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Vierzehntes Buch

Monna Lisa Gioconda

I.

Leonardo schrieb in seinem »Traktat von der Malerei«:

»Zum Bildnismalen sollst du eine eigene Werkstätte haben: einen länglichen viereckigen Hof, zehn Ellen breit und zwanzig lang, mit schwarz gestrichenen Wänden, einem Dachvorsprung über den Wänden und einem zusammenlegbaren Schutzdach aus Leinen gegen die Sonne. Ohne dieses Leinendach darfst du nur vor der Abenddämmerung oder bei bewölktem Himmel und nebeligem Wetter malen. Denn diese Beleuchtung ist vollkommen.«

Einen solchen Hof hatte er sich im Hause des vornehmen Florentiner Bürgers und Kommissarius der Signorie, Ser Piero di Barto Martelli, eines Liebhabers der Mathematik, eines klugen und ihm freundschaftlich gewogenen Mannes, bei dem er wohnte, eingerichtet. Es war das zweite Haus auf der linken Seite der Martelli-Straße, wenn man vom Platze San-Giovanni zum Palazzo Medici geht.

Es war an einem windstillen, warmen und nebeligen Tag, Ende Frühjahr 1505. Das Sonnenlicht drang trüb durch den feuchten Wolkenschleier, wie durch Wasser, die Schatten waren zart und schmelzend wie Rauch – es war das von Leonardo bevorzugte Licht, von dem er behauptete, daß es den Antlitzen von Frauen eine besondere Schönheit verleihe.

»Kommt sie am Ende doch nicht?« fragte er sich. Er dachte an diejenige, an deren Bild er nun fast drei Jahre mit einer für ihn ganz ungewöhnlichen Ausdauer malte.

Er machte die Werkstätte zu ihrem Empfang fertig. Giovanni Beltraffio beobachtete im geheimen seinen Meister und wunderte sich über die beinahe an Ungeduld grenzende Unruhe der Erwartung, die sich des sonst so ruhigen Leonardo bemächtigt hatte.

Leonardo ordnete auf den Wandbrettern die verschiedenen Pinsel, Paletten und Farbtöpfe, auf deren Oberfläche der Leim als helle Kruste erstarrt war, und nahm vom Bilde, das auf einer verschiebbaren dreibeinigen Staffelei – dem Leggio – stand, die Hülle herab. Er ließ die Fontäne, die er in der Mitte des Hofes eigens für sie eingerichtet hatte, springen; die Wasserstrahlen trafen eine Reihe gläserner Halbkugeln, die dadurch in Drehung versetzt wurden und dabei eine eigentümliche leise Musik ertönen ließen; auf dem Beete um den Springbrunnen blühten Schwertlilien, ihre Lieblingsblumen, die er mit eigener Hand gepflanzt hatte. Er holte einen Korb mit feingeschnittenem Brot für die zahme Hirschkuh herbei, die sich auf dem Hofe herumtrieb und die sie eigenhändig zu füttern pflegte; dann ordnete er den dicken Teppich vor dem Sessel aus glattem, dunklem Eichenholz mit gegitterter Lehne und Armstützen. Auf diesem Teppich, seinem gewohnten Platz, lag und schnurrte bereits ein weißer Kater von seltener Rasse, den er eigens zu ihrer Unterhaltung angeschafft hatte; der Kater stammte aus Asien und hatte Augen von verschiedener Farbe: das rechte war gelb wie ein Topas, das linke blau wie ein Saphir.

Andrea Salaino brachte Noten herbei und begann seine Viola zu stimmen. Etwas später kam auch der andere Musiker, ein gewisser Atalante, den Leonardo noch in Mailand, am Hofe Moros, kennen gelernt hatte, besonders gut spielte er die vom Meister erfundene silberne Laute, die die Form eines Pferdeschädels hatte.

Leonardo pflegte in seine Werkstätte die besten Musiker, Sänger, Erzähler, Dichter und die geistreichsten Gesellschafter zu laden, um ihr die Zeit zu vertreiben; denn er wußte, wie langweilig es ist, einem Künstler zu einem Bildnis zu sitzen. Er studierte in ihren Zügen das Spiel der Gedanken und Gefühle, die von Unterhaltung, Erzählungen und Musik hervorgerufen wurden.

In der letzten Zeit veranstaltete er solche Unterhaltungen nur noch selten, denn er wußte, daß sie nicht mehr nötig waren und daß sie sich auch ohne fremde Gesellschaft nicht langweilen würde. Nur die Musik, die beide bei der Arbeit anregte, schaffte er nicht ab; denn auch sie arbeitete an ihrem Bildnisse mit.

Alles war fertig, sie aber erschien noch immer nicht.

»Kommt sie am Ende doch nicht?« dachte er sich. »Das Licht und die Schatten sind heute wie auf meinen Wunsch geschaffen, soll ich sie holen lassen? Sie weiß, daß ich warte; folglich muß sie kommen.«

Giovanni sah, wie er immer unruhiger wurde.

Plötzlich lenkte ein leiser Lufthauch den Wasserstrahl der Fontäne zur Seite; die Glaskugeln erklirrten und die Blütenblätter der weißen Schwertlilien neigten sich unter dem auf sie herabfallenden Wasserstaub. Die Hirschkuh reckte ihren schlanken Hals und spitzte die Ohren. Leonardo hob den Kopf und lauschte. Giovanni hörte selbst noch nichts, doch las er in den Zügen des Meisters, daß sie kam.

Zuerst trat in die Werkstätte mit stiller Verbeugung Schwester Camilla, eine Convertitennonne, die bei ihr wohnte und sie jedesmal zum Künstler begleitete. Sie hatte die Eigenschaft, gleichsam unsichtbar zu werden: sie saß immer bescheiden mit ihrem Gebetbuch in der Hand in einer Ecke, hob nie ihren Blick und sprach auch fast nie ein Wort, so daß Leonardo kaum ihre Stimme kannte, obwohl sie schon seit drei Jahren in seine Werkstatt kam.

Gleich nach Camilla erschien auch diejenige, die hier von allen erwartet wurde: eine etwa dreißigjährige Frau, in einfacher dunkler Kleidung, mit einem durchsichtigen dunklen Schleier, der bis an die Mitte der Stirne reichte. Es war Monna Lisa Gioconda.

Beltraffio wußte, daß sie eine Neapolitanerin aus einem sehr alten Geschlechte, die Tochter des einst reichen, aber nach der französischen Invasion verarmten Edlen Antonio Gerardini und die Gattin des florentiner Bürgers Francesco del Giocondo sei. Der letztere hatte im Jahre 1481 die Tochter eines gewissen Mariano Rucellai geheiratet; diese starb nach zwei Jahren. Darauf heiratete er eine gewisse Tommasa Villani, und als auch diese starb, ging er seine dritte Ehe mit Monna Lisa ein. Als Leonardo ihr Bildnis malte, war der Künstler fünfzig und ihr Gatte, Messer Giocondo, fünfundvierzig Jahre alt. Messer Giocondo war in das Kollegium der Zwölf Buonomini gewählt worden und sollte bald Prior werden; er war ein Durchschnittsmensch, wie man solche überall und immer findet, weder besonders gut, noch besonders schlecht, geschäftstüchtig, sparsam und ganz seinem Amte und der Landwirtschaft ergeben. Die schöne junge Frau betrachtete er als einen angemessenen Schmuck für sein Haus, von der Schönheit Monna Lisas aber verstand er viel weniger, als von den Vorzügen einer neuen Rasse sizilianischer Stiere, oder von den Vorteilen des Einfuhrzolles auf rohe Schafhäute. Man erzählte sich, sie hätte ihn nicht aus Liebe, sondern nach dem Wunsche ihres Vaters geheiratet und sei schon einmal verlobt gewesen, doch hätte ihr Bräutigam auf einem Schlachtfelde einen freiwilligen Tod gefunden. Man erzählte sich auch – vielleicht war es aber nur Klatsch – von anderen leidenschaftlich und hartnäckig, doch stets hoffnungslos in sie verliebten Verehrern. Übrigens konnten böse Zungen, deren es in Florenz genügend gab, ihr nichts Schlechtes nachsagen. Monna Gioconda war stets still und bescheiden, hielt streng auf alle Gebräuche der Kirche, zeichnete sich durch Wohltätigkeit aus und war eine gute Hausfrau, treue Gattin und ihrer zwölfjährigen Stieftochter Dianora eher eine wirkliche zärtliche Mutter, als eine Stiefmutter.

Das war alles, was Giovanni von ihr wußte. Doch erschien ihm jene Monna Lisa, die in Leonardos Werkstätte kam, als eine ganz andere Frau.

Obwohl er sie schon seit drei Jahren kannte, bemächtigte sich seiner bei jedem ihrer Besuche ein sonderbares Gefühl: ein Erstaunen, das an Angst grenzte, wie vor einer Gespenstererscheinung; und dies Gefühl schwand nicht mit der Zeit, es wurde vielmehr tiefer und stärker. Er erklärte es sich zuweilen damit, daß er ihr Gesicht schon so oft auf dem Bilde gesehen habe und daß die Kunst des Meisters so groß sei, daß die lebende Monna Lisa ihm weniger lebend erscheine, als die gemalte. Doch es mußte wohl auch noch einen anderen, geheimnisvolleren Grund haben.

Er wußte, daß Leonardo sie nur bei der Arbeit, also entweder in Gegenwart vieler Geladener oder mindestens in Gegenwart der sie stets begleitenden Schwester Camilla, nie aber unter vier Augen sehen konnte. Und doch fühlte Giovanni, daß die beiden ein Geheimnis hatten, das sie miteinander verband und von den anderen Menschen trennte. Er wußte auch, daß dieses Geheimnis nicht Liebe war, oder wenigstens nicht das, was die Menschen Liebe nennen.

Er hatte von Leonardo gehört, daß alle Künstler die Neigung hätten, den von ihnen dargestellten Körpern und Gesichtern Ähnlichkeit mit ihrem eigenen Körper und Gesicht zu verleihen. Der Meister erklärte es damit, daß die menschliche Seele, die ihren Leib selbst bildet, jedesmal, wenn sie einen neuen Körper erfinden müsse, bestrebt sei, in ihm das von ihr schon einmal Geschaffene zu wiederholen; diese Neigung sei so stark, daß man selbst in Bildnissen durch die äußere Ähnlichkeit mit dem Dargestellten, wenn nicht die Gesichtszüge, so doch die Seele des Künstlers hindurchschimmern sehen könne.

Was sich jetzt vor Giovannis Augen abspielte, war noch erstaunlicher: es schien ihm, daß nicht nur die auf dem Bilde dargestellte, sondern auch die lebende Monna Lisa dem Künstler immer ähnlicher wurde, wie man es zuweilen bei Menschen beobachten kann, die viele Jahre zusammenleben. Aber das Schwergewicht dieser immer anwachsenden Ähnlichkeit lag weniger in den Zügen selbst – obwohl ihm auch diese in der letzten Zeit auffiel –, als im Ausdruck der Augen und im Lächeln. Mit grenzenlosem Erstaunen erkannte er darin das gleiche Lächeln, das er schon beim Ungläubigen Thomas wahrgenommen hatte; dem Thomas, der auf dem Bildwerke Verrocchios seine Finger in die Wunden des Heilands legt, und zu dem der junge Leonardo Modell gestanden hatte. Auch bei Mutter Eva vor dem Baume der Erkenntnis auf dem ersten Werke des Meisters, beim Engel der »Felsgrotten-Jungfrau«, bei der Leda mit dem Schwan und bei vielen anderen weiblichen Gesichtern, die der Meister noch vor seiner Bekanntschaft mit Monna Lisa gemalt, modelliert und gezeichnet hatte, fand er das Lächeln wieder. Als hätte der Meister sein Leben lang in allen seinen Schöpfungen die Spiegelung seiner eigenen Schönheit gesucht und sie endlich in den Zügen Giocondas gefunden.

Wenn Giovanni zuweilen dieses beiden eigene Lächeln längere Zeit beobachtete, überfiel ihn ein unheimliches Gefühl, fast eine Angst, wie vor einem Wunder: die Wirklichkeit schien ihm ein Traum, der Traum Wirklichkeit zu sein, als wäre Monna Lisa kein lebender Mensch und nicht die Gattin des florentiner Bürgers Messer Giocondo, des gewöhnlichsten unter den Sterblichen, sondern ein durch den Willen des Meisters geschaffenes Gespenst, ein Zauberwesen, ein weiblicher Doppelgänger Leonardos.

Gioconda streichelte ihren Liebling, den weißen Kater, der auf ihren Schoß gesprungen war; unter ihren feinen zarten Fingern knisterten im Felle kaum hörbar unsichtbare Funken.

Leonardo ging an die Arbeit. Plötzlich legte er den Pinsel weg und musterte aufmerksam das Gesicht Monna Lisas: nicht ein Schatten und nicht die geringste Veränderung in diesen Zügen entging seinen Blicken.

»Madonna,« sagte er, »Ihr seid heute durch etwas beunruhigt?«

Auch Giovanni sah, daß sie heute ihrem Bildnisse weniger glich als gewöhnlich.

Lisa richtete ihren ruhigen Blick auf Leonardo.

»Ja, ein wenig,« antwortete sie. »Dianora ist nicht ganz wohl und ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen.«

»Vielleicht seid Ihr müde und habt keine Lust, mir heute zu sitzen? Wollen wir es nicht lieber aufschieben? ...«

»Nein, es macht nichts, wäre es denn nicht schade um einen solchen Tag? Seht doch nur, wie zart die Schatten, wie feucht das Licht ist: es ist mein Tag!«

»Ich wußte,« fügte sie nach einer Weile hinzu, »daß Ihr mich erwartet. Ich wäre schon früher gekommen, aber man hat mich aufgehalten: Madonna Sophonisbe ...«

»Wer? Ach ja, ich weiß schon: es ist die mit der Stimme eines Marktweibes, die, die wie ein Verkäufer von Wohlgerüchen riecht ...«

Gioconda lächelte.

