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Fünftes Buch

Dein Wille geschehe

I.

Als der Mailänder Bürger, Schuhmacher Corbolo, nachts etwas angeheitert heimkehrte, verabfolgte ihm seine Frau, nach seiner eigenen Behauptung, mehr Schläge, als notwendig wären, um einen faulen Esel von Mailand nach Rom zu treiben. Am nächsten Morgen begab sich die Frau zu ihrer Nachbarin der Trödlerin, um eine Sülze aus Schweinsblut – Miljacci – zu kosten; Corbolo, der einige Münzen vor seiner Gattin verheimlicht hatte, benützte die Gelegenheit, um zu einem Frühschoppen zu gehen. Den Laden überließ er der Aufsicht seines Gesellen.

Die Hände in den Taschen seiner alten Hose, schlenderte er nachlässig die finstere, krumme Gasse entlang, die so schmal war, daß, wenn hier ein Reiter einem Fußgänger begegnete, er ihn mit der Fußspitze oder dem Sporn streifen mußte. Es roch nach angebranntem Olivenöl, faulen Eiern, saurem Wein und dem Schimmel der Keller.

Corbolo pfiff ein Liedchen, blickte zum schmalen Streifen des zwischen hohen Häusern eingeschlossenen dunkelblauen Himmels empor und auf die von der Morgensonne durchleuchteten bunten Lumpen, die von den Hausfrauen auf über die Straße gezogenen Stricken aufgehängt waren, und tröstete sich mit einem weisen Spruch, den er selbst, übrigens, nie befolgte:

»Jede Frau, die gute wie die böse, braucht Schläge.«

Um den Weg abzukürzen, ging er durch den Dom.

Hier war Lärm und Gedränge, wie auf einem Markte. Trotz der für das Passieren des Domes angesetzten Strafe, gingen zahllose Menschen durch die Tore; selbst solche mit Maultieren und Pferden.

Die Patres zelebrierten mit näselnden Stimmen Messen; in den Beichtstühlen war ewiges Geflüster; vor den Altären brannten Lampen. Und dazwischen tollten Gassenjungen herum, beschnüffelten sich die Hunde und drängten sich zerlumpte Bettler.

Corbolo blieb für eine Weile unter all diesen Tagedieben stehen und lauschte mit verschmitztem und gutmütigem Lächeln dem Wortgefecht zweier Mönche.

Der barfüßige Franziskaner Fra Cippolo, ein kleines rothaariges Männchen mit lustigem rundem und öligem Gesicht, das einer Semmel glich, bewies seinem Gegner, dem Dominikaner Fra Timoteo, daß der heilige Franziskus, der Christo in vierzig Punkten gleichkomme, den nach dem Sturze Luzifers im Himmel freigewordenen Platz eingenommen habe, und daß selbst die heilige Muttergottes seine Stigmata von den Kreuzeswunden des Heilands nicht unterscheiden könne.

Der finstere, bleiche und hagere Fra Timoteo führte dagegen die Wunden der heiligen Katharina ins Feld; sie hätte auf der Stirne blutige Spuren des Dornenkranzes gehabt, welche Wunden dem seraphischen Vater Franziskus abgingen.

Als Corbolo aus dem Schatten des Domes auf den Arengo-Platz trat, mußte er die Augen schließen: so blendete ihn die Sonne. Dieser Platz war der belebteste von Mailand. Es gab da so viel Buden von Kleinkramhändlern, Fischhändlern, Trödlern und Gemüsefrauen, daß zwischen den unzähligen Verkaufsständen, Regendächern und Kisten nur ein schmaler Durchgang frei blieb. Die Händler nahmen diesen Platz vor dem Dom noch seit undenklichen Zeiten ein und keinerlei Gesetze und Geldstrafen konnten sie von da vertreiben.

»Salat aus Val Tellina! Zitronen! Pomeranzen! Artischoken! Spargel, schöner Spargel!« – so lockten die Gemüsefrauen die Käufer zu ihren Ständen. Die Trödlerinnen feilschten und gackerten wie Bruthennen.

Ein kleiner störrischer Esel, der unter einem Berg weißer und blauer Trauben, Orangen, Tomaten, Rüben, Blumenkohl, Finocchi und Zwiebeln halb begraben war, schrie ohrenzerreißend: »ia, ia, ia«. Der Treiber bearbeitete seine abgewetzten Flanken von hinten mit einem Knüttel, daß es nur so krachte, wobei er fortwährend die Kehllaute »Arri! Arri!« hervorstieß.

Eine Gesellschaft von Blinden mit Stöcken in der Hand und einem Führer an der Spitze sang die klagende Intermerata.

Ein geschickter und beweglicher Straßen-Scharlatan und Zahnarzt, mit einem Kranz aus von ihm gezogenen Zähnen auf seiner Otternfellmütze, hatte den Kopf eines auf der Erde kauernden Patienten zwischen seinen Knien eingeklemmt und zog ihm mit einer Riesenzange einen Zahn.

Die Gassenjungen neckten einen vorübergehenden Juden damit, daß sie ihre Rockzipfeln zu einem Schweinsohre falteten. Andere ließen den Trattola-Kreisel den Passanten unter die Füße laufen. Der frechste aller Gassenjungen, der schwarzhaarige und stumpfnasige Farfanicchio ließ aus einer mitgebrachten Falle die Maus laufen und machte dann mit einem Besen in der Hand, pfeifend und johlend Jagd auf sie, wobei er fortwährend schrie: »Da ist sie! Da ist sie!« Die Maus rettete sich unter die weiten Röcke der feisten, vollbusigen Gemüsefrau Barbaccia, die friedlich ihren Strumpf strickte. Sie sprang auf, schrie, wie mit siedendem Wasser übergossen, und hob zum größten Gaudium der Zuschauer, ihre Röcke, um die Maus herauszuschütteln.

»Warte nur, wart! Gleich nehme ich einen Stein und haue dir deinen Affenschädel ein, du Taugenichts!« schrie sie ganz außer sich.

Farfanicchio zeigte ihr die Zunge und hüpfte vor Freude.

Ein Mann, der ein großes geschlachtetes Schwein auf dem Kopfe trug, blieb stehen. Das Pferd des Doktors Messer Gabbadeo scheute und riß aus, wobei es einen ganzen Berg von Küchengeschirr vor dem Laden eines Alteisenhändlers umwarf. Die Pfannen, Töpfe, Reibeisen, Kessel und Schaumlöffel fielen krachend und klirrend durcheinander. Messer Gabbadeo ließ in seiner Todesangst die Zügel fallen und schrie, in rasender Eile davonjagend: »Steh! Steh, du Rabenaas!«

Die Hunde bellten, aus allen Fenstern lugten Neugierige heraus.

Über den ganzen Platz hallte Lachen, Schimpfen, Pfeifen, Johlen, Menschengeschrei und Eselsgebrüll.

Der Schuhmacher ergötzte sich an diesem Spektakel und dachte mit mildem Lächeln:

»Wie schön wäre doch das Leben, wenn es keine Frauen gäbe, die ihre Männer so fressen, wie der Rost das Eisen frißt!«

Er erhob seine Hand vor die Augen zum Schutze gegen die Sonne und betrachtete den unvollendeten und von Baugerüsten umgebenen Riesenbau. Es war der Dom, den das Volk zu Ehren von Mariae Geburt errichtete.

Große und Geringe nahmen an diesem Tempelbau Anteil. Die Königin von Cypern schickte kostbare goldgewirkte Kelchtücher; die arme alte Trödlerin Katharina legte der heiligen Jungfrau ihren einzigen alten Pelz im Werte von zwanzig Soldi auf den Hauptaltar, ohne an die Kälte des nahenden Winters zu denken.

