "Heute morgen machte er mir seine Aufwartung, und ich habe ihn natürlich über Mittag dabehalten. – Wenn ich nicht sehr irre, fehlt bereits ein Paar silberner Löffel. – – Er hat sich bei mir eingeführt – – –"

"– als Patenkind Napoleons des Vierten?"

"Ja. Natürlich. Aber außerdem unter Berufung auf dich!"

"So eine Frechheit!" rief Hauberrisser wütend. "Den Kerl muß man ja in den Boden hinein ohrfeigen."

"Warum denn? Er verlangt doch nur, in einen vornehmen Spielklub aufgenommen zu werden. Man lasse ihm die Grille. Des Menschen Wünsche sind sein Himmelreich. – Wenn er sich mit aller Gewalt ruinieren will?"

"Wird nicht gehen; er ist Taschenspieler von Profession", unterbrach Hauberrisser.

Pfeill sah ihn mitleidig an. "Du glaubst, damit kommt er heutzutage in unsern Pokerklubs durch? Falschspielen können die doch selber. Die Hosen wird er verlieren. Apropos, hast du seine Uhr gesehen?"

Hauberrisser lachte.

"Wenn du mich liebst", rief Pfeill, "so kaufst du sie ihm ab und schenkst sie mir zu Weihnachten." – Er schlich sich behutsam zu einem offenen Verandafenster, winkte seinem Freund und deutete hinein: "Schau mal, ist das nicht herrlich?"

Zitter Arpád, trotz der Tageszeit im Frack, eine Hyazinthe im Knopfloch, eigelbe Stiefel und eine schwarze Krawatte, saß in traulichem Tête-à-tête bei einer älteren Dame, die vor Erregung, endlich einmal wieder einen Mann eingefangen zu haben, hektische Flecken auf den Wangen hatte und ein Zuckergoscherl machte.

"Erkennst du sie?" flüsterte Pfeill. "Es ist die Konsulin Rukstinat; Gott habe sie möglichst bald selig. – Da! Jetzt zeigt er ihr die Uhr! Wetten möchte' ich, daß er die Alte durch den Anblick des beweglichen Liebespaares hinter dem Zifferblatt zu berücken sucht. – Er ist ein Herzensbrecher ersten Grades, darüber besteht kein Zweifel."

"Es ist ein Taufgeschenk Eugène Louis Jean Josephs", hörte man den "Grafen" mit vor Rührung bebender Stimme sagen.

"O Floohzimjersch!" säuselte die Gnädige.

"Donnerkeil! Soweit halten die schon, daß sie ihn bereits beim Vornamen nennt?" – Pfeill pfiff durch die Zähne und zog seinen Freund mit fort. – "Rasch. Komm! Wir stören. – Schade, daß die Sonne scheint, sonst würde ich das Licht abdrehen. Aus Mitgefühl für Ciechonski. – Nein, nicht hier hinein!" – er hielt Hauberrisser an einer Tür zurück, die der Diener öffnete, – "da drinnen wird Politik gebrodelt", – einen Augenblick wurde eine zahlreiche Gesellschaft sichtbar und in ihrer Mitte, beredt aufgebäumt und die fünf Fingerspitzen gebieterisch auf die Tischplatte gestützt, ein vollbärtiger Glatzkopf, – "gehen wir lieber ins Quallenzimmer." – –

Erstaunt blickte Hauberrisser umher, als er sich in einem rehfarbenen, sämischledernen Klubsessel, der so dick wattiert war, daß er fast drin versank, niedergelassen hatte:

Wände und Plafond waren mit glatten, porenfreien und so kunstvoll aneinandergefügten Korkplatten, daß man keine Ritze bemerken konnte, bedeckt, – die Fensterscheiben aus gebogenem Glas, die Möbel, die Mauerecken und Winkel, ja selbst die Türstöcke sanft gerundet; nirgends eine Kante, der Teppich weich wie knöcheltiefer Sand und überall das gleiche, milde, matte Hellbraun.

"Ich bin nämlich dahintergekommen", erklärte Baron Pfeill, "daß ein Mensch, der in Europa zu leben verdammt ist, eine Tobsuchtszelle nötiger hat als irgend etwas sonst. In Räumen, wie dieser, nur eine Stunde zu sitzen reicht hin, um auch den reizbarsten Zappelphilipp für lange Zeit in eine sanftmütige Molluske zu verwandeln. Ich versichere dir, ich kann mit Pflichten vollgepfropft sein bis zum Hals, – der bloße Gedanke an mein weiches Zimmer genügt, und schon fallen alle guten Vorsätze von mir ab wie vom Fuchs das Ungeziefer, wenn man ihn in Milch badet. Dank dieser sinnreichen Einrichtung bin ich jederzeit in der Lage, auch das wichtigste Tagewerk reuelos zu versäumen."

"Wer dich so reden hört", sagte Hauberrisser belustigt, "müßte unfehlbar glauben, du seiest der zynischste Genußmensch geworden, der sich ausdenken läßt."

"Falsch!" widersprach Pfeill und schob seinem Freund eine Zigarrenkassette mit geschweiftem Buckeln hin, "ganz und gar falsch. Es ist lediglich die abgefeimteste Gewissenhaftigkeit gegen mich selbst, die mein Denken und mein Tun leitet. – Ich weiß, du bist der Ansicht, das Leben sei sinnlos; auch ich war lange in diesem Wahn befangen, aber allmählich ist mir ein Licht aufgegangen. Man muß nur mit der Streberei aufhören und wieder ein natürlicher Mensch werden."

"Und das" – Hauberrisser deutete auf die Korkwände – "nennst du: natürlich?"

"Freilich! – Wenn ich arm wäre, müßte ich in einer verwanzten Kammer wohnen, – täte ich es jetzt freiwillig, so hieße das, die Unnatur auf den Gipfel zu treiben. Das Schicksal muß doch irgend etwas damit bezwecken, daß es mich hat reich auf die Welt kommen lassen. – Mich belohnen für etwas, was ich in einem früheren Dasein begangen und, unberufen, vergessen habe? Das riecht mir zu sehr nach theosophischem Kitsch. – Am wahrscheinlichsten, glaube ich, ist's, daß es mir die hehre Aufgabe stellt, ich solle mich so lange an den Süßigkeiten des Lebens überfressen, bis ich es satt bekäme und der Abwechslung wegen wieder einmal nach hartem Brot begehrte. Soll geschehen; an mir wird's nicht fehlen. Schlimmstenfalls irre ich mich. – Mein Geld andern schenken? Bitte, sofort; aber einsehen müßte ich vorher, weshalb. Bloß weil's in so vielen Schmökern steht? Nein. Auf das sozialistische Motto: 'Geh du weg und laß mich hin', falle ich prinzipiell nicht herein. Soll ich vielleicht einem, der bittere Medizin braucht, einen süße reichen? – Schicksal panschen, das könnte mir so fehlen."

Hauberrisser kniff ein Auge zu.

"Ich weiß schon warum du grinst, Halunke", fuhr Pfeill ärgerlich fort; "du spielst auf die gottverfluchten paar Kröten an, die ich da dem Schuster – aus Versehen natürlich – geschickt habe. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. – – Was sind das für Taktlosigkeiten, mir meine Schwächen vorzuhalten! Die ganze Nacht habe ich mich wegen meiner Charakterlosigkeit gegiftet. Was, wenn der Alte überschnappt, dann bin ich schuld daran."