»Madonna Sophonisbe,« fuhr sie fort, »mußte mir durchaus über das gestrige Fest im Palazzo Vecchio bei der durchlauchtigsten Madonna Argentina, der Gattin des Gonfaloniere, Bericht erstatten und mir ausführlich erzählen, was zur Abendtafel gereicht wurde, wie die Damen gekleidet waren und von wem dieser und jener der Hof gemacht worden ist.«

»So ist es also! Folglich hat Euch gar nicht die Krankheit Dianoras, sondern das Geschwätz dieser Klatschbase so verstimmt, wie sonderbar! Habt Ihr es schon wahrgenommen, Madonna, daß zuweilen irgendein Unsinn, den wir von fremden Menschen hören und der uns nichts angeht, oder eine gewöhnliche menschliche Dummheit oder Abgeschmacktheit ganz plötzlich unsere Seele betrübt und uns mehr verstimmt, als ein schweres Leid?

Sie neigte stumm ihren Kopf: man sah, daß sie es längst gewohnt waren, sich fast ohne Worte, durch leiseste Andeutungen zu verständigen.

Er versuchte wieder zu malen.

»Erzählt mir etwas,« sagte Monna Lisa.

»Was?«

Sie dachte eine Weile nach und sagte:

»Von dem Reiche der Venus.«

Er wußte einige Erzählungen, die sie besonders liebte; es waren zum größten Teil eigene und fremde Erinnerungen, Reiseerlebnisse, Naturbeobachtungen und Vorwürfe zu Bildern. Er erzählte sie fast immer mit denselben einfachen, fast kindlichen Worten zu den Tönen einer leisen Musik.

Leonardo gab ein Zeichen. Und als Andrea Salaino auf seiner Viola und Atalante auf seiner silbernen Laute, die einem Pferdeschädel glich, die Melodie anstimmten, die immer die Erzählung »Von dem Kelche der Venus« begleitete, begann er mit seiner feinen, beinahe weiblichen Stimme im Tonfalle eines alten Märchens oder eines Wiegenliedes:

»Schiffer, die an der Küste Ciliciens wohnen, behaupten, es sei jenen Seefahrern, denen es bestimmt ist, in den Wellen ihren Tod zu finden, zuweilen vergönnt, in den tollsten Stürmen die Insel Zypern, das Reich der Göttin der Liebe, zu schauen. Um die Insel herum toben Sturzwellen, Wasserhosen und Wirbelstürme, und viele Schiffe sollen schon an den von den Wellen umtobten Riffen zerschellt sein, wie viele Seefahrer sind schon in diesem Strudel umgekommen! Auf dem Strande sind noch die elenden Gerippe der Schiffskörper zu sehen; vom Sand halb verschüttet, von Algen umwunden, strecken die einen den Bug, die anderen das Steuerteil empor; die einen zeigen ihre entblößten Spanten, die schauerlich wie Rippen halbverwester Leichen aussehen; die anderen – Trümmer des Steuers. Es sind ihrer so viele, daß man glauben muß, der Jüngste Tag, an dem das Meer alle Schiffe, die es verschlungen, wiedergeben muß, sei schon angebrochen. Über der Insel aber blaut ein ewig heiterer Himmel, die Sonne ergießt ihr Licht auf blumenbewachsene Hügel und die Luft ist so ruhig, daß die langen Flammenzungen der auf den Tempelstufen stehenden Räuchergefäße ebenso steil zum Himmel emporsteigen, wie die weißen Säulen und die sich im glatten Wasser eines Sees spiegelnden schwarzen Zypressen. Man hört nur den süßen Gesang der Springbrunnen, die ihr Wasser aus einem Porphyrbecken in das andere rieseln lassen. Die im Meere Untergehenden sehen diesen nahen, stillen See; der Wind bringt ihnen den Duft der Myrtenhaine; und je schrecklicher der Sturm tobt, um so tiefer ist die Ruhe im Reiche der Cypris.«

Er schwieg. Die Töne der Viola und der Laute verklangen, und nun trat jene Stille ein, die schöner ist als alle Töne: die Stille nach einer Musik. Nur der auf die gläsernen Halbkugeln fallende Strahl des Springbrunnens sang noch leise.

Von der Musik gleichsam eingelullt, durch die Stille vom wirklichen Leben getrennt, heiter, allem fremd und nur dem Meister ergeben, sah Monna Lisa dem Meister gerade in die Augen mit einem Lächeln, so geheimnisvoll, wie stilles Wasser, das ganz durchsichtig, aber so tief ist, daß der Blick nie bis an den Grund dringen kann; es war Leonardos Lächeln.

Wie zwei Spiegel erschienen die Beiden Giovanni, wie Spiegel, die, einander widerstrahlend, sich in die Unendlichkeit vertiefen.

II.

Am nächsten Morgen arbeitete der Künstler im Palazzo Vecchio an der »Schlacht bei Anghiari«.

Als er im Jahre 1503 aus Rom nach Florenz gekommen war, erhielt er von dem auf Lebenszeit eingesetzten Gonfaloniere Piero Soderini, dem damaligen Oberhaupte der Republik, den Auftrag, auf einer Wand des neuen Ratsaales der Signorie im Palazzo Vecchio irgendeine denkwürdige Schlacht darzustellen. Der Künstler wählte den berühmten Sieg bei Anghiari, den die Florentiner im Jahre 1440 über Niccolo Piccinio, den Feldherrn des lombardischen Herzogs Philippo Maria Visconti, davongetragen hatten.

Auf der Wand des Ratsaales war schon ein Teil des Bildes zu sehen: vier Reiter waren aneinandergeraten und kämpften um eine Fahne; die Fahnenstange war gebrochen und das zerfetzte Tuch flatterte an der Spitze eines langen Stockes. Fünf Hände hielten ihn umklammert und zerrten ihn wütend nach verschiedenen Richtungen. Degen kreuzten sich in der Luft. Alle hielten den Mund offen, so daß man das wilde Geschrei der Kämpfenden zu hören glaubte. Die verzerrten Gesichter der Männer waren nicht weniger schrecklich, als die tierischen Fratzen der Märchenungeheuer auf ihren ehernen Panzern. Die Pferde schienen von der Wut der Menschen angesteckt: auf ihren Hinterbeinen stehend, waren sie mit den Vorderbeinen aneinandergeraten, hatten die Ohren zurückgelegt, sich wie Raubtiere ineinander verbissen; sie fletschten die Zähne und warfen aus ihren schrägstehenden Pupillen wilde Blicke um sich. Im blutigen Schmutze unter ihren Hufen hatte ein Mann seinen Gegner an den Haaren gepackt und suchte ihn zu töten, indem er seinen Kopf gegen die Erde stieß; er schien gar nicht zu merken, daß beide, er und sein Gegner sofort von den Pferdehufen zerstampft werden mußten.

Der Krieg war hier in seinem ganzen Schrecken dargestellt als ein sinnloses Gemetzel, als die »tierischste aller Dummheiten« – »pazzia bestialissima«, die nach einem Ausspruche Leonardos »keinen ebenen Platz auf der Erde ohne Blutspuren zurückläßt«.

Kaum hatte er seine Arbeit begonnen, als er auf den Steinfliesen des Saales schallende Schritte hörte. Er erkannte gleich, von wem sie herrührten, und machte eine saure Miene, ohne von seiner Arbeit aufzublicken.

Es war Piero Soderini, einer von jenen Menschen, von denen Niccolo Machiavelli sagte, sie seien weder kalt noch heiß, sondern lauwarm, weder schwarz noch weiß, sondern grau. Die florentiner Bürger, die Nachkommen reich gewordener Krämer, die sich in die vornehmen Kreise hineingedrängt hatten, wählten ihn zum Führer der Republik, da sie ihn für ihresgleichen und für einen vollkommen mittelmäßigen und ungefährlichen Menschen hielten; sie hofften, er würde ihnen ein gefügiges Werkzeug sein. Aber sie hatten sich getäuscht: Soderini erwies sich als ein Freund der Armen und als ein Beschützer des Volkes. Niemand maß dem übrigens irgendwelche Bedeutung bei. Er war trotzdem zu nichtssagend: statt staatsmännischer Fähigkeiten besaß er die Emsigkeit eines Beamten, statt des Verstandes – Vorsicht, statt der Tugend – Gutmütigkeit. Es war allen bekannt, daß seine Gemahlin, die hochmütige und unnahbare Madonna Argentina, die ihre Verachtung gegen ihren Mann nie verbarg, ihn nie anders als »meine Ratte« nannte. Und Messer Piero erinnerte in der Tat an eine alte, ehrwürdige Ratte aus dem Keller einer Kanzlei. Er besaß nicht einmal jene Geschicklichkeit und angeborene Plattheit, welche für Regierende ebenso notwendig sind, wie das Öl für die Räder einer Maschine. Er war in seiner republikanischen Ehrlichkeit trocken, hart, eben und glatt wie ein Brett, – er war so unbestechlich und rein, daß er, nach Machiavellis Ausdruck, »wie frisch gewaschene Wäsche nach Seife roch«. In seinem Bestreben, alle zu versöhnen, reizte er sie nur auf. Er machte es den Reichen nie recht und half auch den Armen nicht. Er setzte sich stets zwischen zwei Stühle und geriet immer zwischen zwei Feuer. Er war der Märtyrer der goldenen Mittelmäßigkeit. Machiavelli, den er protegierte, verfaßte einst folgendes Epigramm, in Form einer Grabinschrift:

Gleich nach dem Tode Piero Soderini's
Begab sich seine Seele in die Hölle.
Doch Pluto sprach: »Was suchst du hier, du Dummer?
Geh in den Mittelkreis zu kleinen Kindern.«

Bei der Übernahme der Bestellung mußte Leonardo einen sehr unbequemen Vertrag unterschreiben, der ihn im Falle der geringsten Unpünktlichkeit zu einer Geldbuße verpflichtete. Die vornehmen Signori waren wie Krämer auf ihren Vorteil bedacht. Soderini, der ein großer Liebhaber von amtlichen Schreibereien war, belästigte ihn mit der Forderung, ihm über jeden vom Rentamt erhaltenen Heller Rechenschaft abzulegen; so über das Geld, das er zum Aufführen von Gerüsten und zum Ankaufe von Lack, Soda, Kalk, Farben, Leinöl und von anderen Kleinigkeiten erhielt. Im Dienste der »Tyrannen«, wie sich der Gonfaloniere verächtlich ausdrückte, am Hofe von Moro und Cesare, hatte sich Leonardo noch nie so als Sklave gefühlt, wie im Dienste des Volkes, in der freien Republik, im Reiche der bürgerlichen Gleichheit. Das schlimmste dabei aber war, daß Messer Piero, gleich den meisten auf dem Gebiete der Kunst ungebildeten und unbegabten Menschen, die Leidenschaft hatte, den Künstlern Ratschläge zu erteilen.

Soderini wandte sich an Leonardo mit der Anfrage bezüglich des Geldes, das man ihm zum Ankaufe von fünfunddreißig Pfund alexandrinischen Bleiweißes bewilligt hatte und das in seinem Rechenschaftsbericht nicht angeführt war. Der Künstler gestand, er hätte kein Bleiweiß gekauft, er wüßte auch nicht mehr, wofür er das Geld verausgabt hätte, und erklärte sich bereit, es dem Rentamt wiederzuerstatten.

»Aber, was fällt Euch ein! Wo denkt Ihr denn hin, Messer Leonardo? Ich erinnere Euch ja nur der Ordnung und Genauigkeit halber daran. Ihr dürft uns das nicht übel nehmen. Ihr seht ja selbst: wir sind geringe, bescheidene Leute. Im Vergleich mit der Freigebigkeit solcher vornehmer Fürsten wie Sforza und Borgia erscheint Euch unsere Sparsamkeit vielleicht als Geiz, was soll man aber machen? Jeder muß sich nach seiner Decke strecken, wir sind ja keine Selbstherrscher, sondern nur Diener des Volkes und schulden ihm Rechenschaft über jeden Soldo; denn Ihr wißt ja selbst, daß die Staatsgelder etwas Heiliges sind: sie bestehen aus dem Scherflein der Witwe, den Schweißtropfen des ehrlichen Arbeiters und dem Blute des Soldaten. Der Fürst ist allein, während wir unserer viele sind. Auch sind wir alle vor dem Gesetze gleich. So verhält es sich also, Messer Leonardo! Die Tyrannen haben Euch mit Gold gezahlt, wir zahlen mit Kupfer; ist aber das Kupfer der Freiheit nicht besser als das Gold der Sklaverei, und ist denn ein ruhiges Gewissen nicht jeder Belohnung vorzuziehen? ...«

Der Künstler hörte schweigend zu und tat so, als wäre er mit allem einverstanden. Mit der traurigen Demut vor dem Schicksal eines auf der Landstraße von einer Staubwolke überraschten Wanderers, der sein Haupt senkt und die Augen schließt, erwartete er das Ende der Rede Soderinis. Leonardo fühlte in diesen gewöhnlichen Gedanken gewöhnlicher Menschen eine blinde, stumpfe, unerbittliche Kraft, die den Naturmächten gleicht, mit denen nicht zu streiten ist, und wenn sie ihm auch auf den ersten Blick nur platt erschienen, hatte er doch beim tieferen Eindringen das Gefühl, als blicke er in eine furchtbare Leere, in einen schwindelnden Abgrund.

Soderini war aber im Zuge. Er wollte den Gegner zum Streite herausfordern. Um ihn empfindlich zu treffen, begann er über Malerei zu sprechen.