Corbolo, der von Kind auf gewohnt war, das Fortschreiten der Arbeiten zu verfolgen, bemerkte an diesem Morgen einen neuen Turm und das machte ihm große Freude.

Die Steinmetze klopften mit ihren Hämmern. Vom Laghetto-Hafen bei San-Stefano in der Nähe des Ospedale Maggiore wurden immer neue schneeweiße Marmorblöcke, die auf Barken aus den Steinbrüchen vom Lago Maggiore kamen, angefahren. Die Winden knarrten und ihre Ketten rasselten. Eiserne Sägen schnitten knirschend den Marmor. Die Arbeiter kletterten wie Ameisen auf den Gerüsten herum.

Und der gewaltige Bau wuchs, die unzähligen Pfeiler und Spitzen türmten sich wie Stalaktiten nebeneinander und übereinander, Glockentürme und Erker aus blendendweißem Marmor ragten in den blauen Himmel hinein – eine ewige Lobhymne des Volkes zu Ehren der Geburt der Jungfrau Maria.

II.

Corbolo stieg die steilen Stufen zum kühlen, gewölbten, mit Fässern angefüllten Weinkeller des deutschen Wirtes Tibaldo herunter.

Er begrüßte höflich die Gäste, setzte sich zu seinem Bekannten, dem Verzinner Scarabullo und ließ sich einen Krug Wein und heiße Mailänder Kümmelkuchen – Ofeletti – geben. Er nahm bedächtig einen Schluck, schob ein Stück Kuchen in den Mund und sagte:

»Willst du gescheit sein, Scarabullo, so heirate nie.«

»Warum denn?«

»Siehst du, mein Freund,« fuhr der Schuhmacher belehrend fort: »heiraten ist dasselbe, wie aus einem mit Schlangen gefüllten Sack – einen Aal herausfangen. Lieber Gicht haben, als ein Weib, Scarabullo!«

Am Nebentische erzählte der Paramentenmacher Mascarello, ein Aufschneider und lustiger Patron, einem Auditorium von abgelumpten Hungerleidern von den Wundern des unbekannten Reiches Berlinzona und des seligen Schlaraffenlandes, wo man die Reben mit Bratwürsten anbinde und wo eine Gans mit einem Gansjungen als Zuwage um einen Groschen verkauft werde. Es gäbe dort einen Berg aus geriebenem Käse, auf dessen Spitze Menschen wohnen, deren einzige Beschäftigung es sei, Maccaroni und Knödel zu bereiten, sie in Kapaunenbrühe zu kochen und dann hinunterzuwerfen. Wer mehr auffange, der habe auch mehr. In der Nähe flösse ein Strom aus Vernaccio, dem allerbesten Wein, der keinen Tropfen Wasser enthalte.

In den Keller kam plötzlich ein kleiner skrofulöser Mensch mit den kurzsichtigen Augen eines noch halb blinden jungen Hundes hereingestürzt. Es war der Glasbläser Gorgoglio, eine männliche Klatschbase und lebende Zeitung.

»Meine Herren!« verkündete er feierlich, seinen staubigen durchlöcherten Hut lüftend und sich den Schweiß von der Stirne wischend: »Meine Herren! Ich komme direkt von den Franzosen!«

»Was erzählst du da, Gorgoglio? Sind denn die schon hier?«

»Gewiß, in Pavia sind sie schon ... Laßt mich nur etwas ausschnaufen, ich bin ganz atemlos vom Laufen. Bin wie der Blitz gerannt. Daß mir niemand zuvorkommt ...«

»Da hast du Wein. Trinke und erzähle weiter: Was für Menschen sind diese Franzosen?«

»Schlimme Menschen, Brüder! Mit ihnen ist nicht gut Kirschen essen! Es sind wilde, ungestüme, fremdartige, gottlose, tierähnliche Gesellen! Sie haben Flinten und Arkebusen von acht Ellen Länge, Geschütze aus Kupfer, Lombarden aus Gußeisen mit Steinkugeln, ihre Pferde sind wilde Meerungeheuer mit Ohren und gestutzten Schwänzen.«

»Sind sie in großer Zahl?«

»Legionen von Legionen! Sie haben wie die Heuschrecken die ganze Ebene umlagert, man kann sie gar nicht überblicken! Der Herr hat uns für unsere Sünden diese schwarze Pest, die nordischen Teufel geschickt!«

»Warum schimpfest du so, Gorgoglio?« versetzte Scarabullo: »Sind sie denn nicht unsere Freunde und Verbündeten?«

»Verbündeten? Ja, Schnecken! Solche Freunde sind ärger als Feinde: die kaufen die Hörner und fressen den Stier.«

»Laß deine Redensarten und erzähle vernünftig: warum sind die Franzosen unsere Feinde?« fragte Maso.

»Weil sie unsere Felder verwüsten, unsere Bäume fällen, das Vieh forttreiben, die Bauern ausrauben, die Weiber schänden. Der französische König ist ein Schlappschwanz, aber auf die Weiber versessen. Er hat ein Buch mit den Bildnissen nackter italienischer Schönheiten. Sie sagen: Wenn uns Gott hilft, so lassen wir von Mailand bis Neapel kein einziges unschuldiges Mädchen zurück.«

»Diese Halunken!« schrie Scarabullo auf und schlug so heftig mit der Faust auf den Tisch, daß alle Flaschen und Gläser erzitterten.

»Unser Moro tanzt auf den Hinterpfötchen nach der französischen Pfeife!« fuhr Gorgoglio fort. – »Sie sehen uns gar nicht für Menschen an. Sie sagen: ›Ihr alle seid Mörder und Diebe. Euren eigenen rechtmäßigen Herzog habt ihr vergiftet, den unschuldigen Knaben habt ihr getötet. Gott straft euch dafür und übergibt euer Land in unsere Hände‹. Wir bewirten sie herzlich und gastfreundlich, sie aber setzen das Essen ihren Pferden vor und sagen: ›Ist vielleicht auch in den Speisen etwas von jenem Gift, mit dem ihr euren Herzog vergiftet habt?!‹«

»Du lügst, Gorgoglio!«

»Daß mir meine Augen ausrinnen, daß meine Zunge verdorre! Hört, meine Herren, wie sie prahlen: Wir wollen, so sagen sie, zuerst alle Völker Italiens bezwingen, alle Länder und Meere erobern, den Großtürken gefangen nehmen, Konstantinopel erstürmen, auf dem Ölberge zu Jerusalem ein Kreuz aufrichten und dann wieder zu euch kommen, um das Gericht Gottes über euch zu vollstrecken. Und wenn ihr euch nicht gutwillig unterwerft, so werden wir selbst euren Namen vernichten.«

»Es ist schlimm, Brüder!« sprach der Paramentenmacher Mascarello. »Furchtbar schlimm! So etwas hat es noch nie gegeben!«

Alle wurden still.

Fra Timoteo, der Mönch, der vorhin im Dome mit dem Fra Tippolo gestritten und plötzlich hier auftauchte, hob seine Hände zum Himmel und verkündete feierlich:

»So spricht der große Prophet Girolamo Savonarola: es kommt der Mann, der, ohne sein Schwert aus der Scheide zu ziehen, Italien erobern wird. O Florenz, o Rom, o Mailand! Die Zeit der Feste und Lieder ist vorbei! Tut Buße! Tut Buße! Das Blut des Herzogs Gian-Galeazzo, das Blut Abels, das Kain vergossen, schreit zum Himmel um Rache!«

III.

»Die Franzosen! Die Franzosen! Seht!« Gorgoglio zeigte auf zwei Soldaten, die eben in den Keller traten.

