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Siebzehntes Buch

Der Tod. Der geflügelte Vorläufer

I.

Im Herzen Frankreichs an der Loire lag das königliche Schloß Amboise. Am Abend, wenn die letzten Sonnenstrahlen sich im einsamen Flusse spiegelten und erloschen, schien der gelblich-weiße tourainische Stein, aus dem das Schloß erbaut war, von einem blaßgrünen, wie durch Wasser dringenden Lichtschein übergossen, geisterhaft leicht wie eine Wolke.

Von dem Eckturm sah man den Hegewald, Wiesen und Äcker zu beiden Seiten der Loire, wo im Frühling Felder roter Mohnblumen mit Feldern himmelblauer Flachsblüten abwechselten. Diese in einen feuchten Schleier gehüllte Ebene, mit den Reihen dunkler Pappeln und silbergrauer Weiden, erinnerte ebenso an die Ebenen der Lombardei, wie die grünen Gewässer der Loire an die der Adda erinnerten: nur war jene ein stürmischer, junger Gebirgsfluß, während diese auf ihren Sandbänken still und langsam dahinfloß und alt und müde erschien.

Am Fuße des Schlosses drängten sich die spitzen Dächer von Amboise, mit glatten schwarzen, in der Sonne glänzenden Schieferplatten und hohen Ziegelrauchfängen. In den winkelreichen engen, dunklen Gassen atmete alles das Mittelalter; unter den Gesimsen, den Wasserrinnen, in den Fensterecken, an den Türpfosten und Balken klebten kleine Männchen aus demselben weißen Stein wie das Schloß: lachende dicke Mönche, mit Flaschen und Rosenkränzen, mit untergeschlagenen Beinen und Holzschuhen, Gerichtsherren, ehrwürdige Doktoren der Theologie mit Pelerinen, besorgte und sparsame Bürger, mit vollen, an die Brust gepreßten Geldbeuteln. Genau dieselben Gesichter wie auf diesen Bildwerken waren in den Straßen der Stadt zu sehen: hier war alles bürgerlich wohlhabend, reinlich, geizig berechnend, kalt und fromm.

Wenn der König nach Amboise zur Jagd kam, belebte sich das Städtchen: in den Straßen wiederhallte Hundegebell, Pferdegetrabe und Hörnerklang; es schimmerten die bunten Gewänder der Höflinge; in den Nächten tönte aus dem Schloß Musik herüber, und die weißen, gleichsam aus Wolken aufgebauten Schloßmauern wurden von rotem Fackelschein beleuchtet.

Sobald aber der König verreiste, versank das Städtchen wieder in seine Stille; nur an Sonntagen gingen die Bürgerinnen in weißen Spitzenhauben, die mit Strohhalmen geklöppelt werden, zur Messe; an Wochentagen aber war die ganze Stadt wie ausgestorben: man hörte weder einen Schritt, noch eine Stimme; nur das Geschrei der um die weißen Schloßtürme kreisenden Schwalben oder das Rasseln einer Drehbank in einer dunklen Werkstatt störten die Stille. An Frühlingsabenden, wenn der frische Geruch der Pappeln aus den Vorstadtgärten herüberwehte, bildeten die Knaben und Mädchen, die beim Spielen ebenso steif wie die Erwachsenen waren, einen Kreis, faßten sich bei den Händen an, tanzten und sangen ein altes Liedchen von Saint-Denis, dem Schutzheiligen von Frankreich. Und die Apfelbäume hinter den Steinmauern streuten in der durchsichtigen Dämmerung ihre rosig weißen Blütenblätter auf die Kinderköpfe. Aber wenn das Lied verstummte, trat wieder eine solche Stille ein, daß man in der ganzen Stadt nur die gleichmäßigen metallenen Schläge der Uhr über dem Tore des Horlogeturmes und das Geschrei der wilden Schwäne auf den Sandbänken der blauen Loire, in der sich der blaßgrüne Himmel spiegelte, hörte.

Südöstlich vom Schloß, in einer Entfernung von etwa zehn Minuten, auf der Straße zur Mühle Saint-Thomase, befand sich ein zweites kleines Schloß, Du-Cloux, das einst dem Haushofmeister und Waffenträger König Ludwigs XI. gehört hatte.

Dieser Besitz war von der einen Seite durch eine hohe Mauer und von der anderen durch das Flüßchen Amas, einem Nebenfluß der Loire, begrenzt. Gerade vor dem Hause senkte sich eine feuchte Wiese zum Fluß hinab, rechts stand ein Taubenschlag; die Zweige der Weiden und Haselsträucher waren ineinander verflochten und das Wasser erschien in ihrem Schatten, trotz der schnellen Strömung, unbeweglich wie in einem Brunnen oder Teiche. Von dem dunklen Grün der Kastanien, Ulmen und Weiden hoben sich die rosa Ziegelwände des Schlosses mit der weißen gezackten Borte aus tourainischem Stein ab, die die Mauerecken, die Bogenfenster und Türen umrahmte. Das kleine Gebäude mit dem spitzen Schieferdache, mit der winzigen Kapelle rechts vom Haupteingang, mit dem achteckigen Türmchen, in dem sich eine hölzerne Wendeltreppe befand, die die acht unteren Gemächer mit derselben Zahl oberer verband, erinnerte an eine Villa oder an ein Landhaus. Es war vor etwa vierzig Jahren umgebaut worden und erschien von außen noch neu, heiter und freundlich.

Dieses Schloß wurde von Franz I. Leonardo da Vinci überlassen.

II.

Der König empfing den Künstler freundlich, unterhielt sich mit ihm lange über seine früheren und künftigen Arbeiten und nannte ihn ehrfurchtsvoll seinen »Vater« und »Meister«.

Leonardo machte dem König den Vorschlag, das Schloß Amboise umzubauen und einen großen Kanal anzulegen, der die benachbarte sumpfige Gegend Sologne, eine unfruchtbare Wüste, in der ständig Fieber herrschte, in einen blühenden Garten verwandeln sollte; die Loire würde mit der Mündung der Sâone bei Maçon vereinigt, das Herz Frankreichs, die Touraine, durch das Gebiet von Lyon mit Italien verbinden und so einen neuen Weg aus Nordeuropa zum Mittelländischen Meer bilden. Leonardo hoffte dieses fremde Land mit jenen Gaben der Wissenschaft zu beglücken, die seine Heimat zurückgewiesen hatte.

Der König willigte in diesen Vorschlag ein und der Künstler ging sofort nach seiner Ankunft in Amboise an die Erforschung der Gegend. Während König Franz seinen Jagden oblag, studierte Leonardo die Gestaltung und Beschaffenheit des Bodens in Sologne bei Romorantin, den Lauf der Nebenflüsse der Loire und der Cher, maß den Wasserstand und entwarf Zeichnungen und Karten.

Bei seinen Wanderungen in dieser Gegend kam er einmal nach Loches, einem kleinen Städtchen, das südlich von Amboise, am Ufer des Indre, inmitten der weiten Wiesen und Wälder der Touraine gelegen war. Hier befand sich das alte königliche Schloß mit dem Kerkerturm, wo der Herzog der Lombardei, Lodovico Moro, acht Jahre in der Gefangenschaft geschmachtet hatte und gestorben war.

Der alte Gefängniswärter erzählte Leonardo, wie Moro einen Fluchtversuch unternommen, indem er sich in einen Wagen mit Stroh versteckt hatte; da er jedoch die Wege nicht kannte, verirrte er sich im nahen Walde; am folgenden Morgen holten ihn die Häscher ein und die Jagdhunde fanden ihn im Gesträuch.

Seine letzten Lebensjahre hatte der Herzog von Mailand in frommen Betrachtungen, in Gebeten und bei der Lektüre des Dante verbracht, des einzigen Buches, das man ihm aus Italien mitzunehmen erlaubt hatte. Mit fünfzig Jahren war er schon ein Greis. Nur selten, wenn die Gerüchte von den politischen Umwälzungen zu ihm drangen, leuchtete in seinen Augen das frühere Feuer auf. Am 17. Mai 1508 verschied er sanft nach einer kurzen Krankheit.

Nach den Worten des Gefängniswärters hatte Moro einige Monate vor dem Tode einen seltsamen Zeitvertreib erfunden: er bat sich Pinsel und Farben aus und begann die Wände und das Gewölbe des Gefängnisses zu bemalen.

Leonardo fand auf dem vor Feuchtigkeit abgebröckelten Mörtel hie und da Spuren dieser Malerei – komplizierte Muster, Streifen, Striche, Kreuze und Sterne, rot auf weißem und gelb auf blauem Grund; in der Mitte war ein großer Kopf eines römischen Kriegers in einem Helm zu sehen, wohl ein mißlungenes Selbstbildnis des Herzogs, mit einer Inschrift in gebrochenem Französisch:

»Meine Devise in der Gefangenschaft und in den Leiden lautet: Meine Waffe ist meine Geduld.«

Eine zweite, noch unorthographischere Inschrift lief an der ganzen Decke entlang und bestand zuerst aus ungeheuren, drei Ellen langen gelben Buchstaben in altertümlicher Steilschrift:

Celui qui. –

Da der Platz nicht ausreichte, folgte darauf in kleinen, schmalen Lettern:

n´est pas contan.

»Derjenige der unglücklich ist.«

Beim Lesen dieser kläglichen Inschriften und beim Betrachten der plumpen Zeichnungen, die an die Kritzeleien erinnerten, mit denen Schulkinder ihre Hefte vollschmieren, dachte der Meister daran, wie Moro vor vielen Jahren mit einem gutmütigen Lächeln die Schwäne im Graben der Mailänder Zitadelle betrachtet hatte.

»Wer weiß, ob in der Seele dieses Menschen nicht eine solche Liebe zum Schönen gewohnt hat, daß sie ihn vor dem himmlischen Gericht rechtfertigen könnte?« dachte Leonardo.

Während er über das Schicksal des unglückseligen Herzogs nachsann, mußte er auch daran denken, was er einst von einem aus Spanien kommenden Reisenden über den Sturz seines anderen Gönners, des Cesare Borgia, gehört hatte.

Der Nachfolger Alexanders VI., Papst Julius II., lieferte Cesare verräterisch seinen Feinden aus. Man brachte ihn nach Castilien und steckte ihn in den Turm Medina del Campo.

Er floh mit unglaublicher Geschicklichkeit und Waghalsigkeit, indem er sich aus dem Fenster des Gefängnisses, aus schwindelnder Höhe, an einem Seil herabgleiten ließ. Die Gefängniswärter aber schnitten den Strick noch rechtzeitig entzwei. Er fiel hinab, schlug sich wund, behielt jedoch Geistesgegenwart genug, nach Wiedererlangung des Bewußtseins zu den von seinen Mitverschworenen vorbereiteten Pferden hinzukriechen und fortzugaloppieren. Er erschien in Pampeluna am Hofe seines Schwagers, des Königs von Navarra, und trat als Condottiere in seine Dienste. Die Nachricht von Cesares Flucht erfüllte ganz Italien mit Entsetzen. Der Papst zitterte. Man setzte auf den Kopf des Herzogs zehntausend Dukaten aus.

An einem Winterabend des Jahres 1507 drang Cesare bei einem Handgemenge mit Beaumonts französischen Söldlingen unter den Mauern von Viana in die feindlichen Reihen ein; die Seinigen verließen ihn und man trieb ihn in einen Graben, das Bett eines ausgetrockneten Flusses, wo er, wie ein gehetztes Wild, sich bis zuletzt mit verzweifeltem Mut verteidigte und endlich, aus mehr als zwanzig Wunden blutend, fiel. Beaumonts Söldlinge rissen ihm die Rüstung und die Kleider, von deren Pracht verlockt, vom Leibe und ließen den nackten Leichnam im Graben liegen. Als die Navarrer des Nachts die Festung verließen, fanden sie die Leiche, die sie anfangs nicht erkannten. Endlich erkannte der kleine Page Giuanico seinen Herrn, stürzte sich auf den Körper und umarmte ihn schluchzend, denn er hatte Cesare geliebt.

Das gen Himmel gerichtete Antlitz des Toten war schön: er schien ebenso gestorben zu sein, wie er gelebt hatte, – ohne Furcht und ohne Reue.

Die Herzogin von Ferrara, Madonna Lucrezia Borgia, beweinte den Bruder ihr ganzes Leben lang. Als sie starb, fand man an ihrem Körper ein härenes Hemd.

Valentinos junge Witwe, die französische Prinzessin Charlotte d'Albery, die in den wenigen Tagen, die sie mit Cesare verlebt hatte, ihn wie eine neue Griseldis treu bis zum Tode liebgewonnen hatte, zog sich, als sie vom Tode ihres Gemahls erfuhr, als ewige Einsiedlerin in das Schloß La-Motte-Feuilly zurück, das in der Tiefe eines einsamen Parks lag, wo die welken Blätter im Winde raschelten; sie verließ ihre mit schwarzem Samt ausgeschlagenen Gemächer nur, um in den benachbarten Dörfern Almosen auszuteilen und die Armen zu bitten, für Cesares Seelenheil zu beten.

Auch die Untertanen des Herzogs in der Romagna, die halbwilden Hirten und Feldarbeiter in den Schluchten der Apenninen, bewahrten ihm eine dankbare Erinnerung. Sie wollten lange nicht an seinen Tod glauben, erwarteten ihn als ihren Befreier, als einen Gott und hofften, er würde früher oder später zu ihnen zurückkehren, um die Gerechtigkeit auf Erden wieder herzustellen, die Tyrannen zu stürzen und das Volk in Schutz zu nehmen. Die Bettler sangen in den Städten und Dörfern »die tränenvolle Klage über Herzog Valentino«, in welcher auch der Vers vorkam:

Fe cose extreme, ma senza misura.
Seine Taten waren ungeheuerlich, aber unendlich erhaben.

III.

Der Umbau des Schlosses von Amboise und der Kanalbau in der Sologne nahmen ein ebenso unrühmliches Ende, wie beinahe alle Unternehmungen Leonardos.

Vorsichtige Ratgeber hatten den König von der Unausführbarkeit der zu kühnen Pläne Leonardos überzeugt; er verhielt sich diesen gegenüber nach und nach kühler, fühlte sich enttäuscht und vergaß sie bald ganz. Der Künstler begriff, daß er von König Franz, trotz all seiner Liebenswürdigkeit, nicht mehr zu erwarten habe, als von Moro, Cesare, Soderini, Medici und Leo X. Er gab die letzte Hoffnung auf, verstanden zu werden und den Menschen auch nur einen kleinen Teil von dem zu geben, was er für sie das ganze Leben lang gesammelt hatte; er beschloß, sich unwiderruflich in seine Einsamkeit zurückzuziehen und jeder Tätigkeit zu entsagen.

Im Frühjahr 1517 kehrte er krank, vom Fieber, das er sich in den Sümpfen der Sologne zugezogen hatte, ermattet, in das Schloß Du-Cloux zurück. Gegen Sommer trat bei ihm eine Besserung ein. Er erlangte jedoch nie wieder die vollständige Gesundheit.

Der Hegerwald von Amboise begann fast an den Mauern von Du-Cloux, hinter dem Flusse Amas.

Jeden Nachmittag verließ Leonardo, sich auf Francesco Melzis Arm stützend, (denn er war noch immer schwach), das Haus und begab sich auf einem einsamen Pfad tief in das Waldesdickicht hinein, wo er sich auf einen Stein setzte. Der Schüler legte sich zu seinen Füßen ins Gras und las ihm aus Dante, aus der Bibel oder aus irgend einem alten Philosophen vor.

Rings war es dunkel; nur dort, wo ein Sonnenstrahl durch das Dickicht drang, leuchtete auf einer fernen Lichtung plötzlich eine bis dahin unsichtbare, üppige Blume, wie eine Kerze in violetten oder roten Flammen auf, und das Moos in der Höhlung eines vom Sturme gestürzten halbverfaulten Baumes funkelte wie Smaragden.

Es war ein heißer, gewitterschwüler Sommer; doch die Wolken zogen über den Himmel, ohne sich als Regen zu ergießen.

Wenn Francesco die Vorlesung unterbrach und verstummte, trat im Walde eine Stille ein, wie in der tiefsten Mitternacht. Nur ein Vogel, wohl eine Mutter, die ihr Junges verloren hatte, wiederholte seine wehmütige Klage, als ob er weinte. Doch auch er verstummte endlich. Es wurde noch stiller. Es war schwül. Der Geruch der verwesenden Blätter, der Pilze, der dunstigen Feuchtigkeit und der Fäulnis benahm den Atem. Ab und zu ertönte das kaum hörbare Grollen eines fernen, gleichsam unterirdischen Donners.

Der Schüler erhob die Augen zum Meister: dieser saß regungslos, wie erstarrt, der Stille lauschend da und umfing den Himmel, die Blätter, die Steine, die Gräser und die Moose mit einem Abschiedsblick, als sähe er sie zum letzten Mal vor der ewigen Trennung.

Auch Francesco unterlag nach und nach der Erstarrung und dem Zauber der Stille. Er sah wie im Traum das Antlitz des Meisters; es schien sich vor ihm immer mehr zu entfernen und sich immer tiefer in die Stille, wie in einen dunklen Abgrund, zu versenken. Er wollte erwachen und konnte es nicht. Ihm wurde bange, als ob etwas Verhängnisvolles, Unentrinnbares nahte, als ob in dieser Stille der betäubende Schrei des Gottes Pan erschallen sollte, vor dem alles Lebende in wildem Entsetzen flieht.

Wenn es ihm endlich gelang, die Erstarrung durch eine Willensanstrengung zu überwinden, preßte ihm eine bange Ahnung und ein unbegreifliches Mitleid mit dem Meister das Herz zusammen. Er drückte schüchtern und schweigend die Lippen auf seine Hand.

Und Leonardo sah ihn an und streichelte ihm, wie einem erschrockenen Kinde, den Kopf; er tat es so wehmütig und zärtlich, daß Francescos Herz sich noch hoffnungsloser zusammenkrampfte.

In diesen Tagen begann der Meister ein seltsames Bild.

Unter einem Vorsprung überhängender Felsen, in dem kühlen Schatten inmitten reifender Kräuter, in der Stille des atemlosen Mittags, der geheimnisvoller als die tiefste Mitternacht ist, saß der rebenbekränzte Gott, mit einem beinahe weiblichen Körper, mit bleichem, schmachtendem Gesicht, mit einem gefleckten Rehfell um die Lenden und mit einem Thyrsusstab in der Hand; er hatte die Beine übereinander geschlagen und schien mit gesenktem Haupte zu lauschen, wobei er ganz Neugierde und Erwartung war und mit einem unergründlichen Lächeln mit dem Finger dorthin wies, woher der Laut kam; vielleicht war es der Gesang der Mänaden, oder das Grollen eines fernen Donners, oder die Stimme des großen Pan, jener betäubende Schrei, vor dem alles Lebende in wildem Entsetzen flieht.

Leonardo fand in Beltraffios Schatulle einen Amethyst mit einer gravierten Darstellung des Bacchus, wahrscheinlich ein Geschenk der Monna Kassandra.

In derselben Schatulle befanden sich einzelne Blätter mit Versen aus den »Bacchantinnen« des Euripides, die aus dem Griechischen übersetzt und von Giovanni eigenhändig abgeschrieben waren. Leonardo überlas diese Fragmente einige Male.

In der Tragödie erscheint Bacchus, der jüngste der olympischen Götter, der Sohn des Donnerers und Semeles, den Menschen in der Gestalt eines mädchenhaften, berückend schönen Jünglings, eines Ankömmlings aus Indien. Pentheus, der König von Theben, läßt ihn ergreifen, um ihn hinzurichten, weil er unter dem Vorwand einer neuen bacchischen Weisheit, den Menschen barbarische Mysterien, den Wahnsinn blutiger und wollüstiger Opfer predigt.

»O Fremdling«, – spricht Pentheus spöttisch zum unerkannten Gott, – »du bist schön und besitzst alles, was die Frauen verführt: deine langen Haare fallen schmachtend auf deine Wangen; du verbirgst dich wie ein Mädchen vor den Sonnenstrahlen und erhältst dir im Schatten dein Gesicht weiß, um Aphrodite zu fesseln.«

Der Chor der Bacchantinnen verherrlicht, dem ruchlosen König zum Trotz, Bacchus, als »den furchtbarsten und barmherzigsten unter den Göttern, der den Sterblichen im Rausche die vollkommenste Freude verleiht.«

Auf denselben Blättern befanden sich neben den Versen des Euripides Abschriften aus der Bibel von Giovanni Beltraffios Hand.

So aus dem Hohenlied: »Trinket, meine Freunde, und werdet trunken!«

Aus dem neuen Testament:

»Wahrlich ich sage euch, daß ich hinfort nicht trinken werde vom Gewächse des Weinstocks bis auf den Tag, da ich's neu trinke in dem Reich Gottes.«

»Ich bin der rechte Weinstock, und mein Vater der Weingärtner.«

»Mein Blut ist der rechte Trank.«

»Wer trinket mein Blut, der hat das ewige Leben.«

»Wen da dürstet, der komme zu mir, und trinke!«

Leonardo ließ den Bacchus unvollendet und begann ein anderes, noch seltsameres Bild, Johannes den Täufer.

Er arbeitete daran mit einem für ihn so ungewöhnlichen Eifer und mit einer solchen Unruhe, als ahnte er, daß seine Tage gezählt seien und daß seine Kräfte mit jedem Tage nachließen. Er beeilte sich, in diesem seinem letzten Werk sein heiligstes Geheimnis zu enthüllen, das er nicht nur den Menschen, sondern auch sich selbst sein ganzes Leben lang verschwiegen hatte.

Nach einigen Monaten war die Arbeit so weit gediehen, daß man bereits die Idee des Meisters erkennen konnte.