Er setzte sich die silberne Brille mit den runden Gläsern auf und begann mit wichtiger Kennermiene den vollendeten Teil des Bildes zu betrachten.

»Ausgezeichnet! Bewunderungswürdig! Welche Kraft in den Muskeln, welche Kenntnis der Perspektive! Und die Pferde, die Pferde – sie sind wie lebendig!«

Dann schaute er den Künstler über die Brille hinweg gutmütig und streng an, wie ein Lehrer einen begabten, aber nicht genügend fleißigen Schüler anschaut:

»Und doch, Messer Leonardo, muß ich auch jetzt wieder sagen, was ich schon so oft gesagt habe: wenn Ihr ebenso fortfahren werdet, wie Ihr begonnen habt, wird die Wirkung des Bildes eine zu bedrückende und unerfreuliche sein und – Ihr dürft mir meine Offenheit nicht übel nehmen, Verehrtester, ich sage ja immer den Menschen die Wahrheit ins Gesicht – wir haben eigentlich etwas anderes erwartet ...«

»Was habt Ihr denn erwartet?« fragte der Künstler mit schüchterner Neugierde.

»Daß Ihr den Kriegsruhm der Republik für die Nachkommen verewigen und die denkwürdigen Taten unseres Helden darstellen würdet? Wißt Ihr, irgend etwas, das die Seelen der Menschen erhebt und ihnen als ein gutes Beispiel der Vaterlandsliebe und der bürgerlichen Tugenden dienen kann. Ich gebe zu, daß der Krieg in Wirklichkeit so ist, wie Ihr ihn dargestellt habt, warum, frage ich Euch aber, Messer Leonardo, warum sollte man denn nicht einige Kraßheiten veredeln und verschönern oder wenigstens mildern, denn Maß ist in allen Dingen vonnöten. Vielleicht bin ich im Irrtum, es scheint mir jedoch, daß der wahre Beruf des Künstler gerade darin besteht, dem Volke durch seine Anweisungen und Belehrungen zu nützen ...«

Wenn er einmal vom Nutzen der Kunst für das Volk zu sprechen begonnen hatte, konnte er nicht mehr innehalten. Seine Augen leuchteten vor Begeisterung für den gesunden Menschenverstand und in dem einförmigen Ton seiner Worte war die Beharrlichkeit eines Tropfens, der den Stein höhlt.

Der Künstler lauschte in schweigender Erstarrung, und nur manchmal, wenn er zur Besinnung kam und sich vorzustellen bemühte, was dieser tugendhafte Mann eigentlich über die Kunst dachte, – wurde ihm unheimlich, wie beim Betreten eines engen, dunklen, mit Menschen überfüllten Raumes, der eine so dumpfe Luft hat, daß man auch nicht einen Augenblick darin bleiben kann, ohne zu ersticken.

»Die Kunst, die dem Volke keinen Nutzen bringt,« sagte Messer Piero, »ist ein Zeitvertreib für Müßiggänger, eine eitle Laune für die Reichen oder ein Luxus für Tyrannen, habe ich nicht recht, Verehrtester?«

»Gewiß,« bestätigte Leonardo und fügte mit einem kaum merklichen Lächeln in den Augen hinzu:

»Wißt Ihr was, Signore? Um unseren alten Streit zu schlichten, müßten wir folgendes tun: die Bürger der Florentiner Republik sollten hier in diesem Ratsaal, in einer allgemeinen Volksversammlung mit weißen und schwarzen Kugeln durch Stimmenmehrheit entscheiden, ob mein Bild für das Volk von Nutzen sein kann oder nicht. Es wäre dadurch ein doppelter Vorteil erreicht: erstens eine mathematische Genauigkeit, denn man braucht die Stimmen nur zu zählen, um die Wahrheit festzustellen. Zweitens ist es jedem sachverständigen und klugen Menschen eigen, sich zu irren, wenn er allein ist, während zehn- bis zwanzigtausend Unwissende oder Dummköpfe sich in ihrer Gesamtheit nicht irren können, denn die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes.«

Die Sache wollte Soderini nicht sofort einleuchten. Die geheiligten weißen und schwarzen Kugeln flößten ihm solche Andacht ein, daß ihm gar nicht einfiel, jemand könnte sich erlauben, mit einem derartigen Sakrament Spott zu treiben. Als er es endlich begriffen, starrte er den Künstler mit stumpfem Erstaunen, beinahe mit Furcht an, und seine kleinen, halb blinden, runden Äuglein hüpften und sprangen, wie die einer Ratte, die eine Katze wittert.

Er gewann aber bald seine Haltung wieder. Nach der ihm eigenen Geistesrichtung hielt der Gonfaloniere die Künstler im allgemeinen für Menschen ohne gesunden Menschenverstand; darum fühlte er sich durch Leonardos Scherz nicht verletzt.

Messer Piero wurde jedoch traurig, denn er hielt sich für den Wohltäter dieses Menschen: er hatte ihn ja, trotz der Gerüchte über den Hochverrat Leonardos, über die Kriegskarten der Umgebung von Florenz, welche er für Cesare Borgia, den Feind des Vaterlandes, angefertigt haben sollte, großmütig in die Dienste der Republik treten lassen, da er auf seinen eigenen günstigen Einfluß, und auf die Reue des Künstlers vertraute.

Messer Piero gab jetzt dem Gespräch eine neue Wendung und erklärte ihm unter anderem mit der sachlichen Miene eines Vorgesetzten, Michel Angelo Buonarotti hätte den Auftrag erhalten, auf der gegenüberliegenden Wand desselben Ratsaales ein Schlachtenbild zu malen; darauf verabschiedete er sich kühl und ging.

Der Künstler blickte ihm nach: dieses farblose, grauhaarige Männchen mit den krummen Beinen und dem runden Rücken erinnerte aus der Entfernung noch mehr an eine Ratte.

III.

Als Leonardo den Palazzo Vecchio verließ, blieb er auf dem Platze vor dem David des Michel Angelo stehen.

Vor den Toren des Rathauses von Florenz stand dieser Recke aus weißem Marmor wie ein Wachtposten. Er hob sich scharf gegen den dunklen Hintergrund des schlanken, drohenden Turmes ab.

Der nackte Jünglingskörper war schmächtig. Die Rechte mit der Schleuder hing herab, so daß die Sehnen hervortraten; die vor der Brust erhobene Linke hielt einen Stein. Die Brauen waren zusammengezogen und der Blick wie bei einem Zielenden in die Ferne gerichtet. Die Locken über der niederen Stirn waren ineinander verflochten und sahen wie eine Krone aus.

Und Leonardo gedachte der Worte des ersten Buches Samuelis:

»David aber sprach zu Paul: Dein Knecht hütete die Schafe seines Vaters, und es kam ein Löwe und ein Bär, und trug ein Schaf weg von der Herde. Und ich lief ihm nach, und schlug ihn, und errettete es aus seinem Maul. Und da er sich über mich machte, ergriff ich ihn bei seinem Bart, und schlug ihn, und tötete ihn. Also hat dein Knecht geschlagen beide, den Löwen und den Bären. So soll nun dieser Philister, der Unbeschnittene, sein gleich wie deren einer. – Und nahm seinen Stab in seine Hand, und erwählte fünf glatte Steine aus dem Bach, und tat sie in die Hirtentasche, die er hatte, und in den Sack, und nahm die Schleuder in seine Hand, und machte sich zu dem Philister. – Und der Philister sprach zu David: Bin ich denn ein Hund, daß du mit einem Stecken zu mir kommst? David aber sprach zu dem Philister: heutiges Tags wird dich der Herr in meine Hand überantworten, daß ich dich schlage, und nehme dein Haupt von dir, und gebe die Leichname des Heers der Philister heute den Vögeln unter dem Himmel und dem Wild auf Erden, daß alles Land innewerde, daß Israel einen Gott hat.«

Auf dem Platze, auf dem Savonarola verbrannt worden war, erschien Michel Angelos David als jener Prophet, den Girolamo vergeblich angerufen hatte, als jener Held, den Machiavelli erwartete.

In dieser Schöpfung seines Nebenbuhlers fühlte Leonardo eine Seele, die vielleicht der seinigen glich und ihr zugleich ebenso entgegengesetzt war, wie das Handeln der Beschaulichkeit, wie die Leidenschaft der Ruhe, wie der Sturm der Stille. Und diese fremde Macht zog ihn an und erregte in ihm Neugierde und den Wunsch, ihr näherzutreten, um sie ganz zu erkennen.

In den Bauspeichern des florentiner Domes Maria del Fiore hatte ein ungeheurer, von einem ungeschickten Bildhauer verdorbener, weißer Marmorblock gelegen; die besten Meister hatten sich geweigert, ihn zu bearbeiten, da sie ihn für ganz unbrauchbar hielten.

Als Leonardo aus Rom zurückgekehrt war, wurde ihm dieser Block angeboten, während er aber mit der ihm eigenen Langsamkeit überlegte, maß und rechnete, kam ihm ein anderer Künstler, der um dreiundzwanzig Jahre jüngere Michel Angelo Buonarotti, bei diesem Auftrage zuvor. Er arbeitete nicht nur bei Tag, sondern auch in der Nacht bei Licht und vollendete seinen Recken im Laufe von fünfundzwanzig Monaten. Leonardo aber hatte sechzehn Jahre lang an dem tönernen Koloß, dem Denkmal der Sforza, gearbeitet, er wagte es kaum, sich vorzustellen, wieviel Zeit er wohl für die Bearbeitung eines Bildwerks von der Größe des David benötigt haben würde.

Die Florentiner erklärten Michel Angelo für einen Nebenbuhler Leonardos in der Bildhauerkunst. Und Buonarotti nahm die Herausforderung ohne jedes Zögern an.

Jetzt begann er das Schlachtenbild im Ratsaale, obwohl er bis dahin kaum einen Pinsel in der Hand gehabt hatte; auf diese Weise ließ er sich mit einer Kühnheit, die vielleicht unvernünftig erschien, auch in der Malerei in einen Wettkampf mit Leonardo ein.

Je mehr Sanftmut und Wohlwollen Leonardo seinem Nebenbuhler entgegenbrachte, desto schonungsloser wurde dessen Haß. Er deutete Leonardos Ruhe als Verachtung.

Mit krankhaftem Argwohn lieh er jedem Klatsch sein Ohr, suchte nach einem Vorwande für Streitigkeiten und benutzte jede Gelegenheit, um den Feind zu verletzen.

Als der David beendet war, luden die Signori die besten Florentiner Maler und Bildhauer ein, um über die Frage des Standplatzes für das Kunstwerk zu entscheiden. Leonardo schloß sich der Ansicht des Architekten Giuliano da San Gallo an, der vorschlug, den Recken auf dem Platze der Signoria, unter dem Mittelbogen in der Tiefe der Loggia Orcagna aufzustellen.

Als Michel Angelo davon erfuhr, erklärte er, Leonardo wolle den David aus Neid in die dunkelste Ecke so verstecken, daß niemand ihn sehen könnte und der Marmor niemals von der Sonne beleuchtet würde.

In dem Werkstatthof mit den schwarzen Wänden, wo Leonardo das Porträt der Gioconda malte, fand eines Tages eine der üblichen Versammlungen statt, an der viele Meister, unter anderem die Brüder Pollaiuoli, der alte Sandro Botticelli, Filippino Lippi und Peruginos Schüler, Lorenzo di Credi, teilnahmen; es wurde dabei die Frage aufgeworfen, welche Kunst höher stehe: die Bildhauerei oder die Malerei; ein zu jener Zeit bei den Malern beliebter Streit.

Leonardo hörte schweigend zu. Als man ihn aber mit Fragen bedrängte, sagte er:

»Ich halte eine Kunst für desto vollkommener, je weiter sie vom Handwerk entfernt ist.«

Das ihm eigene zweideutige Lächeln glitt über sein Gesicht, so daß es schwer fiel zu entscheiden, ob er aufrichtig spreche oder spotte.

»Diese beiden Künste,« fügte er hinzu, »unterscheiden sich hauptsächlich dadurch voneinander, daß die Malerei für den Geist, die Bildhauerei aber für den Körper anstrengender ist. Die in dem groben, harten Stein wie ein Kern eingeschlossene Gestalt wird vom Bildhauer langsam befreit, indem er sie mit Anspannung aller körperlichen Kräfte, bis zur Ermattung, mit Meißel und Hammer aus dem Marmor aushaut; dabei rinnt ihm der Schweiß wie einem Tagelöhner herunter, vermischt sich mit dem Staub und wird Schmutz; sein Gesicht ist beschmiert und wie das eines Bäckers mit weißem Marmormehl bestäubt; seine Kleidung ist mit den Splittern wie mit Schnee bedeckt und sein Haus ist mit Steinen und Staub angefüllt. Der Maler sitzt dagegen in völliger Ruhe und fein gekleidet in der Werkstätte und führt den leichten Pinsel mit den angenehmen Farben, sein Haus ist hell und rein und mit schönen Bildern geziert; es herrscht darin stete Ruhe, und bei der Arbeit ergötzen ihn Musik, Gespräche oder Lektüre, und all dem kann er lauschen, von keinem Hammerschlag oder sonstigem lästigen Geräusch gestört.«

Leonardos Worte wurden Michel Angelo überbracht, der sie auf sich bezog; er verbarg jedoch seinen Zorn und erwiderte nur, achselzuckend und giftig lächelnd:

»Messer da Vinci, der uneheliche Sohn einer Gasthofsmagd, mag sich ja in der Rolle eines Müßiggängers und eines verwöhnten Muttersöhnchens gefallen. Ich aber, der Nachkomme eines alten Geschlechts, schäme mich meiner Arbeit nicht, und wie ein einfacher Tagelöhner ekele ich mich weder vor Schweiß noch vor Schmutz. Was aber die Vorzüge der Bildhauerei vor der Malerei oder umgekehrt anbelangt, so ist das ein sinnloser Streit: alle Künste sind gleich, da sie der gleichen Quelle entspringen und nach demselben Ziele streben, wenn aber jemand, der die Malerei für edler als die Bildhauerei erklärt, auch in anderen Dingen, über die er urteilt, ebenso bewandert ist, versteht er vom Malen wohl kaum mehr als meine Küchenmagd.«

Michel Angelo nahm mit fieberhafter Eile das Bild im Ratsaal in Angriff, um den Nebenbuhler einzuholen, was übrigens nicht schwierig war.