"Wenn wir schon davon sprechen", gab Hauberrisser zu, "keinesfalls hättest du ihm auf einen Hieb soviel schicken sollen", ergänzte Pfeill höhnisch. "Alles das ist Blech. Ich gebe zu, wer nach dem Gefühl handelt, dem wird viel vergeben, weil er viel geliebt hat. Aber zuerst hat man mich gefälligst zu fragen, ob ich darauf reflektiere, daß man mir etwas vergibt. Ich gedenke nämlich meine Schulden, auch die geistigen, bis auf den letzten Cent zu bezahlen. Mir schwant, meine wertgeschätzte Seele hat sich lange vor meiner Geburt klugerweise große Reichtümer gewünscht. – Vorsichtshalber. Um nicht durch das Nadelöhr in den Himmel zu kommen. Sie liebt eben rastloses Halleluja-Gerufe nicht, und eintönige Musik ist mir auch ein Graus. – Ja, wenn der Himmel nur eine leere Drohung wäre! Aber ich bin fest überzeugt, es gibt so ein Institut nach dem Tode. Da ist es natürlich ein äußerst schweres Balancierstück, einerseits anständig zu bleiben und anderseits trotzdem einem künftigen Paradies zu entwischen. Ein Problem, über das sich schon der gottselige Buddha den Kopf zerbrochen hat."

"Und du dir auch, wie ich merke."

"Gewiß. Bloß leben genügt doch nicht. Oder? – Du scheinst überhaupt nicht zu ahnen, wie ungeheuer ich in Anspruch genommen bin. Nicht in bezug auf Gesellschaften, – das macht meine Hausdame drin ab – sondern durch die geistige Arbeit, die mir infolge beabsichtigter – Gründung – eines – neuen – Staates und einer neuen Religion erwächst. Jawohl."

"Um Gottes willen! Du wirst noch eingesperrt werden."

"Fürchte nichts, ich bin kein Aufrührer."

"Ist deine Gemeinde schon groß?" fragte Hauberrisser lächelnd, da er einen Witz vermutete.

Pfeill sah ihn scharf an und sagte dann nach einer Pause: "Du scheinst mich, wie meistens, leider falsch zu verstehen. Spürst du nicht, daß etwas in der Luft liegt, was, vielleicht seit die Erde steht, noch nie so stark in der Luft gelegen hat? Einen Weltuntergang zu prophezeien ist eine undankbare Sache; er ist zu oft im Laufe der Jahrhunderte vorausgesagt worden, als daß die Glaubwürdigkeit nicht darunter gelitten hätte.

Trotzdem, glaube ich, behält diesmal derjenige recht, der das Kommen eines solchen Ereignisses zu fühlen behauptet. Es braucht ja nicht gleich eine Vernichtung der Erde zu sein, – der Untergang einer alten Weltanschauung ist auch ein Weltuntergang."

"Und ein derartiger Umschwung in den Anschauungen, meinst du, könnte sich von heut auf morgen vollziehen?" – Hauberrisser schüttelte zweifelnd den Kopf, – "da glaube ich eher noch an bevorstehende Naturereignisse verheerender Art. Über Nacht ändern sich die Menschen nicht."

"Sage ich denn, daß äußere Katastrophen ausbleiben müssen?!" rief Pfeill; "im Gegenteil, jeder Nerv in mir ahnt ihr Kommen. – Was die plötzliche innere Veränderung der Menschheit anbetrifft, so hast du hoffentlich nur scheinbar recht. Wie weit kannst du denn in der Geschichte zurückblicken, daß du solche Behauptungen aufstellen dürftest? Doch kaum ein paar lumpige tausend Jahre! – Hat es selbst in dieser kurzen Zeit nicht geistige Epidemien gegeben, deren rätselhaftes Auftauchen einen nachdenklich machen müßte? – Kinderkreuzzüge sind vorgekommen, – freilich, ob's die Menschen jemals zu Kommiskreuzzügen bringen wird, ist zweifelhaft. Aber möglich ist manches, sogar um so wahrscheinlicher, je länger es auf sich warten läßt. – Bisher haben die Menschen einander zerfleischt um gewisser verdächtiger Unsichtbarer willen, die sich vorsichtshalber nicht Geister nennen, sondern 'Ideale'. Jetzt, glaube ich, hat endlich die Stunde des Krieges gegen diese Unsichtbaren geschlagen, – und da möchte ich gerne dabeisein. Seit Jahren schon werde ich zum Soldaten im geistigen Sinne abgerichtet, das ist mir längst klar, aber so deutlich wie jetzt habe ich noch nie empfunden, daß eine große Schlacht gegen diese verfluchten Gespenster bevorsteht. Ich sage dir, wenn man einmal in das Ausroden der falschen Ideale hineinkommt, – nicht fertig wird man damit. Es ist kaum glaublich, was sich da alles auf dem Wege der Ideenvererbung an impertinentem Schwindel in einem aufgehäuft hat. – Und siehst du, dieses systematische Ausjäten von Unkraut in mir nenne ich die Gründung eines neuen – Staates. Aus Rücksicht für die bestehenden Systeme und aus Taktgefühl gegenüber meinen Mitmenschen, denen ich, Gott sei vor, meine Ansichten über innere Wahrhaftigkeit und unbewußte Verlogenheit nicht aufdrängen möchte, habe ich mich von vornherein darauf beschränkt, in meinem Staat, – den ich den keimfreien Staat nenne, weil er gründlich desinfiziert ist von den seelischen Bakterien eines falschen Idealismus, – nur einen einzigen Untertanen aufzunehmen, nämlich mich selbst. Ebenso bin ich der einzige Missionär meines Glaubens. Übertrittlinge brauche ich nicht."

"Organisator bist du demnach nicht, wie ich sehe", warf Hauberrisser erleichtert ein.

"Zum Organisieren fühlt sich heute jeder berufen, daraus geht schon hervor, wie falsch es sein muß. Das Gegenteil von dem, was der große Haufe tut, ist an sich schon richtig." – Pfeill erhob sich und ging auf und ab. – "Nicht einmal Jesus hat sich unterfangen zu organisieren, er hat ein Vorbild gegeben. Frau Rukstinat und Konsorten natürlich erfrechen sich zu organisieren. Organisieren darf nur die Natur oder der Weltgeist. – Mein Staat soll ewig sein; er braucht keine Organisation. Wenn er eine hätte, würde er sein Ziel verfehlen."

"Aber einmal wird dein Staat, wenn er einen Zweck haben soll, ja doch aus vielen bestehen müssen; woher willst du diese Bürger nehmen, lieber Pfeill?"

"Hor zu: Wenn ein Mensch einen Einfall hat, so beweist das nur, daß viele gleichzeitig denselben Gedanken gefaßt haben. Wer das nicht versteht, weiß nicht, was ein Einfall ist. Gedanken sind ansteckend, auch wenn man sie nicht ausspricht. Dann vielleicht erst recht. Ich bin fest überzeugt: In diesem Augenblick sind schon eine ganze Menge meinem Staat beigetreten, und schließlich wird er die Welt überschwemmen. – Die körperliche Hygiene hat große Fortschritte gemacht, – man desinfiziert sogar schon die Türklinken, um sich nicht irgendeine Krankheit zu holen, – ich sage dir, es gibt gewisse Schlagworte, die weit schlimmere Krankheiten, zum Beispiel: Rassen- und Völkerhaß, Pathos und dergleichen, übertragen und mit viel schärferer Lauge keimfrei gemacht werden müßten als Türklinken."

"Du willst also den Nationalismus ausrotten?"

"Es soll von mir in fremden Gärten nichts ausgerottet werden, was nicht von selbst stirbt. In meinem eignen darf ich tun und lassen, was ich will. Der Nationalismus scheint für die meisten Menschen eine Notwendigkeit zu sein, das räume ich ein, aber es ist hoch an der Zeit, daß es endlich auch einen 'Staat' gibt, in dem die Bürger nicht durch Landesgrenzen und gemeinsame Sprache zusammengehalten werden, sondern durch die Denkungsart, und leben können, wie sie wollen.

– In gewissem Sinne haben die ganz recht, die lachen, wenn einer sagt, er wolle die Menschheit umgestalten. – Sie übersehen bloß, daß es vollkommen genügt, wenn ein einzelner sich bis in die Wurzeln umgestaltet. Sein Werk kann dann niemals vergehen, – gleichgültig, ob es der Welt bekannt wird oder nicht. So einer hat ein Loch ins Bestehende gerissen, das nie mehr zuwachsen kann, ob es jetzt die andern gleich bemerken oder einen Million Jahre später. Was einmal entstanden ist, kann nur scheinbar verschwinden. So ein Loch in das Netz zu reißen, in dem die Menschheit sich verfangen hat, – nicht durch öffentliches Predigen, nein: Indem ich selbst der Fessel entrinne, das ist's, was ich will."