Der Hintergrund des Bildes erinnerte an das Dunkel jener Furcht und Neugierde erweckenden Höhle, von der er einst Monna Lisa erzählt hatte. Aber dieses Dunkel, das zuerst undurchdringlich erschien, wurde, je länger sich der Blick hineinsenkte, immer durchsichtiger, so daß die schwärzesten Schatten, die dabei ihr ganzes Geheimnis beibehielten, mit dem weitesten Licht zusammenflossen, darüber hinwegglitten und mit ihm wie Rauch, wie Klänge ferner Musik verschmolzen. Und hinter dem Schatten und dem Licht erschien das, was nach Leonardos Ausspruch weder Licht noch Schatten, sondern »ein lichter Schatten« oder »ein dunkles Licht« war. Und gleich einem Wunder, doch wirklicher als alles, was existiert, gleich einem Gespenst, doch lebendiger als das Leben selbst, traten aus diesem lichten Dunkel das Gesicht und der nackte Körper des mädchenhaften, berückend schönen Jünglings hervor, der an die Worte des Pentheus erinnerte:

»Deine langen Haare fallen schmachtend auf deine Wangen; du verbirgst dich wie ein Mädchen vor den Sonnenstrahlen und erhältst dir im Schatten dein Gesicht weiß, um Aphrodite zu fesseln.«

Wenn es aber Bacchus sein sollte, warum waren dann seine Lenden nicht mit dem gefleckten Rehfell bekleidet, sondern mit einem Gewand aus Kamelhaar? Warum hielt er statt des Thyrsus der bacchischen Orgien ein Kreuz aus dem Rohr der Wüste, das Urbild des Golgathakreuzes, in der Hand? Warum schien er mit gesenktem Haupte, ganz Neugierde, ganz Erwartung zu lauschen, während er mit einem halb traurigen, halb spöttischen Lächeln mit der einen Hand auf das Kreuz und mit der anderen auf sich hinwies, als wollte er sagen: »Es kommt aber ein Stärkerer nach mir, dem ich nicht wert bin, die Riemen seiner Schuhe zu lösen.«

IV.

Im Frühjahr 1517 wurden in Amboise zu Ehren der Geburt eines Sohnes Königs Franz I., große Festlichkeiten abgehalten. Der Papst war als Taufpate geladen. Er beauftragte seinen Neffen, den Sohn Giulianos, Lorenzo Medici, den Herzog von Urbino, der mit der französischen Prinzessin Madeleine, der Tochter des Herzogs von Bourbon, verlobt war, ihn zu vertreten.

Unter den Gesandten der verschiedenen europäischen Staaten wurde zu diesen Festlichkeiten auch der russische Gesandte, Nikita Karatschjarow, aus Rom erwartet, wo er sich am Hofe seiner Heiligkeit befand.

Leo X. hatte mit dem Großfürsten von Moskowien, Wassilij Joannowitsch, schon längst Beziehungen angeknüpft, da er auf ihn, als auf einen mächtigen Verbündeten in der Liga der europäischen Fürsten gegen den Sultan Selim rechnete, der durch die Eroberung Ägyptens gestärkt, Europa mit einem Überfall bedrohte. Der Papst gab sich auch einer anderen Hoffnung hin: es war dies die Vereinigung der Kirchen. Obwohl ihm der Großfürst zu dieser Hoffnung gar keinen Anlaß gab, schickte Leo X. doch zwei durchtriebene Dominikaner, die Brüder Schombergh, nach Moskau. Der römische Pontifex schwor, die Riten und Dogmen der östlichen Kirche nicht anzutasten, wenn Moskau sich nur herbeiließe, die geistliche Oberherrschaft Roms anzuerkennen; er versprach, einen unabhängigen russischen Patriarchen zu ernennen, den Großfürsten mit der Königskrone zu krönen und ihm, im Falle der Eroberung Konstantinopels, diese Stadt abzutreten. Da der Großfürst das Buhlen des Papstes um seine Gunst für vorteilhaft hielt, schickte er zu ihm zwei Gesandte, Dmitrij Gerassimow und Nikita Karatschjarow, – denselben, der vor zwanzig Jahren auf der Durchreise durch Mailand im Gefolge des Danilo Mamyrow dem Feste des Goldenen Zeitalters beigewohnt und sich mit Leonardo über Moskowien unterhalten hatte.

Dmitrij Gerassimow, mit dem Spitznamen Mitja der Dolmetscher, ein in den heiligen Büchern wie in diplomatischen Geschäften gleich erfahrener Mann, hatte in seiner Jugend im Auftrage des Erzbischofs von Nowgorod, Gennadij, Italien bereist, zwei Jahre »zum Zwecke gewisser notwendiger Ausforschungen« in Venedig, Rom und Florenz verbracht und die dort gesammelten Erhebungen über das zwiefache und dreifache Halleluja, die Ostergrenztafel für das achte Jahrtausend und die berühmte Novelle von der »Weißen Mönchskappe« nach Nowgorod mitgebracht. Später, in hohem Alter, hatte dieser Gerassimow dem italienischen Schriftsteller Paolo Giovio verschiedene Mitteilungen über Rußland gemacht.

Der Hauptzweck der russischen Gesandtschaft in Rom war in einem Handschreiben des Großfürsten angegeben: »es sollen geschickte Erzkundige und Architekten nach Moskau mitgebracht werden; auch ein sachkundiger Meister, der Städte zu stürmen versteht; außerdem ein zweiter Meister, der aus Kanonen schießen kann, ein geschickter Steinmetz, um fürstliche Gemächer zu bauen und ein Silberarbeiter, der große Gefäße zu treiben und zu bemalen versteht; auch soll man einen Medicus und einen Organisten ausfindig machen.«

Als erster Sekretär war bei Karatschjarow der Schreiber des auswärtigen Amtes, Ilja Potapytsch Kopyla, ein alter Mann von sechzig Jahren, angestellt. Er hatte zwei jüngere Schreiber unter sich: Ewtichij Païssejewitsch Gagara und Ilja Potapytschs Großneffen, Fjodor Ignatjewitsch Rudomjotow, mit dem Spitznamen Fedjka der Gebratene.

Alle drei waren von der gleichen Liebe zu der kirchlichen Malerei erfüllt. Fjodor und Ewtichij waren selbst tüchtige Meister in diesem Fach, während Ilja Potapytsch ein feiner Kenner war.

Ewtichij war der Sohn einer armen Witwe, einer Hostienbäckerin an der Verkündigungskirche zu Uglitsch. Nach dem Tode seiner Mutter gänzlich verwaist, wurde er vom Küster derselben Kirche, Wassian Eleasorow, großgezogen. Er kam zu einem Mönch, Prochor aus Gorodez, »zur Erlernung der Darstellung von Heiligen« in die Lehre. Dieser Mönch war ein braver Mann, aber ein ungeschickter Maler, auf den die in dem Handbuch für Ikonenmalerei enthaltene Charakteristik des heiligen Antonij Sijskij paßte: »der Heilige war in diesem Handwerk nicht gewandt, sintemalen seine Ikonenmalerei einfältig war; er hat sich mehr im Fasten und im Gebet geübt und dies ersetzte bei ihm den Mangel an Kunst.«

Vom greisen Prochor ging Ewtichij zum Mönch Danila Tschornij über, der die Kirchen des Spasso-Androniker Klosters ausmalte und ein Schüler des größten allrussischen Meisters Andrej Rubljow war. Er machte alle Stufen der Wissenschaft durch, von den Dienstleistungen eines einfachen Arbeiters, der Wasser trägt und Farben reibt, bis zum Zeichner und erreichte, dank seinem angeborenen Talent, eine solche Fertigkeit, daß man ihn nach Moskau berief, wo er in dem Gemache des Patriarchen-Hauses, in dem der Chrisam zubereitet wurde, ein Altarbild malen sollte, das den Heiland zwischen der heiligen Jungfrau und Johannes dem Täufer darstellte.

Hier schloß er mit Fjodor Ignatjewitsch Rudomjotow, – Fedjka dem Gebratenen, – Freundschaft. Dieser war ebenfalls ein junger Ikonenmaler, »ein guter Meister der perspektivischen Kunst«, der in demselben Gemach die Mauern »mit Blumenmuster auf Goldgrund« schmückte.

Rudomjotow führte den Kameraden im Hause des Bojaren Fjodor Karpow ein, der bei der Nikolajkirche nächst der Bolwanowka wohnte. Fedjka bemalte im Hause dieses Bojaren die Decke in der Eßstube mit den Darstellungen der »himmlischen Bewegung der Gestirne, der zwölf Monate und der himmlischen Kreise« ; auch malte er allerlei »Parabeln aus dem Leben und Preospektivische Gleichnisse«, »Blumen und Gräser« und Landschaften, was dem Verbot der alten Meister zuwiderlief, die den Ikonenmalern die Darstellung von Gegenständen und Personen jeder Art, mit Ausnahme von Heiligen, untersagten.

Fjodor Karpow war mit dem Deutschen Nikolaus Buljew, dem Lieblingsarzt des Großfürsten Wassilij Iwanowitsch, befreundet.

Dieser Buljew, ein »Lästerer und Lateiner«, äußerte sich, wie der Gelehrte Maxim der Grieche es nannte, »unzüchtig über den orthodoxen Glauben«, indem er die Wiedervereinigung der Kirchen anstrebte. Die frommen Moskauer Bürger behaupteten, daß der Bojare Fjodor unter dem Einflusse des Deutschen Buljew »zum Lateiner« geworden sei, sich mit Sternkunde, Erdmeßkunst, Geometrie, Astronomie, Zauberei, schwarzer Magie und mit vielen anderen »hellenischen Fabeldichtungen« befasse, und sich an ketzerische, von der Kirche verbotene Bücher und an »allerlei andere teuflische Künste und Weisheiten, die den Menschen von Gott entfernen«, halte.

Er wurde auch der Zugehörigkeit zur Judensekte beschuldigt. Der Bojare Fjodor gewann die jungen Ikonenmaler, Fedjka Rudomjotow und Tischa (Ewtichij) Gagara lieb. Da er der Meinung war, daß Reisen in fremden Ländern für ihre Kunst von großem Nutzen sein könnte, verschaffte er ihnen das Amt von Schreibern am Auswärtigen Amt.

Fedjka begann noch in Moskau, in Karpows Hause in seinem Glauben zu schwanken, da er dort »fremdländische Wunderdinge und ketzerische Bücher« zu sehen bekam und oft freigeistigen Gesprächen über die Judensekte beiwohnte. Im Auslande, im Angesicht der Wunder der italienischen Städte Venedig, Mailand, Rom und Florenz, wurde er aber ganz wirr, verlor den Kopf und lebte in stetem Staunen, »in geistiger Verzückung«, wie Ilja Potapytsch sich ausdrückte. Er besuchte mit der gleichen Andacht Spielhöllen, Bibliotheken, alte Dome und Bordelle. Er stürzte sich auf alles mit der Neugierde eines Kindes, und der Gier eines Barbaren. Er erlernte Lateinisch und trug sich mit dem Gedanken herum, welsche Kleider anzulegen und sich sogar seinen Bart zu rasieren, was eine Todsünde bedeutete, »wenn sich jemand den Bart rasiert und so stirbt«, – warnte Ilja Potapytsch den Neffen, »so ist er nicht wert, daß man für ihn betet oder Messen liest; man darf auch keine Hostie und keine Kerze für seine Seele in die Kirche bringen. Wer seine Mannesgestalt entstellt und so den Buhlerinnen oder den Katzen und Hunden gleich wird, die lange Schnurrbärte, aber keine Bärte haben, zählt zu den Ungläubigen.«

Fedjka begann damit, daß er ganz unnötig fremdländische Worte gebrauchte. Er prahlte mit den Kenntnissen, »tat gelahrt«, sprach von »Alchimie«, davon »wie man Gold macht«, von der Dialektik, »einer gelehrten Deutungsmethode, mit der man die Wahrheit ausfindig macht«, der »Sophisterei, die das der menschlichen Natur Unfaßbare aufdeckt.«

»In Moskau gibt es keine Menschen«, – beklagte er sich bei Ewtichij, – »es ist ein dummes Volk, mit dem man nicht leben kann.«

Wenn er angeheitert war, liebte er Untersuchungen über Glaubensfragen anzustellen und verschiedene Zweifel zu äußern.

»Ich habe Philosophie studiert und das macht mich stolz«, gestand er ein, »ich weiß alles, was auch irgendwo geschieht!«

In seinen »Untersuchungen über Glaubensfragen« gelangte er zu solcher Freigeisterei, daß er sich nicht mehr mit der ausländischen »Sophisterei« begnügte, sondern die noch extremeren Ansichten der eigenen russischen Philosophen, der Anhänger der Jüdischen Irrlehre predigte. Diese Sektierer behaupteten, Jesus Christus wäre noch nicht geboren, wenn er aber auf die Welt käme, würde er sich »nach der Gnade und nicht nach dem Wesen« Sohn Gottes nennen; »derjenige aber, den die Christen Jesus Christus und Gott heißen, sei ein gewöhnlicher Mensch und kein Gott gewesen; er sei gestorben und im Sarge verwest«; sie hielten auch daran fest, daß man weder die Ikonen, noch das Kreuz und den Kelch anbeten dürfte: »man soll sie wohl achten; aber anbeten darf man nur den einzigen Gott«; man solle auch keinerlei irdische Obrigkeit anerkennen. Fedjka führte dann die Worte über die Unsterblichkeit der Seele und über das Leben im Jenseits an, die dem Moskauer Metropoliten Sossima, der angeblich der Judensekte angehörte, zugeschrieben wurden:

»Und wie verhält es sich mit dem Himmelreich? Und mit dem jüngsten Gericht? Und mit der Auferstehung der Toten? Das alles existiert nicht. Wenn jemand tot ist, ist er tot und rührt sich nicht von der Stelle.«

Vor dem Onkel, Ilja Potapytsch, der den Neffen nicht nur mit dem Wort, sondern auch mit dem Stock belehrte, hatte Fedjka, trotz seiner Keckheit, doch großen Respekt.

Ilja Potapytsch Kopylo war ein Mann vom alten Schlag, der an »dem treuen Verharren bei der Frömmigkeit« unwandelbar festhielt. Die Wunder fremdländischer Kunst und Wissenschaft lockten ihn nicht. »Das alles sind Vorzeichen der Ankunft des Antichrist, es ist der Anfang der Übel«, – pflegte er zu sagen. – »Verwirrt uns, Schafe Christi, nicht mit euren Sophistereien: wir haben keine Zeit, eure Philosophien anzuhören, – denn es naht das Ende der Welt und das Gericht Gottes steht vor der Tür. Was hat das Licht mit der Finsternis zu tun, oder wie kann Belial sich mit Christus vereinigen? Ebensowenig hat auch der schmutzige Katholizismus mit unserem rechtgläubigen Christentum gemein.«

»In Europien«, – pflegte er zu sagen, »dem dritten Teile der Welt, dem Teile des Sohnes Noahs Japhets, leben hochmütige, stolze, betrügerische Menschen, die in den Schlachten mutig sind, aber der Fleischeslust und allen übrigen Schwächen unterliegen und alles nach ihrem Gutdünken tun. Sie haben einen Hang zur Gelahrtheit und sind in allerlei Wissenschaften erfahren; sie sind aber von der Gottesfurcht abgekommen, sind nach der Anstiftung des Teufels Anhänger verschiedener Ketzerlehren geworden und haben sich über die ganze Welt zerstreut. Nur das russische Volk hält noch immer an der Gottesfurcht fest, und wenn es auch keinen Eifer für die weltlichen Wissenschaften zeigt und sich nicht in den hochgelahrten, sophistischen Weisheitsfaseleien übt, hängt es dafür unverführt an dem wahren Glauben. Die Menschen sind bei uns würdevoll und bärtig und tragen anständige Kleider; die Kirchen Gottes werden durch heiligen Gesang verschönt, und in ganz Europien ist kein Land zu finden, das schöner oder nur ähnlich wäre.«

Bei Ewtichij Païssejewitsch Gagara, dem Sohne der Hostienbäckerin aus Uglitsch, erregten die fremden Länder keine geringere Neugierde als in Fedjka dem Gebratenen. Ewtichij maß dem Freidenkertum des Kameraden, in dem er mehr Prahlerei und Bravour als wirkliche Gottlosigkeit sah, keine Bedeutung bei. Aber er teilte auch nicht Ilja Potapytschs ruhige Verachtung allem Fremdländischen gegenüber. Nach allem, was er im Auslande gesehen und gehört hatte, befriedigten ihn nicht mehr die »Smaragde«, »Goldquellen« und »Feiertagsbücher«, welche das ganze Gebiet des menschlichen Wissens in folgenden Fragen und Antworten erschöpften: »Errate, Philosoph, kommt das Huhn vom Ei oder das Ei vom Huhn? – Wer ist vor Adam mit einem Barte auf die Welt gekommen? – Der Bock. – Was war das erste Handwerk? – Das Schneiderhandwerk, denn Adam und Eva haben sich aus Blättern Kleider genäht. – Was bedeutet es, daß vier Adler ein Ei gelegt haben? – Die vier Evangelisten haben das heilige Evangelium geschrieben. – Was hält die Erde? – Das hohe Wasser. – Was hält das Wasser? – Ein großer Stein. – Was hält den Stein? – Acht große goldene und dreiunddreißig kleinere Walfische auf dem Tiberiassee.«

Ewtichij glaubte übrigens auch nicht an Fedjkas Ketzerlehre, die folgendermaßen lautete: »Der Bau der Erde ist nicht viereckig, nicht dreieckig und nicht rund, sondern eiförmig: innen liegt der Dotter und außen das Eiweiß und die Schale. So mußt du dir auch die Erde denken: die Erde ist der Dotter im Ei und die Luft das Eiweiß und, ebenso wie die Schale das Innere des Eies einschließt, umgibt der Himmel die Erde und die Luft.« Obwohl er an diese Irrlehre nicht glaubte, fühlte er doch, daß die einst unbeweglichen Walfische, auf denen die Erde ruhte, sich für ihn bewegt und verschoben hätten und von keiner Macht der Welt mehr aufgehalten werden könnten.

Er ahnte dunkel, daß in Fedjkas abergläubischer Anbetung der fremdländischen Wunderdinge, trotz allen Mutwillens, doch etwas Wahres enthalten sei, das weder durch Spott, noch durch Drohungen, und nicht einmal durch Onkel Kopylos knorrigen Stock widerlegt werden könnte.

»Es ist keine Schande, Gutes von anderen zu übernehmen und dem Beispiele fremder Länder zu folgen. – Die Arithmetik und Preospektive sind nützliche Dinge, sie sind süßer als Honigseim und verstoßen nicht gegen Gott,« sagte Fedjka mit tiefer Überzeugung. Und diese Worte fanden in Ewtichijs Herzen einen Wiederhall.

Er erbat sich bei Gott Kraft und Verstand, um den Weizen von der Spreu und das Gute vom Bösen zu scheiden und »den wahren Weg zur Weisheit zu finden«, ohne vom Glauben der Väter abzuirren und gleich Fedjka »lateinisch« zu werden, aber auch ohne alles Fremde wahllos zu verwerfen, wie es Ilja Potapytsch tat. So schwierig und furchtbar dieses Beginnen ihm auch erschien, sagte ihm doch eine geheime Stimme, daß es heilig sei und daß Gott ihm seine Hilfe nicht versagen würde.

Zu den Feierlichkeiten der Hochzeit des Herzogs von Urbino und der Taufe des neugeborenen Dauphins hatte sich auch der eine der beiden in Rom beglaubigten russischen Gesandten, Nikita Karatschjarow, nach Amboise begeben. Er sollte dem König die Ehrengaben des Moskauer Großfürsten überreichen: einen Hermelinpelz auf purpurrotem Atlas mit goldenem Blumenmuster bestickt, einen zweiten Pelz aus auserlesenen Biberfellen, einen dritten aus Marderbauchfellen, vierzig Mal vierzig Zobelfelle, Silberfüchse und sibirische graue Füchse, außerdem vergoldete spitze Sporen und Jagdvögel.

Unter den Gesandtschaftsbeamten und Sekretären, die Nikita nach Frankreich mitnahm, befanden sich auch Ilja Petapytsch Kopyla, Fedjka der Gebratene und Ewtichij Gagara.

V.

Ende April 1517 bemerkte der königliche Förster eines Morgens auf der Landstraße, die durch den Hegewald nach Amboise führte, einige Reiter, die so ungewöhnlich gekleidet waren und eine so seltsame Sprache sprachen, daß er stehen blieb und sie lange mit den Blicken verfolgte. Er war im Unklaren darüber, ob es Türken oder Gesandte des Großmoguls oder gar Sendboten jenes fabelhaften Priesters Johannes seien, der am Ende der Welt lebte, dort, wo sich Himmel und Erde berührten.

Doch es waren weder Türken, noch Gesandte des Großmoguls, noch Sendboten des Priesters Johannes, sondern Angehörige eines »tierischen« Stammes, Gäste aus einem Lande, das für nicht minder barbarisch als das märchenhafte Gog und Magog galt, – Russen aus der Gesandtschaft des Nikita Karatschjarow.

Die schwere Fuhre mit der Dienerschaft der Gesandten und mit den Ehrengaben war vorausgeschickt worden; Nikita reiste mit dem Gefolge des Herzogs von Urbino. Die Reiter, denen der Förster begegnete, hatten die für Franz I. bestimmten Jagdfalken verschiedener Art zu überwachen. Die kostbaren Vögel wurden mit großer Vorsicht auf einem besonderen Wagen in inwendig mit Schafpelzen ausgeschlagenen Bastkörben geführt.

Neben dem Wagen ritt Fedjka der Gebratene eine muntere Apfelschimmelstute.

Er war so groß gewachsen, daß die Leute auf den Straßen fremder Städte sich erstaunt nach ihm umschauten; er hatte breite Backenknochen und ein flaches, sehr dunkles Gesicht; sein Haar war pechschwarz, weshalb er auch der Gebratene genannt wurde; seine blaßblauen, trägen und zugleich leidenschaftlich neugierigen Augen hatten jenen widerspruchsvollen, abwechslungsreichen und unsteten Ausdruck, der russischen Gesichtern eigen ist, – eine Mischung von Schüchternheit und Frechheit, Einfalt und Schlauheit, Trauer und Keckheit.

Fedjka lauschte dem Gespräch zweier Kameraden, die ebenfalls zum Gesandtschaftsgesinde gehörten, des Martin Uschak und Iwaschka Trufanz. Diese waren als Kenner der Falkenjagd von Nikita mit dem Transport der Vögel nach Amboise betraut worden. Iwaschka erzählte von der Jagd, welche der französische Edelmann Anne de Montmorency zu Ehren des Herzogs von Urbino im Walde von Chatillon veranstaltet hatte.