Er wählte einen Zwischenfall aus dem Pisanischen Krieg: die florentiner Soldaten baden an einem heißen Sommertage im Arno; da wird Alarm geblasen – die Feinde sind da; die Soldaten eilen ans Ufer, steigen aus dem Wasser, wo ihre müden Körper in der Kühle Erquickung suchten, und ziehen, ihrer Pflicht gehorchend, ihre verschwitzten, staubigen Kleider und die von der Sonnenglut erhitzten ehernen Rüstungen und Panzer an.

Im Gegensatz zu Leonardos Bild, faßte Michel Angelo den Krieg also nicht als ein sinnloses Abschlachten, als »tierischste Dummheit« auf, sondern als eine mutige Tat, als, eine Erfüllung der ewigen Pflicht, als einen Kampf der Helden für den Ruhm und die Größe des Vaterlandes.

Dieser Zweikampf zwischen Leonardo und Michel Angelo wurde von den Florentinern mit jener Neugierde verfolgt, die der Pöbel allen außergewöhnlichen Schauspielen entgegenbringt. Und da alles, was der Politik fern stand, ihnen ebenso fad, wie ein Gericht ohne Salz und Pfeffer, erschien, beeilten sie sich, zu verkünden, Michel Angelo vertrete die Republik gegen die Medici, Leonardo jedoch die Medici gegen die Republik. Und nachdem so der Kampf allen verständlich geworden war, entbrannte er mit neuer Kraft, wurde aus den Häusern auf die Straßen und Plätze hinausgetragen und selbst diejenigen, die sich nicht im geringsten um die Kunst kümmerten, nahmen daran teil. Die Werke des Leonardo und des Michel Angelo wurden zu Kriegslosungen zweier feindlichen Lager.

Es kam so weit, daß der David eines Nachts von Unbekannten mit Steinen beworfen wurde. Die vornehmen Bürger schrieben diese Tat dem Volk zu, die Volksführer – den vornehmen Bürgern, die Künstler – den Schülern des Perugino, der in Florenz vor kurzem seine Werkstätte eröffnet hatte; Buonarotti erklärte aber in Anwesenheit des Gonfaloniere, die Taugenichtse, die den David mit Steinen beworfen hatten, wären von Leonardo bestochen worden.

Und viele glaubten es oder gaben wenigstens vor, es zu glauben.

Eines Tages, als Leonardo am Bildnisse der Gioconda arbeitete und in der Werkstätte außer Giovanni und Salaino niemand zugegen war, sagte er zu Monna Lisa mit Bezug auf Michel Angelo:

»Mir scheint zuweilen, alles würde sich ganz von selbst klären und diese ganze dumme Streitigkeit aus der Welt geschafft werden, wenn ich ihn unter vier Augen sprechen könnte: er würde dann begreifen, daß ich nicht sein Feind bin und daß niemand ihn so lieb gewinnen könnte wie ich ...«

Monna Lisa schüttelte den Kopf:

»Ist dem auch wirklich so, Messer Leonardo? Würde er es denn verstehen?«

»Er würde es verstehen,« rief der Künstler aus, »es ist doch nicht möglich, daß ein solcher Mensch es nicht versteht! Das ganze Unglück liegt ja nur darin, daß er zu schüchtern ist und zu wenig Selbstvertrauen besitzt. Er quält sich, verzehrt sich in Eifersucht und Furcht, weil er sich selbst noch nicht kennt. Das ist ja ein Hirngespinnst, ein Wahnsinn! Ich würde ihm einfach alles sagen und ihn dadurch sicher beruhigen. Hat er denn Grund, mich zu fürchten? Wißt Ihr, Madonna, als ich neulich seinen Entwurf zu den badenden Kriegern sah, traute ich meinen Augen nicht. Niemand kann sich auch nur eine Vorstellung davon machen, was er ist und was er werden wird. Ich weiß, daß er mir schon jetzt nicht nur gleichkommt, sondern stärker ist als ich; ja, ja, ich fühle, er ist stärker! ...«

Sie richtete auf ihn jenen Blick, in dem sich, wie es schien, Leonardos Blick spiegelte, und lächelte leise und seltsam.

»Messere,« sprach sie, »erinnert Ihr Euch an jene Stelle in der heiligen Schrift, wo Gott zum Propheten Elias, der vor dem gottlosen Könige Ahab auf den Berg Horeb geflohen war, spricht: »Gehe heraus und tritt auf den Berg vor den Herrn! Und siehe, der Herr ging vorüber und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriß und die Felsen zerbrach, ging vor ihm her; der Herr aber war nicht im Winde. Nach dem Winde aber kam ein Erdbeben; aber der Herr war nicht im Erdbeben. Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der Herr war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles sanftes Säuseln; und darin war der Herr. Messer Buonarotti ist vielleicht stark wie dieser Wind, der vor dem Herrn die Berge zerreißt und die Felsen zerbricht. Doch er besitzt nicht jene Stille, in welcher der Herr ist. Er weiß das und haßt Euch, weil Ihr ebenso stark seid als er, wie die Stille stärker ist als der Sturm.«

In der Branacci-Kapelle, an der hinter dem Flusse gelegenen alten Kirche Maria del Carmine, befinden sich die berühmten Fresken des Tommaso Masaccio, die eine Art Schule für alle großen Meister Italiens bildeten, und die auch Leonardo einst studiert hatte; – hier traf er eines Tages einen ihm unbekannten Jüngling, beinahe einen Knaben, der diese Fresken studierte und abzeichnete. Er trug ein mit Farben beschmutztes schwarzes Wams und reine, aber grobe Wäsche, aus hausgewebtem Leinen. Er war schlank und biegsam und hatte einen dünnen, ungewöhnlich weißen, zarten und langen Hals, wie ihn bleichsüchtige Mädchen haben; sein länglich rundes, eiförmiges, durchsichtig bleiches Gesicht war von einer gezierten und süßlichen Anmut, und seine großen, schwarzen Augen erinnerten an die der umbrischen Bäuerinnen, die Perugino in seinen Madonnen verewigte; diesen Augen war jedes Denken fremd, sie waren tief und leer wie der Himmel.

Nach einiger Zeit traf Leonardo diesen Jüngling wieder, und zwar im Kloster Maria Novella, im Papstsaale, in dem der Karton zur »Schlacht bei Anghiari« ausgestellt war. Er studierte und kopierte ihn ebenso eifrig wie Masaccios Fresken. Der Jüngling, der Leonardo zu kennen schien, blickte ihn starr an, wagte es aber nicht, ihn anzusprechen, obwohl er es sichtlich sehr wünschte.

Als Leonardo das bemerkte, ging er selbst auf ihn zu. Der junge Mann erklärte ihm hastig, erregt und errötend, in einer etwas aufdringlichen, aber kindlich naiven, einschmeichelnden Weise, er halte ihn für seinen Lehrer und für den größten Meister Italiens; Michel Angelo sei unwürdig, dem Schöpfer des »heiligen Abendmahls« auch nur die Schuhriemen zu lösen.

Leonardo kam mit diesem Jüngling noch einigemal zusammen, unterhielt sich mit ihm, prüfte seine Zeichnungen, und je mehr er ihn kennen lernte, desto tiefer wurde seine Überzeugung, einen großen zukünftigen Meister vor sich zu haben.

Er war wie ein Echo für alle Stimmen empfänglich und wie ein Weib jedem Einflusse zugänglich; er ahmte sowohl Perugino als Pinturicchio, bei dem er vor kurzem in der Bibliothek zu Siena gearbeitet hatte, vor allem aber Leonardo nach. Trotz dieser Unreife erriet der Meister in ihm eine Frische des Gefühls, wie er sie noch nie gesehen hatte. Am meisten aber wunderte er sich, daß dieser Knabe, wie zufällig und ohne es selbst zu wollen, in die tiefsten Geheimnisse der Kunst und des Lebens eindrang; er besiegte die größten Schwierigkeiten ohne jede Anstrengung und wie im Spiele. Er erreichte alles ohne jede Mühe, und die Kunst war für ihn scheinbar frei von jenem endlosen Suchen, von der Mühe, der Anstrengung, dem Schwanken und Zweifeln, welche die Qual und den Fluch von Leonardos ganzem Leben bildeten. Und wenn der Meister zu ihm von der Notwendigkeit eines langsamen und geduldigen Naturstudiums und von den mathematisch genauen Regeln und Gesetzen der Malerei sprach, sah ihn der Jüngling mit seinen großen erstaunten und gedankenlosen Augen an; er langweilte sich offenbar und hörte nur aus Respekt vor dem Lehrer aufmerksam zu.

Einmal entschlüpfte ihm ein Ausspruch, der Leonardo durch seine Tiefe überraschte und beinahe erschreckte:

»Ich habe bemerkt, daß man beim Malen gar nicht denken soll: es gelingt dann besser.«

Dieser Knabe schien ihm durch sein ganzes Wesen zu sagen, daß jene von ihm erstrebte Einheit, jene vollkommene Harmonie zwischen Gefühl und Vernunft, Liebe und Erkenntnis, gar nicht existiere und nicht existieren könne.

Seine sanfte, sorglose und gedankenlose Klarheit erweckte in Leonardo größere Zweifel und größere Furcht für das künftige Schicksal der Kunst und für seine Lebensarbeit, als die Empörung und der Haß des Buonarotti.

»Woher stammst du, mein Sohn?« fragte er ihn bei einer der ersten Begegnungen. »Wer ist dein Vater und wie heißt du?«

»Ich stamme aus Urbino,« antwortete der Jüngling mit seinem freundlichen, etwas süßlichen Lächeln. »Mein Vater ist der Maler Giovanni Sanzio. Ich heiße Rafael.«

IV.

Zu dieser Zeit mußte Leonardo Florenz in einer wichtigen Angelegenheit verlassen.

Die Republik führte seit undenklichen Zeiten einen endlosen, grausamen Krieg mit der Nachbarstadt Pisa, der beide Städte ruinierte.

Bei einem Gespräch mit Machiavelli setzte ihm der Künstler folgenden Kriegsplan auseinander: die Gewässer des Arno durch die Schaffung eines neuen Bettes von Pisa abzuleiten und in den Sumpf von Livorno zu führen, um die belagerte Stadt vom Meere abzuschneiden, die Zufuhr von Lebensmitteln zu unterbinden und auf diese Weise eine Kapitulation zu erzwingen. Niccolo begeisterte sich bei seiner Vorliebe für alles Außergewöhnliche sofort für diese Idee und teilte sie dem Gonfaloniere mit, dessen Unfähigkeit man in der letzten Zeit alle Mißerfolge im Pisanischen Krieg zuschrieb. Einerseits riß er ihn hin und überzeugte ihn durch seine Redekunst, indem er höchst geschickt auf seine Eitelkeit einwirkte; andererseits betrog er ihn, indem er die wirklichen Unkosten und Schwierigkeiten des Unternehmens vor ihm verheimlichte. Als der Gonfaloniere den Plan dem Rate der Zehn vorlegte, wurde er beinahe ausgelacht. Soderini war gekränkt und wollte nun den Beweis erbringen, daß er nicht weniger gesunden Menschenverstand besitze, als jeder andere; er ging mit einer solchen Beharrlichkeit vor, daß er seinen Willen schließlich durchsetzte. Dabei unterstützten ihn seine Feinde am eifrigsten: sie stimmten für seinen Vorschlag, der ihnen höchst unsinnig erschien, nur um Messer Pieros Sturz herbeizuführen. Machiavelli verheimlichte vorläufig seine List vor Leonardo, da er den Gonfaloniere mit der Zeit in die Sache ganz zu verwickeln hoffte, um mit ihm dann nach Belieben schalten und walten zu können und von ihm alles Notwendige zu erlangen.

Der Beginn der Arbeit schien günstig zu sein. Der Wasserstand des Flusses sank. Bald traten jedoch Schwierigkeiten ein, die immer größere Ausgaben im Gefolge hatten; die sparsamen Signori aber feilschten um jeden Heller.

Im Sommer 1505 zerstörte der nach einem starken Gewitterregen aus den Ufern getretene Fluß einen Teil des Dammes. Leonardo mußte sich sofort zur Unfallstelle begeben.

Der Künstler hatte am Tage vor der Abreise Machiavelli besucht und mit ihm über die Angelegenheit gesprochen, wobei ihm dieser alles gestand und ihm damit große Angst einjagte, Auf dem Heimwege von Machiavelli ging er über die Santa-Trinita-Brücke in der Richtung zur Tornabuoni-Straße.

Es war spät. Die Stadt war wie ausgestorben. Die Stille wurde nur durch das Rauschen des Wassers auf dem Mühlendamm hinter dem Ponte alla Carraja unterbrochen. Der Tag war heiß gewesen. Gegen Abend war jedoch ein Regen niedergegangen und hatte die Luft erfrischt. Auf der Brücke roch es nach warmem Wasser. Hinter dem schwarzen San-Miniato-Hügel stieg der Mond auf. Rechts auf dem Kai des Ponte Vecchio spiegelten sich die kleinen alten Häuschen mit ihren ungleichen Vorsprüngen und schiefen Holzpfählen in dem trüben grünen, tiefen und stillen Stauwasser. Links über dem violetten, zarten Vorgebirge des Monte Albano zitterte ein einsamer Stern.