Der eine, ein Gascogner, namens Bonivard, ein schlanker junger Mann mit schönem und frechem Gesicht und rötlichem kleinem Schnurrbart, war ein Sergeant der französischen Kavallerie. Sein Kamerad, der Picardier Gros-Guilloche, ein dicker untersetzter Alter mit einem Stiernacken, blutrotem Gesicht, hervortretenden Krebsaugen und einem Messingring in einem Ohr, war Kanonier. Beide waren angeheitert.

»Finden wir endlich in diesem vermaledeiten Nest einen ordentlichen Schluck?« sprach der Sergeant, seinem Freund auf die Schulter klopfend. »Dieses lombardische Zeug kratzt einem die Gurgel wie Essig!«

Bonivard nahm mit einem Ausdruck von Ekel und Langeweile an einem der Tische Platz, musterte verächtlich die andern Gäste, klopfte mit dem Zinnkrug und befahl in gebrochenem Italienisch:

»Weißen, trockenen, von dem Ältesten! Und dazu gesalzene Cervelatwurst!«

»Ja, Bruderherz!« sagte Gros-Guilloche mit einem Seufzer: »wenn ich an unsern Burgunder denke, oder an den köstlichen Beaume, der so goldig schimmert, wie das Haar meiner Lison, so tut mir das Herz weh! Eigentlich kann man sagen: wie das Volk, so der Wein. Trinken wir für das Wohl unseres lieben Frankreichs!

Du grand Dieu soit mauldit à outrance,
Qui mal vouldroit au royaume de France!

»Worüber sprechen sie?« raunte Scarabullo Gorgoglio zu.

»Sie bemängeln unsere Weine und loben die eigenen.«

»Sieh nur diese französischen Hähne an, wie sie nobel tun!« brummte der Verzinner in den Bart. »Es juckt mich, sie ordentlich mores zu lehren!«

Der Wirt Tibaldo, ein dicker Deutscher auf dünnen Beinchen, mit einem großen Schlüsselbund an seinem breiten Ledergurt, schenkte aus einem Fasse eine halbe Brenta ein und reichte sie den Franzosen in einem von Kälte beschlagenen Tonkruge, wobei er die fremden Gäste mißtrauisch musterte.

Bonivard leerte mit einem Zuge seinen Becher. Der Wein gefiel ihm sehr gut, doch spuckte er aus und machte eine Grimasse des Ekels. Da ging an ihm die Wirtstochter Lotte vorbei, sie war ein anmutiges blondes Mädchen und hatte die gutmütigen blauen Augen ihres Vaters.

Der Gascogner blinzelte seinem Kameraden zu und strich sich seinen roten Schnurrbart. Dann trank er noch einmal und stimmte das Soldatenlied von Karl VIII. an:

Charles fera si grandes batailles,
Qu'il conquerra les Itailles,
En Jérusalem entrera
Et mont Olviet montera.

Gros-Guilloche begleitete ihn mit heiserer Stimme.

Als Lotte, die Augen züchtig gesenkt, an ihnen wieder vorbeikam, faßte sie der Sergeant um die Taille und machte Anstalten, sie auf seinen Schoß zu ziehen.

Sie stieß ihn zurück, riß sich los und lief davon. Er sprang auf, holte sie ein und küßte sie mit seinen weinbenetzten Lippen auf die Wange.

Das Mädchen schrie auf, ließ ihren Tonkrug fallen, daß er zu Scherben zerbrach, drehte sich um und versetzte dem Franzosen mit aller Wucht einen Schlag ins Gesicht, so daß dieser für einen Augenblick stutzte.

Die Gäste lachten.

»So ein Mädel lob ich mir!« rief der Paramentenmacher aus. »Ich schwöre beim heiligen Gervasio, daß ich noch nie eine so kräftige Ohrfeige gesehen habe! Der kann wohl zufrieden sein!«

»Du, laß sie laufen, fang keine Geschichten an!« beschwichtigte Gros-Guilloche seinen Freund.

Aber der Gascogner hörte nicht auf ihn. Der Rausch stieg ihm zu Kopf. Er lachte gezwungen auf und schrie ihr nach:

»Warte nur, Schöne! Jetzt küsse ich dich nicht auf die Wange, sondern mitten auf den Mund!«

Er lief ihr nach, stieß einen Tisch um, holte sie ein und wollte sie auf die Lippen küssen. Da packte ihn aber der Verzinner Scarabullo mit seiner mächtigen Faust am Kragen.

»Hundesohn! Du schamlose Franzosenfratze!« schrie Scarabullo, während er den Bonivard schüttelte und seinen Hals immer fester zusammenpreßte, »Warte nur! Ich haue dich so durch, daß du es nie vergessen wirst, was es heißt, Mailänder Mädchen zu beleidigen!..« »Fort, du Schurke! Es lebe Frankreich!« schrie Gros-Guilloche, der auch seinerseits in Wut geriet.

Er zog seinen Degen und hätte ihn wohl dem Verzinner in den Rücken gebohrt, wenn nicht Mascarello, Maso und die anderen Zechkumpane herbeigestürzt wären und den Franzosen an den Armen gepackt hätten.

Zwischen den umgeworfenen Tischen, Bänken und Fässern, Scherben und Weinflaschen entstand eine wüste Rauferei.

Als nun Tibaldo die gezückten Degen und Messer und das Blut sah, stürzte er entsetzt aus dem Keller und schrie so, daß es über den ganzen Platz schallte:

»Mord! Die Franzosen plündern!«

Man läutete die Marktglocke. Die Glocke von Broletto stimmte ein. Die vorsichtigen Krämer schlossen ihre Läden. Trödlerinnen und Gemüsefrauen brachten ihre Waren in Sicherheit.

»Ihr heiligen Fürbitter, unsere Beschützer, Protasio und Gervasio!« heulte Barbaccia.

»Was ist da los? Brennt es wo?«

»Haut die Franzosen! Schlagt sie tot!«

Der kleine Farfanicchio hüpfte vor Freude, pfiff und schrie mit gellender Stimme:

»Schlagt die Franzosen tot!«

Da rückte die Stadtwache – Berrovieri mit Arkebusen und Hellebarden an.

Sie kamen noch gerade rechtzeitig, um einem Mord vorzubeugen und die beiden Franzosen aus den Händen des Pöbels zu retten. Sie verhafteten jeden, der ihnen gerade in die Hände fiel, und so auch den Schuhmacher Corbolo.

Frau Corbolo, die auf den Lärm herbeigestürzt kam, schlug ihre Hände über dem Kopfe zusammen und schrie:

»Habt Erbarmen! Laßt meinen Mann los! Liefert ihn mir aus! Ich werde mit ihm schon selbst fertig werden und ihm die Lust vertreiben, wieder einmal in eine Rauferei seine Nase zu stecken! Ich versichere euch, Signori, dieser Dummkopf ist nicht einmal des Strickes wert, mit dem er aufgeknüpft wird!«

Corbolo schlug traurig und beschämt seine Augen nieder, schien die Drohungen seiner Frau zu überhören und suchte sich vor ihr hinter den Rücken der Wachsoldaten zu verbergen.

IV.

Hoch oben über dem Gerüst des unvollendeten Domes kletterte ein junger Steinmetz auf einer schmalen Strickleiter zur Spitze eines schlanken Glockenturmes in der Nähe der Hauptkuppel empor, um da eine kleine Figur der heiligen Märtyrerin Katharina zu befestigen.

Um ihn schwebten stalaktitartige, spitze Türme, Nadeln, Pfeiler, gedehnte Bögen, ein steinernes Spitzengewebe aus unmöglichen Blumen, Sprossen und Blättern, zahllose Propheten, Märtyrer, Engel, lachende Teufelsfratzen, phantastische Vögel, Sirenen, Harpyen, Drachen mit stachelbesetzten Flügeln und offenen Rachen an den Mündungen der Dachrinnen. Alles war aus reinem blendendweißem Marmor mit bläulichen Schatten und erinnerte an einen bereiften großen Wald im Winter.