"Bringst du die äußeren Katastrophen, an deren Hereinbrechen du glaubst, in irgendwelchen ursächlichen Zusammenhang mit der vermutlich kommenden Denkänderung der Menschheit?" fragte Hauberrisser.

"Aussehen wird es natürlich immer so, als gäbe ein äußeres Unglück, zum Beispiel ein großes Erdbeben, den Anlaß zum sogenannten 'Insichgehen' des Menschen, – aber nur so aussehen. Die Geschichte mit der Ursache und Wirkung verhält sich, scheint mir, ganz anders. Ursachen können wir nie erkennen; alles, was wir wahrnehmen, ist Wirkung. Was uns Ursache zu sein scheint, ist in Wahrheit nur ein – Vorzeichen. Wenn ich diesen Bleistift hier loslasse, wird er zu Boden fallen. Daß das Loslassen die Ursache des Herunterfallens ist, mag ein Gymnasiast glauben, ich glaub's nicht. Das Loslassen ist ganz einfach das untrügliche Vorzeichen des Herunterfallens. Jedes Geschehnis, auf das ein zweites folgt, ist dessen Vorzeichen. Ursache ist etwas vollständig anderes. Allerdings bilden wir uns ein, es stünde in unserer Macht, eine Wirkung hervorzubringen, aber es ist ein unheilvoller Trugschluß, der uns die Welt beständig in einem falschen Licht sehen läßt. In Wahrheit ist es nur ein- und dieselbe geheimnisvolle Ursache, die den Bleistift zu Boden fallen macht und mich kurz vorher verleitet hat, ihn loszulassen. Eine plötzliche Denkänderung des Menschen und ein Beben der Erde kann wohl gleiche Ursachen haben, – aber daß das eine die Ursache des andern wäre, ist vollkommen ausgeschlossen, so plausibel es auch dem 'gesunden' Verstand dünken mag. Das erste ist genauso Wirkung wie das zweite; eine Wirkung ruft die andere niemals hervor – kann, wie gesagt, ein Vorzeichen sein in einer Kette von Geschehnissen, aber sonst auch nichts. Die Welt, in der wir leben, ist eine Welt der Wirkungen. – Das Reich der wahren Ursachen ist verborgen; wenn es uns gelingt, bis dorthin vorzudringen, werden wir zaubern können."

"Und sollte: seine Gedanken beherrschen können, – das heißt, die geheimsten Wurzeln ihres Entstehens aufdecken – nicht dasselbe sein wie zaubern?"

Pfeill blieb mit einem Ruck stehen. "Freilich! Was sonst? Ebendeshalb stelle ich das Denken um eine Stufe höher als das Leben. Es führt uns einem fernen Gipfel zu, von dem aus wir nicht nur alles werden überschauen, sondern alles, was wir wollen, auch werden vollbringen können. – Vorläufig zaubern wir Menschen noch mit Maschinen; ich glaube, die Stunde ist nahe, wo wenigstens einige es mit bloßem Willen zustande bringen werden. Das bisher so beliebte Erfinden von wundervollen Maschinen war nichts weiter als ein Pflücken von Brombeeren, die neben dem Wege zum Gipfel wachsen. – Wertvoll ist nicht die "Erfindung", sondern das Erfindenkönnen, wertvoll ist nicht ein Gemälde, höchstens kostbar, wertvoll ist nur das Malenkönnen. Das Gemälde kann vermodern, das Malenkönnen kann nicht verlorengehen, auch wenn der Maler stirbt. Es bleibt als vom Himmel geholte Kraft bestehen, die vielleicht für lange Zeit schlafen gehen mag, aber immer wieder aufwacht, wenn das geeignete Genie geboren wird, durch das sie sich offenbaren kann. Ich finde es sehr tröstlich, daß die wertgeschätzte Kaufmannschaft dem Erfinder quasi nur das Linsengericht abschwätzen kann und nicht das Wesentliche."

"Du läßt mich heute, scheint's, gar nicht zu Worte kommen", unterbrach Hauberrisser; "mir schwebt schon lange etwas auf der Zunge, was ich sagen möchte."

"Also los! Warum sprichst du nicht?"

"Vorerst nur noch eine Frage: Hast du Anhaltspunkte, oder – oder Vorzeichen, daß wir alle vor einem – nennen wir's mal: Wendepunkt – stehen?"

"Hm. – Ja. – Es ist mehr Gefühlssache. Ich tappe da selbst noch ziemlich im Finstern. – Ein Faden zum Beispiel, an dem ich mich vorwärts taste, ist dünn wie ein Spinngewebe. – Ich bilde mir nämlich ein, daß ich gewisse Grenzsteine in unserer innern Fortentwicklung gefunden habe, die uns anzeigen, wann wir ein neues Gebiet betreten. Das zufällige Zusammentreffen mit einem Fräulein van Druysen – du wirst sie heute noch kennenlernen – und etwas, was sie mir von ihrem Vater erzählte, hat mich darauf gebracht. Ich schloß daraus – vielleicht ganz ungerechtfertigterweise –, daß ein solcher 'Grenzstein' im menschlichen Bewußtsein ein für alle, die reif dazu sind, gleiches inneres Erlebnis ist. – Nämlich, – lache jetzt bitte nicht –: die Vision eines grünen Gesichtes."

Hauberrisser faßte erregt den Arm seines Freundes und unterdrückte einen Ausruf des Erstaunens.

"Um Gottes willen, was ist dir?" rief Pfeill.

In fliegenden Worten erzählte Hauberrisser, was er erlebt hatte.

Das Gespräch, das sich daraus entspann, fesselte sie dermaßen, daß sie den Diener kaum bemerkten, der melden kam, Fräulein Eva van Druysen und Herr Dr. Ismael Sephardi seien eingetroffen, und Baron Pfeill auf einer Tablette zwei Visitenkarten und das Abendblatt der Amsterdamer Zeitung überreichte.


Bald war die Unterhaltung über das grüne Gesicht in vollem Gange.

Hauberrisser hatte die Erzählung seines Erlebnissen im Vexiersalon Pfeill überlassen, und auch Fräulein van Druysen beschränkte sich darauf, nur hier und da ein Wort einzuflechten, als Dr. Sephardi den Besuch bei Swammerdam schilderte.

Von Verlegenheit konnte natürlich weder bei Eva van Druysen noch bei Hauberrisser die Rede sein, aber trotzdem standen sie beide unter einem Stimmungsdruck, der ihnen das Sprechen erschwerte. Sie zwangen sich förmlich, einander mit den Blicken nicht auszuweichen, aber jedes fühlte genau, daß das andere log, wenn es sich bemühte, irgend etwas Gleichgültiges zu sagen.

Der vollständige Mangel an weiblicher Koketterie bei Eva verwirrte Hauberrisser fast; er sah ihr an, wie peinlich sie darauf achtete, alles zu vermeiden, was auch nur den leisesten Schein von Gefallsucht oder tieferem Interesse an ihm hätte erwecken können, – aber er schämte sich gleichzeitig wie einer groben Taktlosigkeit, daß es ihm nicht gelingen wollte, vor ihr zu enthüllen, wie sehr er das Gekünstelte in ihrer innern Ruhe durchschaute. Er erriet, daß seine Gedanken offen vor ihr dalagen, aus der erzwungenen Gelangweiltheit, mit der ihre Hände an einem Rosenbukett spielten, aus der Art, wie sie eine Zigarette rauchte, – merkte es an hundert andern Kleinigkeiten; aber es gab für ihn kein Mittel, ihr zu Hilfe zu kommen.