Das Antlitz von Florenz hob sich wie ein Titelbild auf mattem Goldgrunde in einem alten Buche vom reinen Himmel ab: dieses einzige Antlitz, das sich jedem wie ein lebendiges Menschengesicht einprägt: gegen Norden der alte Glockenturm von Santa Croce, dann der gerade, schlanke, strenge Turm des Palazzo Vecchio, die weiße Marmorcampanilla Giottos und die rötliche Ziegelkuppel der Kirche Maria del Fiore, die einer riesigen Knospe der alten heraldischen Roten Lilie gleicht; die ganze Stadt Florenz sah im Zwielicht des Abends und des Mondscheins wie eine einzige große Blume aus dunklem Silber aus.

Leonardo hatte die Beobachtung gemacht, daß jede Stadt, ebenso wie jeder Mensch, ihren eigenen Geruch habe; Florenz hatte den Duft des feuchten Staubes der Irisblüte, vermischt mit dem kaum wahrnehmbaren frischen Geruch von Lack und Farben sehr alter Bilder.

Er dachte an die Gioconda.

Er wußte von ihrem Leben beinahe ebensowenig wie Giovanni. Der Gedanke, daß sie einen Gatten hatte, verletzte ihn nicht; er wunderte sich nur, daß es Messer Francesco, dieser hagere, lange, nüchterne Mann mit der Warze auf der linken Wange und mit den dichten Brauen war, der über die Vorzüge der sizilianischen Stierrasse und über die neuen Zölle für Schafshäute zu räsonnieren liebte. Es gab Augenblicke, wo ihre geisterhafte, fremde, ferne, überirdische Anmut, die aber doch wirklicher als alle Wirklichkeit war, Leonardo erfreute; es gab aber auch andere Augenblicke, wo er ihre lebendige Schönheit fühlte.

Monna Lisa gehörte nicht zu jenen Frauen, die man zu jener Zeit »gelehrte Heroinnen« nannte, sie stellte ihre Gelehrsamkeit niemals zur Schau. Er erfuhr nur zufällig, daß sie lateinisch und griechisch läse. Ihr Benehmen und ihre Art zu sprechen waren so schlicht, daß sie von vielen für unbedeutend gehalten wurde. In Wirklichkeit aber schien sie ihm das zu besitzen, was tiefer als jeder Verstand, besonders aber als der weibliche ist: eine hellseherische Weisheit. Oft gebrauchte sie Worte, die sie ihm plötzlich verwandt und vertraut machten, vertrauter als alle, die er kannte; er hielt sie dann für seine einzige, ewige Freundin und Schwester. In solchen Augenblicken wollte er oft jenen Zauberkreis überschreiten, der die Phantasie vom wirklichen Leben trennt. Doch er unterdrückte diesen Wunsch, so oft er auftauchte; und jedesmal, wenn er einen solchen Sieg über Monna Lisas lebendige Reize davontrug, wurde ihre von ihm auf die Leinwand gebannte geisterhafte Gestalt lebendiger und wirtlicher.

Er glaubte zuweilen, sie wisse es, unterwerfe sich ihm und helfe ihm; sie opfere sich gleichsam ihrem eigenen Doppelgänger auf dem Bilde und gäbe dem Meister mit Freude ihre Seele hin.

War das, was sie beide vereinigte, Liebe?

Das damalige platonische Geschwätz, die schmachtenden Seufzer der himmlischen Liebhaber, die süßlichen Sonette im Geschmacke Petrarcas riefen in ihm nur Langeweile oder Spott hervor. Das aber, was die Mehrzahl der Menschen Liebe nennt, war ihm nicht minder fremd. Ebenso, wie ihm der Genuß von Fleisch nicht verboten, sondern widerwärtig erschien, enthielt er sich auch des Verkehrs mit Frauen, weil ihm jede körperliche Vereinigung, – ganz gleich, ob in der Ehe oder im Ehebruch – nicht sündhaft, aber brutal erschien. »Der Zeugungsakt,« schrieb er in seinen anatomischen Notizen, »und die ihm dienenden Organe zeichnen sich durch eine derartige Häßlichkeit aus, daß, wenn nicht die Schönheit der Gesichter, der Schmuck und die Macht der Leidenschaft bei den in Frage kommenden Personen hinzukämen, das menschliche Geschlecht aussterben müßte.« Und er hielt sich von dieser »Häßlichkeit« und von diesem wollüstigen Kampf der Männchen und Weibchen ebenso fern, wie von dem blutigen Abschlachten der zum Verzehren bestimmten Opfer; er tat es, ohne Entrüstung, Tadel oder Rechtfertigung, in Anerkennung des Gesetzes der natürlichen Notwendigkeit im Kampfe der Liebe und des Hungers; nur wollte er nicht selbst daran teilnehmen. Für ihn galt ein anderes Gesetz, das der Liebe und der Keuschheit.

Wenn er sie auch liebte, könnte er da eine vollkommenere Vereinigung mit der Geliebten ersehnen, als die, die er bei diesen unergründlichen, geheimnisvollen Liebkosungen erreichte – bei der Erschaffung einer unsterblichen Gestalt, eines neuen Wesens, das sie zeugten und gebaren, wie Vater und Mutter ein Kind gebären, und das er und sie zugleich war?

Und doch ahnte er in dieser so keuschen Verbindung eine vielleicht größere Gefahr, als in der gewöhnlichen fleischlicher Liebe. Sie gingen beide am Rande eines Abgrundes, wo noch niemand je gegangen war, und besiegten die Verlockung und Anziehungskraft dieses Abgrundes. Ihnen entglitten durchsichtige Worte, durch die ein Geheimnis schimmerte, wie die Sonne durch feuchten Nebel. Es ging ihm oft durch den Kopf: wie wäre es wohl, wenn der Nebel sich zerstreute und die blendende Sonne erschiene, in deren Licht alle Geheimnisse und Gespenster verschwinden? Wenn er oder sie es nicht aushielte, die Grenze überschritte und die Träume Wirklichkeit würden? Hatte er denn das Recht, mit der gleichen leidenschaftslosen Neugierde, mit der er die Gesetze der Mechanik oder Mathematik, das Leben einer vergifteten Pflanze oder den Bau einer sezierten Leiche studierte, auch die lebendige Seele, die einzig vertraute Seele seiner ewigen Freundin und Schwester zu erforschen? Würde sie sich nicht empören und ihn, wie jedes andere Weib, voll Haß und Verachtung von sich stoßen?

Es schien ihm manchmal, daß er sie auf eine langsame und furchtbare Weise zu Tode marterte. Und er entsetzte sich vor ihrer Gefügigkeit, die ebenso grenzenlos war wie seine zarte und unerbittliche Neugierde.

Erst in der letzten Zeit hatte er in sich selbst diese Grenze entdeckt und begriffen, daß er früher oder später sich klar werden müsse, was sie für ihn sei: ein lebendiger Mensch oder nur ein Gespenst, das Ebenbild der eigenen Seele im Spiegel weiblicher Anmut. Er hoffte noch, durch die Trennung Zeit zu gewinnen, um sich nicht sofort für das eine oder das andere entscheiden zu müssen, und er freute sich beinahe über die Gelegenheit, Florenz verlassen zu können. Jetzt aber, da die Trennung so nahe bevorstand, wußte er, daß er sich getäuscht hatte und daß seine Abreise die Entscheidung nicht hinausschieben, sondern vielmehr beschleunigen würde.

Er war in diese Gedanken so vertieft, daß er sich, ohne es zu bemerken, in ein entlegenes Gäßchen verirrte; als er um sich sah, konnte er die Gegend nicht sofort erkennen. Nach dem die Dächer überragenden Marmorturm des Giotto zu schließen, befand er sich in der Nähe des Domes. Die eine Seite der schmalen, langen Straße lag ganz in undurchdringlich schwarzem Schatten, während die andere von grellem, beinahe weißem Mondlichte übergossen war. In der Ferne schimmerte ein rötliches Licht. Dort, vor einem Eckbalkon, mit einem abschüssigen Ziegeldach, mit halbrunden Bögen auf schlanken Säulen, vor einer florentinischen Loggia, sangen Männer in schwarzen Larven und Mänteln zu den Tönen einer Laute eine Serenade. Er blieb stehen und lauschte.

Es war das alte, von Lorenzo Medici dem Prächtigen verfaßte Liebeslied, das einst den Karnevalszug des Gottes Bacchus und der Ariadne begleitet hatte, – das unendlich freudige und traurige Lied, das Leonardo liebte, weil er es in seiner Jugend oft gehört hatte:

Quant' è bella giovinezza
Ma si fugge tuttavia.
Chi vuol esser lieto, sia –
Di doman non c'è certezza.

Schön und herrlich ist die Jugend,
Doch so flüchtig! Laß die Sorgen,
willst du glücklich sein, so sei es
Und verschieb es nicht auf morgen!

Der letzte Vers weckte in seinem Herzen eine dunkle Ahnung. Sandte ihm das Schicksal nicht jetzt, an der Schwelle und in der unterirdischen Finsternis und Einsamkeit des Alters, eine verwandte, lebendige Seele? Wird er sie von sich stoßen und sich von ihr lossagen, wie er schon so oft das Leben der Betrachtung geopfert hatte? Wird er wieder das Nahe dem Fernen, das Wirkliche dem Nichtexistierenden und einzig Schönen opfern? Wen wird er wählen – die lebendige oder die unsterbliche Gioconda? Er wußte, er würde durch die Wahl der einen die andere verlieren; und doch waren ihm beide gleich teuer. Aber er wußte auch, daß er wählen müsse, daß er nicht länger zögern und diese Qual verlängern dürfe. Doch sein Wille war ohnmächtig. Er wollte und konnte nicht entscheiden, was besser sei: die Lebendige der Unsterblichen, oder die Unsterbliche der Lebendigen zu opfern; die wirkliche, oder die auf die Leinwand des Bildes gebannte zu töten?

Er durchschritt noch zwei Straßen und erreichte das Haus seines Wirtes, Martelli.

Die Türe war geschlossen und das Licht ausgelöscht. Er hob den an der Kette hängenden Hammer und klopfte auf die Eisenplatte. Der Pförtner antwortete nicht, er schlief oder war fortgegangen. Die Schläge weckten im Gewölbe der steinernen Stiege einen Widerhall und erstarben; es trat Stille ein und das Mondlicht schien sie noch zu vertiefen.

Plötzlich erklangen schwere, langsame, gemessene, eherne Töne – der Glockenschlag vom nahen Uhrturme, sie sprachen vom stummen und unerbittlichen Fluge der Zeit, vom finsteren, einsamen Altern und vom Vergangenen, das nie wiederkehrt. Der letzte Ton zitterte und bebte bald stärker, bald schwächer, er zog seine Kreise durch die Stille der Mondnacht und schien zu sprechen:

Chi vuol esser lieto, sia –
Di doman non c'è certezza.

Willst du glücklich sein, so sei es
Und verschieb es nicht auf morgen!

V.

Monna Lisa kam am nächsten Tage zur gewohnten Stunde in seine Werkstätte; diesmal ganz allein, ohne ihre ständige Begleiterin, Schwester Camilla. Gioconda wußte, daß es ihre letzte Begegnung mit Leonardo sei.

Der Tag war sonnig und das Licht blendend. Leonardo stellte das Schutzdach auf und der Hof mit den schwarzen Wänden wurde sofort von einem zarten, gleichsam durch Wasser dringenden Dämmerlicht erfüllt, das ihrem Gesichte die höchste Schönheit verlieh.

Sie waren beide allein.

Er malte schweigend, von der Arbeit hingerissen und in vollkommener Ruhe. Seine gestrigen Gedanken über die bevorstehende Trennung und die Wahl, vor der er stand, hatte er gänzlich vergessen, als gäbe es für ihn weder eine Vergangenheit, noch eine Zukunft, als stehe die Zeit still und als habe Gioconda mit ihrem stillen, unergründlichen Lächeln immer so vor ihm gesessen und würde immer so sitzen, was ihm im Leben nie gelang, tat er jetzt in seiner Phantasie: er verschmolz zwei Gestalten in eine, die Wirklichkeit mit dem Spiegelbild, die Lebendige mit der Unsterblichen. Dies gab ihm die Freude der großen Befreiung. Sie tat ihm nicht mehr leid und flößte ihm auch keine Angst ein. Er wußte, daß sie ihm bis ans Ende ergeben bleiben würde, daß sie alles über sich ergehen lassen, alles erleiden und selbst sterben würde, ohne sich aufzulehnen. Zuweilen blickte er sie mit der gleichen Neugierde an, mit der er die letzten Zuckungen des Schmerzes in den Gesichtern der Verbrecher, die er zum Schafott begleitete, zu beobachten pflegte.

Plötzlich glaubte er zu sehen, wie über ihr Gesicht der fremde Schatten eines lebendigen Gedankens huschte, den er ihr nicht eingeflößt hatte und den er nicht brauchen konnte; es war wie die zarte Spur eines lebendigen Hauches auf der Oberfläche eines Spiegels. Um sie wieder gefangen zu nehmen und in seinen Kreis zu bannen, um diesen lebenden Schatten zu vertreiben, erzählte er ihr in jenem singenden und befehlenden Tone, in dem ein Zauberer seine Beschwörungen spricht, eines von jenen Märchen, die an Rätsel gemahnten und die er oft in seinen Tagebüchern verzeichnete:

»Ich hatte nicht die Kraft, meinem Wunsche zu widerstehen, neue, den Menschen noch unbekannte Schöpfungen der Natur zu schauen. So machte ich mich auf den Weg und ging lange Zeit zwischen nackten, finsteren Felsen, bis ich endlich eine Höhle erreichte und unentschlossen vor dem Eingange stehen blieb, schließlich neigte ich doch meinen Kopf, krümmte den Rücken, drückte meine linke Hand an das rechte Knie und die rechte Hand an die Augen, um mich an die Finsternis zu gewöhnen. Ich zog meine Brauen hoch, kniff meine Augen zusammen und strengte sie an, um etwas zu erspähen. Ich ging bald rechts, bald links, tastete mich mühselig vorwärts, doch die Finsternis war undurchdringlich. Nachdem ich eine Zeitlang geirrt hatte, waren in mir zwei gegeneinander kämpfende Gefühle erwacht: Angst und Neugierde; Angst vor der Finsternis der Höhle und Neugierde, ob sie nicht doch noch irgendein wunderbares Geheimnis beherberge.«

Er schwieg. Der fremde Schatten lag noch immer auf ihrem Gesicht.