Es war ganz still. Schwalben flogen zwitschernd über dem Kopfe des Steinmetzen. Das Lärmen der Menge auf dem Domplatze erschien ihm hier oben wie das leise Summen eines Ameisenhaufens. Am Rande der unendlichen grünen Lombardischen Ebene strahlten die weißen Gipfel der Alpen, ebenso spitz und weiß, wie die Zinnen des Domes. Zuweilen glaubte er Orgeltöne zu vernehmen; sie klangen wie Seufzen und Beten aus dem Innern des Domes, aus der Tiefe seines steinernen Herzens und er fühlte, daß dieser gewaltige Bau atme, lebe, wachse und in den Himmel steige, wie ein ewiger Lobgesang auf die Geburt Mariae, wie eine Freudenhymne aller Völker und Zeiten an die unbefleckte sonnenbekleidete Jungfrau.

Das Lärmen auf dem Platze wurde lauter, er hörte auch die Sturmglocke.

Der Steinmetz blieb stehen und blickte hinunter. Da schwindelte ihm der Kopf und vor seinen Augen wurde es finster. Er hatte das Gefühl, als ob der Riesenbau unter seinen Füßen wanke und der schlanke Turm, zu dem er emporstieg, sich wie ein Schilfrohr biege.

»Ich stürze ja ab!« ging es ihm durch den Kopf. »Herr, empfange meine Seele!«

Er machte eine verzweifelte Anstrengung, klammerte sich an einer Sprosse der Strickleiter fest, schloß die Augen und flüsterte:

»Ave, dolce Maria, di grazia piena!«

Dies gab ihm Erleichterung.

Von der Höhe kam ein kühlender Hauch.

Er holte Atem, sammelte seine Kräfte und setzte seinen Weg fort, ohne auf die irdischen Stimmen zu achten. Er stieg immer höher und höher zum stillen, reinen Himmel empor und wiederholte mit großer Freude die Worte:

»Ave, dolce Maria, di grazia piena!«

Zu dieser Zeit befanden sich auf dem breiten fast flachen Dache des Domes die Mitglieder des Baurates, italienische und auch ausländische Baumeister, die vom Herzog berufen waren, um über den Tiburio, den Hauptturm über der Kuppel, zu beratschlagen.

Unter ihnen befand sich auch Leonardo da Vinci. Er machte auch seine Vorschläge; die Mitglieder des Rates lehnten sie ab, als zu kühn, ungewöhnlich und revolutionär und den Überlieferungen der kirchlichen Baukunst widersprechend.

Sie stritten viel herum und konnten keine Einigung erzielen. Die einen suchten zu beweisen, daß die inneren Pfeiler nicht fest genug wären; sie sagten: »Wenn man die Türme und den Tiburio ausbaut, so wird der ganze Dom einstürzen, denn der Bau ist von unwissenden Baumeistern begonnen worden«. Andere meinten wieder, der Dom werde alle Ewigkeiten überdauern.

Leonardo nahm seiner Gewohnheit nach an dem Streite keinen Anteil und stand einsam und stumm abseits.

Ein Arbeiter kam auf ihn zu und reichte ihm einen Brief.

»Messere, unten auf dem Platze erwartet Euch ein reitender Bote aus Pavia.«

Der Künstler entfaltete den Brief und las:

»Leonardo, komm sofort. Ich muß dich sprechen.
Herzog Gian-Galeazzo. d. 14. Oktober.«

Leonardo entschuldigte sich bei den Mitgliedern des Rates, ging auf den Domplatz hinunter, bestieg sein Pferd und ritt nach Castello di Pavia. Dieses Schloß lag einige Stunden von Mailand entfernt.

V.

Das herbstliche Laub der Kastanien, Ulmen und Ahorne im großen Parke leuchtete in der Sonne wie Gold und Purpur. Welke Blätter flatterten wie Schmetterlinge. Die mit Gras überwucherten Fontänen standen still und auf den verwahrlosten Blumenbeeten starben Astern.

Dicht vor dem Schlosse begegnete Leonardo einem Zwergen. Es war der alte Hofnarr Gian-Galeazzos, der seinem Herrn treu blieb, während alle anderen Diener den sterbenden Herzog verlassen hatten.

Der Zwerg erkannte Leonardo und eilte ihm hinkend und hüpfend entgegen.

»Wie ist das Befinden des Herzogs?« fragte der Künstler.

Der Zwerg erwiderte nichts und winkte nur hoffnungslos mit der Hand.

Leonardo wollte durch die Hauptallee gehen.

»Nein, nein! Nicht hier!« sagte der Zwerg: »Hier könnte man Euch sehen. Seine Durchlaucht befahlen, daß es ganz geheim bleibe, sonst erfährt es vielleicht Herzogin Isabella und dann könnte man Euch zurückhalten. Wir wollen lieber einen Seitenweg einschlagen ...«

Sie gelangten zum Eckturm, stiegen eine Treppe hinauf und passierten einige finstere Gemächer, die wohl einst prunkvoll, jetzt aber verwahrlost und unbewohnt waren. Die goldgepreßten korduanischen Ledertapeten waren abgerissen und Spinnengewebe hingen um den Herzogsthron, der unter einem seidenen Baldachin stand. Mehrere Fensterscheiben fehlten und der Wind der Herbstnächte hatte aus dem Park einige gelbe Blätter hereingeweht.

»Räuber! Verbrecher!« brummte der Zwerg, seinem Gefährten diese Spuren des Verfalls zeigend. »Glaubt mir, ich kann es wirklich nicht mehr mitansehen, was hier vorgeht! Wenn ich nicht den Herzog zu pflegen hätte, der niemand bei sich hat außer mir, dem häßlichen Zwerg, so würde ich am liebsten auf und davonlaufen ... Bitte, hier ist die Türe! ...«

Er ließ Leonardo in ein finsteres Zimmer eintreten, dessen dumpfe Luft ganz von Arzneigeruch erfüllt war.

VI.

Nach den Regeln der Arzneikunst wurde das Aderlassen immer bei geschlossenen Fensterläden und Kerzenbeleuchtung vorgenommen. Der Gehilfe des Barbiers fing das Blut in einem Kupferbecken auf. Der Barbier selbst, ein bescheidener Alter, schnitt die Adern an. Der Arzt, »Meister der Physik«, überwachte die Arbeit des Barbiers, ohne an ihr teilzunehmen, denn es galt für einen Arzt unschicklich, die chirurgischen Instrumente auch nur zu berühren. Er hatte einen tiefsinnigen Gesichtsausdruck, trug eine Brille und einen Doktormantel aus violettem Samt mit Besatz von Eichhornfell.

»Am Abend wollt Ihr noch einmal zur Ader lassen!« sagte er gebieterisch, als der Arm verbunden war und der Kranke wieder in seinen Kissen lag.

»Domine Magister,« wandte der Barbier höflich und schüchtern ein, »sollen wir nicht damit lieber etwas warten? Denn der übermäßige Blutverlust ...«

Der Arzt sah ihn verächtlich lächelnd an.

»Schämt Euch, mein Lieber! Ihr solltet doch schon wissen, daß man von den vierundzwanzig Pfund Blut, die der Mensch hat, zwanzig ohne jede Gefahr für Leben und Gesundheit abzapfen darf. Je mehr verdorbenes Wasser Ihr aus einem Brunnen abschöpft, je mehr gutes Wasser bleibt zurück. Ich habe schon Säuglinge ganz ohne Erbarmen geschröpft und mit Gottes Hilfe war es immer von Nutzen.«

Leonardo, der aufmerksam zuhörte, wollte etwas einwenden; dann überlegte er sich, daß der Streit mit einem Arzte ebenso zwecklos sei, wie mit einem Alchimisten.