Eine einzige phrasenhafte Bemerkung seinerseits würde genügt haben, ihr die Sicherheit, die sie heuchelte, wiederzugeben, – würde aber auch genügt haben, sie entweder aufs tiefste zu verletzen oder ihn selbst in ein Licht wenig geschmackvollen Gockeltums zu rücken, – was er natürlich ebenfalls zu vermeiden wünschte.

Als sie eingetreten, war er einen Moment sprachlos gewesen über ihre geradezu verblüffende Schönheit, und sie hatte es wie eine Bewunderung hingenommen, an die sie gewöhnt sein mußte; dann aber, als sie zu bemerken glaubte, daß seine Verwirrung nicht ausschließlich durch sie verursacht war, sondern ebensogut durch die Unterbrechung eines interessanten Gesprächs zwischen ihm und Dr. Pfeill, – war die peinliche, nicht mehr loszuwerdende Empfindung über sie gekommen, den Eindruck plumper, weiblicher Sieghaftigkeit auf ihn gemacht zu haben.

Hauberrisser begriff instinktiv, daß Eva ihre Schönheit, die eine Frau wohl stolz tragen durfte, als Mädchen in ihrer seelischen Feinfühligkeit augenblicklich als Last empfand.

Am liebsten hätte er ihr offen gesagt, wie sehr er sie bewundere, aber er fürchtete, den richtigen Ton von Unbefangenheit nicht zu finden.

Er hatte im Leben zuviel schöne Frauen geliebt, um beim ersten Anblick selbst so berückender weiblicher Reize, wie Eva sie besaß, sogleich den Kopf zu verlieren, aber dennoch stand er bereits tiefer unter ihrem Einfluß, als er selbst merkte.

Anfangs vermutete er, sie sei mit Sephardi verlobt; als er sah, daß es nicht der Fall war, durchzuckte ihn eine leise Freude.

Er wehrte sich sofort dagegen; die unbestimmte Angst, seine Freiheit noch einmal zu verlieren und wiederum von dem alten Wirbelsturm derartiger Erlebnisse fortgerissen zu werden, warnte ihn, auf seiner Hut zu sein, aber bald wachte in ihm ein so echtes und inniges Gefühl von Zusammengehörigkeit mit Eva auf, daß jeder Vergleich mit dem, was er bisher Liebschaft genannt hatte, von selbst wegfiel.

Das unvermeidliche prickelnde Etwas, das sich infolge der stummen Gedankenübertragung zwischen beiden entspann, war zu deutlich, als daß es Pfeill mit seinem scharfen Blick hätte lange verborgen bleiben können. – Was ihn dabei schmerzlich berührte, war der Ausdruck eines mühsam verhaltenen, tiefen Wehs, das um die Augen Sephardis lag und aus jedem Worte der mit krampfhafter Hast geführten Rede des sonst so schweigsamen Gelehrten hervorklang.

Er fühlte, daß dieser einsame Mensch eine stille, aber vielleicht um so heißere Hoffnung zu Grabe trug.

"Wohin, glauben Sie, Herr Doktor", fragte er, als Sephardi seine Erzählung beendet hatte, "mag der seltsame Weg wohl führen, den der 'geistige Kreis' Swammerdams oder des Schuhmachers Klinkherbogk zu gehen sich einbildet? Ich fürchte, in ein uferloses Meer von Visionen und – –"

"– und daran geknüpften Erwartungen, die niemals erfüllt werden", – Sephardi zuckte traurig die Schultern, – "es ist das alte Lied von den Pilgern, die ohne Führung in der Wüste zum gelobten Land wandern und, eine trügerische Fata Morgana vor Augen, dem qualvollen Tode des Verdurstens entgegenschreiten. Es hat noch immer mit dem Schrei geendet: 'Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!'"

"Bei all den anderen, die an den Schuhmacher und sein Prophetentum glauben, mögen Sie recht haben", mischte sich Eva van Druysen ernst ins Gespräch, "aber bei Swammerdam irren Sie sich. Ich weiß es gewiß. Denken Sie daran, was Baron Pfeill uns von ihm erzählt hat! Den grübelnden Käfer hat er doch gefunden! Ich kann nicht loskommen von der Überzeugung: es ist ihm beschieden, auch das Größere zu finden, nach dem er sucht."

Sephardi lächelte trüb. "Ich wünsche es ihm von Herzen, aber er wird bestenfalls, wenn er nicht früher darüber zugrunde geht, am Schluß nur zu dem gewissen: 'Herr, in deine Hände befehle ich meinen Geist' gelangen. – Glauben Sie mir, Fräulein Eva, ich habe mehr über jenseitige Dinge nachgedacht, als Sie wohl vermuten, und habe mir ein Menschenleben lang Kopf und Herz zermartert, ob es denn wirklich kein Entrinnen aus dem irdischen Kerker gibt. – Nein, es gibt keines! – Der Zweck des Lebens ist, auf den Tod zu warten!"

"Dann wären die noch die Klügsten", wendete Hauberrisser ein, "die nur dem Vergnügen leben."

"Gewiß. Wenn sie es imstande sind. Aber mancher bringt es eben nicht zuwege."

"Und was soll der dann tun?"

"Liebe üben und die Gebote halten, wie es in der Bibel steht."

"Das sagen Sie?!" rief Pfeill erstaunt. "Ein Mensch, der alle Philosophiesysteme von Lao Tse bis Nietzsche durchstudiert hat! Wer ist denn der Erfinder dieser 'Gebote'? Ein sagenhafter Prophet, ein angeblicher Wundertäter. Wissen Sie, ob er nicht nur ein Besessener war? Glauben Sie, daß ein Schuster Klinkherbogk nicht nach fünftausend Jahren im gleichen legendenhaften Glanz dastehen wird, wenn sein Name bis dahin nicht längst vergessen ist?"

"Gewiß, wenn sein Name bis dahin nicht längst vergessen ist", sagt Sephardi einfach.

"Sie nehmen also einen Gott an, der über den Menschen thront und ihre Geschicke lenkt? Können Sie das in Einklang mit irgendwelchem logischen Denken bringen?"

"Nein, das kann ich nicht. Will es auch nicht. Ich bin Jude, vergessen Sie das nicht. Ich meine: nicht nur Jude der Religion nach, sondern auch Jude der Rasse nach, – und als solcher komme ich immer wieder zum alten Gott meiner Vorfahren zurück. Es liegt im Blut, und das Blut ist stärker als alle Logik. Freilich sagt mir mein Verstand, daß ich mit meinem Glauben in der Irre gehe, aber mein Glaube sagt mir auch, daß ich mit meinem Verstand in der Irre gehe."

"Und was täten Sie, wenn Ihnen, wie es dem Schuster Klinkherbogk geschehen ist, ein Wesen erschiene und Ihnen Ihr Handeln vorschriebe?" forschte Eva.

"An seiner Botschaft zu zweifeln versuchen. Wenn mir das gelänge, so würde ich seinem Rate nicht folgen."

"Wenn es Ihnen aber nicht gelänge?"

"Dann wäre meine Handlungsweise von selbst gegeben, nämlich: ihm zu gehorchen."

"Ich würde es auch dann nicht tun", murmelte Pfeill.

"Eine Denkungsart wie die Ihre müßte nur bewirken, daß Ihnen ein jenseitiges Wesen, wie der – nennen wir es: 'Engel' Klinkherbogks niemals erscheinen kann, aber seine stumme Weisung würden Sie trotzdem befolgen. Allerdings in der festen Überzeugung, aus eigener Machtvollkommenheit zu handeln!"

"Oder umgekehrt", widersetzte sich Pfeill, "Sie würden sich einbilden, Gott spräche zu Ihnen durch den Mund eines Phantoms mit grünem Gesicht, während in Wirklichkeit Sie selbst es wären."