»Welches der beiden Gefühle blieb Sieger?« fragte sie.

»Die Neugierde.«

»Habt Ihr also das Geheimnis der Höhle erfahren?«

»Ich habe alles erfahren, was ich nur erfahren konnte.«

»Werdet Ihr es den Menschen eröffnen?«

»Alles darf ich nicht eröffnen, auch hätte ich nicht die Fähigkeit, es zu tun. Doch will ich in ihnen eine so starke Neugierde wecken, daß sie ihre Angst immer bezwinge.«

»Wenn aber die Neugierde nicht genügt? Was dann, Messer Leonardo?« fragte sie und ihr Blick leuchtete plötzlich auf. »Wenn etwas anderes, Größeres not tut, um in die letzten, vielleicht wunderbarsten Geheimnisse der Höhle eindringen zu können?«

Sie blickte ihn mit einem Lächeln an, wie er es bei ihr noch nie wahrgenommen hatte.

»Was tut denn noch not?« fragte er.

Sie schwieg.

In diesem Augenblick drang ein feiner blendender Sonnenstrahl durch eine Spalte im Schutzdach, und das Dämmerlicht wurde gestört. Der Reiz der zarten, einer fernen Musik gleichenden Schatten und des »dunkeln Lichtes« schwand von ihrem Gesicht.

»Reist Ihr morgen?« fragte Gioconda.

»Nein, heute abend.«

»Auch ich reise bald fort,« sagte sie.

Er blickte sie unverwandt an, als ob er ihr noch etwas sagen wollte; er schwieg aber. Er fühlte, daß sie nur aus dem Grunde verreisen wolle, um nicht ohne ihn in Florenz bleiben zu müssen.

»Messer Francesco,« fuhr Monna Lisa fort, »verreist nach Calabrien, wo er etwa drei Monate bis zum Herbste bleiben wird. Ich habe ihn gebeten, mich mitzunehmen.«

Er wandte sich um und betrachtete geärgert den scharfen, bösen Sonnenstrahl, der schonungslos wie die Wahrheit war. Der Wasserstaub der Fontäne, der bis dahin einfarbig, leblos und durchsichtig gewesen, leuchtete jetzt, vom lebendigen Strahle getroffen, in allen Farben des Regenbogens, den Farben des Lebens.

Er fühlte plötzlich, daß er ins Leben zurückkehrte, – scheu, ohne Kraft, von Leid und Mitleid erfüllt.

»Es macht nichts,« sagte Monna Lisa, »Ihr könnt ja das Schutzdach ganz aufrichten. Es ist noch nicht zu spät. Ich bin auch noch nicht müde.«

»Nein, jetzt ist es gleich. Es ist genug,« sagte er, seinen Pinsel fortlegend.

»Werdet Ihr das Bildnis nie vollenden?«

»Warum denn?« fragte er hastig, gleichsam erschrocken, »werdet Ihr denn nie wieder zu mir kommen, wenn Ihr von der Reise zurückgekehrt sein werdet?«

»Ich werde wiederkommen. Doch werde ich vielleicht nach drei Monaten eine ganz andere sein und Ihr werdet mich nicht wiedererkennen. Ihr habt ja selbst gesagt, daß die Gesichtszüge der Menschen, besonders aber der Frauen, sich rasch verändern ...«

»Ich möchte das Bild gern vollenden,« sagte er langsam, wie vor sich hin. »Aber ich weiß nicht ... Zuweilen scheint mir, daß das, was ich erreichen will, überhaupt unmöglich ist ...«

»Unmöglich?« fragte sie verwundert. »Ich habe übrigens schon oft sagen hören, daß Ihr nichts vollendet, weil Ihr immer nach Unmöglichem strebt ...«

In diesen Worten glaubte er einen ganz leisen, unendlich sanften, traurigen Vorwurf zu hören.

»Jetzt kommt es,« sagte er sich, und plötzlich krampfte sich sein Herz zusammen.

Sie erhob sich und sagte ruhig, wie immer:

»Nun ist es Zeit. Lebt wohl, Messer Leonardo. Glückliche Reise.«

Er blickte sie an und las in ihrem Gesicht einen letzten hoffnungslosen Vorwurf, ein Flehen.

Er wußte, daß dieser Augenblick unwiederbringlich und ewig wie der Tod war. Er wußte, daß er nicht schweigen dürfe. Je mehr er aber seinen Willen anspannte und nach einem Auswege, nach einem entscheidenden Worte suchte, um so mehr erkannte er seine Schwäche und die sich zwischen ihm und Monna Lisa öffnende unüberbrückbare trennende Kluft. Sie aber lächelte noch immer still und heiter. Doch jetzt glaubte er, daß es jene Stille und Heiterkeit sei, die zuweilen auf Totengesichtern erscheint.

Ein unendliches, unerträgliches, quälendes Mitleid durchfuhr sein Herz und machte ihn noch ohnmächtiger.

Monna Lisa reichte ihm die Hand, die er schweigend küßte; zum erstenmal, seit er sie kannte. Im gleichen Augenblick spürte er, wie sie sich über ihn neigte und sein Haar mit ihren Lippen berührte.

»Gott schütze Euch,« sagte sie noch immer vollkommen ruhig.

Als er zur Besinnung kam, war sie schon fort. Um ihn herum war jene tote sommerliche Mittagsstille, die viel unheimlicher ist, als die Stille der finsteren, einsamsten Mitternacht.

Wie zur Mitternachtsstunde, doch noch unheimlicher und feierlicher, erklangen langsame, gemessene, eherne Töne – der Glockenschlag vom nahen Uhrturm. Sie sprachen vom langsamen und unerbittlichen Fluge der Zeit, vom finsteren, einsamen Altern, und vom Vergangenen, das nie wiederkehrt.

Der letzte Glockenschlag zitterte noch lange nach und er schien zu sagen:

Chi vuol esser lieto, sia –
Di doman non c'è certezza.

VI.

Als Leonardo den Auftrag, den Arnostrom von Pisa fortzuleiten, übernahm, war er überzeugt, daß dieses kriegerische Unternehmen ihn früher oder später vor eine friedlichere und wichtigere Aufgabe stellen würde.

Schon in seiner Jugend hatte er an den Bau eines Kanals gedacht, der den Arno von Florenz bis zum Pisanischen Meere schiffbar machen sollte, das ganze Land mittels eines Systems kleinerer Kanäle bewässern und Toskana in einen einzigen blühenden Garten verwandeln könnte, »Prato, Pistoja, Pisa und Lucca«, lautete eine seiner älteren Aufzeichnungen, »könnten durch ihre Beteiligung an diesem Unternehmen ihre jährlichen Einnahmen um 20 000 Dukaten erhöhen. Wer die Gewässer des Arnostromes in ihrer Tiefe und auf der Oberfläche beherrschen wird, der wird in jedem Morgen Land einen Schatz finden.«

Leonardo glaubte, daß das Schicksal ihm jetzt kurz vor seinem Alter die letzte Gelegenheit biete, im Dienste des Volkes das zu schaffen, was er im Dienste der Fürsten vergeblich erstrebt hatte, und der Menschheit die Macht der Wissenschaft über die Natur zu zeigen.

Machiavelli eröffnete ihm, daß er Soderini betrogen, die wirklichen Schwierigkeiten des Unternehmens verschwiegen und ihm versichert hätte, daß es sich um höchstens dreißig- bis vierzigtausend Arbeitstage handele. Leonardo, der die Verantwortung dafür nicht tragen wollte, klärte den Gonfaloniere über den wahren Sachverhalt auf und legte ihm eine Berechnung vor, nach der zwei Entwässerungskanäle bis zum Sumpfe von Livorno, bei 7 Fuß Tiefe und 20 bis 30 Fuß Breite, was einer Gesamtfläche von 800 000 Quadratellen entspricht, im günstigsten Falle 200 000 Arbeitstage erfordern müßten; vielleicht noch mehr – je nach der Beschaffenheit des Bodens. Die Signori waren außer sich. Gegen Soderini wurden von allen Seiten Beschuldigungen erhoben: niemand konnte verstehen, wie er sich in ein derartiges Unternehmen hatte einlassen können.

Aber Niccolo gab seine Hoffnung noch immer nicht auf: er lief herum, log, betrog, schrieb formvollendete Briefe und schwor auf den sicheren Erfolg der begonnenen Arbeiten. Trotz der hohen Kosten, die von Tag zu Tag anwuchsen, gingen die Arbeiten immer schlechter vor sich.

Auf Messer Niccolo lastete wohl ein Fluch: was er auch unternahm, alles stürzte bei ihm ein, schmolz in seinen Händen und wurde zu Worten, abstrakten Gedanken und schlechten Scherzen, die ihm selbst am meisten schadeten. Der Künstler mußte unwillkürlich daran denken, wie Machiavelli in einem fort verlor, als er sein Spielsystem demonstrierte, wie kläglich der Versuch der Befreiung Marias und die Mazedonische Phalanx ausgefallen waren.

In diesem sonderbaren Menschen, der immer nach Taten strebte und doch zu keiner Tat fähig war, der im Geiste stark und im Leben ohnmächtig und unbeholfen wie ein Schwan auf dem Trockenen war, erkannte Leonardo sein Ebenbild.

In seinem Berichte an den Gonfaloniere und die Signori riet Leonardo, entweder alle Arbeiten sofort einzustellen und das Unternehmen endgültig aufzugeben, oder es aber, ohne die Kosten zu scheuen, zu vollenden. Die Machthaber der Republik wählten natürlich einen Mittelweg: sie beschlossen, die bereits gegrabenen Kanäle als strategische Gräben zu benützen, die den Marsch der Pisaner aufhalten sollten; da die Pläne Leonardos ihnen als zu kühn erschienen und wenig Vertrauen einflößten, ließen sie sich aus Ferrara neue Baumeister kommen, während aber die Bürger von Florenz diese Frage in allen möglichen Versammlungen, amtlichen Stellen und Sitzungen behandelten, nach Stimmenmehrheit mit weißen und schwarzen Kugeln abstimmten, miteinander stritten und diskutierten, zerstörten die Feinde, ohne sich lange zu besinnen, mit ihren Kanonenkugeln alles, was bis dahin geschaffen war.

Das ganze Unternehmen war dem Künstler schließlich so verleidet, daß er nicht ohne Ekel daran denken konnte. Er hatte schon längst die Möglichkeit, nach Florenz abzureisen. Da er aber zufällig erfahren hatte, daß Messer Giocondo erst Anfang Oktober aus Calabrien zurückkehren würde, beschloß er, seine Abreise um zehn Tage zu verschieben, um Monna Lisa bestimmt in Florenz anzutreffen.

Er zählte ungeduldig die Tage. Beim bloßen Gedanken, daß die Trennung sich noch hinziehen könnte, bemächtigte sich seiner eine abergläubische Angst und eine tiefe Sehnsucht. Er vermied schließlich, an sie zu denken und sogar Erkundigungen über sie einzuziehen; denn er fürchtete, hören zu müssen, daß sie ihre Heimreise aufgeschoben habe.

Er traf in Florenz früh morgens ein.

Das herbstlich-trübe, feuchte Florenz erschien ihm so lieb und vertraut, wie noch nie, denn das Antlitz der Stadt gemahnte ihn an Gioconda. Es war auch einer von »ihren« Tagen: still, neblig, mit jenem feucht-trüben, gleichsam durch Wasser dringenden Licht, das den weiblichen Gesichtern einen besonderen Reiz verlieh.

Er fragte sich nicht mehr, wie die Begegnung ausfallen und was er ihr sagen würde; was er unternehmen würde, um sich nie wieder von ihr zu trennen, um die Gattin des Messer Giocondo als seine einzige ewige Freundin zu bewahren. Er wußte, daß alles ganz von selbst kommen, das Schwierige leicht, das Unmögliche möglich werden würde. Wenn er sie nur bald wiedersehen könnte!

»Man soll gar nicht denken, dann gelingt es besser,« wiederholte er die Worte Rafaels. – »Ich werde sie fragen und sie wird mir jetzt sagen, was sie damals verschwiegen hatte: was noch außer der Neugierde not tut, um in die letzten, vielleicht wunderbarsten Geheimnisse der Höhle eindringen zu können?«

Sein ganzes Wesen wurde plötzlich von einer Freude erfüllt, als wäre er nicht vierundfünfzig, sondern erst sechzehn Jahre alt, und als hätte er noch sein ganzes Leben vor sich liegen. Aber in dem tiefsten Abgrund seines Herzens, in den kein Strahl der Erkenntnis drang, war unter dieser Freude eine schwere Vorahnung verborgen.

Er suchte Niccolo auf, um ihm verschiedene Geschäftspapiere und die Zeichnungen zu den Kanalbauarbeiten zu bringen. Den Messer Giocondo wollte er erst am nächsten Morgen besuchen; aber er konnte sich nicht länger beherrschen, und beschloß, noch am gleichen Abend hinzugehen; auf dem Heimwege von Machiavelli wollte er an dem Hause am Lungarno delle Grazie vorbeigehen, um einen Stallknecht, Diener oder Pförtner zu fragen, ob die Herrschaften zurückgekehrt seien und wie es ihnen gehe.