Der Arzt und der Barbier entfernten sich. Der Zwerg rückte die Kissen zurecht und hüllte die Beine des Kranken in die Decke.

Leonardo sah sich im Zimmer um. Über dem Bette hing ein Käfig mit einem kleinen grünen Papagei. Auf einem runden Tischchen lagen Karten und Würfel und stand ein Glas mit Goldfischen. Zu Füßen des Herzogs schlief zusammengerollt ein weißes Hündchen. Dies waren wohl die letzten Zerstreuungen, die der treue Diener für seinen Herrn beschafft hatte.

»Hast du den Brief bestellt?« fragte der Herzog, ohne die Augen zu öffnen.

»Ach, Ew. Durchlaucht!« erwiderte der Zwerg »Wir glaubten, Ihr schlaft und warteten. Messer Leonardo ist ja bereits hier.«

»Schon hier?«

Der Kranke lächelte freundlich und richtete sich mit großer Mühe im Bette auf.

»Da bist du endlich, Meister! Ich fürchtete schon, du kämest nicht! ...«

Er ergriff die Hand des Künstlers und sein schönes jugendliches Gesicht – Gian-Galeazzo war erst vierundzwanzig Jahre alt – belebte sich mit einem blassen Rot.

Der Zwerg verließ das Zimmer, um die Türe zu bewachen.

»Mein Freund,« sagte der Kranke: »Du hast es wohl schon gehört?«

»Was denn, Durchlaucht?«

»Du weißt es noch nicht? Nun, dann will ich davon lieber gar nicht sprechen. Oder ich erzähle es dir doch: dann lachen wir zusammen. Sie sagen ...«

Er hielt inne, sah Leonardo in die Augen und schloß mit einem stillen Lächeln:

»Sie sagen, du seiest – mein Mörder!«

Leonardo glaubte, der Kranke phantasiere.

»Nicht wahr? Welch ein Wahnsinn! Du sollst mein Mörder sein! ...« fuhr der Herzog fort. Vor drei Wochen schickten mir Onkel Moro und Tante Beatrice einen Korb Pfirsiche. Madonna Isabella ist überzeugt, daß es mir, seitdem ich von diesen Früchten gegessen, schlimmer gehe, daß ich an einem langsam wirkenden Gift sterbe und daß in deinem Garten ein Baum sei ...«

»Es ist wahr,« sagte Leonardo, »ich habe wirklich einen solchen Baum.«

»Was sagst du?! Ist es also wahr? ...«

»Nein. Gott sei mir gnädig, wenn diese Pfirsiche wirklich aus meinem Garten stammten. Jetzt verstehe ich, woher diese Gerüchte kommen: um die Wirkung von Giften zu erforschen, machte ich den Versuch, einen Pfirsichbaum zu vergiften. Ich sagte meinem Schüler Zoroastro da Peretola, daß die Früchte vergiftet seien. Der Versuch ist aber mißlungen. Die Pfirsiche sind unschädlich. Mein Schüler hat wohl jemand voreilig von der Sache erzählt ...«

»Ich war auch fest davon überzeugt,« rief der Herzog freudig aus, »daß niemand die Schuld an meinem Tode trage! Und doch verdächtigen, hassen und fürchten sie einander! Wenn ich doch ihnen alles ebenso offen sagen könnte, wie ich jetzt hier mit dir spreche! Der Onkel hält sich für meinen Mörder, aber ich weiß, daß er gut ist, nur etwas schwach und schüchtern. Warum sollte er mich auch töten? Ich will ihm ja gerne meine Macht abtreten, denn ich brauche nichts ... Ich würde von ihnen weggehen und in Freiheit, in Einsamkeit oder mit Freunden leben. Ein Mönch werden, oder auch dein Schüler, Leonardo. Niemand wollte mir aber glauben, daß ich wirklich auf alle Macht verzichte ... Mein Gott, warum taten sie es? Sie haben sich selbst mit den unschuldigen Früchten von deinem unschuldigen Baum vergiftet, und nicht mich! Diese armen, blinden ... Früher war ich so unglücklich darüber, daß ich sterben muß. Jetzt habe ich aber alles begriffen, Meister. Ich habe keine Wünsche mehr und auch keine Furcht. Ich fühle mich so wohl und ruhig, wie wenn ich an einem heißen Tag die staubigen Kleider von mir werfe und in reines kühles Wasser steige. Mein Freund, ich kann es nicht gut ausdrücken, doch du verstehst, was ich sagen will. Du bist ja selbst so ...«

Leonardo drückte ihm stumm, mit einem milden Lächeln die Hand.

»Ich wußte ja,« fuhr der Kranke mit einem Ausdrucke höchster Freude fort: »Ich wußte ja, daß du mich verstehen würdest ... weißt du es noch? Du hast mir einmal gesagt, daß die Betrachtung der natürlichen Notwendigkeit der ewigen Gesetze der Mechanik dem Menschen große Demut und tiefe Ruhe einflöße. Ich konnte es damals noch nicht erfassen. Aber jetzt, in Krankheit, Einsamkeit und Fieber, wie oft mußte ich an dich, an deine Züge und deine Stimme denken, mein Meister! Weißt du, ich glaube, daß wir beide auf verschiedenen Wegen – du auf dem des Lebens, ich auf dem des Todes, – zum gleichen Ziele gekommen sind ...«

Der Zwerg kam ins Zimmer und sagte ganz bestürzt:

»Monna Druda!«

Leonardo wollte fortgehen, der Herzog hielt ihn aber zurück.

Monna Druda, die alte Wärterin Gian-Galeazzos, trat ins Zimmer. Sie trug in der Hand ein kleines Glas mit einer gelblichen trüben Flüssigkeit. Es war die Skorpionssalbe.

Zur Mittsommerszeit, wenn die Sonne im Gestirne des Hundes stand, wurden die Skorpione gefangen und lebend in hundertjähriges Olivenöl mit Zusatz von Ruhrkraut, Kreuzkraut und Mathridat geworfen; das Öl mußte dann fünfzig Tage lang an der Sonne stehen. Mit diesem Öl wurden den Kranken allabendlich die Achselhöhlen, Schläfen, der Bauch und die linke Brust eingerieben. Die alten Weiber behaupteten, dies sei das beste Mittel gegen alle Gifte wie auch gegen Hexerei, Zauber und bösen Blick.

Als die Alte Leonardo auf dem Bettrande sitzen sah, blieb sie stehen, erblich und ihre Hände begannen so zu zittern, daß sie beinahe das Glas fallen ließ.

»Gott sei mit uns! Heilige Mutter Gottes! ...«

Gebete murmelnd und sich bekreuzigend ging sie zur Türe und lief so schnell es ihre alten Beine erlaubten mit der schrecklichen Botschaft zu ihrer Herrin Madonna Isabella.

Monna Druda glaubte fest daran, daß der Mörder Moro und sein Spießgeselle Leonardo den Herzog, wenn nicht mit Gift, so doch wenigstens mit bösem Blick, Hexerei oder anderm Zauber an den Rand des Grabes gebracht hätten.

Die Herzogin befand sich in der Kapelle, wo sie, vor einem Heiligenbilde kniend, betete.