»Nun, und du sagst, daß Gamajun gut geflogen ist?«

»Na und ob, Bruder!« rief Iwaschka aus. »So wunderbar gut, daß man es garnicht beschreiben kann. Und Samstag morgen, als wir uns mit den jungen Falken in Schatilowo (so nannte er Chatillon), die Zeit vertrieben, ist Gamajun nur so herumgeschossen und hat zugleich zwei Fasanentennester und drittehalb Kriechentennester überfallen; und wie er zum zweiten Mal aufgeflogen ist, ist eine Fasanente in den Wald fortgelaufen und hat den braven Jagdfalken Gamajun um seine Beute bringen wollen; der Gute hat ihr aber eins auf den Hals versetzt, daß sie sich zehnmal überschlagen hat und zu Fuß ins Wasser zurückgekehrt ist. Man wollte auf sie schießen, denn man glaubte, er hätte sie schlecht bearbeitet, er hat sie aber so zugerichtet, daß ihr die Gedärme heraushingen; – sie ist noch ein bißchen geschwommen und ist ans Ufer gelaufen, und da hat sich Gamajun auf sie draufgesetzt!«

Iwaschka zeigte durch so ausdrucksvolle Gebärden, wie er ihr »eins versetzt« und wie er sie »bearbeitet« hatte, daß das Pferd unter ihm scheu wurde.

»Ja«, sagte Uschak, ein Liebhaber der Büchersprache, mit Wichtigkeit, »diese ländliche Unterhaltung tröstet in hohem Maße die traurigen Herzen; die Beutejagd des Falken ist erfreulich und löblich, sein hoher Flug aber ist erquickend und dem Auge wohlgefällig!«

An der Spitze des Zuges, in einiger Entfernung vom Wagen, ritten Ilja Kopylo und Ewtichij Gagara.

Ilja Potapytsch hatte ein dunkles, strenges Gesicht, einen schlohweißen Bart und ebensolches Haar; seine ganze Erscheinung war würdevoll und gesetzt; nur seine kleinen grünlichen, tränenden Augen verrieten spöttische List und Durchtriebenheit.

Ewtichij war etwa dreißig Jahre alt, sah aber so schmächtig aus, daß er aus der Ferne für einen Knaben gelten konnte; er hatte einen spärlichen Spitzbart und ein nichtssagendes Gesicht, – eines von jenen, die man sich schwer merken kann. Nur manchmal, wenn er lebhaft wurde, flammte in seinen grauen Augen ein tiefes Gefühl auf.

Die Gespräche von den Falken und Fasanenten langweilten Fedjka. Trotz der frühen Morgenstunde hatte er bereits öfters in die Reiseflasche hineingeschaut und, wie stets in solchen Fällen, juckte ihm schon förmlich die Zunge, vor lauter Lust zu streiten und »von erhabenen Dingen« zu reden.

Er entnahm aus einzelnen, von ihm aufgefangenen Worten, daß die vor ihm reitenden Gagara und Kopylo über Ikonenmalerei sprachen – er gab dem Pferd die Sporen, holte sie ein und hörte zu.

»Die heiligen Ikonen werden jetzt auf Papierblätter gedruckt«, sagte Ilja Potapytsch, »und mit diesen Blättern schmücken die Menschen nachlässig ihre Gotteshäuser, nicht zum Zwecke der Andacht, sondern nur wegen der Schönheit, ohne jede Gottesfurcht. Diese Blätter werden aber von deutschen und welschen Ketzern von geschnittenen Holzstöcken abgedruckt; sie tun es in ihrem verfluchten Unglauben ungehörig und liederlich, und stellen die Heiligen mit Gesichtern ihrer Landsleute und welschen Gewändern dar, ohne sich an die alten rechtgläubigen Vorbilder zu halten. Auch die heilige Jungfrau wird von den Malern nach lateinischen Mustern mit unbedecktem Haupt und mit zerzaustem Haar gemalt ...«

»Wie ist es denn eigentlich, Onkelchen?« ergriff jetzt Fedjka mit geheuchelter Ehrerbietung und mit heimlicher Herausforderung das Wort, nachdem er einen Schluck aus der Flasche getan hatte, »meinst du denn wirklich, daß es nur die Sache der Russen ist, Heiligenbilder zu malen? Warum sollte man nicht auch von fremdländischen Meistern lernen, wenn ihre Bilder heilig und schön sind?«

»Du redest ganz unschicklich von den heiligen Ikonen«, unterbrach ihn Kopylo, die Stirn runzelnd. »Du faselst gottloses und liederliches Zeug!«

»Warum ist es denn gottlos, Onkelchen?« fragte Fedjka, den Gekränkten spielend.

»Weil es sich nicht ziemt, die ewigen Grenzen zu überschreiten: wer einen fremden Glauben liebt und lobt, der verhöhnt den eigenen.«

»Ich spreche ja nicht vom Glauben, Potapytsch. Ich sage nur: die Preospektive ist eine nützliche Sache und ist süßer als Honigseim ...«

»Was hältst du mir deine Preospektive vor? Schon wieder die alte Leier ... Es heißt ein für alle Mal: man soll sich nur an die Satzungen der heiligen Väter halten. Hörst du? Man darf weder mit der Preospektive noch mit etwas anderem nach seinem Gutdünken walten. Wo Neues ist, da ist auch Ungehöriges.«

»Du hast recht, Onkelchen«, sagte Fedjka, mit geheuchelter Demut ausweichend. »Ich sage ja selbst, daß die Ikonenmeister jetzt ohne Sinn und Verstand malen; man sollte aber beim Malen auf jede Frage eine Antwort wissen. Es heißt: man soll genau so verfahren, wie die alten Meister gemalt haben. Die Sache hat aber einen Haken: es sind so viele alte Meister da, die Nowgoroder, die Korssuner, die Moskauer und jeder hat eine andere Art. Auch die Vorbilder sind verschieden. Die einen sind so, die andern so. Manchmal ist das Alte wie neu, und manchmal das Neue alt. Wer soll daraus klug werden, wo das Alte und wo das Neue ist? Nein, Potapytsch, du kannst es damit halten wie du willst, aber ohne eigene Gedanken und ohne Verstand kann man kein guter Meister sein!«

Der Alte, der durch den plötzlichen tückischen Überfall überrascht war, stutzte einen Augenblick.

»Und dann noch eines«, fuhr Fedjka noch kühner fort, indem er die Verlegenheit des Alten ausnützte, »wo ist denn eine solche Regel zu lesen, daß die Heiligen auf den Ikonen alle auf die gleiche Art schwarz und braun gemalt werden müssen? Ist denn das ganze Menschengeschlecht mit dem gleichen Antlitz erschaffen worden? Waren denn alle Heiligen traurig und mager? Wer wird denn nicht über einen solchen Unsinn lachen, daß das Dunkle mehr geehrt werden soll als das Helle? Der Herr hat nur den Teufel mit Finsternis und Rauch bedacht; seinen Söhnen, und zwar nicht nur den gerechten, sondern auch den sündigen hat er aber die Gabe des Lichtes versprochen: ›Ich werde euch weiß machen wie Schnee und wie Wolle‹. Und zum anderen Mal: ›Ich bin das Licht der Welt, wer mir nachfolget, der wird nicht wandeln in der Finsternis‹. Und beim Propheten heißt es: ›Der Herr thront und hat sich in Schönheit gekleidet‹.«

Fedjka sprach zwar hochtrabend und schöngeistig, doch aufrichtig.

Ewtichij schwieg; man sah es seinen leuchtenden Augen an, daß er gierig lauschte.

»Nach der Überlieferung der heiligen Väter«, begann Ilja Potapytsch wieder mit Würde, »ist das schön, was vor Gott heilig ist ...«

»Und was schön ist, das ist auch heilig«, fiel Fedjka ein, »das ist ja ein und dasselbe, Onkelchen.«

»Nein, es ist nicht ein und dasselbe«, sagte der Alte zornig. »Es gibt auch eine Schönheit, die vom Teufel kommt!«

Er wandte sich zum Neffen hin und sah ihm gerade in die Augen, als überlegte er, ob er nicht zu seinem gewöhnlichen Beweismittel, dem Knotenstock greifen sollte. Aber Fedjka hielt seinen Blick aus, ohne mit einer Wimper zu zucken.

Da erhob Kopylo seine rechte Hand und rief feierlich aus, als wollte er den bösen Geist selbst beschwören:

»Vergehe und hebe dich hinweg, Verruchter, mit deinen Ränken! Christus ist meine Rettung und mein Licht, meine Freude und meine nie wankende Mauer!«

Die Reiter befanden sich am Saume des Waldes von Amboise. Sie ließen die Einfriedigung des Schlosses Du Cloux links liegen und ritten zum Stadttor hinein.

VI.

Der russischen Gesandtschaft wurde eine Wohnung im Hause des königlichen Notars, Guillaume Borot, angewiesen, unfern des Turmes Horloge, in dem einzigen Haus, das in der von den Fremden überfüllten Stadt noch frei geblieben war.

Ewtichij mußte mit seinen Kameraden in einem kleinen Dachzimmer wohnen.

In der Nische eines Dachfensters hatte er sich hier eine winzige Werkstatt eingerichtet. Er hatte an die Wand ein Regal angebracht und darauf seine Malbretter aus Eichen- und Lindenholz für die Ikonen, glasierte Töpfchen mit Firnis, mit durchsichtigem Sterlett- und Stöhrleim, irdene Scherben und Muscheln mit aufgelösten Gold- und Eierfarben geordnet; eine mit Filz bedeckte Holzkiste diente ihm als Bett, und er hängte darüber das Bild der Mutter Gottes von Uglitsch, ein Geschenk des Mönchs Danila Tschornij, auf.

In diesem Winkel war es eng, aber still, hell und gemütlich. Aus dem Fenster öffnete sich zwischen den Dächern und Schornsteinen eine Aussicht auf die grüne Loire, auf ferne Wiesen und blaugrüne Wipfel. Manchmal stieg von unten, aus dem kleinen Gärtchen in das offene Fenster der Duft des Faulbaums hinauf, – es waren heiße Tage, – und das erinnerte Ewtichij an die Heimat, an den bekannten Gemüsegarten in der Vorstadt von Uglitsch, mit den Dill-, Hopfen- und Johannisbeerbeeten, mit dem halbzerfallenen Lattenzaun vor dem alten Häuschen des Küsters der Verkündigungskirche.

Einige Tage nach seiner Ankunft in Amboise saß er eines abends allein in seiner Werkstätte. Die Kameraden hatten sich in das Schloß zu einem Turnier begeben, das zu Ehren des Herzogs von Urbino veranstaltet wurde.

Es war still; man hörte nur das Girren der Tauben und das seidene Rascheln ihrer Flügel unter dem Fenster und ab und zu das gemessene Schlagen der Uhr auf dem nahen Turm.

Er las sein Lieblingsbuch »Die Anleitung zur Ikonenmalerei«, eine Zusammenfassung kurzer Vorschriften nach den Tagen und Monaten geordnet, für die Darstellung von Heiligen. Obwohl Ewtichij dieses Buch beinahe auswendig wußte, las er es doch jedes Mal mit neuer Wißbegierde und fand darin immer neue Erquickung.

In den letzten Tagen hatte aber der Streit zwischen Ilja Potapytsch und Fedjka dem Gebratenen, dem er im Walde auf dem Wege nach Amboise zugehört hatte, in ihm seine alten bangen Zweifel geweckt, die von den Dingen, die er in fremden Ländern sah, herrührten. Und er suchte für sie eine Lösung in der »Anleitung«, der einzigen wahren Quelle »für die kunstgerechte Erkenntnis der wahren Gestalten«:

»Wie war die körperliche Gestalt der Mutter Gottes?« – las er eine seiner Lieblingsstellen des Buches. – »Sie war von mittlerem Wuchs, ihr Antlitz war wie ein Weizenkorn; die Haare waren gelb; die Augen scharf, die Pupillen darin gleich der Frucht des Ölbaumes; die Brauen gesenkt und recht schwarz; die Nase nicht zu kurz; der Mund wie die Blüte der Rose, von Süßigkeit beschwert; das Antlitz weder rund, noch spitz, aber nicht zu lang; die Finger der gottempfangenden Hände aber waren fein gemeißelt; sie war ganz einfach, hatte keinerlei Weichheit, aber vollendete Demut und trug dunkle Gewänder.«

Er las auch von der Märtyrerin Katharina, die wegen ihres schönen und lichten Gesichtes von den Hellenen »die Mondgleiche« benannt wurde; von Philaret dem Gnadenreichen, »der mit neunzig Jahren verschied; sein Angesicht hatte sich aber auch in diesem Alter nicht verändert, es war wohlgestaltet und schön wie ein roter Apfel.«

Und es schien ihm, als ob Fedjka recht hätte: das Antlitz der Heiligen mußte licht und freudig sein, denn der Herr selbst hat sich »in Schönheit gehüllt«, und alles, was schön ist, kommt von Gott.

Als er aber einige Seiten umgeblättert hatte, las er in demselben Buch:

»Der 9. November ist der Gedenktag der heiligen Theoktiste aus Lesbos. Ein Jäger sah sie in der Wüste und gab ihr sein Gewand, um ihre Nacktheit zu bedecken; und sie stand vor ihm und war furchtbar und hatte kaum das Aussehen eines Menschen; man sah an ihr kein lebendiges Fleisch: vom Fasten waren die Knochen und Gelenke nur mit Haut bedeckt; die Haare waren weiß wie das Vließ der Schafe, das Gesicht aber war dunkel mit leichten Spuren von Blässe; die Augen tief eingefallen; und ihre ganze Gestalt wie die Gestalt eines Toten, der lange im Grabe gelegen ist. Sie atmete mühsam und konnte nur leise reden. Und es war an ihr durchaus nichts von menschlicher Schönheit.«

»Das bedeutet«, dachte sich Ewtichij, »daß nicht alles Heilige schön ist: auch in der Verhöhnung aller menschlichen Schönheit bei den berühmten Märtyrern, in einer vertierten Gestalt ist etwas Engelsgleiches enthalten.«

Und er dachte an den heiligen Christophorus, der oft auf russischen Ikonen dargestellt wird und von dem es in dem »Handbuch« unter dem 9. Mai heißt: »von diesem ruhmreichen Märtyrer wird das Wunderbare berichtet, daß er einen Hundskopf gehabt habe.«

Die Gestalt des Heiligen mit dem Hundskopf erfüllte das Herz des Ikonenmalers mit noch größerer Bestürzung. In seinem Kopfe stiegen immer verwirrtere und unheimlichere Gedanken auf.

Er legte das Handbuch beiseite und griff nach einem anderen Buch, nach einem alten, im Jahre 1485 in Uglitsch geschriebenen Psalter. Er hatte danach lesen gelernt und schon damals die naiven Textbilder bewundert, die die Psalmen erläuterten.

Es hatte sich so gefügt, daß er dieses Buch seit seiner Abreise aus Moskau nicht zu Gesicht bekommen hatte. Jetzt, nach den vielen alten Bildwerken, die er in den Palästen und Museen von Venedig, Rom und Florenz gesehen hatte, gewannen diese ihm seit der Kindheit vertrauten Gestalten einen neuen Sinn für ihn: er begriff, daß der blaue Mann mit der gesenkten Schale, aus der Wasser floß, und der sich auf den Vers des Psalters bezog: »Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreiet, meine Seele, Gott, zu dir«, der Flußgott war; die Frau, die inmitten von Getreide auf der Erde lag, stellte Ceres, die Göttin der Erde vor; der Jüngling mit der Königskrone auf einem mit roten Pferden bespannten Wagen war Apollo; der bärtige Alte auf dem grünen Ungeheuer mit dem nackten Weibe, der zu dem Psalm »Es lobe ihn das Meer und alles, das sich drinnen reget«, gehörte, war Neptun mit Nereïde.

Durch welches Wunder und nach welchen Wanderungen und Verwandlungen waren die vertriebenen Götter des Olymps durch den alten russischen Meister aus dem noch älteren byzantinischen Original in die Stadt Uglitsch verpflanzt worden?

Von der Hand des barbarischen Künstlers verunstaltet, erschienen sie plump und schüchtern, als schämten sie sich ihrer Nacktheit inmitten der strengen Propheten und Asketen; sie sahen halb erfroren aus, als wären sie in der Kälte der hyperboräischen Nacht erstarrt. Und doch schimmerte hie und da in der Biegung eines Ellbogens, in der Wendung eines Nackens, in der Rundung eines Schenkels der letzte Widerschein einer ewigen Schönheit.

Ewtichij erkannte mit Furcht und Staunen in diesen ihm seit seiner Kindheit vertrauten und lieben Bildern des Uglitscher Psalters, die er für heilig gehalten hatte, den verführerischen teuflischen Zauber der Hellas.

In seiner Erinnerung erstanden auch andere sündhafte Gestalten, die Überlieferungen alter russischer Sammlungen – die bleichen Schatten des heidnischen Altertums: »die Jungfrau Gorgoneja mit dem Gesicht, den Brüsten und Händen eines Menschen, den Beinen und dem Schwanz eines Pferdes und mit Schlangen statt Haaren auf dem Kopfe«; einäugige Giganten, die in Sizilien am Fuße des Berges Ätna leben; der Zar Kitowras oder Kentauros, der »oben ein Mensch und unten ein Esel ist«; die Isatyre oder Satyre, die in den Wäldern mit den Tieren hausen; »sie sind schnellfüßig – niemand holt sie ein; sie gehen nackt herum und sind mit Wolle wie mit Tannenrinde bewachsen; sie reden nicht, sondern meckern wie die Ziegen.«

Ewtichij fuhr zusammen, kam zu sich, bekreuzte sich fromm und flüsterte den beruhigenden Spruch russischer Schriftgelehrten, den er von Ilja Potapytsch gehört hatte:

»Alles ist erlogen: es hat keinen Kitowras, keine Jungfrau Gorgoneja und keine Menschen mit Wolle gegeben; dies alles ist von den hellenischen Philosophen erfunden. Dieser Zauber ist durch die Lehren der Apostel und heiligen Väter verworfen und verflucht worden.«

Und dann dachte er gleich wieder: »Ist dem auch wirklich so? Ist alles erlogen, ist alles verflucht? Wie kommt es denn, daß in den alten russischen Kirchen neben den Heiligen auch heidnische Weise, Dichter und Sybillen dargestellt sind, welche die Geburt Christi teilweise prophezeit hatten und trotz ihrer Ungläubigkeit um ihres reinen Lebens willen vom heiligen Geist berührt worden sind, wie es im »Handbuch« heißt.« Diese Worte von der beinahe christlichen Heiligkeit der heidnischen Propheten erfüllten Ewtichij mit großer Befriedigung.

Er erhob sich und nahm vom Wandregal ein Malbrett mit der begonnenen Zeichnung einer kleinen Ikone eigener Erfindung: »Alles, was Odem hat, lobe den Herrn;« es war ein Bild mit vielen Personen und Details, die man nur durch ein Vergrößerungsglas unterscheiden konnte.

Im Himmel thronte der Allerhalter; zu seinen Füßen in den sieben Himmelsphären waren Sonne, Mond und Sterne dargestellt, mit der Inschrift: »lobet den Herrn, ihr Himmel allenthalben, lobet ihn, Sonne und Mond, lobt ihn, alle leuchtenden Sterne;« unter den Gestirnen folgten fliegende Vögel; »die Sturmwinde«, der Hagel, der Schnee, die Bäume, die Berge, das aus der Erde entspringende Feuer, die verschiedenen Tiere und Würmer; ein Abgrund in Gestalt einer Höhle mit der Inschrift: »lobet ihn, alle fruchtbaren Bäume und alle Zedern, alle Tiere und alle Hügel, lobet den Herrn.« Zu beiden Zeiten waren Engelsköpfe, Heilige, Könige, Richter und Völkerscharen: »alle seine Heiligen sollen loben, die Kinder Israel, alle Stämme und Völker der Erde.«

Ewtichij ging an die Arbeit, und da er seine Gefühle nicht anders ausdrücken konnte, fügte er zu diesen vorschriftsmäßigen Gestalten noch den Märtyrer Christophorus mit dem Hundskopf und das göttliche Tier, den Kentaurus hinzu.

Er wußte, daß er gegen die Überlieferung des »Handbuches« verstieß; in seiner Seele regte sich aber weder ein Zweifel noch ein Ärgernis: ihm schien, daß eine unsichtbare Hand seine Hand führe.

Zugleich mit dem Himmel und der Hölle, dem Feuer und dem Sturmwind, den Hügeln und den Bäumen, den Tieren und dem Gewürm, den Menschen und den körperlosen Geistern, dem Christophorus mit dem Hundskopf und dem zu Christus bekehrten Kentauros sang seine Seele das eine Lied:

»Alles, was Odem hat, lobe den Herrn.«

VII.

König Franz hatte eine große Schwäche für Weiber. Bei allen Feldzügen befanden sich im Gefolge des Königs zugleich mit den wichtigsten Staatsmännern, Narren, Zwergen, Astrologen, Köchen, Negern, Zwerginnen, Hundejungen und Geistlichen auch die »lustigen Mädchen« unter der Aufsicht der »ehrbaren Frau« Johanna Lignière. Sie nahmen an allen Triumphzügen und Festen, sogar an den kirchlichen Prozessionen teil. Der Hof war mit diesem Lagerfreudenhaus so eng verbunden, daß es schwer fiel zu entscheiden, wo das eine aufhörte und das andere anfing: die »lustigen Mädchen« waren zur Hälfte Hofdamen, die mit ihren Ausschweifungen für ihre Männer die goldene Halskette des Ordens vom Erzengel Michael gewannen.

Die Verschwendungssucht des Königs für die Frauen war schrankenlos. Die Steuern und Abgaben wuchsen mit jedem Tage, und doch reichte das Geld nicht aus. Als beim Volke nichts mehr zu holen war, begann Franz seinen Edelleuten das kostbare Speisegeschirr wegzunehmen und prägte einmal Münzen aus dem Silbergitter vom Sarge des ruhmreichen heiligen Martin, des Bischofs von Tours; er tat es übrigens nicht aus Freigeisterei, sondern aus Not, denn er hielt sich für einen treuen Sohn der römischen Kirche und verfolgte jede Ketzerei und Gottlosigkeit wie eine Beleidigung seiner eigenen Majestät.

Seit den Zeiten Ludwigs des Heiligen erhielt sich im Volke die Überlieferung von der den Königen des Hauses Valois angeblich eigenen heilenden Kraft: sie heilten durch die Berührung ihrer Hand Grindige und Skrophulöse; zu Ostern, Weihnachten, Pfingsten und anderen Feiertagen strömten die auf Heilung Hoffenden nicht nur aus allen Enden Frankreichs, sondern auch aus Spanien, Italien und Savoyen zusammen.