Leonardo ging die Tornabuoni-Straße zu der Santa Trinita-Brücke hinunter; es war der gleiche Weg, den er in der Nacht vor seiner Abreise, aber in umgekehrter Richtung, gegangen war.

Gegen Abend war das Wetter umgeschlagen, wie es in Florenz in den Herbstmonaten oft vorkommt. Aus der Munioneschlucht kam ein durchdringender scharfer Nordwind. Die Höhe von Mugello hatte sich mit weißem Reif bedeckt. Es regnete auch etwas. Unter der dichten Wolkenschicht, die nur unten am Horizont einen schmalen Streif blauen Himmels freiließ, kam plötzlich die Sonne zum Vorschein und beleuchtete die schmutzigen Straßen, die nassen, glänzenden Dächer und die Gesichter der Menschen mit einem unangenehmen messinggelben kalten Licht. Der Regen sah plötzlich wie Messingstaub aus. In der Ferne funkelten einige Fensterscheiben wie glühende Kohlen.

Gegenüber der Kirche Santa Trinita, bei der Brücke an der Ecke des Kais und der Tornabuoni-Straße, erhob sich der Palazzo Spini; er war aus graubraunem Stein erbaut und gemahnte mit seinen Zinnen und Gitterfenstern an eine mittelalterliche Festung, wie bei den meisten alten florentiner Palästen, waren auch beim Palazzo Spini längs der Mauern breite Steinbänke angebracht; hier pflegten Bürger jeden Alters und Standes zu sitzen, Würfel und Dame zu spielen, über die Tagesereignisse zu plaudern, im Winter sich in der Sonne zu wärmen und im Sommer im Schatten zu rasten. An der Flußseite des Palazzo war über dieser Bank ein Ziegeldach errichtet, das auf kleinen Säulen ruhte. Das Ganze glich einer Loggia.

Als Leonardo hier vorbeiging, gewahrte er eine Versammlung von Menschen, die er zum Teil flüchtig kannte. Die einen saßen, die andern standen herum. Sie unterhielten sich so eifrig miteinander, daß sie die heftigen Windstöße und den Regen gar nicht zu bemerken schienen. Als sie den Künstler erkannten, riefen sie ihm zu:

»Messere, Messere Leonardo! Kommt doch, bitte, her und entscheidet unsern Streit.«

Er blieb stehen.

Sie stritten wegen einiger rätselhafter Verse im vierundzwanzigsten Gesänge der Danteschen »Hölle«, wo der Dichter vom Riesen Dis spricht, der bis an die Mitte der Brust im Eise des verdammten Brunnens steckt. Er ist der Hauptanführer der gestürzten Engelschar, der »Kaiser des Traurigen Reiches«. Seine drei Antlitze – ein rotes, ein gelbes und ein schwarzes, bedeuten eine teuflische Anspielung auf die göttlichen Personen der heiligen Dreieinigkeit. In jedem Rachen steckt ein Sünder, an dem er ewig nagt: im schwarzen der Verräter Judas, im roten Brutus, im gelben Cassius. Man behandelte eben die Frage, warum Allighieri für denjenigen, der sich gegen den Menschgott aufgelehnt, für den Mörder des Julius Cäsar, und für den größten der Verräter, der sich gegen den Gottmenschen aufgelehnt hatte, – fast die gleiche Strafe bestimmte. Der Unterschied bestand nur darin, daß bei Brutus die Beine im Rachen steckten, während der Kopf heraushing, bei Judas aber die Beine heraushingen und der Kopf im Rachen steckte. Die einen erklärten es damit, daß Dante, der ein eifriger Ghibelline und Verteidiger der kaiserlichen Macht gegen die weltliche Herrschaft der Päpste gewesen war, das Römische Reich für ebenso oder fast ebenso heilig und für das Heil der Welt notwendig als die Römische Kirche hielt, andere entgegneten, eine solche Auffassung sei ketzerisch und widerspräche dem christlichen Geiste des frömmsten aller Dichter. Je länger sie stritten, desto unlösbarer erschien das Geheimnis des Dichters.

Ein alter, reicher Wollhändler erklärte dem Künstler sehr umständlich den Gegenstand des Streites; Leonardo hatte seine Augen wegen des starken Windes halb geschlossen und blickte in die Ferne nach dem Kai des Lungarno Acciajoli. Aus dieser Richtung näherte sich mit ungelenken, schweren Schritten ein ärmlich und nachlässig gekleideter Mann; er war hager und knochig, hatte einen großes Kopf mit struppigem, krausem, schwarzem Haar, einem dünnen, wirren Ziegenbart, abstehenden Ohren und einem derbknochigen, flachen Gesicht. Es war Michel Angelo Buonarotti. Besonders häßlich, beinahe abstoßend, wirkte seine Nase, die ihm in seiner Jugend ein Bildhauer, der sein Nebenbuhler war und den er mit boshaften Bemerkungen aus der Fassung gebracht, mit einem Faustschlage halb zertrümmert hatte. In den Pupillen seiner kleinen gelbbraunen Augen leuchtete zuweilen ein seltsames blutrotes Feuer auf. Seine Augenlider waren entzündet, gerötet und hatten fast keine Wimpern: denn er begnügte sich nicht mit den Tagesstunden und arbeitete auch nachts, wobei er sich eine kleine runde Laterne an die Stirne befestigte; so gemahnte er an einen Zyklopen, der mit dem einzigen leuchtenden Auge in der Mitte der Stirne in der unterirdischen Finsternis brummend herumtastet und mit seinem eisernen Hammer gegen das Gestein kämpft.

»Nun, wie ist Eure Ansicht, Messere?« fragten die Streitenden.

Leonardo hoffte noch immer, daß sein Streit mit Buonarotti früher oder später mit einer Versöhnung abschließen werde. Während seiner Abwesenheit aus Florenz hatte er an diesen Streit nie gedacht und ihn fast vergessen.

Sein Herz war jetzt von einer solchen Ruhe und Klarheit erfüllt, daß er bereit war, an seinen Gegner so gütige Worte zu richten, daß dieser ihn unbedingt verstehen müßte.

»Messer Buonarotti ist ein großer Dantekenner,« sagte er mit freundlichem, ruhigem Lächeln, auf Michel Angelo hinweisend. »Er wird Euch die Stelle besser erklären können, als ich.«

Michel Angelo ging, wie es seine Gewohnheit war, mit gesenktem Kopf und blickte weder nach links, noch nach rechts. So geriet er, ohne es zu bemerken, mitten in die Versammlung. Als er seinen Namen aus Leonardos Munde hörte, blieb er stehen und hob die Augen.

Er war menschenscheu und schüchtern, und jeder auf ihn gerichtete Blick war ihm lästig: er war sich seiner Häßlichkeit bewußt, schämte sich ihrer und glaubte immer, daß man ihn verspotte.

Im ersten Augenblick war er so überrascht, daß er seine Fassung verlor: er musterte die Versammlung mißtrauisch mit seinen kleinen gelbbraunen Augen und blinzelte hilflos mit den entzündeten Lidern. Die Sonne und die auf ihn gerichteten Blicke taten ihm weh.

Als er aber das heitere Lächeln und den durchdringenden Blick seines Gegners gewahrte, der ihn von oben herab ansah – denn Leonardo war größer als Michel Angelo –, ging seine Verlegenheit, wie es bei ihm öfters vorkam, fast augenblicklich in Wut über. Einige Minuten war er sprachlos. Sein Gesicht war bald leichenblaß, bald fleckig rot. Schließlich brachte er mühselig, mit dumpfer, gepreßter Stimme heraus:

»Erkläre es ihnen selbst! Du bist ja dazu berufen, du Klügster unter den Menschen, der du dich den lombardischen Kapaunen anvertraut hast; sechzehn Jahre hast du am tönernen Koloß gearbeitet, und ihn doch nicht in Erz gegossen; du mußtest schließlich die Arbeit mit Schimpf und Schande aufgeben! ...«

Er fühlte selbst, daß er nicht das Richtige sprach. Er suchte nach verletzenden Worten, mit denen er seinen Gegner noch mehr erniedrigen könnte, und fand sie nicht.

Alle verstummten und blickten neugierig auf die beiden Künstler. Leonardo schwieg. Einige Augenblicke lang sahen beide einander an: der eine mit dem früheren milden Lächeln, erstaunt und betrübt, der andere – mit einem verächtlichen Lächeln, das ihm nicht recht gelingen wollte, sondern seine Züge wie ein Krampf verzerrte und ihn noch häßlicher erscheinen ließ.

Vor der wütenden Kraft des Buonarotti erschien die stille weibliche Anmut Leonardos als eine grenzenlose Schwäche.

Leonardo hatte einmal den Kampf zweier Ungeheuer, eines Löwen und eines Drachen, gezeichnet: der geflügelte Drache, der König der Lüfte, besiegte den flügellosen Löwen, den König der Erde.

Was jetzt gegen ihren Willen und ohne daß sie sich darüber Rechenschaft gaben, vorging, erinnerte an diesen Kampf.

Leonardo fühlte, daß Monna Lisa recht gehabt hatte: sein Gegner würde ihm nie seine »Stille, die stärker ist als ein Sturm«, verzeihen.

Michel Angelo wollte etwas sagen, machte aber nur eine stumme Handbewegung, wandte sich ab und setzte mit schweren, ungelenken Schritten seinen Weg fort. Er ging gesenkten Kopfes mit gekrümmtem Rücken, als trage er auf seinen Schultern eine ungeheuere Last; im Gehen brummte er etwas dumpf und undeutlich vor sich hin. Bald entschwand er den Blicken; seine Gestalt hatte sich gleichsam im trüben, messinggelben Regen- und Sonnenstaube aufgelöst.

Auch Leonardo setzte seinen Weg fort.

Auf der Brücke holte ihn ein Mann ein, den er schon bei der Versammlung am Palazzo Spini bemerkt hatte. Er war häßlich, beweglich und glich einem Juden, war aber ein Florentiner von reinstem Blute. Der Künstler konnte sich nicht mehr besinnen, wer dieser Mann war und wie er hieß; er wußte nur, daß er als eine männliche Klatschbase berüchtigt war.

Auf der Brücke war der Wind stärker; er pfiff um die Ohren und stach das Gesicht wie mit eisigen Nadeln. Die Wellen des Arno strömten der sinkenden Sonne entgegen und glichen unter dem drückenden, finsteren, gleichsam steinernen Himmel einem unterirdischen Strome geschmolzenen Messings.

Leonardo ging den schmalen, trockenen Steg entlang und schenkte seinem Begleiter keine Beachtung. Dieser lief neben ihm im Schmutze her, überholte ihn zuweilen, blickte ihm wie ein Hund in die Augen und versuchte ein Gespräch über Michel Angelo anzuknüpfen. Er hatte offenbar die Absicht, irgendeine unvorsichtige Bemerkung Leonardos aufzufangen, um sie dann gleich seinem Gegner zu hinterbringen und in der ganzen Stadt zu verbreiten. Leonardo aber sprach kein Wort.

»Sagt mir, Messere,« drang in ihn der unangenehme Mensch, »Ihr habt doch Giocondas Bildnis noch nicht vollendet?«

»Nein, ich habe es noch nicht vollendet,« erwiderte der Künstler mit finsterer Miene, »was geht es Euch übrigens an?«

»Ich habe nur so gefragt, wenn man bedenkt, daß Ihr schon seit drei Jahren an diesem einen Bilde arbeitet und es noch immer nicht fertig ist ... Wir Laien halten es schon jetzt für so vollkommen, daß wir uns gar nicht vorstellen können, wie es noch besser werden sollte! ...«

Er lächelte devot.

Leonardo sah ihn angeekelt an. Er fühlte in sich plötzlich einen solchen Haß aufsteigen, daß er diesen widerwärtigen Menschen beinahe am Kragen gepackt und in den Fluß geworfen hätte.

»Was soll aber aus dem Bildnis werden?« fuhr der zudringliche Mensch fort. »Oder wißt Ihr es noch nicht, Messer Leonardo?«

Er hatte wohl etwas im Sinn und zog das Gespräch augenscheinlich in die Länge.

Plötzlich empfand der Künstler neben dem Gefühl des Ekels noch eine unheimliche Angst vor seinem Gefährten; sein Körper erschien ihm plötzlich schlüpfrig und in vielen Gelenken biegsam wie der eines Insekts. Der Unbekannte hatte wohl diese Regung in Leonardo wahrgenommen: seine Hände und Augenlider bebten und so glich er noch mehr einem Juden.

»Mein Gott, Ihr seid ja erst heute früh nach Florenz gekommen und könnt es also noch gar nicht wissen. Denkt Euch nur, dieses Unglück! Der arme Messer Giocondo ist zum dritten Mal Witwer geworden, vor einem Monat ist Madonna Lisa nach Gottes unerforschlichem Ratschluß verschieden ...«

Leonardo wurde es finster vor den Augen. Einen Augenblick glaubte er, daß er umfallen müsse. Sein Begleiter hatte in ihn seine stechenden Blicke gebohrt.

Aber der Künstler beherrschte sich, was ihm eine übermenschliche Anstrengung kostete; sein Gesicht war blaß, blieb aber undurchdringlich. Sein Gefährte konnte wenigstens darin nichts merken.

Er schien enttäuscht. Auf dem Frescobaldi-Platze versank er bis an die Fußknöchel in den Schmutz und blieb zurück.