"Wo soll da ein wesentlicher Unterschied liegen?" entgegnete Sephardi. "Was ist eine Mitteilung? Ein Gedanke in laute Worte gekleidet. – Und was ist ein Gedanke? Ein leises Wort. Also auch im Grunde nichts anderes, als eine Mitteilung. Wissen Sie so genau, daß ein Einfall, den Sie haben, tatsächlich in Ihnen geboren wird und nicht eine Mitteilung von irgendwoher ist? Ich halte es für mindestens ebenso wahrscheinlich, daß der Mensch nicht der Erzeuger, sondern nur ein Empfangsapparat – ein feiner oder ein grober – für alle Gedanken ist, die – nehmen wir einmal an: von der Erde als Mutter gedacht werden. Das gleichzeitige Auftreten ein und derselben Idee, wie es doch so häufig vorkommt, spricht Bände für meine Theorie. Sie freilich, wenn Ihnen so etwas passiert, werden immer sagen, Sie hätten ursprünglich den betreffenden Einfall gehabt und die anderen wären von Ihnen bloß angesteckt worden. Ich könnte darauf erwidern: Sie waren nur der erste, der diesen in der Luft liegenden Gedanken aufgefangen hat wie eine drahtlose Depesche vermittelst eines sensitiveren Gehirns, – die andern haben ihn ebenfalls aufgefangen; bloß später als Sie. – Je selbstbewußter und kraftvoller nun jemand ist, desto mehr wird er zu der Ansicht neigen, der eigne Schöpfer eines großen Gedankens zu sein; je schwächer und weicher hingegen, um so leichter wird er glauben, die betreffende Idee sei ihm – eingegeben worden. Im Grunde haben beide recht. Ich bitte, ersparen Sie mir das 'wieso'; ich möchte mich nicht gerne in die schwierige Erläuterung eines allen Menschen gemeinsamen Zentral-Ichs verlieren. – Was die Erscheinung des grünen Gesichts bei Klinkherbogk, als Übermittler einer Botschaft oder eines Gedankens, betrifft, – was, wie ich schon vorhin sagte, dasselbe ist – so verweise ich Sie auf die wissenschaftlich bekannte Tatsache, daß es zweierlei Kategorien von Menschen gibt: die eine, die in Worten, und die andere, die in Bildern denkt. Nehmen wir an, Klinkherbogk hätte sein Leben lang in Worten gedacht, und plötzlich will sich ihm ein völlig neuer Gedanke, für den es noch gar kein Wort gibt, aufdrängen – ihm 'einfallen', sozusagen; wie könnte sich dieser Gedanke anders kundgeben als durch die Vision eines redenden Bildes, das eine Verbindungsbrücke zu ihm sucht, – in Klinkherbogks, in Herrn Hauberrissers und in Ihrem Falle als ein Mann oder ein Porträt mit grünem Gesicht?"

"Gestatten Sie nur eine kurze Unterbrechung", bat Hauberrisser. – "Der Vater Fräulein van Druysens hat, wie Sie kurz nach Ihrem Eintritt im Laufe der Schilderung Ihres Besuchs bei Klinkherbogk erwähnten, den Mann mit dem erzgrünen Gesicht wörtlich den 'Urmenschen' genannt, – ich selbst hörte meine Vision im Vexiersalon sich mit einem ähnlichen Namen bezeichnen, – Pfeill glaubte, das Porträt des Ewigen Juden, also ebenfalls eines Wesens, dessen Ursprung weit in der Vergangenheit zurückliegt, gesehen zu haben, – wie erklären Sie, Herr Sephardi, diese höchst merkwürdige Übereinstimmung? Als einen von uns allen 'neuen' Gedanken, den wir nicht mit Worten, sondern nur durch ein Bild begreifen könnten, das sich unserem innern Auge darstellt? Ich für meinen Teil, so kindisch es Ihnen klingen mag, glaube viel eher: es ist ein und dasselbe spukhafte Geschöpf, das da in unser Leben getreten ist."

"Das glaube ich auch", stimmte Eva leise bei.

Sephardi dachte einen Augenblick nach. – "Die Übereinstimmung, die ich erklären soll, scheint mir zu beweisen, daß es ein und derselbe 'neue' Gedanke ist, der sich Ihnen allen dreien aufdrängen und verständlich machen wollte, beziehungsweise: noch machen will. Daß das Phantom unter der Maske eines Urmenschen auftritt, bedeutet, denke ich, nichts anderes, als: ein Wissen, eine Erkenntnis, sogar vielleicht eine außerordentliche seelische Fähigkeit, die einstmals in längst vergangenen Zeiten des Menschengeschlechts existiert hatte, bekannt war und in Vergessenheit geriet, will wiederum neu werden, und ihr Kommen in die Welt gibt sich als Vision einigen wenigen Auserlesenen kund. – Verstehen Sie mich nicht falsch, ich sage nicht, daß das Phantom etwa kein selbständig existierendes Wesen sein könnte, – im Gegenteil, ich behaupte sogar: jeder Gedanke ist ein solches Wesen. – Der Vater Fräulein Evas hat übrigens den Ausspruch getan: 'Er – der Vorläufer – ist der einzige Mensch, der kein Gespenst ist.'"

"Vielleicht verstand mein Vater darunter, dieser Vorläufer sei ein Wesen, das die Unsterblichkeit erlangt hat. Glauben Sie nicht?"

Sephardi wiegte bedächtig den Kopf. – "Wenn jemand unsterblich wird, Fräulein Eva, bleibt er als unvergänglicher Gedanke bestehen; gleichgültig, ob er zu unsern Gehirnen als Wort oder als Bild Zutritt zu erlangen vermag. Sind die Menschen, die auf Erden leben, unfähig, ihn zu erfassen oder zu 'denken', – so stirbt er deswegen noch nicht; er wird ihnen nur ferne gerückt. – – – Um auf den Disput mit Baron Pfeill zurückzukommen: ich wiederhole, ich kann als Jude von dem Gott meiner Väter nicht weg. Die Religion der Juden ist in ihrer Wurzel eine Religion selbstgewählter und absichtlicher Schwäche, – ist ein Hoffen auf Gott und das Kommen des Messias. Es gibt, ich weiß, auch einen Weg der Kraft. Baron Pfeill hat ihn angedeutet. Das Ziel bleibt dasselbe; in beide Fällen kann es erst erkannt werden, wenn das Ende erreicht ist. Falsch ist an sich weder der eine noch der andere Weg; unheilvoll wird er erst dann, wenn ein Schwacher, oder ein Mensch, der voll Sehnsucht ist wie ich, den Weg der Kraft wählt, und ein Starker den Pfad der Schwäche. Einstmals, zur Zeit Mosis, als es bloß Zehn Gebote gab, war es verhältnismäßig leicht, ein Zadik Tomim – ein vollkommen Gerechter – zu sein, heute ist es unmöglich, wie jeder fromme Jude weiß, der sich bemüht, die zahllosen rituellen Gesetze zu halten. Heute muß Gott uns helfen, sonst können wir Juden den Weg nicht mehr gehen. Die darüber klagen, sind Toren, – der Weg der Schwäche ist nun vollkommener und leichter geworden, und dadurch ist auch der Pfad der Kraft klarer, denn keiner, der sich selbst erkannt, kann sich mehr auf das Gebiet verirren, in das er nicht gehört. – Die Starken haben keine Religion mehr nötig; sie gehen frei und ohne Stock; diejenigen, die nur an Essen und Trinken glauben, brauchen ebenfalls keine Religion; sie haben sie noch nicht nötig. – Sie bedürfen keines Stockes, denn sie gehen nicht, sie bleiben stehen."

"Haben Sie nie etwas von einer Möglichkeit, die Gedanken zu beherrschen, gehört, Herr Sephardi?" fragte Hauberrisser, "ich meine es nicht im alltäglichen Sinne des sogenannten Sichbeherrschenkönnens, das man besser das Unterdrücken einer Gefühlswallung und so weiter nennen sollte. Ich denke dabei an das gewisse Tagebuch, das ich gefunden habe und von dem Pfeill vorhin erzählte."

Sephardi erschrak.

Er schien die Frage erwartet oder befürchtet zu haben, und warf einen schnellen Blick auf Eva.