Als Monna Druda ihr mitteilte, daß sie beim Herzog Leonardo angetroffen hätte, sprang sie auf und schrie entsetzt:

»Es kann nicht sein! Wer hat ihn vorgelassen? ...«

»Wer ihn vorgelassen hat?« murmelte die Alte kopfschüttelnd. »Ihr könnt es mir glauben, Durchlaucht, daß ich mir selbst den Kopf darüber zerbreche, wie der Verdammte hereingelangen konnte! Er ist wie aus der Erde gefahren, oder zum Ofenrohr hereingeflogen, daß Gott mir verzeihe! Es geht hier offenbar nicht mit rechten Dingen zu. Ich habe ja schon längst Ew. Durchlaucht gesagt ...«

Ein Page kam in die Kapelle, sank ehrfurchtsvoll in ein Knie und meldete:

»Durchlauchtigste Madonna, wollt Ihr und Euer Gemahl geruhen, seine Majestät den allerchristlichsten König von Frankreich zu empfangen?«

VII.

Karl VIII. hatte das Erdgeschoß des Pavia-Schlosses bezogen, das für ihn auf Befehl des Herzogs Lodovico prunkvoll hergerichtet worden war. Der König ließ sich, während er nach der Tafel der Ruhe pflog, das auf seinen Befehl aus dem Lateinischen ins Französische übersetzte höchst wertlose Buch »Mirabilia, Urbis Romae« (Die Wunder der Stadt Rom) vorlesen.

Der immer einsame, von seinem Vater eingeschüchterte kränkliche Karl hatte in dem einsamen Schlosse von Amboise eine freudlose Jugend verbracht; er hatte dort fortwährend Ritterromane gelesen, die ihm seinen ohnehin schwachen Kopf gänzlich verwirrten. Als der zwanzigjährige, unerfahrene, menschenscheue, gutmütige und überspannte Jüngling König wurde, bildete er sich ein, einer jener Märchenhelden zu sein, wie sie in den Büchern von den Rittern des runden Tisches, Lancelot, und Tristan vorkommen, und beschloß, alles, was er in den Büchern gelesen hatte, in Taten umzusetzen. »Der Sohn des Mars und Nachkomme des Julius Caesar«, wie ihn die Hof-Historiographen nannten, zog nun an der Spitze eines großen Heeres in die Lombardei, mit der Absicht, Neapel, Sizilien, Konstantinopel und Jerusalem zu erobern, den Großtürken zu stürzen, den muhammedanischen Ketzerglauben gänzlich auszurotten und das Heilige Grab von dem Joche der Ungläubigen zu befreien.

Als ihm jetzt das Buch von den Wundern Roms vorgelesen wurde, schwelgte er im Vorgeschmack des Ruhmes, den er sich durch die Eroberung dieser gewaltigen Stadt erwerben würde.

Seine Gedanken waren wirr. Er spürte Unbehagen unter der Herzgrube und sein Kopf brummte nach dem allzulustigen gestrigen Nachtmahl, das er in Gesellschaft Mailänder Damen eingenommen hatte, von einer dieser Damen – Lucrezia Crivelli – mußte er die ganze Nacht träumen.

Karl VIII. war klein gewachsen und häßlich. Er hatte krumme und wie Radspeichen dünne Beine, schmale Schultern von ungleicher Höhe, eine eingefallene Brust, eine übertrieben große hackenförmige Nase, dünnes rötliches Haar und einen sonderbaren gelblichen Flaum statt des Bartes. Durch seine Arme und sein Gesicht ging oft ein krampfartiges Zucken. Seine dicken Lippen, die wie bei kleinen Kindern stets offen waren, seine hochgezogenen Brauen und kurzsichtigen hervorstehenden Augen verliehen ihm einen zerstreuten, trübsinnigen und zugleich gespannten Ausdruck, der schwachsinnigen Menschen eigen ist. Seine Sprache war abgerissen und schwer verständlich. Man erzählte, er hätte an den Füßen sechs Zehen; um dieses zu verbergen, hätte er die häßliche Mode der breiten, vorne runden, hufförmigen weichen Schuhe aus schwarzem Samt beim Hofe eingeführt.

»Thibeaut! He, Thibeaut!« rief er, die Lektüre unterbrechend, mit seinem gewöhnlichen zerstreuten Ausdruck, stotternd und nach Worten suchend, seinem ersten Valet-de-Chambre zu. »Ich will, mein Lieber, ... ich glaube, ich habe Durst. He? Vielleicht ist es Sodbrennen? Bringe mir mal Wein, Thibeaut ...«

Kardinal Brissonet meldete, daß der Herzog den König erwarte.

»Wie? Wie? Was gibt's? Der Herzog? ... Ja, gleich. Ich will nur etwas trinken ...« Karl nahm aus der Hand eines Höflings den Becher.

Brissonet hielt ihn zurück und fragte Thibeaut:

»Ist es unser Wein?«

»Nein, Monsignore, er ist aus dem hiesigen Keller. Der unsrige ist auf der Neige.«

Der Kardinal schüttete den Wein aus.

»Verzeihung, Majestät. Die hiesigen Weine könnten Eurer Gesundheit schaden. Thibeaut, schicke den Mundschenken ins Lager und lasse ein Fäßchen aus dem Feldkeller bringen.«

»Warum? Wie? Was gibt's?« ... stammelte der König verständnislos.

Der Kardinal flüsterte ihm ins Ohr, daß er Gift befürchte, denn von den Menschen, die ihren eigenen Herrscher vergiftet hatten, könne man jeden Verrat erwarten; wenn auch keine bestimmten Beweise vorlägen, könne Vorsicht nicht schaden.

»Wie? Unsinn! Ich will trinken ...« sagte Karl ärgerlich, mit einer Achsel zuckend. Doch mußte er sich schließlich fügen.

Die Herolde liefen voran.

Vier Pagen hoben einen prächtigen Baldachin aus blauer Seide mit silbernen Lilien über den König; der Seneschall hing ihm um die Schultern einen hermelinbesetzten Mantel aus rotem Samt, auf dem goldene Bienen und der Ritterspruch: »Le roi des abeilles n'a pas d'aiguillon. (Der König der Bienen hat keinen Stachel) gestickt waren. Dann setzte sich der Zug durch die verlassenen Säle des Schlosses zum Zimmer des Sterbenden in Bewegung.

An der Kapelle begegnete Karl der Herzogin Isabella. Er lüftete ehrfurchtsvoll sein Barett und näherte sich ihr, um die Dame nach altfranzösischer Sitte auf den Mund zu küssen und sie mit »liebe Schwester« anzusprechen.

Aber die Herzogin kam ihm selbst entgegen und stürzte sich ihm zu Füßen.

»Majestät,« so begann sie die von ihr schon früher vorbereitete Rede. »Erbarme dich unser! Der Herr wird dich belohnen. Großmütiger Ritter, beschirme die Unglücklichen! Moro hat uns alles weggenommen, er hat den Thron geraubt, hat meinen Gemahl, den rechtmäßigen Herzog von Mailand Gian-Galeazzo, vergiftet, wir sind in unserm eigenen Hause von Mördern umgeben ...«

Karl verstand fast kein Wort davon und hörte auch nicht zu. »Wie? Wie? Was gibt's?« brachte er, mit der Achsel zuckend, stotternd wie aus dem Schlafe erwachend hervor. – »Nein, nein, laßt es ... Ich bitte Euch ...Laßt es, liebe Schwester ... Steht doch auf! ...«

Sie erhob sich aber nicht, sondern haschte nach seinen Händen, küßte sie, versuchte seine Knie zu umarmen und schrie endlich weinend in aufrichtiger Verzweiflung aus:

»Wenn Ihr mich verlaßt, Majestät, nehme ich mir das Leben!«

Der König stutzte jetzt völlig, er machte eine schmerzvolle Grimasse, als ob auch er dem Weinen nahe wäre.

»Nun, was ist denn das? ... Mein Gott ... Ich kann es nicht ... Brissonet, ich bitte dich, Brissonet ... ich weiß ja nichts ... Sag du es ihr ...«

Er wollte fortlaufen; sie weckte in ihm keinerlei Mitleid, denn selbst in ihrer Erniedrigung und Verzweiflung war sie stolz und schön wie die majestätische Heldin einer Tragödie.