Als Leonardo wieder zur Besinnung kam, war sein erster Gedanke, daß der Mann alles erlogen habe, um den Eindruck, den diese Nachricht auf ihn machen würde, zu sehen und einen neuen Beitrag zu den Gerüchten über ein angebliches Liebesverhältnis zwischen Leonardo und der Gioconda verbreiten zu können.

An die Tatsache ihres Todes wollte er im ersten Augenblick gar nicht glauben. Denn eine Todesnachricht erscheint uns immer unwahrscheinlich.

Doch am gleichen Abend erfuhr er alles: auf der Heimreise aus Calabrien, wo Messer Francesco seine Geschäfte ausgezeichnet besorgt und unter anderem auch einen vorteilhaften Vertrag über Lieferung roher Schafshäute nach Florenz abgeschlossen hatte, war Monna Lisa Gioconda in dem abgelegenen kleinen Nest Lagonero gestorben; die einen sagten an Sumpffieber, die anderen an einem ansteckenden Halsleiden.

VII.

Die Arbeiten am Kanal zur Ableitung des Arnostromes von Pisa nahmen ein schlimmes Ende.

Im Herbste hatte das Hochwasser alles, was schon geschaffen war, zerstört und die ganze blühende Ebene in einen Sumpf verwandelt; unter den Arbeitern brach eine Seuche aus. Die große Arbeit und die ungeheueren Kosten waren verloren; jetzt kamen noch Menschenopfer hinzu.

Die Ferrarischen Baumeister schoben die Schuld auf Soderini, Machiavelli und Leonardo. Alle wandten sich von ihnen ab und niemand grüßte sie mehr auf der Straße. Niccolo wurde vor Scham und Ärger krank.

Zwei Jahre vorher hatte Leonardo seinen Vater verloren. Mit der ihm eigenen Kürze notierte er in seinem Tagebuch: »Mittwoch, d. 9. Juli 1504 um sieben Uhr abends starb mein Vater Ser Piero da Vinci, Notar im Schlosse des Podesta, im Alter von achtzig Jahren. Er hinterließ zehn Kinder männlichen und zwei weiblichen Geschlechts.« Ser Piero hatte öfters vor Zeugen die Absicht geäußert, seinem unehelichen Erstgeborenen, Leonardo, denselben Teil des Vermögens, wie den übrigen Kindern zu vermachen. Entweder gab er diese Absicht vor dem Tode selbst auf, oder wollten die Söhne den Willen des Verstorbenen nicht erfüllen; jedenfalls aber erklärten sie, Leonardo sei als unehelicher Sohn von der Erbschaft ganz auszuschließen. Da machte ein Wucherer, ein geschickter Jude, der Leonardo auf die erwartete Erbschaft Geld geliehen hatte, den Vorschlag, ihm seine Rechte im Streite mit den Brüdern abzukaufen. So sehr Leonardo Familienzwist und Scherereien mit dem Gericht auch verabscheute, mußte er in Anbetracht seiner zu dieser Zeit sehr verwickelten Vermögensverhältnisse doch darauf eingehen. Nun begann ein Prozeß, der 300 Florins zum Gegenstand hatte und der sechs Jahre dauern sollte. Die Brüder nützten die allgemeine Erbitterung gegen Leonardo aus und beschuldigten ihn, um Öl ins Feuer zu gießen, der Gottlosigkeit, des Hochverrats während seines Dienstes bei Cesare Borgia, der Zauberei und der Entweihung christlicher Gräber beim Ausgraben von Leichen zum Zwecke der Lektion; sie ließen auch den vor fünfundzwanzig Jahren verstummten Klatsch von seinen widernatürlichen Lastern wieder auferstehen und schändeten das Angedenken seiner verstorbenen Mutter, Katharina Accattabriga.

Zu allen diesen Unannehmlichkeiten kam noch sein Mißgeschick mit dem Bilde im Ratsaal hinzu.

Leonardos Gewohnheit, langsam zu arbeiten, war bei der Freskomalerei nur bei Anwendung von Ölfarben möglich; sein Widerwillen gegen die von der Arbeit mit Wasserfarben erheischte Eile war so stark, daß er, trotz der warnenden Erfahrung mit dem heiligen Abendmahl, doch beschloß, auch bei der Schlacht von Anghiari Ölfarben zu verwenden, allerdings andere, die er für vervollkommnet hielt. Als die Arbeit zur Hälfte ausgeführt war, zündete er vor dem Bilde auf Eisenrosten ein großes Feuer an, um nach dieser neuen, von ihm erfundenen Methode, das Eindringen der Farben in den Mörtel zu beschleunigen; er überzeugte sich jedoch bald, daß die Hitze nur auf den unteren Teil des Bildes einwirkte, während auf dem oberen, vom Feuer entfernten, weder Farben noch Lack trockneten.

Nach vielen vergeblichen Bemühungen gewann er die endgültige Gewißheit, daß auch sein zweiter Versuch, bei Fresken Ölfarben zu verwenden, ebenso fehlschlagen würde wie der erste: Die Schlacht bei Anghiari würde ebenso zu Grunde gehen wie das heilige Abendmahl; und schon wieder mußte er, nach Buonarottis Ausdruck »mit Schimpf und Schande alles aufgeben.«

Das Bild im Ratsaal war ihm noch mehr verleidet, als der Pisanische Kanal und der Prozeß mit den Brüdern.

Soderini quälte ihn, indem er von ihm bureaukratische Genauigkeit bei der Ausführung des Auftrages verlangte, trieb ihn an, die Arbeit zur festgesetzten Frist zu beenden und bedrohte ihn mit einer Geldbuße; als er sah, daß nichts half, begann er ihn offen der Unredlichkeit und der Aneignung von Staatsgeldern zu bezichtigen. Als aber Leonardo bei seinen Freunden eine Anleihe machte und ihm alles aus der Staatskasse Erhaltene zurückerstatten wollte, weigerte sich Messer Piero, es anzunehmen. Unterdessen machte in Florenz ein von Buonarottis Freunden in Abschriften verbreiteter Brief des Gonfaloniere an den Florentiner Bevollmächtigten in Mailand die Runde; es handelte sich um eine Beurlaubung des Künstlers zum Eintritt in die Dienste des Statthalters des französischen Königs in der Lombardei, Seigneur Charles d'Amboise:

»Leonardos Handlungsweise ist unlauter«, hieß es unter anderem in diesem Brief. »Nach dem Empfang eines großen Vorschusses und nach kaum begonnener Arbeit hat er seine Tätigkeit wieder eingestellt und an der Republik wie ein Verräter gehandelt.«

Einmal saß Leonardo in einer Wintersnacht allein in seinem Arbeitszimmer.

Der Sturm heulte im Schornstein des Kamins. Die Mauern erzitterten im Ansturme des Windes; die Kerzenflamme flackerte, der auf einem Balken des Flugmodells aufgehängte Vogelbalg mit den von Motten zerfressenen Flügeln schaukelte hin und her, als hätte er die Absicht aufzufliegen; und in der Ecke, über dem Bücherbrett mit den Werken des Plinius, lief eine ihm gut bekannte Spinne aufgeregt in ihrem Netze herum. Die Tropfen des Regens oder des geschmolzenen Schnees schlugen an das Fenster, als ob jemand leise anklopfte.

Nach dem in kleinlichen Sorgen verbrachten Tage fühlte sich Leonardo müde und zerschlagen, wie nach einer im Fieber verbrachten Nacht. Er machte den Versuch, seine längst begonnene Arbeit, die Erforschung der Bewegungsgesetze der Körper auf der schiefen Ebene, in Angriff zu nehmen; dann beschäftigte er sich mit der Karrikatur einer alten Frau mit einer Stulpnase von der Größe einer Warze, mit Schweinsaugen und einer riesigen, ungeheuerlich heruntergezogenen Oberlippe; er versuchte zu lesen, aber alles entglitt seinen Händen, schlafen wollte er auch nicht, und dabei stand ihm noch die ganze Nacht bevor.

Er heftete seinen Blick auf die Stöße alter staubiger Folianten, auf die Phiolen, Retorten und die Gefäße mit den bleichen Mißgeburten in Spiritus, auf die kupfernen Quadranten, die Globen, die Apparate für Mechanik, Astronomie, Physik, Hydraulik, Optik und Anatomie, – und ein unaussprechlicher Ekel erfüllte seine Seele.

Glich er nicht selbst dieser alten Spinne in der dunklen Ecke über den verschimmelten Büchern, den Knochen von menschlichen Gerippen und den toten Gliedern toter Maschinen? Was stand ihm im Leben noch bevor, was trennte ihn vom Tode, außer diesen wenigen Papierblättern, die er mit unverständlichen Schriftzeichen bedeckte?

Und er gedachte seiner Kindheit, da er auf dem Monte Albano dem Schrei der Kranichschwärme lauschte, den harzigen Kräuterduft einatmete und auf Florenz hinabsah, das im Sonnenglast durchsichtig wie ein Amethyst dalag und so klein erschien, daß es zwischen zwei blühenden goldigen Zweigen des die Bergabhänge im Frühling bedeckenden Gebüsches Platz fand; – damals war er glücklich, ohne etwas zu wissen und an etwas zu denken.

War denn seine ganze Lebensarbeit wirklich nur Täuschung gewesen und war also die große Liebe nicht die Tochter der großen Erkenntnis?

Er lauschte dem Heulen, dem Winseln und dem Toben des Schneesturmes. Macchiavellis Worte fielen ihm ein: »Das Furchtbarste im Leben ist weder Sorge, noch Armut, weder Leid noch Krankheit, nicht einmal der Tod, sondern Langeweile.«

Die wilde Stimme des nächtlichen Sturmes sprach davon, was dem Menschenherzen vertraut und unentrinnbar erscheint – von der letzten Einsamkeit in der furchtbaren blinden Finsternis, im Schoße des Vaters alles Seins, des uralten Chaos und von der grenzenlosen Langenweile der Welt.

Er erhob sich, nahm die Kerze, öffnete die Türe, ging in das Nebenzimmer, näherte sich dem Bilde, das auf einer Staffelei mit drei Füßen stand und schlug den Vorhang zurück, der es wie ein Leichentuch mit schweren Falten verhüllte.

Es war das Bildnis der Monna Lisa Gioconda.

Er hatte es seit jener Stunde nicht mehr gesehen, als er bei ihrem letzten Beisammensein daran gearbeitet hatte. Er glaubte es jetzt zum ersten Mal zu sehen. Und er fühlte in diesem Gesicht eine solche Kraft des Lebens, daß er vor seiner eigenen Schöpfung erschauerte. Er dachte an die unheimlichen Erzählungen von jenen Zauberbildnissen, welche man bloß mit einer Nadel zu durchbohren braucht, um den Tod des Dargestellten herbeizuführen, hier glaubte er jedoch das Gegenteil zu sehen; er hatte die Lebende des Lebens beraubt, um es der Toten zu geben.

Alles an ihr war klar und genau, bis auf die letzte Falte des Gewandes und bis auf die Kreuzstiche der feinen Stickerei, welche den Ausschnitt ihres dunklen Kleides auf der bleichen Brust umrahmte. Man glaubte, nur genauer hinschauen zu müssen, um zu sehen, wie die Brust atmete, wie in dem Grübchen unter der Kehle das Blut pulsierte und wie der Gesichtsausdruck wechselte.

Und doch war sie zugleich geisterhaft, fern und fremd und erschien in ihrer unsterblichen Jugend älter als die urgeschaffenen Basaltfelsen im Hintergrunde des Bildes, obwohl diese duftig blauen, stalaktitähnlichen Berge einer unirdischen, längst erloschenen Welt anzugehören schienen. Die Windungen der Ströme zwischen den Felsen erinnerten an ihre feingeschwungenen Lippen mit dem ewigen Lächeln. Und die Wellen der Haare quollen unter dem durchsichtigen, dunklen Schleier nach denselben Gesetzen der ewigen Mechanik hervor wie die Wellen des Wassers.

Als hätte ihr Tod ihm die Augen geöffnet, begriff er erst jetzt, daß Monna Lisas Anmut alles sei, was er mit einer so unersättlichen Neugier in der Natur gesucht hatte; er begriff, daß das Geheimnis der Welt das Geheimnis der Monna Lisa sei.

Jetzt erforschte nicht mehr er sie, sondern sie ihn. Was bedeutete der Blick dieser Augen, die seine Seele wiederspiegelten und sich darin bis zur Unendlichkeit vertieften?

Sagte sie jetzt vielleicht das, was sie bei der letzten Begegnung verschwiegen hatte: es tut etwas Größeres als Neugierde not, um in die letzten, vielleicht wunderbarsten Geheimnisse der Höhle eindringen zu können?

Oder war es das gleichgültige Lächeln der Allwissenheit, mit dem die Toten die Lebenden betrachten?

Er wußte, daß ihr Tod kein Zufall gewesen war: er hätte sie retten können, wenn er es gewollt hätte. Er glaubte noch niemals so unmittelbar und nahe in das Antlitz des Todes geschaut zu haben. Der kalte und freundliche Blick der Gioconda machte seine Seele zu Eis erstarren.

Und zum ersten Mal im Leben trat er vor einem Abgrund zurück und wagte nicht hineinzuschauen; zum ersten Mal wollte er etwas nicht wissen.

Rasch, beinahe wie ein Dieb senkte er den Vorhang mit den schweren Falten wie ein Leichentuch auf ihr Antlitz nieder.

Dank der Verwendung des französischen Statthalters Charles d'Amboise wurde Leonardo im Frühjahr für drei Monate aus Florenz beurlaubt; er begab sich bald darauf nach Mailand.

Ebenso wie vor fünfundzwanzig Jahren, war er auch jetzt froh, die Heimat zu verlassen; mit den gleichen Gefühlen wie damals erblickte der einsame Wanderer wieder die Schneemassen der Alpen über der grünen Ebene der Lombardei.


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