Während der Festlichkeiten aus Anlaß der Vermählung des Lorenzo Medici und der Taufe des Dauphins hatte sich in Amboise eine Menge von Kranken versammelt. An einem bestimmten Tage wurden sie in den Hof des königlichen Schlosses eingelassen. Früher, als der Glaube noch stärker war, sprach seine Majestät während seines Rundganges, über jedem Kranken das Zeichen des Kreuzes machend und alle der Reihe nach mit einem Finger berührend, die Worte: »Der König hat berührt, Gott wird heilen.« Der Glaube versiegte, Heilerfolge wurden seltener und die zu der Zeremonie gehörenden Worte wurden jetzt in der Form eines Wunsches ausgesprochen: »Gott heile dich – der König hat dich berührt.«

Nach Beendigung der Zeremonie wurde ein Waschbecken mit drei Handtüchern gebracht, von denen das eine mit Essig, das zweite mit reinem Wasser und das dritte mit Orangeessenz befeuchtet war. Der König wusch sich und wischte sich Hände, Gesicht und Hals ab.

Nach dem Anblick der menschlichen Armut, Häßlichkeit und Krankheit hatte er den Wunsch, seine Seele zu ergötzen und seine Augen auf etwas Schönem ausruhen zu lassen. Ihm fiel ein, daß er schon seit langem Leonardos Werkstätte besuchen wollte, und er begab sich mit kleinem Gefolge in das Schloß Du Cloux.

Der Meister arbeitete trotz Schwäche und Unwohlsein den ganzen Tag eifrig an Johannes dem Täufer.

Die schrägen Strahlen der untergehenden Sonne drangen durch die Bogenfenster des Studios; – es war ein großer kalter Raum mit einem Steinboden und einer getäfelten Eichendecke. Er benützte das letzte Tageslicht und beeilte sich, die erhobene, nach dem Kreuz hinweisende Rechte des Täufers zu vollenden.

Unter den Fenstern ertönten Schritte und Stimmen.

»Laß niemanden herein«, sagte der Meister zu Francesco Melzi, »hörst du, niemanden! Sage, ich bin krank oder nicht zu Hause.«

Der Schüler ging in das Vorhaus, um die ungebetenen Gäste aufzuhalten; als er jedoch den König erblickte, verneigte er sich ehrerbietig und öffnete vor ihm die Tür.

Leonardo hatte kaum Zeit, das neben dem Johannes stehende Bildnis der Gioconda zu verhängen: er tat es immer, denn er liebte es nicht, sie Fremden zu zeigen.

Der König trat in die Werkstätte ein.

Er war mit einem Luxus von nicht ganz tadellosem Geschmack gekleidet: er trug übermäßig bunte und grelle Stoffe, eine Unmenge von Gold, Stickereien und Juwelen; die schwarzen Atlasbeinkleider waren eng anliegend, der kurze Wams mit abwechselnden Längsstreifen aus schwarzem Samt und Goldbrokat hatte ungeheure aufgeblasene Ärmel, mit zahllosen Schlitzen – »Fenstern«; auf dem runden schwarzen Barett war eine weiße Straußenfeder; der viereckige Brustausschnitt entblößte einen schlanken, weißen, wie aus Elfenbein geschnitzten Hals; er gebrauchte auch zu viel wohlriechende Essenzen.

Er war vierundzwanzig Jahre alt. Seine Anhänger versicherten, sein Äußeres sei so hoheitsvoll, daß selbst Leute, die sein Gesicht nicht kannten, beim ersten Blick sofort fühlten: das ist der König. Er war in der Tat schlank, groß, gewandt und ungewöhnlich stark; er verstand es, berückend liebenswürdig zu sein; aber sein schmales und langes, außerordentlich weißes, von einem pechschwarzen Bärtchen umrahmtes Gesicht, mit der niederen Stirn, mit der unverhältnismäßig langen, dünnen, spitzen, gleichsam heruntergezogenen Nase, mit den listigen, kalten und wie frisch angeschnittener Zinn glänzenden kleinen Augen, mit den dünnen, sehr roten und feuchten Lippen hatte einen unangenehmen Ausdruck übermäßig zur Schau gestellter, beinahe tierischer Lüsternheit; er hatte etwas von einem Affen und von einem Ziegenbock, und erinnerte an einen Faun.

Leonardo wollte, wie es die höfische Sitte vorschrieb, vor dem König das Knie beugen. Dieser hielt ihn jedoch zurück, neigte sich selbst zu ihm und umarmte ihn ehrerbietig.

»Wir haben uns lange nicht gesehen, maître Léonard«, sagte er freundlich. »Wie geht es? Malst du viel? Hast du keine neuen Bilder?«

»Ich bin immer krank, Majestät«, antwortete der Meister und nahm das Porträt der Gioconda, um es beiseite zu stellen.

»Was ist das?« fragte der König, auf das Bild hinweisend.

»Es ist ein altes Bildnis, Sire. Ihr habt es bereits zu sehen geruht ...«

»Das bleibt sich gleich. Zeige her. Deine Bilder sind so, daß sie immer mehr gefallen, je öfter man sie anschaut.«

Als der Künstler zögerte, trat einer der Höflinge heran, zog die Leinwand herab und enthüllte die Gioconda.

Leonardo runzelte die Brauen. Der König ließ sich auf einen Sessel nieder und betrachtete das Bild lange schweigend.

»Merkwürdig!« sagte er endlich, wie aus einem Traume erwachend. »Das ist die schönste Frau, die ich je gesehen habe! Wer ist es?«

»Madonna Lisa, die Gemahlin des Florentiner Bürgers Giocondo«, antwortete Leonardo.

»Hast du sie vor langer Zeit gemalt?«

»Vor zehn Jahren.«

»Ist sie auch jetzt noch immer so schön?«

»Sie ist gestorben, Majestät.«

»Maître Léonard de Vinci«, sagte der Hofdichter Saint-Gelais, indem er den Namen des Künstlers französisch aussprach, »hat fünf Jahre an diesem Bilde gearbeitet, ohne es zu vollenden; so versichert er wenigstens selbst.«

»Er hat es nicht vollendet?« fragte der König erstaunt, »was fehlt denn noch daran, ich bitte? Sie ist wie lebendig, nur spricht sie nicht ...«

»Nun, ich gestehe«, wandte er sich wieder an den Meister, »man darf dich wirklich beneiden, maître Léonard. Fünf Jahre mit einem solchen Weib! Du darfst über dein Schicksal nicht klagen: du warst glücklich, Alter. Und wo hat der Gatte nur seine Augen gehabt? Wenn sie nicht gestorben wäre, so hättest du wohl auch noch heute daran gemalt, nicht wahr?«

Und er lachte, wobei er seine glänzenden Äuglein zusammenkniff, was seine Ähnlichkeit mit einem Faun noch steigerte: der Gedanke, daß Monna Lisa bei ihrem Verkehr mit dem Künstler ihrem Gatten treu bleiben konnte, lag ihm ganz fern.

»Ja, mein Freund«, fügte er lächelnd hinzu, »du verstehst dich auf Weiber. Welche Schultern, welche Brust! Und das, was hier nicht zu sehen ist, muß wohl noch schöner sein ...«

Er betrachtete sie mit jenem offenen männlichen Blick, der die Frauen entkleidet und sich wie eine schamlose Liebkosung ihrer bemächtigt.

Leonardo schwieg; er war etwas bleich geworden und hatte die Augen niedergeschlagen.

»Um ein solches Porträt zu malen«, fuhr der König fort, »genügt es nicht, ein großer Künstler zu sein, man muß auch in alle Geheimnisse des weiblichen Herzens eindringen können, in dieses Labyrinth des Dädalus, diesen Knäuel, das der Teufel selbst nicht zu entwirren vermag! Da scheint eine zum Beispiel sanft, bescheiden und keusch zu sein, sie faltet die Händchen wie eine Nonne, kann nicht bis drei zählen, versuche aber einmal dich ihr anzuvertrauen, versuche zu erraten, was in ihrer Seele vorgeht!«

»Souvent femme varie,
Bien fol est qui s'y fie –«

führte er zwei Verszeilen seines eigenen Liedchens an, das er einst, als er über weibliche Tücke nachsann, mit einem Diamanten in eine Fensterscheibe des Schlosses Chambors hineingeschnitten hatte.

Leonardo ging zur Seite und tat so, als wolle er die Staffelei mit dem anderen Bilde näher ans Licht rücken.

»Ich weiß nicht, ob es wahr ist, Majestät«, flüsterte Saint-Gelais dem König ins Ohr, so daß es Leonardo nicht hören konnte, »man hat mich versichert, dieser Sonderling hätte weder Lisa Gioconda, noch sonst irgend ein Weib in seinem ganzen Leben geliebt und er wäre überhaupt vollkommen keusch ...«

Und er fügte noch leiser, mit einem frivolen Lächeln, wohl etwas recht Gepfeffertes von der sokratischen Liebe hinzu, von der außerordentlichen Schönheit einiger Schüler des Leonardo und von den freien Sitten der Florentiner Meister.

Franz war erstaunt, zuckte aber die Achseln mit dem nachsichtigen Lächeln eines klugen Weltmannes, der frei von Vorurteilen ist, selbst lebt und andere leben läßt, und weiß, daß sich in derartigen Dingen über den Geschmack nicht streiten läßt.

Nachdem er die Gioconda genügend betrachtet, lenkte er seine Aufmerksamkeit auf den daneben stehenden unvollendeten Karton.

»Und was ist das?«

»Nach den Weinreben und dem Thyrsus zu urteilen, muß es Bacchus sein«, riet der Poet.

»Und das?« fragte der König, auf das daneben stehende Bild hinzeigend.

»Ein zweiter Bacchus?« sagte Saint-Gelais zweifelnd.

»Seltsam!« wunderte sich Franz. »Die Haare, die Brust, das Gesicht, – sind ganz wie bei einem Mädchen. Er sieht der Lisa Gioconda ähnlich: es ist dasselbe Lächeln.«

»Vielleicht ein Androgynos?« bemerkte der Poet, und als der König, der sich durch Bildung nicht auszeichnete, nach der Bedeutung dieses Wortes fragte, erinnerte ihn Saint-Gelais an Platos alte Fabel von den doppelgeschlechtlichen Wesen, den Mann-Weibern, die vollkommener und schöner als Menschen seien, den Kindern der Sonne und der Erde, die beide Elemente, das männliche und weibliche vereinigten, und die so stark und stolz seien, daß sie gleich den Titanen sich unterfingen, gegen die Götter sich aufzulehnen und sie vom Olymp stürzen zu wollen. Zeus wollte die Rebellen bezähmen, doch nicht ganz ausrotten, da er ihrer Gebete und Opfer nicht entraten mochte; daher spaltete er sie mit seinem Blitze in zwei Hälften, »wie die Bäuerinnen«, heißt es bei Plato, »die Eier vor dem Einsalzen mit einem Faden oder Haar durchschneiden.« Und seitdem streben beide Hälften, die Männer und Weiber mit Sehnsucht zueinander, mit jenem unersättlichen Wunsch, der die Liebe ist und die Menschen an die ursprüngliche Einheit der Geschlechter gemahnt.

»Vielleicht«, schloß der Dichter, »hat maître Léonard in diesem Werke versucht, das wiederzuerwecken, was es in der Natur nicht mehr gibt: er wollte die von den Göttern getrennten Elemente, das männliche und das weibliche, wieder vereinigen.«

Während er diese Erklärung anhörte, betrachtete Franz auch dieses Bild mit demselben schamlosen, entblößenden Blick, mit dem er soeben Monna Lisa betrachtet hatte.

»Löse unsere Zweifel, Meister«, wandte er sich an Leonardo, »wer ist es, Bacchus oder Androgynos?«

»Weder der eine, noch der andere, Majestät«, erwiderte Leonardo errötend, als fühlte er sich schuldig. »Das ist Johannes der Täufer.«

»Der Täufer? Unmöglich! Was sprichst du, ich bitte dich?«

Als er aber genauer hinsah, bemerkte er in der dunklen Tiefe des Bildes ein feines Kreuz aus Schilfrohr und schüttelte verblüfft den Kopf.

Diese Vermischung des Heiligen und Sündhaften erschien ihm gotteslästerlich und doch gefiel sie ihm. Er fand übrigens gleich, daß es sich nicht verlohne, dem eine Bedeutung beizumessen: was fällt so einem Künstler nicht alles ein?

»Maître Léonard, ich kaufe beide Bilder: den Bacchus, das heißt den Johannes und die Lisa Gioconda. Was sollen sie kosten?«

»Majestät«, begann der Künstler schüchtern, »sie sind noch nicht vollendet. Ich hatte die Absicht ...«

»Unsinn«, unterbrach ihn Franz. »Den Johannes kannst du meinetwegen noch beenden, – ich will darauf warten. Die Gioconda darfst du aber nicht mehr anrühren. Du wirst sie auf keinen Fall besser machen können. Ich will sie sofort haben, hörst du? Nenne also den Preis, fürchte dich nicht: ich werde nicht feilschen.«

Leonardo fühlte, daß er eine Entschuldigung, einen Vorwand für seine Weigerung vorbringen müsse, was konnte er aber diesem Menschen sagen, der alles, was er berührte, in eine Zote oder Gemeinheit verwandelte? Wie hätte er es ihm erklären können, was das Bildnis der Gioconda für ihn bedeutete und weshalb er es um keinen Preis weggeben würde?

Franz glaubte, daß Leonardo deswegen schwiege, weil er einen zu niederen Preis zu nennen fürchtete.

»Nun, da ist nichts zu machen; wenn du es nicht tun willst, so werde ich selbst den Preis bestimmen.«

Er sah Monna Lisa an und sagte:

»Dreitausend Écus. Zu wenig? Dreieinhalb?«

»Sire«, begann der Künstler wieder mit bebender Stimme, »ich kann Euch versichern ...«

Er verstummte; sein Gesicht wurde wieder etwas bleich.

»Nun, gut: viertausend, maître Léonard. Ich glaube, es ist genug?«

Ein Flüstern des Staunens lief durch die Reihen der Höflinge: noch kein Beschützer der Künste, nicht einmal Lorenzo Medici selbst, hatte je solche Preise für Bilder bezahlt.

Leonardo erhob in unsagbarer Verwirrung die Augen zu Franz. Er war bereit, ihm zu Füßen zu stürzen, und ihn anzuflehen, wie man um die Schonung des Lebens fleht, daß er ihm die Gioconda nicht nehme. Franz hielt diese Verwirrung für einen Ausbruch der Dankbarkeit, erhob sich zum Gehen bereit, und umarmte ihn wieder zum Abschied.

»Also abgemacht? Viertausend. Das Geld kannst du jederzeit bekommen. Ich werde morgen die Gioconda holen lassen. Sei ruhig, ich werde für sie einen solchen Platz bestimmen, daß du zufrieden sein wirst. Ich kenne ihren Wert und werde sie der Nachwelt zu erhalten wissen.«

Als der König gegangen war, sank Leonardo in einen Sessel. Er sah die Gioconda mit einem verlorenen Blick an und wollte nicht an das Geschehene glauben. Unsinnige kindische Pläne gingen ihm durch den Kopf: sie so zu verstecken, daß man sie nicht finden könnte und sie nicht fortzugeben, wenn man ihn auch mit der Todesstrafe bedrohte, – oder sie mit Francesco Melzi nach Italien zu schicken, – selbst mit ihr zu fliehen.

Es dämmerte. Francesco schaute ein paar Mal in die Werkstätte herein, wagte aber nicht, den Meister anzureden. Leonardo saß noch immer vor der Gioconda; sein Gesicht erschien in der Dunkelheit bleich und reglos wie das eines Toten.

In der Nacht kam er in Francescos Zimmer; dieser hatte sich schon niedergelegt, konnte aber nicht einschlafen.

»Steh' auf. Komm mit ins Schloß. Ich muß den König sehen.«

»Es ist spät, Meister. Ihr seid heute müde. Ihr werdet wieder erkranken. Ihr fühlt Euch ja schon jetzt unwohl. Wäre es nicht besser, es auf morgen zu verschieben?«

»Nein, sofort. Zünde die Laterne an und begleite mich. – Übrigens, wenn du nicht willst, gehe ich allein.«

Francesco erhob sich, ohne weiter zu widersprechen, kleidete sich an, und sie begaben sich ins Schloß.

VIII.

Bis zum Schlosse hatte man etwa zehn Minuten zu gehen; der Weg war aber steil und schlecht gepflastert. Leonardo ging langsam, sich auf Francescos Arm stützend.

Die sternenlose Nacht war schwül, schwarz und wie unterirdisch. Der Wind blies stoßweise. Die Baumäste zuckten wie erschrocken und schmerzhaft. Oben, zwischen den Ästen schimmerten rot die erleuchteten Schloßfenster. Von dort schallte auch Musik herüber.

Der König speiste mit einer kleinen, auserwählten Gesellschaft zunacht, wobei er sich mit einem bei ihm besonders beliebten Scherz belustigte: er zwang junge Hofdamen und Mädchen aus einem großen silbernen Kelch zu trinken, dessen Ränder und Fuß mit kunstvollen unzüchtigen Darstellungen verziert waren. Er beobachtete, wie die einen lachten, die anderen erröteten und vor Scham weinten, manche zürnten, andere wieder sich die Augen bedeckten, um nicht zu sehen und einzelne sich so stellten, als ob sie es zwar sähen, jedoch nichts verständen.

Unter den Damen befand sich die leibliche Schwester des Königs, die Prinzessin Marguerite, – »die Perle der Perlen«, wie sie genannt wurde. Die Kunst zu gefallen, war ihr »gewohnter als das tägliche Brot.« Aber während sie alle bezauberte, blieb sie selbst gleichgültig; sie liebte nur ihren Bruder mit einer seltsamen, übermäßigen Liebe: seine Schwächen erschienen ihr als Vollkommenheiten, seine Laster als Tugenden, sein Faunsgesicht als das Gesicht eines Apollo. Sie war jeden Augenblick ihres Lebens bereit, für ihn, wie sie sich ausdrückte, »nicht nur den Staub ihres Leibes in alle Winde zu wehen, sondern auch ihre unsterbliche Seele preiszugeben.« Man munkelte, daß sie ihn mehr liebe, als es einer Schwester erlaubt sei. Jedenfalls mißbrauchte Franz diese Liebe: er nahm ihre Dienstleistungen nicht nur bei seinen Arbeiten, Krankheiten und Gefahren, sondern auch bei allen seinen Liebesabenteuern in Anspruch.

An jenem Abend sollte ein neuer Gast aus dem unzüchtigen Kelch trinken; es war ein noch ganz junges Mädchen, beinahe ein Kind, die Erbin eines uralten Geschlechtes. Marguerite hatte sie in irgend einem Nest der Bretagne aufgespürt und bei Hofe eingeführt; seine Majestät hatte bereits ein Auge auf sie geworfen. Das Mädchen hatte es nicht notwendig, sich zu verstellen: sie verstand die unzüchtigen Darstellungen wirklich nicht; sie errötete nur kaum merklich unter den auf sie gerichteten neugierigen und spöttischen Blicken. Der König war gut aufgelegt.

Leonardo wurde gemeldet. Franz befahl ihn vorzulassen und ging ihm mit seiner Schwester entgegen.

Als der Künstler verlegen und mit niedergeschlagenen Augen durch die Reihen der Hofdamen und Kavaliere in den erleuchteten Sälen schritt, wurde er von halb erstaunten, halb spöttischen Blicken begleitet: dieser große Greis mit den langen grauen Haaren, mit dem finsteren Gesicht, mit dem scheuen Blick eines Wilden, wehte selbst den Sorglosesten und Leichtsinnigsten mit dem Odem einer anderen, fremden Welt an, gleich dem kalten Hauch, den ein aus dem Frost in ein warmes Zimmer tretender Mensch ausströmt.

»Ah, maître Léonard!« begrüßte ihn der König und umarmte ihn, wie gewöhnlich, mit Ehrerbietung. »Ein seltener Gast! Womit soll ich dich bewirten? Ich weiß, du ißt kein Fleisch, vielleicht nimmst du Gemüse oder Obst?«

»Ich danke, Majestät ... Verzeihung, ich möchte Euch nur um eine kurze Unterredung bitten ...«

Der König blickte ihn forschend an.

»Was hast du, mein Freund? Bist du am Ende krank?«

Er fühlte ihn beiseite und fragte, auf die Schwester hinweisend:

»Wird sie uns stören?«

»O nein«, erwiderte der Künstler, sich vor Marguerite verneigend. »Ich wage zu hoffen, daß Ihre Hoheit meine Fürsprecherin sein wird ...«

»Sprich. Du weißt, ich freue mich immer ...«

»Es handelt sich noch immer um dasselbe, Sire, um das Bild, das Ihr kaufen wolltet, um das Porträt der Monna Lisa ...«

»Wie? Schon wieder? Warum hast du es mir nicht gleich gesagt? Du bist ein Kauz! Ich dachte, wir hätten uns über den Preis geeinigt.«

»Es handelt sich nicht um Geld, Majestät ...«

»Um was denn?«

Unter dem gleichgültig freundlichen Blick des Königs fühlte Leonardo wieder die Unmöglichkeit, von der Gioconda zu reden.

»Gnädiger Fürst«, sagte er endlich, die Worte mit Anstrengung herausbringend. »O Fürst, seid barmherzig, nehmt mir dieses Bild nicht! Es gehört so wie so Euch, und ich will kein Geld: laßt es mir nur eine Zeitlang – bis zu meinem Tode ...«

Er blieb stecken, kam nicht zu Ende und sah Marguerite mit verzweifeltem Flehen an.

Der König runzelte achselzuckend die Stirne.

»Sire«, ergriff die Prinzessin für den Künstler Partei, »erfüllt die Bitte des maître Léonard. Er hat es verdient, seid gnädig!«

»Auch Ihr seid für ihn, auch Ihr? Es ist ja eine ganze Verschwörung!«

Sie legte die Hand auf die Schulter des Bruders und flüsterte ihm ins Ohr:

»Wieso seht Ihr es nicht? Er liebt sie noch jetzt ...«

»Sie ist doch tot!«

»Was tut das? Liebt man denn die Toten nicht? Ihr habt doch selbst gesagt, daß sie auf dem Bilde lebendig sei. Seid gütig, lieber Bruder, laßt ihm das letzte Andenken an das Vergangene, kränkt den Alten nicht.«

In der Seele des Königs regte sich etwas Halbvergessenes, etwas, das an Schule und Bücher gemahnte, an den ewigen Bund der Seelen, an überirdische Liebe, an ritterliche Treue: er wollte großmütig sein.

»In Gottes Namen, maître Léonard«, sagte er mit einem etwas spöttischen Lächeln, »dein Trotz ist wohl nicht zu beugen. Du hast es verstanden, dir eine Fürbitterin zu finden. Du kannst ruhig sein: ich werde deinen Wunsch erfüllen. Merke dir nur das Eine: das Bild gehört mir und das Geld dafür bekommst du im vorhinein.«

Und er klopfte ihn auf die Schulter.