In seinem Gesicht malte sich wiederum derselbe Ausdruck von Schmerz, den Baron Pfeill schon früher an ihm bemerkt hatte.

Dann raffte er sich auf, aber man hörte ihm an, wie er sich zum Reden zwang:

"Das Herrwerden über die Gedanken ist ein uralter heidnischer Weg zum wirklichen Übermenschentum, aber nicht zu jenem, von dem der deutsche Philosoph Nietzsche gesprochen hat. – Ich weiß nur sehr wenig darüber. Mir graut davor. – – In den letzten Jahrzehnten ist mancherlei über die 'Brücke zum Leben' – so lautet die echte Bezeichnung dieses gefahrvollen Pfades – von Osten her nach Europa gedrungen, aber zum Glück so wenig, daß keiner, der die ersten Schlüssel nicht hat, sich zurechtfinden könnte. Das Wenige hat schon genügt, um viele tausende Menschen, besonders Engländer und Amerikaner, die alle diesen Weg der Magie – es ist nichts anderes – erlernen wollten, außer Rand und Band zu bringen. Eine umfangreiche Literatur ist darüber entstanden und ausgegraben worden, zu Dutzenden laufen Schwindler aller Rassen herum, die sich als Eingeweihte gebärden, – aber, Gott sei Dank, noch weiß kein einziger, wo die Glocke hängt, die da läutet. – Scharenweise sind die Leute nach Indien und Tibet gepilgert, ohne zu wissen, daß dort das Geheimnis längst erloschen ist. Sie wollen es noch heute nicht glauben. – Wohl haben sie dort etwas gefunden, was einen ähnlichen Namen trägt, – aber es ist etwas anderes, das schließlich nur wieder zum Weg der Schwäche, den ich vorhin erwähnt habe, oder zu den Verwirrungen eines Klinkherbogk führt. Die paar alten Originalschriften, die darüber existieren, klingen sehr offenherzig, sind aber in Wahrheit der Schlüssel beraubt und der sicherste Zaun, um das Mysterium zu schützen. – Es hat auch einmal unter den Juden eine 'Brücke zum Leben' gegeben, und die Bruchstücke, die ich darüber kenne, stammen aus dem 11. Jahrhundert. Ein Vorfahre von mir, ein gewisser Salomon Gebirol Sephardi, dessen Lebensbeschreibung in unserer Familienchronik fehlt, hat sie in doppelsinnigen Randbemerkungen zu seinem Buch Megôr Hayyîm niedergelegt und wurde deshalb von einem Araber ermordet. Angeblich soll eine kleine Gemeinde im Orient, die in blaue Mäntel gekleidet geht und ihre Herkunft merkwürdigerweise von eingewanderten Europäern – Schülern der ehemaligen Goldenen und Rosen-Kreuzer – ableitet, das Geheimnis in seiner Gänze noch bewahren. – Sie nennen sich: Paradâ, das ist 'Einer, der zum andern Ufer hinübergeschwommen ist.'"

Sephardi stockte einen Moment und schien an einem Punkt in der Erzählung angelangt zu sein, über den hinwegzukommen, er seine ganze Kraft aufbieten mußte.

Er krampfte die Nägel in die Handflächen und sah eine Weile stumm zu Boden.

Endlich riß er sich auf, blickte Eva und Hauberrisser abwechselnd fest an und sagte klanglos:

"Wenn es aber einen Menschen gelingt, über die 'Brücke des Lebens' hinüberzuschreiten, so ist es ein Glück für die Welt. Es ist fast mehr, als wenn ihr ein Erlöser geschenkt wird. – Nur etwas ist vonnöten: ein einzelner kann dieses Ziel nicht erreichen, er braucht dazu – – eine Gefährtin. – Nur durch eine Verbindung männlicher und weiblicher Kräfte ist es überhaupt möglich. Darin liegt der geheime Sinn der Ehe, der der Menschheit seit Jahrtausenden verlorengegangen ist." – Die Sprache versagte ihm, er stand auf und trat ans Fenster, um sein Gesicht zu verbergen, ehe er scheinbar wieder ruhiger fortfahren konnte: " Wenn ich Ihnen beiden mit meinem geringen Wissen über dieses Gebiet jemals behilflich sein kann, so verfügen Sie über mich."


Wie ein Blitz trafen Eva seine Worte. – Sie verstand jetzt, was in ihm vorgegangen war. – Die Tränen schossen ihr in die Augen.

Daß Sephardi mit dem durchdringenden Scharfblick eines Menschen, der sein ganzes Leben in Abgeschlossenheit von der Außenwelt zugebracht, die Dinge, die sich zwischen Hauberrisser und ihr anbahnten, vorausgesehen hatte, lag auf der Hand. Was aber mochte ihn bewogen haben, die Entwicklung der aufkeimenden gegenseitigen Verliebtheit, die unausweichlich vor ihnen lag, auf so hemmungslose Weise abzukürzen, – sie beide fast brüsk zu einer Entscheidung zu drängen?

Wäre nicht sein ganzes Wesen so über jeden Zweifel erhaben echt gewesen, – hätte sie an den raffinierten Versuch eines eifersüchtigen Nebenbuhlers glauben müssen, der durch wohlberechnetes Dazwischenfahren ein sich spinnendes zartes Gewebe zerreißen will. –

Oder war es vielleicht der heroische Entschluß eines Menschen, der sich nicht stark genug fühlt, die langsame Marter allmählicher Entfremdung von einer heimlich geliebten Frau zu ertragen, und es vorzieht, selber ein Ende zu machen, statt vergeblich zu kämpfen?

Eine Ahnung drängte sich ihr auf, als müsse noch irgend etwas anderes der Grund seines schnellen Handelns sein, – etwas, was mit seinem Wissen über die "Brücke des Lebens" zusammenhing, von der er, offenbar absichtlich, mit so knappen Worten gesprochen hatte. – –

Sie gedachte der Worte Swammerdams vom plötzlichen Galoppieren des Schicksals; sie klangen ihr in den Ohren.

Als sie in der verflossenen Nacht vom Geländer der Gracht des Zee Dyk in die dunklen Wasser hinabgestarrt hatte, war der Mut über sie gekommen, dem Rat des alten Mannes zu folgen und mit Gott zu reden.

Was sie jetzt erlebte – war es bereits die Folge davon? – Eine bange Angst, daß es so sein müsse, erschreckte sie. – Das Bild der finstern Nikolaskirche, das eingesunkene Haus mit der eisernen Kette und der Mann in dem Boot, der sich so scheu vor ihr zu verbergen getrachtet hatte, huschte schreckhaft wie die Erinnerung an einen bösen Traum durch ihr Bewußtsein.

Hauberrisser stand am Tisch und ließ wortlos und erregt die Blätter eines Buches durch die Finger laufen.

Eva fühlte, daß es an ihr war, die peinliche Stille zu brechen.

Sie ging zu ihm, sah ihm fest in die Augen und sagte ruhig:

"Die Worte Doktor Sephardis solle nicht der Anlaß sein, daß eine befangene Stimmung zwischen uns Platz greift, Herr Hauberrisser; sie sind aus dem Mund eines Freundes gekommen. Was das Schicksal mit uns vorhat, können wir beide nicht wissen. Heute sind wir noch frei, ich wenigstens bin es; will uns das Leben zusammenführen, werden wir es weder ändern können noch wollen. – Ich sehe nichts Unnatürliches und nichts Beschämendes darin, diese Möglichkeit ins Auge zu fassen. – Morgen früh fahre ich nach Antwerpen zurück; ich könnte die Reise verschieben, aber es ist besser, wir kommen jetzt für längere Zeit nicht zusammen. Ich möchte nicht die Unsicherheit mit mir herumtragen, Sie oder ich hätten unter dem Eindruck einer kurzen Stunde voreilig ein Band geknüpft, das sich später nicht mehr ohne Schmerz lösen ließe. – Wie ich aus der Erzählung Baron Pfeills erfahren habe, sind Sie einsam – wie ich; lassen Sie mich das Gefühl mitnehmen, daß ich es von jetzt an nicht mehr bin und jemand Freund nennen darf, mit dem mich gemeinsam die Hoffnung verbindet, einen Weg zu suchen und zu finden, der jenseits der Alltäglichkeit liegt. – Und zwischen uns" – sie lächelte zu Sephardi hinüber, – "bleibt die alte, treue Freundschaft bestehen, nicht wahr?"