»Durchlauchtigste Madonna, beruhigt Euch, seine Majestät werden für Euch und Euren Gemahl Messer Gian-Galeazzo das Möglichste tun!« sagte der Kardinal höflich, kühl und herablassend. Den Namen des Herzogs sprach er dabei französisch aus.

Die Herzogin blickte auf Brissonet, musterte aufmerksam das Gesicht des Königs und schwieg, als hätte sie erst jetzt begriffen, wer vor ihr stand.

Er war so häßlich, elend und lächerlich, seine dicken Lippen standen, wie bei kleinen Kindern, weit offen und seine weißlichen großen Augen waren aufgerissen; er lächelte blöde, gespannt und zerstreut.

»Ich – die Enkelin Ferdinands von Aragonien liege zu Füßen dieses Schwachsinnigen, dieser Mißgeburt!«

Sie stand auf. Ihre blassen Wangen röteten sich. Der König fühlte, daß er irgend etwas sagen müsse, um das peinliche Schweigen zu brechen. Er machte eine verzweifelte Anstrengung, zuckte mit einer Achsel, zwinkerte mit den Augen und brachte nur sein gewöhnliches »Wie? Wie? Was gibt's?« zustande. Dann kam er ins Stottern, winkte hoffnungslos mit der Hand und verstummte.

Die Herzogin maß ihn mit einem Blicke unverhohlener Verachtung. Karl ließ wie vernichtet den Kopf sinken.

»Brissonet, wollen wir gehen ... Nicht wahr? ... Wie? ...« Die Pagen schlugen die Türflügel auf und Karl trat in das Zimmer des Herzogs.

Die Fensterläden waren geöffnet. Das stille Licht des Herbstabends fiel durch die goldenen Baumkronen des Parkes ins Zimmer.

Der König näherte sich dem Bette des Kranken, sprach ihn mit Vetter – »mon cousin« an und erkundigte sich nach seinem Befinden.

Gian-Galeazzo lächelte ihn so freundlich an, daß Karl sofort eine Erleichterung empfand und seine Befangenheit verlor. Nach und nach beruhigte er sich ganz.

»Der Herr möge Ew. Majestät den Sieg verleihen!« sagte der Herzog unter anderem, »wenn Ihr nach Jerusalem kommt, so betet, bitte, am Heiligen Grabe um meine arme Seele, denn zu jener Zeit werde ich ...«

»Ach nein, nein, lieber Vetter! Was sagt Ihr da! Warum?« unterbrach ihn der König. »Der Herr ist gnädig. Ihr werdet Euch gewiß erholen ... Wir werden noch zusammen einen Feldzug unternehmen, um die ungläubigen Türken zu bezwingen, Ihr werdet sehen! Wie?«

Gian-Galeazzo schüttelte den Kopf.

»Nein, nein, wie könnte ich noch ...«

Er sah den König mit einem tiefen prüfenden Blick in die Augen und fügte hinzu:

»Wenn ich tot bin, Majestät, so nehmt Euch meines armen Sohnes Francesco an, auch meiner Isabella: sie ist ja unglücklich und hat niemand auf der ganzen Welt ...«

»Gott, Gott!« rief Karl in plötzlicher starker Erregung. Seine dicken Lippen zitterten, die Mundwinkel senkten sich und sein Gesicht erstrahlte in unendlicher Güte, gleichsam von einem inneren Lichte erleuchtet.

Er beugte sich rasch zum Kranken, umarmte ihn in plötzlicher Anwandlung von Zärtlichkeit und flüsterte:

»Du mein lieber, armer, armer, Bruder!«

Beide lächelten einander wie zwei schwache kranke Kinder zu und ihre Lippen begegneten sich in einem brüderlichen Kusse.

Als der König den Herzog verlassen hatte, rief er den Kardinal:

»Brissonet, he, Brissonet! ... weißt du, man müßte sich doch eigentlich ... wie? ... seiner annehmen ... Man soll so etwas nicht dulden ... Ich bin ja Ritter ... Ich muß sie beschützen ... Hörst du? ...«

»Majestät,« erwiderte Brissonet ausweichend, »er muß so wie so sterben, wie sollten wir ihm auch helfen? Wir könnten uns nur selbst damit schaden: Herzog Moro ist ja unser Verbündeter ...«

»Herzog Moro ist ein Schurke ... ja, das ist er! ... und ein Mörder!« rief der König aus. Er schien jetzt ganz vernünftig und seine Augen flammten vor Zorn.

»Was soll man da tun?« entgegnete Brissonet achselzuckend, mit einem feinen herablassenden Lächeln: »Herzog Moro ist nicht besser und nicht schlimmer als die andern. Es ist Politik, Majestät! Wir sind ja alle nur Menschen ...«

Der Mundschenk brachte dem König einen Becher französischen Weines. Karl trank ihn gierig aus. Der Wein belebte ihn und zerstreute seine finsteren Gedanken.

Zugleich mit dem Mundschenk kam auch ein Abgesandter des Herzogs mit einer Einladung zur Abendtafel. Der König lehnte ab. Der Abgesandte flehte förmlich. Als er sah, daß so nichts auszurichten sei, flüsterte er Thibeaut etwas ins Ohr. Thibeaut nickte bejahend mit dem Kopf und flüsterte seinerseits dem König zu:

»Majestät, Madonna Lucrezia ...«

»Wie? Was gibt's? Was für eine Lucrezia? ...«

»Die Dame, mit der Ihr auf dem gestrigen Balle zu tanzen geruhtet.«

»Ach ja, gewiß! ... Ich besinne mich ... Madonna Lucrezia! ein wunderschönes Kind! ... Du sagst, daß sie bei der Abendtafel zugegen sein wird?«

»Sie wird ganz bestimmt dabei sein und sie fleht Ew. Majestät an ...«

»Sie fleht ... So! Nun, was meinst du, Thibeaut? Wie? Soll ich vielleicht doch ... Es ist ja schon alles gleich! Morgen rücken wir aus ... Also, zum letzten Mal ... Danket dem Herzog, Messere, und sagt ihm, daß ich vielleicht ...«

Der König nahm Thibeaut bei Seite.

»Hör einmal: wer ist Madonna Lucrezia?«

»Maitresse des Moro, Majestät.«

»Maitresse des Moro? So! Schade ...«

»Sire, nur ein Wort und wir ordnen die Sache. Wenn es Euch beliebt, noch heute.« »Nein! Nein! Es geht nicht. Ich bin ja hier Gast ...«

»Moro wird sich geehrt fühlen, Majestät. Ihr kennt ja das hiesige Gesindel nicht ...«

»Dann ist es gleich, ganz gleich ... Wie du willst. Es ist deine Sache ...«

»Majestät können sich auf mich verlassen. Nur ein Wort ...«

»Frage nicht ... Ich kann es nicht leiden ... Ich sagte ja: es ist deine Sache ... Ich weiß von nichts ... Wie du es willst ...«

Thibeaut verbeugte sich tief und schweigend.

Als der König die Treppe hinabstieg, verfinsterte sich wieder sein Gesicht. Er quälte sich mit einem Gedanken und rieb sich hilflos die Stirne.

»Brissonet, he, Brissonet! ... Wie glaubst du nun? ... Ja, was wollte ich noch sagen? ... Ach ja, gewiß ... Man muß sich seiner annehmen ... Er ist ja unschuldig ... und man hat ihn beleidigt ... Man darf es nicht so gehen lassen. Ich bin ja Ritter!«

»Sire, laßt diese Sorge, wir haben jetzt wirklich an andere Dinge zu denken, wir wollen es aufschieben, wenn wir die Türken besiegt und Jerusalem erobert haben und wieder hierher zurückkehren, dann können wir ...«

»Ja, gewiß, Jerusalem!« murmelte der König mit weit aufgerissenen Augen und einem verträumten Lächeln.