»Fürchte also nichts, mein Freund: ich gebe dir mein Wort darauf; niemand wird dich von deiner Lisa trennen!«

Marguerite traten Tränen in die Augen: mit einem leisen Lächeln reichte sie dem Künstler die Hand, die er schweigend küßte.

Es ertönte Musik; der Ball begann; die Paare drehten sich im Kreise.

Und niemand dachte mehr an den seltsamen, fremden Gast, der sie wie ein Schatten gestreift hatte und in dem Dunkel der sternenlosen, schwarzen und gleichsam unterirdischen Nacht wieder verschwunden war.

IX.

Francesco Melzi mußte sich vom königlichen Notar der Stadt Amboise, Maître Guillaume Boro, verschiedene Urkunden ausstellen lassen, um eine ihm von einem entfernten Verwandten zugefallene kleine Erbschaft anzutreten. Dieser liebenswürdige Mann war Leonardo freundschaftlich gesinnt.

Als er sich einst mit Francesco über die letzten Arbeiten des Meisters unterhielt, bemerkte er scherzhaft, daß in seinem eigenen Hause ein seltsamer Maler aus den hyperboräischen Ländern wohne. Und als Francesco ihn auszufragen begann, führte er ihn auf den Boden und zeigte ihm hier in dem großen niederen Raume neben dem Taubenschlag, in der Nische des Dachfensters – die winzige Ikonenwerkstätte des Ewtichij Passejewitsch Gagara.

Francesco wollte den Meister, der in den letzten Tagen besonders nachdenklich schien, erheitern; er erzählte ihm von der Werkstätte des barbarischen Malers, wie von einer Kuriosität und riet ihm, sie sich bei Gelegenheit anzusehen. Leonardo erinnerte sich noch an das Gespräch, das er in Mailand, im Schlosse des Moro beim Feste des goldenen Zeitalters mit dem russischen Gesandten Nikita Karatschjarow über das ferne Moskowien geführt hatte; er wollte nun auch einen Künstler aus diesem halb märchenhaften Lande sehen.

Eines Abends, bald nach dem Besuche Franz I. in seiner Werkstätte, begab sich Leonardo, von Francesco Melzi begleitet, zu Maître Guillaume.

An diesem Abend wohnten die Kameraden Ewtichijs einem Maskenball im Schloß bei. Auch Ewtichij hatte die Absicht, hinzugehen; doch Ilja Potapytsch, der selbst bei dem Feste anwesend sein mußte, riet ihm davon ab:

»Wenn bei den hiesigen schamlosen welschen Sitten Männlein und Weiblein in garstigen Larven und in Maskengewändern zu gräßlichen Trinkgelagen zusammenkommen, finden sich auch Gotteslästerer mit Harfen, Geigen, Schalmeien und Tamburinen ein – sie toben und springen und singen unzüchtige Lieder: jeder Mann reicht einem fremden Weib mit Küssen den Becher; die Hände verschlingen sich, die bösen heimlichen Reden verstricken sich und der Teufelsbund ist geschlossen ...«

Ewtichij war übrigens nicht aus Furcht vor Verführung zu Hause geblieben, sondern weil er in der Einsamkeit an der neuen Ikone »Alles was Odem hat, lobe den Herrn!« arbeiten wollte. Er saß auf seinem gewohnten Platz am Fenster und nahm gerade die Arbeit in Angriff.

Alle handwerksmäßigen Verrichtungen in der Kunst waren ihm nicht weniger heilig und teuer als die höchsten Regeln. Er sorgte nicht nur für die Schönheit, sondern auch für die Dauerhaftigkeit und malte seine Ikonen so, daß Jahrhunderte verstreichen konnten, ohne ihnen zu schaden.

Er wählte sich gewöhnlich Linden- oder Ahornholz, von der gleichmäßigsten weißen Farbe, und zwar solches, das auf einem hohen, trockenen Platz gewachsen war und deshalb nicht leicht faulte; er füllte die Fugen sorgfältig aus, imprägnierte das Brett mit festem Störleim, überzog es mit einer Lage weicher alter Leinwand und trug in Schichten die dünne Grundfarbe auf. Diese mußte durchaus ohne Kreide sein, die nur von solchen Meistern gebraucht wurde, die mehr an die Billigkeit als an die Dauerhaftigkeit ihrer Werke dachten; es mußte vielmehr die teuerste, härteste und zarteste Alabasterfarbe sein; er ließ sie trocknen und rieb sie mit Schachtelhalmen ab. Dann zeichnete er mit einem dünnen Pinsel mit Tusche den Umriß des alten Vorbildes und um sich späterhin, während des Malens nicht zu irren, umzog er den ganzen Umriß mit feinen Rillen, die er mittels eines spitzen Nagels hineinkratzte. Schließlich bereitete er die Farben; er löste sie in Eidotter auf und rieb sie auf irdenen Scherben und Muscheln; die zartesten aber bereitete er auf den eigenen Fingernägeln, die ihm die Palette ersetzten. Darauf begann er zu malen, zuerst alles außer den menschlichen Gesichtern: die Berge als runde, flache Mützen, die Bäume als Pilze, die Gräser als gefiederte, schwarzrote Algen, mit den blauen Punkten des Vergißmeinnichts, die Wolken als unregelmäßige weiße Kreise; er trug auf die Gewänder zuerst dunkelbraune Farbe auf, bezeichnete dann die Falten und machte die erhöhten Stellen weiß. Die goldenen Ornamente auf den Gewändern der Engel und Heiligen vergoldete er ebenso wie die Schnörkel und feinsten Grashalme mittels einer Nadel mit geschabtem Dukatengold.

Bis auf die Gesichter war schon alles fertig. An diesem Abend wollte er den wichtigsten und schwierigsten Teil des Werkes in Angriff nehmen: das Malen der menschlichen Gesichter. Er malte sie ebenso wie die Gewänder zuerst mit dunkler Farbe, dann belebte er sie allmählich mit den drei Gesichtsockerfarben, von denen jede immer heller als die vorhergehende war. Zum Schluß schminkte er »die Bäckchen, die Lippen, das Bärtchen, das Mündchen und das Hälschen« rot.

Er begnügte sich nicht mit den schroffen weißen Pinselstrichen der alten Nowgoroder Schule und strebte nach der neuen Art des Meisters Rubljow, die an die alt byzantinische erinnerte und vollkommener war; sie wurde von den damaligen Meistern »wolkig mit Schmelz« bezeichnet. Die rosige Ockerfarbe ging bei ihm in feine, lichte Schatten über; besonders sorgte er aber für wohlgestaltete Männer; ihr Part war bald kurz und kraus, bald lang bis an die Füße reichend, bald breit und auf beide Schultern zurückgeschlagen, bald »struppig mit Zotteln«, bald »rauchig«, oder mit braunen und grauen Haarsträhnen; ihr Gesichtsausdruck war hoheitsvoll ernst, oder leidvoll und zart.

Er hatte sich ganz in die Arbeit vertieft, als plötzlich hinter dem Fenster das Rascheln und Zittern von Taubenflügeln ertönte, Ewtichij wußte, daß die Nachbarin, die junge Frau des alten Bäckers, die Vögel fütterte. Er sah sie oft verstohlen an. Sie stand zwischen Fliederzweigen, im dunklen Viereck des offenen Fensters über dem Vorgarten, ihr Hals war entblößt und er sah von oben in dem Ausschnitt ihres Kleides die Teilung der Brüste und den warmen Schatten dazwischen, sowie auch die kaum merklichen Sommersprossen auf der weißen Haut und die roten Haare, die in der Sonne wie Gold schimmerten.

»Kind, schaue nicht auf Weiberschönheit,« fielen ihm Ilja Potapytsch's Worte ein, »denn diese Schönheit ergötzt zuerst wie Honig und ist nachher bitterer als Wermut und Galle. Erhebe deine Augen nicht zu ihr, auf daß du nicht zugrunde gehst. Kind, fliehe vor der Weiberschönheit ohne zu verweilen, wie Noah vor der Sintflut und Lot vor Sodom und Gomorrha. Denn was ist das Weib? Ein vom Teufel erschaffenes Netz, das durch Süßigkeiten lockt, eine mutwillige Verleumderin der Heiligen, ein Satansfest, ein Schlangenlager, eine Teufelsblume, eine unheilbare Krankheit, eine brünstige Ziege, ein Nordwind, ein Regentag, eine Judenherberge. Es ist besser an Fieber zu kranken, als von einem Weibe besessen zu sein: Das Fieber schüttelt einen und läßt dann wieder los, das Weib zehrt aber, bis man tot ist. Das Weib ist wie die Katze: hier schmerzt es und dort juckt es. Wenn du sie bändigst, widersteht sie dir, wenn du sie schlägst, rast sie wie der Teufel. Böser als alles Böse ist ein böses Weib.«

Ewtichij fuhr fort, die Nachbarin zu betrachten und lächelte ihr sogar unbewußt zu. Als er dann zu seiner Arbeit zurückkehrte, malte er eine der heiligen Märtyrerinnen auf der Ikone mit goldroten Haaren, wie die hübsche Bäckerin sie hatte.

Auf der Stiege ertönten Stimmen. Wlassij, der alte Gesandtschaftsdolmetscher, trat ein und ihm folgten der Hausbesitzer Maître Guillaume Boro, Francesco Melzi und Leonardo.

Als Wlassij Ewtichij mitteilte, daß die Gäste sich seine Werkstätte anschauen wollten, wurde er verlegen und erschrak beinahe. Während die Gäste sich in seiner Werkstätte umsahen, stand er schweigend mit niedergeschlagenen Augen da und richtete nur ab und zu einen verstohlenen Blick auf Leonardo, dessen Gesicht auf ihn einen mächtigen Eindruck machte und ihn an das Antlitz des Propheten Elias, wie er im »Handbuch der Ikonenmalerei« dargestellt war, erinnerte.

Nachdem Leonardo die Einrichtung der winzigen Werkstätte, die noch nie gesehenen Pinsel, Feilen, Brettchen, Muscheln mit Farben, Näpfchen mit Leim und Firniß besichtigt hatte, lenkte er seine Aufmerksamkeit auf die Ikone »Alles, was Odem hat, lobe den Herrn«. Obwohl Wlassij, der mehr verwirrte als erklärte, den Sinn der Inschriften nicht zu übersetzen vermochte, begriff der Künstler doch den Vorwurf der Ikone und wunderte sich darüber, daß dieser Barbar, der Sohn »eines tierischen Stammes«, wie die italienischen Reisenden die Russen nannten, an die Grenzen der ganzen menschlichen Weisheit gerührt hatte: war denn derjenige, der auf dem Throne über den Sphären der sieben Planeten saß und von allen Stimmen der Natur, den Stimmen des Himmels und der Hölle, des Feuers und des Sturmwindes, der Pflanzen und der Menschen und der Engel gepriesen wurde, nicht der »Urheber der ersten Bewegung« der göttlichen Mechanik, der Primo Motore von Leonardo selbst?

Der Meister betrachtete mit großer Aufmerksamkeit und Neugierde auch das Handbuch mit den Vorlagen für die Ikonenmalerei, ein großes Heft, mit in Kohle und roter Tinte skizzierten Darstellungen von Ikonen. Hier sah er verschiedene russische Madonnen: die »Linderin meiner Schmerzen«, die »Freude aller Leidtragenden«, die »Frohlockung«, die »Zerknirschung« und die »Lebenbringende Quelle«, wo die Jungfrau an einem Wasserfall steht, aus dem alle Geschöpfe ihren Durst stillen; die »Dolorosa« mit dem Jesukinde, das sich, wie entsetzt, von dem Kreuze, das ihm ein trauernder Erzengel darbietet, abwendet; den Heiland »mit dem nassen Bart«, mit geraden, sich nicht kräuselnden Haaren, – das wundertätige abgeprägte Bildnis auf dem Schweißtuche, mit dem sich der Herr sein Antlitz abwischte, als er nach Golgatha ging; und den Heiland »das Heilige Schweigen« mit den auf der Brust gefalteten Händen.

Leonardo fühlte, daß es keine Malerei sei oder wenigstens nicht das, was er für Malerei hielt: aber ungeachtet der Unvollkommenheit der Zeichnung, der Verteilung von Licht und Schatten, der Perspektive und Anatomie war hier ebenso wie auf den alten byzantinischen Mosaiken (Leonardo hatte sie in Ravenna gesehen) eine Kraft des Glaubens enthalten, die älter und zugleich jünger erschien als die in den frühesten Werken der italienischen Meister Cimabue und Giotto; es lag darin eine Vorahnung einer neuen, großen Schönheit; wie eine geheimnisvolle Dämmerung, in der der letzte Strahl der hellenischen Anmut mit dem ersten Strahl eines noch unbekannten Morgens verschmolz. Die Wirkung dieser manchmal plumpen, barbarischen, seltsamen, halbwilden und zugleich durchgeistigten, wie die Traumbilder eines Kindes zarten und durchsichtigen Gestalten war wie die von Musik; selbst wenn sie die Naturgesetze verletzten, streiften sie die Welt des Übermenschlichen.

Besonders fielen dem Künstler zwei Darstellungen von Johannes dem Täufer auf: auf der einen trug der Heilige in der linken Hand eine goldene Schale mit dem urewigen Kinde, auf das er mit der rechten Hand hinwies: »Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt«; auf der zweiten Darstellung mit »der Enthauptung« wies er den Naturgesetzen zum Trotz zwei Köpfe auf: einen lebendigen auf den Schultern und einen zweiten, toten in einem Gefäß, das er in den Händen trug, wie zum Zeichen dessen, daß der Mensch nur nach der Abtötung alles Menschlichen die Schwingen des Übermenschlichen erlangen kann. Beide Antlitze waren seltsam und furchtbar: der Blick der weit geöffneten Augen erinnerte an den in die Sonne gerichteten Blick eines Adlers; Bart und Haare flogen wie im starken Wind; das zottige Kamelhaargewand erinnerte an Vogelgefieder; die nur mit Haut bedeckten Knochen der abgemagerten, übermäßig langen, dünnen Arme und Beine erschienen leicht, wie zum Fliegen bestimmt, als wären sie innen hohl und leer wie die Knorpel und Knochen von Vögeln; die beiden Riesenflügel hinter den Schultern erinnerten an die Flügel des Schwanes oder jenes großen Vogels, von dem Leonardo sein ganzes Leben geträumt hatte.

Und dem Künstler fielen die in Giovanni Beltraffios Tagebuch angeführten Worte des Propheten Maleachi ein:

»Siehe, ich will meinen Engel senden, der vor mir her den Weg bereiten soll. Und bald wird kommen zu seinem Tempel der Herr, den ihr sucht; und der Engel des Bundes, den ihr begehret, siehe, er kommt.«

X.

Gleich nach der Abreise des Königs stellte sich in Amboise die gewohnte Stille und Öde ein. Man hörte nur das gemessene, metallene Schlagen der Uhr auf dem Turme Harloge, und in den Abendstunden das Geschrei der wilden Schwäne auf den Sandbänken der spiegelglatten, den blaßgrünen Himmel wiederspiegelnden Loire.

Leonardo arbeitete wie bisher an Johannes dem Täufer. Die Arbeit ging aber, je mehr sie fortschritt, immer langsamer und schwieriger vonstatten. Francesco schien es manchmal, daß der Meister Unmögliches erstrebe. Mit derselben Kühnheit, mit der er einst in Monna Lisa das Geheimnis des Lebens enthüllt hatte, erforschte er jetzt in diesem auf das Kreuz von Golgatha hinweisenden Johannes dasjenige, worin Tod und Leben zu einem einzigen, noch größeren Geheimnis zusammenschmelzen.

Manchmal in der Dämmerung nahm Leonardo die Hülle von der Gioconda und betrachtete sie lange wie auch den daneben stehenden Johannes, als vergleiche er sie miteinander. Und dann schien es manchmal dem Schüler, – vielleicht war es nur ein Spiel von Licht und Schatten –, daß der Gesichtsausdruck beider, des Jünglings und des Weibes sich verändere, daß sie gleich Gespenstern aus der Leinwand herausträten, unter dem unverwandten Blick des Meisters von einem übernatürlichen Leben erfüllt würden und daß Johannes der Monna Lisa und Leonardo selbst, wie er in seiner Jugend war, ähnlich werde, wie ein Sohn seinen Eltern ähnlich sieht.

Die Gesundheit des Meisters ließ zu wünschen übrig, vergeblich flehte Melzi ihn an, sich auszuruhen und die Arbeit zu unterbrechen. Leonardo wollte nichts von Ruhe hören.

Einmal im Herbst 1518 fühlte er sich besonders unwohl. Er überwand jedoch Krankheit und Müdigkeit und arbeitete den ganzen Tag durch; er machte nur früher als sonst Schluß und bat Francesco, ihn in das im oberen Stockwerk gelegene Schlafgemach zu geleiten: die hölzerne Wendeltreppe war steil; infolge häufiger Schwindelanfälle traute er sich nicht mehr ohne fremde Hilfe hinaufzusteigen.

Francesco stützte auch an diesem Abend den Meister. Leonardo ging langsam, mit Anstrengung, und blieb nach jeden zwei, drei Stufen stehen, um Atem zu holen.

Plötzlich schwankte er und stützte sich mit der ganzen Schwere seines Körpers auf den Schüler. Dieser sah, daß ihm nicht wohl sei und rief nach dem alten Diener, Battisto Villanis, da er fürchtete, den Meister nicht allein halten zu können. Sie faßten ihn beide, er sank in ihre Arme und sie riefen um Hilfe; als noch zwei Diener herbeigeeilt kamen, trugen sie den Kranken in das Schlafgemach.

Er blieb sechs Wochen zu Bette, wobei er, wie gewöhnlich, von ärztlicher Behandlung nichts wissen wollte. Die rechte Körperhälfte war gelähmt und die rechte Hand war steif.

Zu Beginn des Winters besserte sich sein Befinden. Die Besserung ging jedoch schwer und langsam vor sich.

Leonardo hatte sein ganzes Leben lang beide Hände, die linke ebenso wie die rechte, gebraucht, und sie waren ihm beide für seine Arbeit notwendig: mit der linken zeichnete er, mit der rechten malte er seine Bilder. Was von der einen geleistet wurde, konnte von der anderen nicht ausgeführt werden; auf dieser Verbindung zweier entgegengesetzter Kräfte beruhte, wie er behauptete, seine Überlegenheit andern Künstlern gegenüber. Doch jetzt, da die Finger seiner rechten Hand infolge des Schlaganfalls gelähmt waren, so daß er sie fast nicht gebrauchen konnte, fürchtete er, auf das Malen ganz verzichten zu müssen.

Er stand in den ersten Tagen des Dezember vom Bett auf, ging zuerst in den oberen Räumen herum und stieg dann in die Werkstätte hinab; zur Arbeit kehrte er jedoch noch nicht zurück.

Eines Tages in der stillen Stunde, als alle im Hause ihre Nachmittagsruhe hielten, ging Francesco, der den Meister nach etwas fragen wollte und ihn in den oberen Räumen nicht fand, in die Werkstätte hinunter, öffnete vorsichtig die Tür und schaute hinein. In der letzten Zeit war Leonardo, der düsterer und menschenscheuer als je geworden, mit Vorliebe allein in seinem Zimmer, das niemand, ohne vorher anzuklopfen, betreten durfte; er schien zu fürchten, beobachtet zu werden.

Francesco sah durch die halb geöffnete Tür, wie er vor dem Johannes stand und mit der kranken Hand zu malen versuchte: sein Gesicht war in einer verzweifelten Anstrengung wie durch einen Krampf verzerrt; die Winkel der fest zusammengepreßten Lippen waren gesenkt; er runzelte die Brauen; die grauen Haarsträhnen klebten an der schweißbedeckten Stirne. Die steifen Finger gehorchten ihm nicht: der Pinsel zitterte in der Hand des großen Meisters, wie in der Hand eines unerfahrenen Schülers.

Francesco betrachtete voll Entsetzen, mit verhaltenem Atem, ohne eine Bewegung zu wagen, diesen letzten Kampf des lebendigen Geistes mit dem sterbenden Fleische.

XI.

Der Winter war in jenem Jahre streng; der Eisgang zerstörte die Brücken auf der Loire; die Menschen erfroren auf den Landstraßen; die Wölfe kamen bis in die Vorstadt; der alte Gärtner versicherte, er hätte sie im Garten des Schlosses Du Cloux gesehen: man konnte des Nachts das Haus nicht ohne Waffen verlassen; die Zugvögel fielen tot herunter. Als Francesco eines Morgens auf die Außenstiege hinaustrat, fand er im Schnee eine halberfrorene Schwalbe und brachte sie dem Meister. Dieser erwärmte sie mit seinem Atem und richtete ihr in einer warmen Ecke hinter dem Herde ein Nest ein, um sie im Frühjahr in Freiheit zu setzen.

Er machte keine Versuche mehr, seine Arbeit wieder aufzunehmen: den unvollendeten Johannes versteckte er zugleich mit den übrigen Bildern, Zeichnungen, Pinseln und Farben in den verborgensten Winkel der Werkstätte. Die Tage verstrichen in Müßiggang. Manchmal besuchte ihn der Notar, Maître Guillaume; er sprach von der bevorstehenden Ernte, von der Salzteuerung, davon, daß bei den Schafen von Languedoc die Wolle länger wäre, während diejenigen von Berny und Limousin ein besseres Fleisch hätten; oder er erklärte der Köchin Maturina, wie man die jungen Hasen an einem leicht beweglichen Knochen in den Vorderläufen von den alten unterscheiden könne. Es besuchte ihn auch ein Franziskanermönch, der Beichtvater Francesco Melzis, Fra Guglielmo, der aus Italien stammte und sich vor langer Zeit in Amboise angesiedelt hatte. Der schlichte, lustige und freundliche Alte erzählte ausgezeichnet alte Novellen von den Florentiner Schelmen und Spaßvögeln. Leonardo lauschte ihm und lachte dabei ebenso gutmütig wie der Mönch selbst. Sie spielten an den langen Winterabenden Dame, Hölzchenspiel und Karten.