Hauberrisser ergriff die dargebotene Hand und küßte sie.

"Ich bitte Sie nicht einmal, Eva, – seien Sie mir nicht böse, daß ich Sie mit dem Vornamen nenne, – Sie möchten in Amsterdam bleiben und nicht reisen. Es wird das erste Opfer sein, das ich bringe, daß ich Sie am selben Tage noch verliere, wo ich Sie – – –"

"Wollen Sie mir den ersten Beweis Ihrer Freundschaft geben?" unterbrach Eva schnell; "dann reden Sie jetzt nicht mehr von mir. Ich weiß, daß es weder Höflichkeit noch leere Form ist, die Ihnen die Worte, die Sie sagen wollen, eingibt, – aber, bitte, beenden Sie den Satz nicht. Ich möchte, daß – die Zeit uns belehren soll, ob wir einander mehr sein werden als Freunde." – – –

Baron Pfeill war aufgestanden, als Hauberrisser zu sprechen begonnen hatte, und wollte unauffällig, um die beiden nicht zu stören, das Zimmer verlassen. Da er sah, daß ihm Sephardi nicht folgen konnte, ohne dicht an ihnen vorüberzugehen, trat er an das runde Ecktischchen neben der Tür und griff nach dem Zeitungsblatt.

Einen Ausruf der Bestürzung entfuhr ihm, nachdem er die ersten Zeilen durchflogen hatte:

"Am Zee Dyk ist heute nacht ein Mord geschehen!" –

Laut und die nebensächlichen Stellen eilig überspringend, las er den andern, die erschreckt aufhorchten, vor:

"Der Täter bereits entdeckt.

Wir bringen zu unserm Bericht in der Mittagsausgabe nachträglich folgendes:

Als der am Zee Dyk wohnhafte Privatgelehrte Jan Swammerdam noch vor Tagesanbruch die von ihm aus bisher unaufgeklärten Gründen von außen abgeschlossene Dachkammer Klinkherbogks aufsperren wollte, fand er sie halb offenstehen und erblickte beim Betreten des Zimmers die blutüberströmte Leiche der ermordeten kleinen Katje. Der Schuster Anselm Klinkherbogk war verschwunden, ebenso eine größere Summe Geldes, die er nach Aussage Swammerdams noch am Abend besessen hatte.

Der Verdacht der Polizei richtete sich sofort auf einen im Hause bediensteten Kommis, den eine Frau gesehen haben will, wie er sich mit einem Schlüssel in der Dunkelheit an der Tür der Dachkammer zu schaffen machte. Er wurde sofort in Haft genommen, aber bereits wieder in Freiheit gesetzt, da sich inzwischen der wirkliche Täter selbst gestellt hat.

Man vermutet, daß der greise Schuhmacher zuerst und hierauf sein Enkelkind, das vermutlich über dem Lärm erwacht war, ermordet worden ist. – Sein Leiche wurde offenbar aus dem Fenster hinab in die Gracht geschleudert. – Ein Abschleppen des Wassers führte bisher zu keinem Resultat, da der Grund an dieser Stelle mehrere Meter tief aus weichem Morast besteht.

Es ist nicht ausgeschlossen, wenn auch wenig wahrscheinlich, daß der Täter den Mord in einem Dämmerzustand begangen haben könnte, wenigstens sind seine Angaben vor dem Kommissär äußerst verworren. – Das Geld geraubt zu haben, gibt er zu. Es handelt sich also um einen Raubmord. Das Geld, man spricht von mehreren tausend Gulden, soll dem Schuster Klinkherbogk von einem stadtbekannten Verschwender geschenkt worden sein. – Eine Warnung, wie übel angebracht derartige Wohltäterlaunen oft sein können." – – –

Pfeill ließ das Blatt sinken und nickte traurig vor sich hin.

"Und der Täter?" fragte Fräulein van Druysen hastig. "Natürlich der grauenhafte Neger?"

"Der Täter?" – Pfeill schlug die Seite um. "Der Täter ist – – – dahier steht's: Als Täter bekannte sich ein alter russischer Jude, namens Eidotter, der ein Spirituosengeschäft im selben Hause betreibt. Es ist höchste Zeit, daß endlich am Zee Dyk usw. usw."

"Simon, der Kreuzträger?" rief Eva erschüttert. "Ich glaube nun und nimmer, daß er ein so scheußliches Verbrechen mit Vorbedacht hat begehen können!"

"Auch nicht in einem Dämmerzustand", murmelte Doktor Sephardi.

"Sie meinen also, es war der Kommis Hesekiel?"

"Der ebensowenig. Schlimmstenfalls wollte er mittels eines Nachschlüssels die Dachkammer aufsperren, um das Geld zu stehlen, und wurde im letzten Moment gestört. – Der Neger war der Mörder; es liegt auf der Hand."

"Was kann aber um Himmels willen den alten Lazarus Eidotter veranlaßt haben, sich für den Täter auszugeben?"

Doktor Sephardi zuckte die Achseln. – "Vielleicht glaubte er im ersten Schrecken, als die Polizei kam, Swammerdam habe den Schuster umgebracht, und wollte sich für ihn opfern. In einem Anfall von Hysterie. – Daß er nicht normal ist, habe ich auf den ersten Blick gesehen. Erinnern Sie sich, Fräulein Eva, was der alte Schmetterlingssammler über die Kraft gesagt hat, die im Namen verborgen liegt? – Eidotter braucht seinen Geistesnamen Simon nur eine genügend lange Zeit 'geübt' zu haben, und es ist keineswegs ausgeschlossen, daß sich in ihm infolgedessen die Idee eingewurzelt hatte, ein Opfer für andere zu bringen, wann immer sich die Gelegenheit ergeben würde. Ich bin sogar der Ansicht, daß der Schuster Klinkherbogk, bevor er selbst ermordet wurde, das kleine Mädchen im Religionswahnsinn getötet hat. – Er hat viele Jahre hindurch den Namen Abram geübt, das ist erwiesen, – hätte er statt dessen das Wort Abraham innerlich wiederholt, wäre die Katastrophe der Schlachtung Isaaks kaum eingetreten."

"Was Sie da sagen, ist mir ein vollkommenes Rätsel", fiel Hauberrisser ein; "ein Wort beständig in sich hineinsprechen, sollte das Schicksal eines Menschen bestimmen oder ändern können?"

"Warum nicht? Die Fäden, die die Taten eines Menschen lenken, sind gar fein. Was im ersten Buch Mosis über die Umänderung der Namen Abram in Abrahm und Sarai in Sarah steht, hat mit der Kabbala – oder eher noch mit andern, weit tiefern Mysterien zu tun. – Ich habe gewisse Anhaltspunkte, daß es falsch ist, die geheimen Namen auszusprechen, wie der Kreis Klinkherbogks es tut. – Wie Sie vielleicht wissen, bedeutetet jeder Buchstabe im Hebräischen gleichzeitig eine Zahl, zum Beispiel: S = 21, M = 13, N = 14. Wir sind also imstande, einen Namen in Ziffern zu verwandeln und aus diesen Verhältniszahlen in der Vorstellung geometrische Körper zu konstruieren: einen Würfel, eine Pyramide und so weiter. Diese geometrischen Formen sind es, die sozusagen das Achsensystem unseres bis dahin gestaltlosen Innersten werden können, wenn wir es in der richtigen Weise und mit der nötigen Gedankenwucht imaginieren. Wir machen dadurch unsere 'Seele' – ich habe keinen anderen Ausdruck dafür – zu einem Kristallgebilde und schaffen für die darauf bezüglichen ewigen Gesetze. – Die Ägypter haben sich die Seele in ihrer Vollendung als Kugel gedacht."