Es dämmerte früh; durch die Fenster fiel bleiernes Licht herein; die Gäste gingen fort. Dann ging Leonardo stundenlang im Zimmer auf und ab; zuweilen schaute er zu dem Mechaniker Zaroastro da Peretola hinüber. Jetzt war dieser Krüppel mehr denn je ein lebendiger Vorwurf, ein Hohn auf die Mühe des ganzen Lebens des Meisters – auf die Erschaffung von Menschenflügeln. Astro saß, wie gewöhnlich, zusammengekauert in einer Ecke und wickelte ein langes Leinenband um ein rundes Stäbchen; er sägte Klötzchen und schnitzte Kreisel; oder er wiegte sich mit geschlossenen Augen langsam hin und her, bewegte blöde lächelnd die Arme wie Flügel und summte wie im Traume immer ein und dasselbe Liedchen durch die Nase:

Kraniche, Stare,
Falken und Aare.
Die Sonne winkt.
Die Erde versinkt,
Kraniche, Stare,
Falken und Aare.

Dieses wehmütige Liedchen stimmte ihn noch trauriger, und das kalte Dämmerlicht erschien ihm noch hoffnungsloser.

Endlich wurde es ganz dunkel. Im Hause trat Stille ein. Hinter den Fenstern heulte der Sturm und ächzten die nackten Äste der alten Bäume; diese Laute klangen wie ein Gespräch böser Riesen. Zu dem Heulen des Windes gesellte sich ein anderes, noch kläglicheres, wohl das Heulen der Wölfe an der Waldlichtung. Francesco machte im Kamin Feuer und Leonardo setzte sich zu ihm.

Melzi spielte gut die Laute und hatte eine angenehme Stimme. Er bemühte sich manchmal, die düsteren Gedanken des Meisters durch Musik zu vertreiben. Einmal sang er ihm das von Lorenzo Medici verfaßte alte Lied, welches den sogenannten Trionfo, – den Karnevalszug von Bacchus und Ariadne – begleitet hatte; ein unendlich freudiges und trauriges Liebeslied, das Leonardo liebte, weil er es in der Jugend oft gehört hatte:

Wie so herrlich ist die Jugend,
Doch so flüchtig! Laß die Sorgen,
Willst du glücklich sein, so sei es,
Und verschieb es nicht auf morgen.

Der Meister lauschte mit gesenktem Haupte: vor ihm erstand eine Sommernacht mit kohlschwarzen Schatten, grelles, beinahe weißes Mondlicht in einer menschenleeren Straße, er hörte Lautentöne vor einer Marmorloggia und das gleiche Liebeslied. Gedanken an die Gioconda tauchten vor ihm wieder auf.

Der letzte Ton zitterte, verklang und verschmolz mit dem Getöse und Dröhnen des Schneesturmes. Als Francesco, der zu den Füßen des Meisters saß, zu ihm die Augen erhob, sah er über das greise Antlitz Tränen fließen.

Zuweilen nahm Leonardo seine Tagebücher wieder vor und notierte neue Gedanken darüber, was ihn jetzt am meisten beschäftigte – über den Tod:

»Jetzt siehst du, daß deine Hoffnung und dein Wunsch, in die Heimat, zum früheren Sein zurückzukehren, dem Streben des Schmetterlings nach dem Feuer gleicht; der Mensch, der in ununterbrochenen Wünschen, in freudiger Ungeduld stets ein neues Frühjahr, einen neuen Sommer, neue Monde und neue Jahre herbeiwünscht und wähnt, das Erwartete habe sich nur verspätet, will nicht einsehen, daß er nur seinen eigenen Verfall und sein Ende herbeiwünscht. Doch dieser Wunsch ist das Wesen der Natur – die Seele der Elemente, die sich in der menschlichen Seele eingekerkert fühlt, und aus dem Leibe ewig zu dem, der sie gesandt hat, zurückstrebt.«

»In der Natur gibt es nichts als Kraft und Bewegung; die Kraft ist aber der Wille zum Glück – die ewige Sehnsucht der Welt nach dem letzten Gleichgewicht, nach dem Urheber der ersten Bewegung.«

»Wenn das Gewünschte mich mit dem Wünschenden vereinigt, wird der Wunsch gestillt und daraus erwächst eine Freude: so ruht der Liebende, wenn er sich mit der Geliebten vereinigt hat, so ruht das Gewicht, wenn es gefallen ist.«

»Der Teil will sich stets mit dem Ganzen vereinigen, um der Unvollkommenheit zu entrinnen: Die Seele wünscht stets im Körper zu bleiben, da sie ohne seine Organe weder handeln, noch fühlen kann. Doch bei der Zerstörung des Leibes wird die Seele nicht zerstört; sie wirkt im Körper ebenso wie der Wind in den Orgelpfeifen: wenn eine der Pfeifen zerstört ist, kann der Wind keinen richtigen Ton hervorbringen.«

»Ebenso wie ein nützlich verwendeter Tag zu einem freudigen Schlafe führt, führt auch ein gut gelebtes Leben zu einem freudigen Tode.«

»Jedes gut gelebte Leben ist ein langes Leben.«

»Jedes Übel hinterläßt in der Erinnerung eine Bitternis, außer dem allergrößten – dem Tod, der zugleich mit dem Leben auch die Erinnerung zerstört.«

»Als ich glaubte, das Leben kennen zu lernen, lernte ich nur das Sterben.«

»Die äußere Notwendigkeit der Natur entspricht der inneren Notwendigkeit der Vernunft: Alles ist vernünftig, alles ist gut, denn alles ist notwendig.«

»Dein Wille geschehe, Vater unser, auf Erden wie im Himmel.«

Auf diese Weise rechtfertigte er im Tode die göttliche Notwendigkeit – den Willen des Urhebers der ersten Bewegung. Doch in der Tiefe seines Herzens empörte sich etwas, es konnte und wollte sich nicht der Vernunft fügen.

Einst träumte ihm, er wäre als scheintot begraben, im Sarge unter der Erde erstickend, erwacht und hätte sich mit einer verzweifelten Anstrengung mit den Händen gegen den Sargdeckel gestemmt. – Am nächsten Morgen erinnerte er Francesco an seinen Wunsch, nicht eher begraben zu werden, als bis die ersten Anzeichen der Verwesung erschienen.

In den Winternächten, wenn er den Sturm stöhnen hörte und die Kohlenglut im Herde verglimmen sah, dachte er an seine Kinderjahre in dem Dorfe Vinci zurück, an den unendlich fernen und freudigen, gleichsam lockenden Schrei der Kraniche: »fliegen wir! fliegen wir!«, den harzigen Duft des Heidekrauts, den Blick auf Florenz, das unten im sonnigen Tal lag, durchscheinend violett wie ein Amethyst und so klein, daß es zwischen zwei goldigen Zweigen des die Abhänge des Monte Albano bedeckenden Gebüsches Platz fand. – Da fühlte er, daß er das Leben noch immer liebte, daß er, ein Halbtoter, sich noch immer daran klammerte und den Tod als eine schwarze Grube fürchtete, in die er, wenn nicht heute, so morgen mit dem Schrei des letzten Entsetzens stürzen könnte. Eine solche Wehmut schnürte ihm das Herz zusammen, daß er hätte weinen können, wie ein kleines Kind. Alle Tröstungen der Vernunft, alle Worte von der göttlichen Notwendigkeit, von dem Willen des Urhebers der ersten Bewegung erschienen ihm jetzt verlogen; sie verflogen wie Rauch vor seinem sinnlosen Entsetzen. Die dunkle Ewigkeit, die Geheimnisse der überirdischen Welt würde er für einen einzigen Sonnenstrahl, für einen Hauch des vom Duft knospender Blätter erfüllten Frühlingswindes, für einen einzigen Zweig mit den goldgelben Blüten vom Monte Albano hingeben.

Des Nachts, wenn sie allein blieben und nicht schlafen wollten, – Leonardo litt in letzter Zeit an Schlaflosigkeit – las ihm Francesco aus dem Evangelium vor.

Dieses Buch war ihm noch nie so neu, so ungewöhnlich und von den Menschen so mißverstanden erschienen. Manche Stellen wurden, wenn er sich in sie hineindachte, zu tiefen Abgründen. Eine solche Stelle war im vierten Kapitel des Evangeliums Lukas. Als der Herr die beiden ersten Versuchungen, – mit dem Brote und der Macht – besiegt hatte, versuchte ihn der Teufel mit den Flügeln:

»Und er führte ihn gen Jerusalem, und stellte ihn auf des Tempels Zinne, und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so laß' dich von hinnen hinunter; denn es stehet geschrieben: Er wird befehlen seinen Engeln von dir, daß sie dich bewahren, und auf den Händen tragen, auf daß du nicht etwa deinen Fuß an einen Stein stoßest. – Jesus antwortete und sprach zu ihm: Es ist gesaget: Du sollst Gott, deinen Herrn, nicht versuchen.«

Dieses Wort erschien jetzt Leonardo als die Antwort auf die Frage seines ganzen Lebens: ob die Menschen je Flügel haben werden?

»Und da der Teufel alle Versuchung vollendet hatte, wich er von ihm eine Zeitlang

»Eine Zeitlang? Was bedeutet das?« dachte Leonardo, »Wann wird der Teufel wieder an ihn herantreten?«

Andere Worte, die ihm als von dem größten Ärgernis erfüllt erscheinen konnten und seiner Erfahrung und seinem Wissen von den Gesetzen der natürlichen Notwendigkeit am meisten widersprachen, beirrten ihn nicht:

»So ihr Glauben habt als ein Senfkorn, so möget ihr sagen zu diesem Berge: Heb' dich von hinnen dorthin! So wird er sich heben.«

Er war stets der Ansicht gewesen, daß das letzte, den Menschen vielleicht unerreichbare Wissen und der letzte ebenso unerreichbare Glaube auf verschiedenen Wegen zum gleichen Ziele führen müßten: Zu der Verschmelzung der inneren Notwendigkeit mit der äußeren, des menschlichen Willens mit dem Willen Gottes. Wer mit dem wahren Glauben zum Berge sprechen würde: »Hebe dich auf und wirf dich ins Meer,« der weiß, daß es nicht anders als nach seinem Wort geschehen kann; für ihn ist das Übernatürliche – natürlich. War aber der verwundende Stachel dieser Worte nicht darin enthalten, daß es schwieriger ist, »Glauben als ein Senfkorn« zu haben, als zu dem Berge zu sagen: »Hebe dich auf und wirf dich ins Meer«?

Er bemühte sich vergeblich, auch ein anderes, noch geheimnisvolleres Wort des Heilands zu erfassen:

»Ich preise dich, Vater und Herr des Himmels und der Erde, daß du solches den Weisen und Klugen verborgen hast, und hast es den Unmündigen offenbaret. Ja, Vater; denn es ist also wohlgefällig gewesen von dir.«

Wenn Gott ein Geheimnis hat, das er den Kindern offenbart, wenn vollkommene Einfalt nicht vollkommene Weisheit ist, warum heißt es dann in demselben Buch:

»Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben?«

Zwischen diesen beiden Worten öffnete sich wieder ein Abgrund.

Und dann hieß es noch:

»Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen! – Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach solchem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, daß ihr alles bedürfet. So wird euch solches alles zufallen.«

Leonardo gedachte seiner Erfindungen, Entdeckungen und Maschinen, welche dem Menschen zur Macht über die Natur verhelfen sollten, und er fragte sich: »Ist denn das alles wirklich nur Sorge um den Leib? Um das Essen, das Trinken und die Kleidung? Nur der Dienst des Mammons? Und ist in menschlicher Arbeit nichts als Nutzen enthalten? Und wenn die Liebe Maria ist, die das gute Teil erwählt hat, zu den Füßen Jesu sitzt und seiner Rede zuhört, ist dann die Weisheit nur die Martha, die viele Sorge und Mühe hat, während eins nur not ist?

Er wußte übrigens aus eigener Erfahrung, daß in der tiefsten Weisheit, ebenso wie auf dem schlüpfrigen Rand eines Abgrundes, die furchtbarsten und unüberwindlichsten Versuchungen wohnen. Er gedachte dieser Geringsten, seiner eigenen Schüler, Cesare, Astro, Giovanni, die von ihm verführt, vielleicht durch seine Schuld zugrunde gegangen waren, als er diese Worte hörte:

»Wer aber ärgert dieser Geringsten Einen, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehänget und er ersäufet würde im Meer, da es am tiefsten ist. – Weh der Welt der Ärgernis halber! Es muß ja Ärgernis kommen; doch weh dem Menschen, durch welchen Ärgernis kommt!«

Hieß es aber denn nicht in demselben Buch:

»Und selig ist, der sich nicht an mir ärgert. – Meinet ihr, daß ich herkommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage: Nein, sondern Zwietracht!«

Am meisten entsetzte er sich über die Erzählung des Matthäus und Markus von dem Tode Christi:

»Und von der sechsten Stunde an ward eine Finsternis über das ganze Land bis zu der neunten Stunde. Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut und sprach: Eli, Eli, lama asabthani? Das ist: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? – Jesus schrie abermals laut und verschied.«

» Warum hast du mich verlassen?« dachte Leonardo, »War dieser dem Vater geltende Todesschrei des Sohnes, der gesagt hat: Ich und der Vater sind eines› nur seinen Feinden oder auch anderen Menschen als der Schrei der letzten Verzweiflung erschienen? Und wenn man seine ganze Lehre auf die eine Wagschale legte, und diese vier Worte auf die andere, welche würde das Übergewicht haben?«

Während er daran dachte, glaubte er schon die schwarze Grube vor sich zu sehen, in die er, wenn nicht heute, so morgen strauchelnd und mit dem Schrei des letzten Entsetzens hinabstürzen würde: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«

XII.

Zuweilen blickte er morgens beim Aufstehen durch die gefrorenen Scheiben auf die Schneehügel, den grauen Himmel, die bereiften Bäume und ihm schien, der Winter würde nie enden.

Anfangs Februar aber kam ein warmer Hauch; auf der Sonnenseite der Häuser fielen von den herabhängenden Eiszapfen hell aufklatschende, durchsichtige Tropfen herunter. Die Spatzen zwitscherten; die Baumstämme wurden von den dunklen Kreisen des tauenden Schnees umringt; die Knospen schwollen an; und durch die jetzt durchsichtigeren Wolken schien zuweilen der blaßblaue Himmel durch.

Des Morgens, wenn die schrägen Sonnenstrahlen in die Werkstätte drangen, stellte Francesco den Sessel des Meisters hinein, und der alte Mann saß stundenlang regungslos da und wärmte sich gesenkten Hauptes, die abgemagerten Hände im Schoß, sowohl diese Hände als das Gesicht mit den halbgeschlossenen Lidern drückten unendliche Müdigkeit aus.

Die Schwalbe, die in der Werkstätte überwintert hatte, und ganz zahm geworden war, kreiste durch den Raum, setzte sich auf Leonardos Schulter oder Hand und ließ sich greifen und auf das Köpfchen küssen; dann flog sie wieder auf und schwirrte mit ungeduldigem Schreien herum, als fühle sie den Frühling nahen. Mit aufmerksamen Blicken verfolgte er jede Wendung ihres kleinen Körpers, jede Bewegung der Flügel, und der Gedanke an die menschlichen Flügel erwachte in ihm von neuem.

Eines Tages öffnete er die große Truhe, die in einer Ecke der Werkstätte stand und begann in den Stößen von Papieren, Heften und zahllosen einzelnen Blättern mit Zeichnungen von Maschinen und fragmentarischen Notizen aus den von ihm verfaßten zweihundert »Büchern von der Natur« herumzustöbern.

Sein ganzes Leben lang hatte er sich vorgenommen, dieses Chaos zu ordnen, die Fragmente durch einen gemeinsamen Gedanken zu verbinden und sie zu einem harmonischen Ganzen, zu einem großen Buch vom Weltgebäude zu vereinigen; – doch hatte er es stets aufgeschoben. Er wußte, daß sich hier Entdeckungen befanden, welche die Arbeit der Forschung um einige Jahrhunderte verkürzen, die Schicksale der Menschheit verändern und sie in andere Bahnen lenken könnten. Und zugleich wußte er auch, daß es nie eintreten würde: jetzt war es schon zu spät, alles würde ebenso fruchtlos, ebenso sinnlos zugrunde gehen wie das Heilige Abendmahl, das Sforzadenkmal und die Schlacht bei Anghiari. Denn auch in der Wissenschaft hatte er nur unbeschwingte Wünsche gehegt, nur begonnen und nichts vollendet; er hatte nichts erreicht und würde nichts erreichen, als ob ihn das spöttische Geschick für die Maßlosigkeit seiner Wünsche mit der Nichtigkeit seiner Taten bestrafen wollte. Er sah voraus, daß die Menschen das suchen würden, was er schon gefunden hatte; sie würden das entdecken, was er bereits entdeckt hatte; sie würden seine Wege gehen und seinen Spuren folgen, aber an ihm vorbeigehen, ihn vergessen, als hätte er überhaupt nie gelebt.

Er suchte ein kleines, vor Alter vergilbtes Heft hervor, das »Von den Vögeln« betitelt war, und legte es beiseite.

In den letzten Jahren hatte er sich beinahe gar nicht mit der Flugmaschine befaßt, doch stets an sie gedacht. Während er den Flug der gezähmten Schwalbe beobachtete, fühlte er einen neuen Gedanken in sich reifen; von der letzten, vielleicht wahnsinnigen Hoffnung erfüllt, daß seine ganze Lebensarbeit durch die Erschaffung von Menschenflügeln gerettet und gerechtfertigt werden würde, entschloß er sich, einen letzten Versuch vorzunehmen.

Er nahm diese neue Arbeit mit derselben Beharrlichkeit und derselben fieberhaften Hast in Angriff, mit der er Johannes den Täufer gemalt hatte; er dachte nicht mehr an den Tod, überwand Schwäche und Krankheit, vergaß Schlaf und Nahrung und saß ganze Tage und Nächte über den Zeichnungen und Berechnungen. Manchmal schien es Francesco, es sei keine Arbeit, sondern das Delirium eines Wahnsinnigen. Mit wachsender Bangigkeit und Furcht blickte der Schüler auf das Antlitz des Meisters, das durch den Krampf einer verzweifelten, gleichsam wütenden Willensanstrengung verzerrt war und den Wunsch nach Unmöglichem, nach dem, was die Menschen nicht ungestraft wünschen dürfen, auszudrücken schien.

Es verging eine Woche. Melzi wich nicht von seiner Seite und durchwachte ganze Nächte. Nach der dritten durchwachten Nacht bemächtigte sich Francescos eine tödliche Müdigkeit. Er kauerte auf dem Sessel vor dem erloschenen Kamin und schlummerte ein.

Der Morgen graute durch die Fenster. Die Schwalbe war erwacht und zwitscherte. Leonardo saß mit der Feder in der Hand vor seinem kleinen Arbeitstisch, den Kopf über ein mit Ziffern beschriebenes Papierblatt gesenkt.

Plötzlich schwankte er leise und seltsam; die Feder entglitt seinen Fingern; der Kopf begann immer tiefer zu sinken. Er machte eine Anstrengung, um aufzustehen und Francesco zu rufen; doch der kaum hörbare Schrei erstarb ihm auf den Lippen; er fiel plump und schwer mit seinem ganzen Körpergewicht auf den Tisch und warf ihn um. Die heruntergebrannte Kerze fiel zu Boden. Der durch den Lärm geweckte Melzi sprang auf. Im Morgendämmerlicht erblickte er den Meister neben dem umgestoßenen Tisch, der erloschenen Kerze und den verstreuten Papierblättern auf dem Boden liegen. Die Schwalbe kreiste erschrocken im Zimmer umher und berührte Decke und Wände mit den raschelnden Flügeln.

Francesco wußte sogleich, daß es der zweite Schlaganfall sei.

Der Kranke lag einige Tage bewußtlos und setzte im Delirium die mathematischen Berechnungen fort. Als er zu sich kam, verlangte er sofort nach den Zeichnungen der Flugmaschine.

»Meister, das geht nicht, wenn Ihr es auch wünscht!« rief Francesco aus. »Ich sterbe lieber, als daß ich zulasse, daß Ihr die Arbeit wieder aufnehmt, ehe Ihr Euch ganz erholt habt ...«

»Wo hast du sie hingelegt?« fragte der Kranke ärgerlich.

»Wo ich sie auch hingelegt habe, dürft Ihr ruhig sein. Sobald Ihr gesund seid, gebe ich Euch alles sofort wieder.«

»Wo hast du sie hingelegt?« wiederholte Leonardo.

»Ich habe sie auf den Boden getragen und verschlossen.«

»Wo ist der Schlüssel?«

»Bei mir.«

»Gib ihn her.«

»Aber ich bitte, Messere, wozu braucht Ihr ihn denn?«

»Gib ihn sofort her.«

Francesco zögerte. In den Augen des Kranken flammte Zorn auf. Um ihn nicht zu reizen, gab ihm Melzi den Schlüssel. Leonardo versteckte ihn unter das Kissen und beruhigte sich.

Sein Befinden besserte sich früher, als Francesco erwartet hatte.

Es war anfangs April. Leonardo war den ganzen Tag über ruhig gewesen und hatte mit Fra Guglielmo Dame gespielt. Francesco war abends, durch die vielen schlaflosen Nächte ermüdet, auf der Bank zu Füßen des Meisters den Kopf an das Bett gelehnt, eingenickt. Plötzlich erwachte er, als hätte es ihm einen Ruck gegeben. Er lauschte und konnte den Atem des Schlafenden nicht wahrnehmen. Das Nachtlicht war erloschen. Er zündete es an und sah das Bett leer; er durchschritt alle oberen Räume des Hauses und weckte Battisto Villanis; auch dieser hatte Leonardo nicht gesehen.

Francesco wollte schon nach unten, in die Werkstätte, gehen, als ihm die Papiere, die er auf dem Boden versteckt hatte, einfielen. Er lief hin, öffnete die unverschlossene Tür und erblickte Leonardo, der vor einer alten, ihm als Tisch dienenden Kiste halbangekleidet auf dem Boden saß. Er schrieb beim Scheine des Stumpfes einer Unschlittkerze, – er machte wohl Berechnungen für die Maschine; dabei murmelte er leise und schnell wie im Delirium. Dieses Murmeln, die brennenden Augen, die grauen, zerzausten Haare, die borstigen, in einer übermäßigen Gedankenanstrengung zusammengezogenen Brauen, die Winkel des eingefallenen Mundes, die mit dem Ausdruck greisenhafter Schwäche gesenkt waren, und das ganze Gesicht, das ihm so fremd und unbekannt erschien, als hätte er es nie zuvor gesehen, – das alles war so furchtbar, daß Francesco an der Türschwelle stehen blieb und nicht einzutreten wagte.

Plötzlich ergriff Leonardo den Bleistift und durchstrich den mit Ziffern bedeckten Bogen so, daß die Bleistiftspitze abbrach; dann sah er sich um, gewahrte den Schüler und erhob sich bleich und wankend.

Francesco stürzte zu ihm hin, um ihn zu stützen.

»Ich habe dir gesagt,« sagte der Meister mit einem seltsamen, leisen Lächeln, »ich habe ja gesagt, Francesco, daß ich bald fertig bin. Nun, ich bin also fertig, ich bin mit allem fertig. Fürchte jetzt nichts, ich werde nichts mehr tun. Genug! Ich bin alt und dumm geworden, dümmer als Astro. Ich weiß nichts. Und das, was ich gewußt habe, habe ich vergessen. Was will ich denn noch mit den Flügeln ... Zum Teufel damit, zum Teufel! ...«

Er nahm die Papierbogen vom Tisch, knitterte sie zusammen und zerriß sie voll Wut.

Von diesem Tage an ging es mit ihm wieder bergab. Melzi ahnte, daß er diesmal nicht wieder aufstehen würde. Manchmal lag der Kranke ganze Tage lang bewußtlos, wie in tiefer Ohnmacht.

Francesco war strenggläubig. Er glaubte voller Einfalt an alles, was die Kirche lehrte. Er allein war dem Einfluß jenes verderblichen Zaubers, »des bösen Auges« Leonardos entgangen, dem beinahe alle, die in seine Nähe kamen, unterlagen. Obwohl er wußte, daß der Meister die Gebräuche der Kirche nicht achtete, erriet er doch durch den Instinkt der Liebe, daß Leonardo nicht gottlos sei. Doch vertiefte er sich nicht in diese Frage und forschte nicht weiter nach.

Jetzt entsetzte er sich aber bei dem Gedanken, daß der Meister ohne Beichte sterben könnte. Er hätte seine Seele hingegeben, um ihn zu erretten, er wagte jedoch nicht, mit ihm darüber zu sprechen.

Als er eines Abends am Bette des Kranken saß und ihn mit dem ihn ununterbrochen beschäftigenden furchtbaren Gedanken anblickte, fragte ihn Leonardo:

»Woran denkst du?«

»Fra Guglielmo war heute früh da,« antwortete Francesco mit unsicherer Stimme, »er wollte Euch sehen. Ich habe gesagt, das ginge nicht ...« Der Meister blickte ihm in die von Flehen, Furcht und Hoffnung erfüllten Augen.

»Du hast an etwas anderes gedacht, Francesco, warum willst du es mir nicht sagen?«

Der Schüler schwieg mit gesenktem Blick.

Leonardo hatte alles erraten. Er wandte sich mit finsterer Miene ab. Er hatte immer so sterben wollen, wie er gelebt hatte, – in Freiheit und Wahrheit. Doch Francesco tat ihm leid: Sollte er denn auch jetzt, in den letzten Augenblicken vor dem Tode den demütigen Glauben trüben und der Geringsten einen ärgern?

Wieder blickte er den Schüler an, legte seine abgemagerte Hand in die seinige und sprach mit einem leisen Lächeln:

»Mein Sohn, schicke zu Fra Guglielmo und bitte ihn morgen zu kommen. Ich will beichten und das heilige Abendmahl empfangen. Lade auch Maître Guillaume ein.«

Francesco antwortete nicht, er küßte nur mit unendlicher Dankbarkeit Leonardos Hand.

XIII.

Am nächsten Morgen, den 23. April, am Karsamstag, diktierte Leonardo dem Notar, Maître Guillaume, seinen letzten Willen: die vierhundert Florins, die er dem Kämmerer der Kirche Santa Maria Novella in Florenz zur Verwahrung übergeben hatte, vermachte er seinen Brüdern, mit denen er einen Prozeß führte, als Zeichen der vollständigen Aussöhnung; dem Schüler Francesco Melzi – die Bücher, die wissenschaftlichen Apparate, die Maschinen und den Rest des Gehaltes, den er aus der königlichen Schatzkammer zu bekommen hatte; dem Diener Battisto Villanis – das Hausgerät des Schlosses Du Cloux und die Hälfte des Weinberges beim Vercellina-Tor zu Mailand; die zweite Hälfte des Weinberges vermachte er dem Schüler Andrea Salaino.

Was die Zeremonie des Leichenbegängnisses und alles übrige anbelangte, bat er den Notar, es mit Melzi auszumachen, den er zu seinem Testamentsvollstrecker bestimmte.

Francesco und Maître Guillaume trugen Sorge für eine Bestattung, die davon zeugen sollte, daß Leonardo, trotz der im Volke verbreiteten Gerüchte, als treuer Sohn der katholischen Kirche starb.

Der Kranke hieß alles gut und, um zu zeigen, daß er an Francescos Bemühungen, die Beerdigung prunkvoll zu gestalten, teilnähme, setzte er statt der vorgeschlagenen acht Pfund Kerzen für die Seelenmesse – zehn Pfund fest und erhöhte den Betrag von fünfzig tourainer Sous, die unter den Armen verteilt werden sollten – auf siebzig.

Als das Testament fertig war und durch die Zeugenunterschriften rechtskräftig gemacht werden sollte, erinnerte sich Leonardo an seine alte Dienerin, die Köchin Maturina. Maître Guillaume mußte einen neuen Passus einfügen, wonach sie ein Kleid aus gutem schwarzem Tuch, eine pelzgefütterte Haube, gleichfalls aus Tuch und zwei Dukaten in barem Geld für ihre jahrelangen treuen Dienste bekommen sollte. Diese Aufmerksamkeit des Sterbenden gegen eine arme Dienerin erfüllte Francescos Herz mit dem bekannten Gefühl unerträglichen Mitleids.

Fra Guglielmo betrat mit den heiligen Sakramenten das Gemach, und alle entfernten sich.

Als der Mönch den Kranken verließ, beruhigte er Francesco mit der Mitteilung, daß Leonardo die Vorschriften der Kirche mit Demut erfüllt habe.

»Was die Menschen von ihm auch reden mögen, mein Sohn,« schloß Fra Guglielmo, »wird er doch nach dem Worte des Herrn gerechtfertigt werden: ›Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.‹«

Nachts hatte der Kranke Erstickungsanfälle. Melzi fürchtete, er würde in seinen Armen sterben.

Gegen Morgen, es war am 24. April, am heiligen Ostersonntag, fühlte er Erleichterung. Da er noch immer Atemnot hatte und es im Zimmer heiß war, öffnete Francesco das Fenster. Am blauen Himmel zogen weiße Tauben und der Klang der Osterglocken vermengte sich mit dem bebenden Rauschen ihrer Flügel. Doch der Sterbende sah und hörte nichts mehr.

Ihm war, als ob ungeheure Lasten, gleich Steinblöcken auf ihn herabsänken, stürzten und ihn erdrückten; er wollte sich erheben und sie von sich abwälzen, aber es ging nicht – und plötzlich befreite er sich mit einer letzten Anstrengung und flog auf Riesenflügeln in die Höhe. Doch die Steine fielen wieder, häuften sich und erdrückten ihn; er kämpfte von neuem, siegte und flog; das wiederholte sich wieder und immer wieder. Die Last wurde mit jedem Mal größer und die Anstrengung ungeheurer. Endlich fühlte er, daß er nicht mehr kämpfen könne, und fügte sich mit dem Schrei der letzten Verzweiflung: »Gott, mein Gott! warum hast du mich verlassen?« Sobald er sich dem gefügt hatte, begriff er, daß die Steine und die Flügel, der Druck der Last und das Hinaufstreben zum Fluge, das Oben und das Unten ein und dasselbe seien: es blieb sich gleich, ob man flog oder fiel. Und er flog und fiel, ohne mehr zu wissen, ob er in den leisen Wellen einer unendlichen Bewegung schaukelte, oder ob ihn seine Mutter in den Schlaf wiegte.

Einige Tage lang erschien sein Leib der Umgebung noch lebendig, doch er kam nicht mehr zu sich. Eines Morgens, es war am 2. Mai, bemerkten Francesco und Fra Guglielmo, daß sein Atem schwächer wurde. Der Mönch begann die Totengebete zu murmeln.

Nach einiger Zeit bemerkte der Schüler, als er die Hand auf des Meisters Herz legte, daß es nicht mehr schlug. Er drückte ihm die Augen zu.

Das Antlitz des Toten hatte sich wenig verändert. Es trug den Ausdruck tiefer und stiller Aufmerksamkeit, den es häufig im Leben gehabt hatte.

Während Francesco mit Battista und mit der alten Dienerin Maturina die Leiche wusch, standen die Fenster und Türen weit offen.

Unterdessen war die zahme Schwalbe, die man in den letzten Tagen vergessen hatte, im Gefühl ihrer Freiheit aus der Werkstätte durch die Stiege in den oberen Stock und in das Sterbezimmer geflogen, sie kreiste inmitten der im strahlenden Morgensonnenlichte trübe brennenden Totenkerzen und ließ sich schließlich, wohl aus alter Gewohnheit, auf Leonardos gefaltete Hände nieder. Dann reckte sie sich, schwang sich in die Höhe und flog mit freudigem Schreien durch das offene Fenster in den Himmel hinein. Francesco dachte: nun tut der Meister zum letztenmal das, was er immer so geliebt hatte, – er schenkt der geflügelten Gefangenen die Freiheit. Nach dem Wunsche des Verstorbenen blieb seine Leiche drei Tage liegen, jedoch nicht in der Totenkammer, – das hatte Francesco nicht zugelassen, – sondern in demselben Zimmer, wo er gestorben war.

Die Bestattungszeremonien gingen genau nach dem Testament vor sich: Kapellane, Domherren, Vikare und Mönche gaben dem Sarge das Geleite; sechzig Arme trugen sechzig Kerzen; in den vier Kirchen von Amboise wurden drei große und dreißig kleine Messen gelesen, wobei zehn Pfund dicker Wachskerzen brannten; siebzig tourainer Sous wurden an die Armen des städtischen Spitals Saint-Lazare verteilt. Nach allem diesen konnten sich die frommen Leute überzeugen, daß ein treuer Sohn der heiligen katholischen Kirche beerdigt wurde.

Er wurde im Kloster Saint-Florentin bestattet. Das Grab aber wurde bald vergessen und dem Erdboden gleich; die Erinnerung an ihn schwand spurlos in Amboise, und die Stelle, wo Leonardos Gebeine ruhen, blieb den künftigen Geschlechtern unbekannt.

Francesco setzte die Brüder des Meisters in Florenz von seinem Tod in Kenntnis; er schrieb:

»Ich vermag nicht den Schmerz zu beschreiben, mit dem mich der Tod dessen erfüllt hat, der für mich mehr als ein Vater gewesen. Solange ich aber lebe, werde ich um ihn trauern, denn er hat mir eine große und zarte Liebe entgegengebracht. Und ich glaube, daß ein jeder um den Verlust dieses Menschen trauern muß, denn die Natur kann keinen zweiten schaffen, der ihm ähnlich wäre. – Gott der Allmächtige schenke ihm ewige Ruhe.«

XIV.

Am Todestage Leonardos jagte Franz I. im Walde von Saint-Germain. Als er vom Hinscheiden des Künstlers erfuhr, ließ er seine Werkstätte bis zu seiner Ankunft in Amboise versiegeln, da er die besten Bilder für sich mit Beschlag belegen wollte.

Übrigens hatte Franz um diese Zeit Sorgen, die wichtiger als die Kunst waren. Vor fünf Monaten, am 12. Januar 1519, war Kaiser Maximilian I. gestorben. Drei Könige, – die von England, Spanien und Frankreich – stritten um die Krone des heiligen römischen Reiches mit reichlicher Anwendung von Betrug und Intriguen. Franz I. setzte sich zum Ziel, das Zepter der französischen Könige mit dem der römischen Kaiser in seinen Händen zu vereinigen und eine in Europa noch nicht dagewesene Monarchie zu gründen. Er war bereit, die Summe von drei Millionen für Bestechungen zu verausgaben; er wollte mit dem Papste einen Bund schließen und versprach ihm einen Kreuzzug gegen die Türken zur Wiedereroberung des heiligen Grabes zu unternehmen; er schwor, in drei Jahren nach seiner Erwählung als Sieger in Konstantinopel einzuziehen und auf die heilige Sophia das Kreuz zu setzen. Er haßte den jungen Karl, den König von Spanien, mehr als die anderen Nebenbuhler, und versicherte, er würde eher der Wahl des unbedeutenden Kurfürsten von Brandenburg oder selbst des Königs Sigismund von Polen, als der Karls von Spanien zustimmen.

Leo X. trieb seine gewöhnliche hinterlistige Politik und schwankte zwischen den beiden Nebenbuhlern, ohne seine wirklichen Absichten aufzudecken; zu gleicher Zeit setzte er durch den Dominikaner Dietrich Schombergh die Unterhandlungen mit dem Moskauer Großfürsten Wassilij Ivannowitsch fort, wobei er um seinen Beitritt zur Heiligen Liga gegen die Türken warb, und ihm seine Vermittlung beim Friedensschlusse mit König Sigismund anbot.

Zu dieser Zeit war der eine der beiden nach Italien entsandten russischen Bevollmächtigten, Dmitrij Gesassimow, bereits nach Moskau zurückgekehrt; der zweite, Nikita Karatschjarow, verblieb in Rom. Als Nikita von der bevorstehenden Kaiserwahl und von den aus diesem Anlasse gepflogenen Unterhandlungen des Königs Franz mit dem erbittertsten Feinde seines Fürsten, dem Könige Sigismund, erfuhr, begab er sich, um die Sache eingehend zu untersuchen, mit dem päpstlichen Legaten nach Frankreich; wie bei seiner ersten Reise nahm er den alten Sekretär Ilja Potapytsch Kopylo, den Dolmetscher Wlassij und die beiden jüngeren Schreiber, Fjodor Ignatjewitsch Rudomjotow (Fedjka den Gebratenen) und Ewtichij Païssejewitsch Gagara mit.

Ewtichij führte wie viele russische Reisende jener Zeit ein Reisetagebuch, in das er alles, was ihn von dem Gesehenen und Gehörten besonders interessierte, eintrug. In diesem Tagebuch hatte er z.B. Florenz wie folgt beschrieben:

»Die Stadt, die Florensa genannt wird, ist sehr groß, und wir haben unter den früher beschriebenen noch keine solche gesehen. Sie ist die schönste und beste Stadt von allen, die es in Italien gibt, und die ich selbst gesehen habe. Die Gotteshäuser sind überaus schön, die Paläste sind aus weißem Stein und sehr hoch und kunstvoll. Und es gibt in dieser Stadt ein großes Gotteshaus, aus weißem und schwarzem Marmorstein. Und bei diesem Gotteshaus ist ein Glockenturm wie eine Säule aufgerichtet und ist auch aus weißem Marmorstein. Und er ist so kunstvoll, daß unser Verstand es nicht fassen kann. Und wir sind auf diese Säule hinaufgestiegen und haben die Stufen gezählt: es waren ihrer vierhundertundfünfzig. – Was wir in unserem Unverstand begreifen konnten, das haben wir niedergeschrieben, wie wir es gesehen haben; das andere kann man aber nicht beschreiben, da es zu wundersam und unsagbar ist,« schloß er seine Erzählung; er vermochte es in der Tat nicht, das wiederzugeben, was ihn am meisten überrascht hatte. Unter den sechseckigen Marmorreliefs des Giotto, die das untere Stockwerk des großen Glockenturmes des Domes Santa Maria del Fiore schmücken, und die aufeinanderfolgenden Stufen der menschlichen Entwicklung darstellen – die Viehzucht, den Ackerbau, das Zähmen des Pferdes, die Erfindung des Schiffbaues, des Webstuhls, der Bearbeitung von Metallen, der Malerei, der Musik und Astronomie, – hatte er den schlauen Mechaniker Dädalus entdeckt, der die von ihm erfundenen Riesenflügel aus Wachs erprobte: sein Körper war mit Vogelfedern beklebt; die Flügel waren mit Riemen an den Leib befestigt; er klammerte sich mit beiden Händen an die inneren Querstangen, bewegte mit ihnen die Flügel und versuchte aufzufliegen.

Das nämliche Basrelief hatte einst in dem Jüngling Leonardo, der aus dem Dorfe Vinci soeben nach Florenz gekommen war, den ersten Gedanken an die Flugmaschine – an »den großen Vogel« erweckt.

Die rätselhafte Gestalt des geflügelten Menschen fiel Ewtichij um so mehr auf, als er in jenen Tagen an der Ikone des geflügelten Täufers arbeitete. Mit einer unklaren und ahnungsvollen Unruhe fühlte er den Gegensatz zwischen den greifbaren, vielleicht durch Teufelslist geschaffenen Flügeln des Mechanikers Dädalus und den geistigen Flügeln, die »das Entschweben der Keuschen zu Gott« darstellen, den Flügeln »des fleischgewordenen Engels« Johannes des Täufers.

Franz I. übersiedelte aus Saint Germain in das Jagdschloß Fontainebleau und dann nach Amboise. Ebendaselbst traf in den ersten Junitagen des Jahres 1519 der russische Gesandte Nikita Karatschjarow ein und stieg, ebenso wie das erstemal, im Hause des Notars Maître Guillaume Boro, auf der Hauptstraße der Stadt, bei dem Uhrturme ab.

Der König besichtigte gleich nach seiner Ankunft Leonardos Werkstätte. Am Abend desselben Tages begab sich Prinzessin Marguerite in Begleitung des Gesandten des Kurfürsten von Brandenburg und anderer fremdländischen Würdenträger, unter denen sich auch Nikita Karatschjarow befand, in das Schloß Du Cloux. Als es Fedjka der Gebratene erfuhr, riet er dem Onkel, Ilja Potapytsch Kopyla und Ewtichij Gagara ebenfalls nach »Düklow« zu gehen; er versicherte, daß sie in dem Hause »dieses vielgerühmten Künstlers Lionardus, dieses gutherzigen, in den Wissenschaften bewanderten Mannes von wundersamem Verstande, dieses Meisters der Redekunst, der auch in der Naturwissenschaft nicht unerfahren gewesen sei und sich durch seinen scharfen Verstand ausgezeichnet hätte,« manches Interessante sehen könnten.

Ilja Potapytsch, Ewtichij und der Dolmetscher Wlassij begaben sich mit ihm in das Schloß Du Cloux.

Als sie ankamen, wollten Marguerite und die übrigen Gäste, die die Besichtigung schon beendet hatten, gerade aufbrechen. Nichtsdestoweniger empfing Francesco die neuen Gäste mit derselben Liebenswürdigkeit, mit der er alle Ausländer aufnahm, die das Haus des Meisters aufsuchten, ohne nach ihrem Rang und Namen zu fragen; er führte sie in die Werkstätte und zeigte ihnen alles.

Mit ängstlichem Staunen betrachteten sie die nie gesehenen Maschinen, die astronomischen Sphären, Globen, Quadranten, die Glasphiolen, Destillierhelme, das große Kristallmodell des menschlichen Auges, das zum Studium der Gesetze des Lichts diente, die Musikinstrumente, mit denen der Meister die Gesetze des Schalles studiert hatte, das kleine Modell einer Taucherglocke, die spitzen, bootähnlichen Schuhe, mit denen man auf dem Wasser wie auf dem Trockenen gehen konnte, die anatomischen Zeichnungen und die Entwürfe zu furchtbaren Kriegsmaschinen. Alle diese Dinge zogen Fedjka mächtig an und erschienen ihm, als »astrologische Weisheit und höchste Alchimie«. Ilja Potapytsch runzelte dagegen in einemfort die Stirne, wandte sich ab und bekreuzte sich. Dem Ewtichij fiel besonders das alte, zerbrochene Flügelgerippe auf, das einem mächtigen Schwalbenflügel glich. Als Melzi ihm durch den Dolmetscher mit Mühe und Not erklärte, daß es ein Teil der Flugmaschine sei, an der der Meister sein ganzes Leben gearbeitet hätte, erinnerte sich Ewtichij an den geflügelten Menschen Dädalus auf dem marmornen Glockenturm zu Florenz; und seltsame bange Gedanken erwachten in ihm mit neuer Macht.

Beim Besichtigen der Bilder verweilte er betroffen vor Johannes dem Täufer; er hielt ihn zuerst für eine Frau und glaubte es nicht, als ihm Wlassij Francescos Erklärung übersetzte, daß es der Täufer sei. Als er jedoch genauer hinsah, bemerkte er das Kreuz aus Schilfrohr – »den Stab mit dem Kreuze«, mit dem auch die russischen Ikonenmaler den Täufer darzustellen pflegten; auch bemerkte er das Gewand aus Kamelhaaren. – Er stutzte. Trotz des großen Gegensatzes zwischen diesem Flügellosen und jenem Geflügelten, der ihm vertraut war, bezauberte ihn, je länger er hinsah, die fremde Anmut des mädchenhaften Jünglings und das geheimnisvolle Lächeln, mit dem er auf das Kreuz von Golgatha hinwies, immer mehr und mehr. Er stand erstarrt und gefesselt, ohne an etwas zu denken, und fühlte nur, wie sein Herz in einer unerklärlichen Erregung immer wilder pochte.

Ilja Potapytsch konnte sich nicht länger beherrschen; er spuckte wütend aus und schimpfte:

»Teufelsspuk! Unerhörte Schamlosigkeit! Soll denn dieser liederliche Gesell, der wie eine Dirne entblößt ist und weder Bart noch Schnurrbart hat, der Vorläufer Christi sein? Wenn er ein Vorläufer ist, so ist er wohl derjenige des Antichrist und nicht des Heilands ... Komm, Ewtichij, komm schnell, mein Kind, verunreinige deine Augen nicht: uns, Rechtgläubigen, geziemt es nicht, diese fremden, verworfenen, dem Teufel geweihten Ikonen anzuschauen! Fluch über sie!«

Er nahm Ewtichij bei der Hand, zog ihn beinahe mit Gewalt von dem Bilde fort und konnte sich noch lange, nachdem sie Leonardos Haus verlassen hatten, nicht beruhigen.