"Worin könnte nach Ihrer Ansicht, falls der bedauernswerte Schuster wirklich seine Enkelin getötet haben sollte", fragte Baron Pfeill sinnend, "der Fehler in der 'Übung' gelegen haben? Ist der Name Abram so grundverschieden von Abra–ham?"

"Klinkherbogk hat sich selbst den Namen Abram gegeben; er wuchs aus seinem eignen Unterbewußtsein hervor, daher das Verhängnis! Es fehlte das Von-oben-Herabkommen der Neschamah, wie wir Juden es nennen – des geistigen Hauches der Gottheit – hier in diesem Falle der Silbe 'ha'. In der Bibel wurde dem Abra–ham das Opfer des Isaak erlassen. Der Abram hätte zum Mörder werden müssen, so wie Klinkherbogk es geworden ist. – Klinkherbogk hat in seinem Durst, das Ewige Leben zu suchen, selber den Tod gerufen. – Ich sagte vorhin, wer schwach ist, soll nicht den Weg der Kraft gehen. Klinkherbogk ist von dem Pfade der Schwäche – des Wartens –, der für ihn bestimmt war, abgewichen."

"Aber irgend etwas muß doch für den armen Eidotter geschehen!" rief Eva. "Sollen wir denn untätig zusehen, wie er verurteilt wird?"

"So rasch geht das Verurteilen nicht", beruhigte sie Sephardi. "Morgen früh will ich zu dem Gerichtspsychiater Debrouwer – ich kenne ihn von der Universität her – gehen und mit ihm sprechen."

"Nicht wahr, Sie nehmen sich auch des armen alten Schmetterlingssammlers an und schreiben mir nach Antwerpen, wie es ihm geht?" bat Eva, stand auf und reichte nur Pfeill und Sephardi zum Abschied die Hand. "Und auf Wiedersehen in nicht allzu ferner Zeit."

Hauberrisser verstand sofort, daß sie von ihm begleitet zu sein wünschte, und half ihr in den Mantel, den der Diener hereingebracht hatte.


Die Kühle der Abenddämmerung lag feucht um die duftenden Linden, wie sie durch den Park schritten. Steinerne griechische Statuen schimmerten weiß aus dem Dunkel belaubter Bogengänge und träumten beim Plätschern der in den verirrten Lichtern der Bogenlampen vom Schlosse her silbrig glitzernden Fontänen.

"Darf ich Sie nicht zuweilen in Antwerpen besuchen kommen, Eva?" fragte Hauberrisser gepreßt und fast schüchtern. "Sie verlangen von mir, ich soll warten, bis die Zeit uns zusammenbringt. Glauben Sie, daß es durch Briefe besser geschieht, als wenn wir uns sehen? Wir fassen doch beide das Leben anders auf, als es die Menge tut, warum eine Wand zwischen uns schieben, die uns nur trennen kann?"

Eva wandte den Kopf ab. "Wissen Sie denn wirklich genau, daß wir füreinander bestimmt sind? – Das Zusammenleben zweier Menschen mag etwas sehr Schönes sein, – warum geschieht es dann so häufig, ja, beinah immer, daß es nach kurzer Zeit in Abneigung und Bitternis endet? – Ich habe mir schon oft gesagt, daß etwas Unnatürliches darin liegen muß, wenn ein Mann sich an eine Frau kettet. Es kommt mir so vor, als brächen ihm dadurch die Flügel. – – Bitte, lassen Sie mich zu Ende sprechen, ich kann mir denken, was Sie sagen wollen – –"

"Nein, Eva", unterbrach Hauberrisser rasch, "Sie irren; ich weiß, was Sie fürchten, das ich sagen könnte; Sie wollen nicht hören, was ich für Sie empfinde, und darum schweige ich auch darüber. – Die Worte Sephardis, so ehrlich sie gemeint waren und sosehr ich aus tiefstem Herzen hoffe, daß ihr Sinn in Erfüllung gehen möge, haben doch – ich fühle das immer schmerzlicher – eine fast unübersteigbare Schranke zwischen uns gesetzt. Wenn wir uns nicht mit aller Kraft bemühen, sie niederzureißen, wird sie dauernd zwischen uns stehen. Und doch bin ich eigentlich innerlich froh, daß es nicht anders gekommen ist. – Daß eine Ehe aus Nüchternheit zwischen uns geschlossen werden könnte, haben wir beide nicht zu befürchten; – was uns gedroht hat, – verzeihen Sie, Eva, daß ich die Worte 'wir' und 'uns' gebrauche, – war, daß uns die Liebe und der Trieb allein zusammengeführt hätten. – Doktor Sephardi hat recht gehabt, als er sagte, der Sinn der Ehe sei den Menschen verlorengegangen."

"Das ist doch, was mich quält", rief Eva. "Ich stehe ratlos und hilflos vor dem Leben wie vor einem gefräßigen, scheußlichen Ungeheuer. Alles ist schal und abgenützt. Jedes Wort, das man gebraucht, ist staubig geworden. Ich komme mir vor wie ein Kind, das sich auf eine Märchenwelt freut – und ins Theater geht und schminkebekleckste Komödiantinnen sieht. – Die Ehe ist zu einer häßlichen Einrichtung herabgesunken, die der Liebe den Glanz raubt und Mann und Frau zur bloßen Zweckmäßigkeit erniedrigt. Es ist ein langsames, trostloses Versinken im Wüstensand. – Warum ist es bei uns Menschen nicht auch wie bei den Eintagsfliegen?" – sie blieb stehen und blickte sehnsüchtig zu einem lichtbeglänzten Brunnen hin, den goldene Wolken schwärmerischer Falter wie ein wogender Feenschleier umgaben, – "Jahre kriechen sie als Würmer über die Erde, bereiten sich vor auf die Hochzeit, wie auf etwas Heiliges, – um einen einzigen kurzen Tag der Liebe zu feiern und dann zu sterben." – Sie hielt plötzlich inne und schauderte.

Hauberrisser sah an ihren dunkel gewordenen Augen, daß ein Gefühl tiefster Ergriffenheit über sie gekommen war. Er zog ihre Hand an seine Lippen.

Eine Weile stand sie regungslos, dann schlang sie langsam, wie in halbem Schlaf, beide Arme um seinen Nacken und küßte ihn. – – – –

"Wann wirst du mein Weib werden? Das Leben ist so kurz, Eva."

Sie gab keine Antwort, und ohne ein Wort zu sprechen, gingen sie nebeneinander her dem offenen Gittertor zu, vor dem der Wagen Baron Pfeills wartete, um Eva nach Hause zu bringen.

Hauberrisser wollte seine Frage wiederholen, ehe sie von ihm Abschied nahm; sie kam ihm zuvor, blieb stehen und schmiegte sich an ihn.

"Ich sehne mich nach dir", sagte sie leise, "wie nach dem Tod. Ich werde deine Geliebte sein, ich weiß es gewiß, – aber das, was die Menschen Ehe nennen, wird uns erspart bleiben."

Er faßte die Bedeutung ihrer Worte kaum; er war wie betäubt von dem Glück, sie in seinen Armen zu halten, – dann teilte sich ihm der Schauer mit, der noch in ihr lag, und er fühlte, daß sich ihm das Haar sträubte und sie beide von einem eisigen Hauch umfangen wurden, als nähme der Engel des Todes sie unter seine Schwingen und trüge sie beide weit weg von der Erde in die Blütengefilde einer ewigen Wonne.

Als er aus dem Zustand der Starrheit erwachte, wich das fremdartige, beseligende Verzücktsein des Sterbens, das er empfunden hatte wie einen alle Sinne verzehrenden Rausch, langsam von ihm, und an dessen Stelle trat, wie er dem Wagen nachblickte, der ihm Eva entführte, das Nagen einer unbestimmten, qualvollen Angst, sie nie mehr wiederzusehen.


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