»Seht ihr nun,« warnte er seine Begleiter, »wie gottverlassen ein Mensch sein kann, der Geometrie, Zauberei, Alchimie, Sternguckerei und ähnliches liebt? Denn wer an den Verstand glaubt, unterliegt leicht allerlei Verlockungen. Liebet also die Einfalt mehr als die Weisheit, meine Kinder; strebt nicht nach dem Höchsten, forscht nicht nach dem Tiefsten, bekümmert euch nicht um die Versuchungen und haltet an dem euch von Gott fertig zugewiesenen Glauben fest. Und wenn jemand dich fragt: Kennst du die ganze Philosophie? antworte ihm voll Demut: Ich habe lesen und schreiben gelernt, die hellenischen Spitzfindigkeiten aber habe ich nicht studiert, die rhetorischen Astronomen habe ich nicht gelesen und von der Philosophie habe ich keinen Dunst; ich kenne und lese nur die Bücher des heiligen Gesetzes, um die sündige Seele zu retten ...«

Ewtichij hörte verständnislos zu. Er dachte an anderes, an die »dem Teufel geweihte Ikone«; er wollte und konnte sie nicht vergessen. Das geheimnisvolle Antlitz des Mädchenhaften und Ungeflügelten schwebte vor seinen Augen, erschreckte ihn, zog ihn an und verfolgte ihn wie ein Spuk.

XV.

Da bei dem zweiten Aufenthalte Karatschjarows in Amboise der Andrang von Fremden nicht mehr so groß war, brachte der Hausherr die russische Gesandtschaft in den geräumigen und bequemeren Gemächern zur ebenen Erde unter. Ewtichij aber, der die Einsamkeit liebte, bezog wieder dasselbe Zimmer dicht unter dem Dach und neben dem Taubenschlag, wo er vor zwei Jahren gewohnt, und richtete sich wieder seine winzige Werkstätte in der Nische des Dachfensters ein.

Als er aus dem Schlosse Du Cloux heimgekehrt war, begann er, um die Versuchung zu bekämpfen, an dem neuen, beinahe schon vollendeten Heiligenbild zu arbeiten: der geflügelte Johannes der Täufer stand auf dem Hintergrunde eines blauen Himmels auf dem rundlichen Gipfel eines sandigen, gleichsam von der Sonne verbrannten Berges, der sich am Rande der Erdkugel zu befinden schien, und von einem dunkelblauen, beinahe schwarzen Ozean umgeben war. Der Heilige hatte zwei Köpfe, einen lebendigen auf den Schultern und einen toten in einem Gefäß, das er in seiner Hand hielt, gleichsam zum Zeichen dessen, daß der Mensch nur nach der Abtötung alles Menschlichen die Schwingen des Übermenschlichen erlangen kann; das Antlitz war seltsam und furchtbar, der Blick der weit geöffneten Augen erinnerte an den in die Sonne gerichteten Blick eines Adlers; das zottige Kamelhaargewand erinnerte an Vogelgefieder; Bart und Haare flatterten wie im starken Wind; die nur mit Haut bedeckten Knochen der an Kranichbeine erinnernden, übermäßig langen, dünnen, abgemagerten Arme und Beine erschienen unnatürlich leicht, als wären sie innen hohl, wie die Knorpel und Knochen von Vögeln; hinter den Schultern hatte er zwei riesengroße, auf dem blauen Himmel über der gelben Erde und dem schwarzen Ozean ausgebreitete Flügel; sie waren außen weiß wie Schnee und innen rotgolden, wie Feuer und glichen den Flügeln eines riesengroßen Schwanes.

Ewtichij hatte nur noch die Vergoldung der Innenseite der Flügel fertig zu machen.

Er nahm einige Blättchen Rotgold, die dünn wie Papier waren, zerdrückte sie in der Handfläche, zerrieb sie mit dem Finger in einer Muschel mit frischem Firnis und goß Wasser, so warm, als die Hand es noch gerade vertragen konnte, darüber. Als das Gold sich auf den Boden gesetzt hatte und das Wasser abgestanden war, schüttete er es weg und begann mit einem spitzen Marderpinsel die Federn auf den Flügeln des Täufers sorgfältig, Faser für Faser, aufzutragen; er befestigte das Gold mit Eiweiß, glättete es mit einer Hasenpfote und polierte es mit einem Bärenzahn. Die Flügel wurden immer lebendiger und strahlender.

Doch diesmal konnte er in der Arbeit nicht die gewohnte Ablenkung finden: die Flügel des Täufers erinnerten bald an die Flügel des Mechanikers Dädalus, bald an den Flügel von Leonardos Flugmaschine. Das Antlitz des rätselhaften Jünglings, der zugleich Mädchen war, das Antlitz des Flügellosen erstand vor ihm und ließ den Geflügelten verblassen; es lockte und erschreckte ihn und verfolgte ihn wie ein Spuk.

In Ewtichijs Herzen herrschte Unruhe und Verwirrung. Der Pinsel entfiel seiner Hand. Er fühlte, daß er nicht mehr arbeiten konnte und verließ das Haus. Er irrte lange herum, zuerst durch die Straßen, dann auf dem Ufer der einsamen Loire.

Die Sonne war untergegangen. Der blaßgrüne Himmel mit dem Abendstern spiegelte sich in dem glatten Wasser, von der anderen Seite rückte aber eine Wolke heran, in der die Wetterleuchten wie flammende Riesenflügel zuckten. Es war schwül und still. In dieser Stille krampfte sich Ewtichijs Herz immer qualvoller, immer banger zusammen.

Er kehrte wieder nach Hause zurück, zündete die Lampe vor der Ikone der Muttergottes von Uglitsch an und las die Kanons, Gesangsstücke und Gebete genau nach den Klostervorschriften. Darauf breitete er auf der schmalen Holzkiste, die ihm als Bett diente, eine Reisefilzdecke aus, entkleidete sich und legte sich nieder; doch er konnte nicht einschlafen.

Stunde auf Stunde verrann. Bald fühlte er Fieberhitze, bald fröstelte es ihn. Er lag in der Finsternis, die ab und zu durch das Aufleuchten bleicher Blitze unterbrochen wurde, mit offenen Augen und lauschte der Stille, in der er ein seltsames Rascheln, Flüstern und Rauschen zu hören vermeinte; es waren jene geheimnisvollen Laute, denen die alten russischen Autoren eine besondere Bedeutung zuschrieben: »das Ohrensausen, das Krachen der Wände und das Piepsen der Mäuse.« Abgerissene Gedanken zogen wie in einem Delirium durch sein Gehirn. Er dachte an allerlei märchenhafte Wunder und Unholde: an das furchtbare Tier Indrik, das »unter der Erde wie die Sonne über der Erde wandelt und an den Flüssen und Brunnen vorüberzieht«; an das Vogelungeheuer Stratim, das »am Ufer des Ozeans lebt, die Wellen wiegt und die Schiffe versenkt«; an den Bruder des Königs Salomo, Kitowras, der am Tage über die Menschen herrscht und des Nachts Tiergestalt annimmt und wild über die ganze Erde dahinjagt; an die Menschen, die über einen Abgrund mit nie verlöschendem Feuer schweben, weder essen noch trinken und so lang und dünn sind, daß sie wie Spinngewebe mit jedem Winde fliegen, ohne den Tod zu finden. Und er kam sich selbst wie ein solcher im ewigen Wirbelwind über dem Abgrunde schwebender Spinngewebemensch vor.

Die Hähne krähten zum zweiten Male: und er erinnerte sich an eine alte Legende: die Engel nehmen gegen Mitternacht die Sonne vom Throne Gottes und tragen sie gen Osten, während die Cherubim mit ihren Flügeln schlagen, die Vögel auf Erden vor Freude zittern und der Hahn seinen Kopf hebt, erwacht und mit ausgebreiteten Flügeln der Welt das Licht verkündet.

Die zusammenhanglosen Gedanken zogen sich, wie in einem Fiebertraum, endlos hin, rissen wie morsche Fäden ab und verwirrten sich zu einem Knäuel.

Vergeblich betete er mit angehaltenem Atem, nach der Vorschrift des Nilus von Sora, aber nichts half – die Gesichte wurden immer deutlicher, immer zudringlicher.

Plötzlich entstieg dem Dunkel der von teuflischer Anmut erfüllte mädchenhafte Jüngling und stellte sich wie lebendig vor ihn hin; er wies mit einem zarten und spöttischen Lächeln auf das Golgathakreuz hin und sah Ewtichij so durchdringend und liebevoll an, daß sein Herz vor Entsetzen erstarrte und der kalte Schweiß ihm auf die Stirne trat.

Er entschloß sich, ganz auf Schlaf zu verzichten, nahm ein Buch vom Wandbrett und begann zu lesen. Es war die alte russische Novelle »Vom babylonischen Reiche.«

Zur Zeit des Königs Nebukadnezar und seiner Nachfolger wurde Babylon von den Menschen verlassen und diente lange Zeit als Asyl zahllosen Schlangen. Nachdem viele Jahrhunderte vergangen waren, sandte der byzantinische Kaiser Leo, der in der heiligen Taufe den Namen Basilius erhalten hatte, drei Männer aus, um die Krone und den Thronpurpur des Königs Nebukadnezar aus Babylon zu holen. Sie wanderten lange, denn der Weg war schmal und schwierig. Als sie endlich nach Babylon kamen, sahen sie dort nichts, weder Mauern, noch Häuser, denn um die verödete Stadt war sechzehn Stadien weit das Kraut der Wüste, »unbrauchbares Distelkraut«, gewachsen. »In diesen Disteln lagerte das zusammengerollte Gewürm, Schlangen ohne Zahl und Maß, wie ungeheure Heuhaufen; sie pfiffen und zischten, und strömten einen kalten Winterhauch aus.« Am dritten Tage kamen die Abgesandten zur Großen Schlange, die um Babylon gerollt lag, so daß ihr Schwanz ihren Kopf berührte. Und eine Leiter aus Zypressenholz war an die Stadtmauer gelehnt. Sie stiegen auf dieser Leiter hinauf, drangen in die Stadt ein und fanden in einem der Königsschlösser Nebukadnezars Krone und eine Schatulle aus Carneol mit dem Purpur und dem Zepter. Als die Gesandten mit dem gefundenen Schatze zum Kaiser zurückkehrten, krönte der Patriarch von Konstantinopel den rechtgläubigen Zaren Basilius in der Kirche der göttlichen Weisheit Sophia mit dem Purpur und der Krone Nebukadnezars, des Königs von Babylon und der ganzen Welt. Späterhin schickte der Kaiser Konstantin diese Krone dem Großfürsten Wladimir Wssewolodowitsch, als Zeichen der Herrschaft über das Weltall, die Gott dem Lande der Russen beschieden hatte.

Ewtichij legte die Novelle »Vom babylonischen Reich« beiseite und nahm ein anderes Buch – die Sage »Von der weißen Mönchskappe« – vor; dieses Buch hatte vor einigen Jahren Dmitrij Gerassimow, der Begleiter des Nikita Karatschjarow, bei dem Ewtichij Schreiber war, dem Erzbischof von Nowgorod Gennadij aus Rom mitgebracht.

In uralten Zeiten, so hieß es in dieser Novelle, wollte Kaiser Konstantin der Apostelgleiche, nachdem er den christlichen Glauben angenommen und durch den Papst Sylvester geheilt worden war, diesen durch eine Kaiserkrone belohnen. Der Engel gebot ihm jedoch, dem Papste nicht die Krone der irdischen, sondern die der himmlischen Macht zu verleihen – die weiße Kappe, die nach dem Vorbilde der Mönchskappen als Symbol »des heiligen dreitägigen Osterfestes« dienen sollte. Die rechtgläubigen Päpste verehrten lange die weiße Mönchskappe, bis Kaiser Carolus und der Papst Formosus in die römische Ketzerei verfielen und nicht nur die himmlische, sondern auch die irdische Macht der Kirche anerkannten. Da erschien einem der Päpste ein Engel und befahl ihm, die Kappe nach Byzanz an den Patriarchen Philotheos zu schicken. Dieser empfing das Heiligtum mit großen Ehren und wollte es für sich behalten; doch Kaiser Konstantin und Papst Sylvester, die ihm im Traume erschienen, befahlen ihm, die Kappe noch weiter, in das russische Land, nach dem Großen Nowgorod zu schicken. »Denn das alte Rom«, sagte Papst Sylvester zum Patriarchen, »ist in seinem Stolz mutwillig von dem Ruhm und Glauben Christi abgefallen und der lateinischen Versuchung unterlegen; auch in Konstantinopel, dem neuen Rom, wird der Glaube vernichtet werden: die gottlosen Söhne der Hagar werden ihn ausrotten. Im dritten Rom, im russischen Reich, wird aber die Gnade des Heiligen Geistes erstrahlen. Wisse, Philotheos, daß alle christlichen Reiche ihr Ende finden und sich um des rechten Glaubens willen zu einem einzigen russischen Reich vereinigen werden. Denn in uralten Zeiten wurde die Krone Nebukadnezars nach dem Wunsche des irdischen Kaisers Konstantin Monomachos aus seiner Residenzstadt an den russischen Zaren geschickt; ebenso wird die weiße Kappe nach dem Wunsche des himmlischen Zaren Christus dem Erzbischof des großen Nowgorod verliehen werden. Um wieviel heiliger ist aber die himmlische Krone als die irdische! Alles Heilige wird Gott dem russischen Lande verleihen, und er wird den russischen Zaren über viele Völker erhöhen und das Land wird nach dem Willen Gottes das ›Lichte Rußland‹ benannt werden, denn die heilige, vereinigte, apostolische Kirche dieses neuen, dritten Rom wird über das ganze Weltall durch den orthodoxen christlichen Glauben heller als die Sonne erstrahlen.«

»So geschah es auch. Der Erzbischof von Nowgorod nahm die weiße Mönchskappe an und verwahrte sie in der Kirche der heiligen Sophia, der Weisheit Gottes. Und durch die Gnade des Herrn Jesus Christus bekrönt sie jetzt und in alle Ewigkeit die Häupter aller russischen Bischöfe.«

Die Novelle vom Babylonischen Reich verkündete die irdische und die Novelle von der weißen Mönchskappe die himmlische Größe des russischen Reiches.

Jedesmal, wenn Ewtichij diese Legenden las, wurde seine Seele von einem unruhigen, ihm selbst unverständlichen Gefühl erfüllt; es war wie eine grenzenlose Hoffnung, bei der sein Herz heftiger pochte, sein Atem wie über einem Abgrunde stockte. So arm und gering ihm auch die Heimat im Vergleich mit den fremden Ländern erschien, glaubte er doch an diese Prophezeiungen von der künftigen Größe des dritten Rom, »des ursprünglichen Jerusalem«, von den in den Strahlen der aufgehenden Sonne leuchtenden siebzig goldenen Kuppeln des weltbeherrschenden russischen Domes der göttlichen Weisheit Sophia.

Nur in dem tiefsten Grunde seiner Seele lebte ein Zweifel, ein Gefühl des unlösbaren Widerspruches, hieß es denn nicht, daß König Nebukadnezar ein ungerechter Fürst, »der böseste Fürst auf Erden« gewesen sei? Daß er von allen Völkern und Stämmen als ein Gott verehrt und angebetet werden wollte und durch einen Herold verkünden ließ: Fallt nieder und betet den goldenen Götzen des Königs Nebukadnezar an! – Doch der wahre Gott strafte ihn: er nahm ihm das menschliche Herz und gab ihm ein tierisches, und er war von den Menschen verstoßen und aß Gras wie ein Ochs, und sein Leib wurde von himmlischem Tau benetzt, so daß ihm die Haare eines Löwen und die Krallen eines Vogels wuchsen. – Und hieß es denn nicht in der Offenbarung: »Sie ist gefallen, sie ist gefallen, Babylon, die große Stadt; denn sie hat mit dem Wein ihrer Hurerei getränket alle Heiden. – Weh', weh', die große Stadt, die bekleidet war mit köstlicher Leinwand und Purpur und Scharlach!«? Und wenn dem so ist, fragte sich Ewtichij, wie kann sich denn im dritten Rom, im russischen Reich, die Weiße Kappe mit der verfluchten Krone des Königs Nebukadnezar, der von Gott verdammt worden ist, paaren – die Krone Christi mit der Krone des Antichrist?

Er fühlte, daß darin ein großes Geheimnis enthalten sei und daß, wenn er sich hineinvertiefen würde, noch furchtbarere Visionen als die, die ihn soeben verlassen, wieder über ihn herfallen würden.

Er bemühte sich, nicht mehr zu denken, löschte die Kerze aus und legte sich ins Bett.

XVl.

Und er hatte einen Traum: er sah ein Weib mit Flammenflügeln, mit strahlenden Gewändern, auf einer Mondsichel, von Wolken umgeben, unter einer von sieben Säulen getragenen Monstranz stehen, die die Inschrift trug: »Die Weisheit hat sich hier ein Haus geschaffen.« Propheten, Heilige, Erzväter, schwerttragende Engel, Erzengel, himmlische Heerscharen, Throne, Herrscher und Mächte umringten sie; und in den Scharen der Propheten, zu den Füßen der Weisheit stand Johannes der Täufer, mit ebenso dünnen Armen und langen Kranichbeinen, mit denselben weißen Riesenflügeln wie der auf seiner Ikone, doch mit einem andern Gesicht: an der kahlen Stirn mit den trotzigen Furchen, an den borstigen Brauen, dem langen grauen Bart und den grauen Haaren erkannte Ewtichij das Gesicht, das sich in sein Gedächtnis eingeprägt hatte, und das dem Greise gehörte, der dem Propheten Elias ähnlich sah und der vor zwei Jahren seine Werkstätte besucht hatte – das Gesicht Leonardo da Vincis, des Erfinders der Menschenflügel. – Unten, unter den Wolken, auf denen das Weib stand, leuchteten am blauen Himmel die goldenen Kuppeln und Kreuze der Kirchen wie Feuer; man sah schwarze, soeben vom Pflug aufgewühlte Äcker, blaue Haine, helle Flüsse und die unendliche Ferne, an der er Rußland erkannte.

Feierliches Glockengeläute ertönte; und die sechs geflügelten Tiere bedeckten entsetzt ihr Antlitz mit den Flügeln und stöhnten: »Es schweige jede menschliche Kreatur und stehe in Angst und Beben«; und die sieben Erzengel schlugen mit ihren Flügeln; und sieben Donner ertönten. Und über dem flammenden Weibe, der heiligen Sophia, der göttlichen Weisheit, öffnete sich der Himmel, und darin erschien etwas Weißes, Sonnengleiches, und Ewtichij wußte nun, daß es die »Weiße Kappe«, die Krone Christi über dem russischen Lande sei.

Die Rolle, welche der geflügelte Täufer hielt, öffnete sich und Ewtichij las:

»Siehe, ich will meinen Engel senden, der vor mir her den Weg bereiten soll. Und bald wird kommen zu seinem Tempel der Herr, den ihr sucht; und der Engel des Bunds, des ihr begehret, siehe, er kommt!«

Die Stimme der Donner, das Rauschen der Engelsflügel, das Siegeslied Halleluja und das Glockengeläute verschmolzen zu einem einzigen Lobgesang auf die heilige Sophia, die Göttliche Weisheit.

Und in diese Hymne fielen die Äcker, die Haine, die Flüsse, die Berge und alle unendlichen Fernen der russischen Erde ein.

Ewtichij erwachte.

Es war noch früher, grauer Morgen. Er erhob sich und öffnete das Fenster. Ihm wehte die duftende Frische der vom Regen gewaschenen Blätter und Gräser entgegen: in der Nacht war ein Gewitter niedergegangen. Die Sonne ging noch nicht auf. Doch an dem Himmelsrande, über den dunklen Wäldern, hinter dem Fluß, dort, wo sie aufgehen sollte, schimmerten die sich türmenden Wolken purpurn und golden. Die Straßen der Stadt schliefen in der Dämmerung; nur der schlanke weiße Glockenturm des heiligen Hubertus war von einem blaßgrünen, wie durch Wasser dringenden Lichtschein beleuchtet. Es herrschte vollkommene Stille, die von einer großen Erwartung erfüllt schien; man hörte nur die wilden Schwäne auf den Sandbänken der einsamen Loire schreien.

Der Ikonenmaler setzte sich zum Fenster an den kleinen Tisch mit dem schrägen Schreibbrett, mit dem seitlich angebrachten Tintenfaß aus Horn und der Schublade für Federn; er schnitt sich eine Gänsefeder zurecht und öffnete ein großes Heft. Das war sein Werk, an dem er seit vielen Jahren arbeitete und das ihm sein Lehrer, der fromme Greis Prochor, aufgetragen hatte: ein neues, verbessertes »Handbuch für Ikonenmalerei«.

»Woher stammt der Anfang der Ikone? Nicht vom Menschen, sondern von Gott-Vater. Er selbst hat einen Sohn gezeugt, Sein Wort, Seine lebende Ikone«, – das waren die letzten von Ewtichij geschriebenen Worte. Er tauchte die Feder ein und fuhr fort:

»Ich Sündiger habe von Gott ein Talent empfangen und will nicht den Zentner, den er mir Unwürdigem anvertraut hat, in die Erde verbergen, damit ich dafür nicht getadelt werde. Ich habe mich daher bemüht, das Alphabet dieser Kunst, das ist alle Glieder des menschlichen Leibes, die bei der Ikonenmalerei dargestellt werden, zum Nutz und Frommen aller, die sich dieser frommen Kunst befleißigen, in Bildern vorzuführen. Ich bitte euch alle meine Brüder, denen ich diese Arbeit widme, um ein inbrünstiges Gebet zu Gott, auf daß ich, der ich Seine Gestalt und die Gestalt seiner heiligen Diener auf Erden gemalt habe, Sein Göttliches Antlitz selbst und das Antlitz aller Seiner Heiligen im Himmelreiche schaue, wo sein Lob und Preis von allen Seligen, jetzt und künftig und in alle Ewigkeit gesungen wird. Amen.« Während er schrieb, kam hinter dem dunklen Wald der Rand der Sonne gleich einer glühenden Kohle zum Vorschein. Etwas, das an Musik erinnerte, schwebte über Himmel und Erde.

Die weißen Tauben kamen unter dem Dachvorsprung hervor und rührten ihre Flügel.

Ein Sonnenstrahl, der durch das Fenster in Ewtichijs Werkstätte drang, fiel auf die Ikone Johannes des Täufers, und die innen rotgoldenen und außen schneeweißen vergoldeten Flügel, die in dem blauen Himmel über der gelben Erde und dem schwarzen Ozean ausgebreitet waren und den Flügeln eines Riesenschwanes glichen, schimmerten plötzlich im Purpur der Sonne und funkelten, als wären sie von einem übernatürlichen Leben beseelt.

Ewtichij dachte an seinen Traum, nahm den Pinsel, tauchte ihn in rote Ockerfarbe und schrieb auf die weiße Rolle des Geflügelten Täufers:

Siehe, ich will meinen Engel senden, der vor mir her den Weg bereiten soll. Und bald wird kommen zu seinem Tempel der Herr, den ihr sucht; und der Engel des Bunds, des ihr begehret, siehe, er kommt!

 

Ende.


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