»Die Hand Gottes führt Ew. Majestät zum Siege!« fuhr Brissonet fort. »Der Finger Gottes weist dem kreuztragenden Heere den Weg.«

»Ja, der Finger Gottes! Der Finger Gottes!« wiederholte Karl VIII. feierlich, die Augen zum Himmel hebend.

VIII.

Der junge Herzog starb acht Tage darauf.

Vor dem Tode flehte er seine Frau an, Leonardo holen zu lassen. Sie schlug ihm diesen Wunsch ab, denn Monna Druda hatte ihr erzählt, daß die Behexten immer ein unwiderstehliches und für sie verderbliches Verlangen verspürten, denjenigen zu sehen, der sie behext hätte. Die Alte rieb den Kranken fleißig mit ihrer Skorpionssalbe ein und die Ärzte quälten ihn bis ans Ende mit Aderlassen.

Er starb friedlich.

»Dein Wille geschehe!« waren seine letzten Worte.

Moro ordnete die Überführung der Leiche aus Pavia nach Mailand und ihre Aufbahrung im Dome an.

Die Würdenträger versammelten sich im Mailänder Schloß. Lodovico versicherte, daß der frühe Tod seines Neffen sein Herz mit unendlichem Leid erfülle, und machte den Vorschlag, den kleinen Sohn des Gian-Galeazzo, den rechtmäßigen Thronfolger Francesco, zum Herzog auszurufen. Die Würdenträger wollten davon nichts hören, man dürfe nicht einen Unmündigen mit einer so großen Macht bekleiden. Im Namen des Volkes boten sie die Krone Herzog Lodovico an.

Moro zeigte anfangs Abneigung gegen diesen Vorschlag. Dann ging er aber mit erheucheltem Widerwillen auf ihn ein, als täte er es nur ihnen zu Liebe.

Man brachte ein Prunkgewand aus Goldbrokat und bekleidete damit Lodovico. Der neue Herzog ritt nun, von seinen Anhängern umgeben, die fortwährend: »Es lebe Moro! Es lebe der Herzog!« schrien, unter Fanfarengeschmetter, Kanonendonner und Glockengeläute zur Kirche St. Ambrogio. Das Volk verhielt sich bei diesem Aufzuge stumm.

Auf dem Marktplatz verlas ein Herold vor der Loggia della Osia an der Südseite des Rathauses den versammelten Stadtältesten, Konsuln, vornehmen Bürgern und Syndicis das Privileg, das von Maximilian, dem Kaiser des heiligen Römischen Reiches, dem Herzog Moro verliehen war:

»Maximilianus divina favente clementia Romanorum Rex semper Augustus, – alle Provinzen, Länder, Städte, Dörfer, Schlösser und Festungen, Berge, Weiden und Täler, Wiesen, Einöden, Flüsse, Seen, Jagden, Fischrechte, Salz- und Erzbergwerke, die Besitzungen der Vasallen, Markgrafen, Grafen und Barone, alle Klöster, Kirchen und Pfarren, Alles und Alle – verleihen wir dir, Lodovico Sforza und deinen Nachfolgern; Wir bestätigen, ernennen, erhöhen und wählen dich, deine Kinder, Enkel und Urenkel zu Selbstherrschern der Lombardei für ewige Zeiten«.

Einige Tage später wurde die feierliche Übertragung der heiligsten Reliquie Mailands – eines Nagels vom Kreuze Christi – in den neuen Dom angekündigt.

Moro wollte mit dieser Feier dem Volke gefällig sein und so seine Macht befestigen.

IX.

Nachts entstand vor dem Weinkeller Tibaldos auf dem Arrengo-Platze ein Menschenauflauf.

Mitten in der Menge stand auf einem Fasse der Dominikaner Fra Timoteo und predigte:

»Brüder! Als einst die heilige Helena unter dem Tempel der heidnischen Göttin Venus das Kreuz des Herrn und die andern Werkzeuge seiner Leiden, die von den Heiden in die Erde vergraben waren, gefunden hatte, befahl Kaiser Konstantin einen dieser heiligsten und schrecklichsten Nägel in den Zaum seines Schlachtrosses einzuschmieden, damit das Wort des Propheten Zacharias: ›Zu der Zeit wird auf den Schellen der Rosse stehen: Heilig dem Herrn!‹ in Erfüllung gehe. Dieses höchste Heiligtum schenkte ihm den Sieg über alle Feinde und Widersacher des Römischen Reiches. Nach dem Tode des Kaisers kam der Nagel abhanden; später wurde er von dem berühmten heiligen Ambrosius von Mailand in der Stadt Rom im Laden des Alteisenhändlers Paulino aufgefunden und nach Mailand gebracht. Seit jener Zeit besitzt unsere Stadt den kostbarsten und heiligsten dieser Nägel, nämlich den, mit dem die rechte Hand des Heilands auf dem Holze der Erlösung durchbohrt war. Sein genaues Maß beträgt fünf und eine halbe Oncien. Er ist länger und stärker als der in Rom und hat auch eine Spitze, während der römische stumpf ist. Unser Nagel befand sich drei Stunden lang in der Hand des Heilands, was vom gelehrten Pater Alessio durch viele überaus feine Syllogismen bewiesen wird.«

Fra Timoteo machte eine Pause und schrie dann laut mit zum Himmel erhobenen Armen:

»Und heute, meine Geliebten, geschieht ein großer Frevel: der Verbrecher, Mörder und Räuber des Throns – Moro verführt das Volk mit gottlosen Feiern, um mit diesem heiligsten Nagel seinen wankenden Thron zu befestigen!«

Die Menge wurde unruhig.

»Wißt ihr, meine Brüder,« fuhr der Mönch fort, »wer mit der Einrichtung der Maschine, welche den Nagel über den Altar unter der Hauptkuppel erheben soll, betraut wurde?«

»Wer?«

»Der Florentiner Leonardo da Vinci.«

»Leonardo? Wer ist er?« fragte man in der Menge.

»Wir kennen ihn,« erwiderten andere, »es ist derjenige, der den jungen Herzog mit vergifteten Früchten getötet hat ...«

»Ein Hexenmeister, Ketzer und Atheist!«

»Ich habe aber gehört,« wandte Corbolo schüchtern ein, »daß Messer Leonardo ein guter Mensch sei, der keinem bisher Böses getan, und auch die Tiere liebe ...«

»Schweige, Corbolo! Was redest du für Unsinn?«

»Kann denn ein Hexenmeister gut sein?«

»Meine Kinder!« erklärte Fra Timoteo: »einst werden die Menschen auch vom großen Verführer, der da in der Finsternis nahet, sagen: ›Er ist gut, er ist mild, er ist vollkommen,‹ denn sein Antlitz wird dem Antlitze Jesu gleichen und es wird ihm eine Stimme, lockend und süß wie die Stimme der Schalmei, gegeben werden, viele wird er durch seine falsche Güte verführen. Und er wird die Völker von allen vier Winden des Himmels zusammenrufen, wie das Feldhuhn mit seinem falschen Ruf eine fremde Brut in sein Nest lockt. Wachet, meine Brüder! Es nahet der Engel der Finsternis, der Herr dieser Erde, der Antichrist geheißen wird; er nahet in Menschengestalt und der Florentiner Leonardo – ist ein Diener und Vorläufer des Antichrist!«

Der Glasbläser Gorgoglio, der bisher noch nie von Leonardo gehört hatte, sagte mit großer Bestimmtheit:

»Es ist wirklich so! Er hat seine Seele dem Teufel verkauft und den Kaufpakt mit eigenem Blut unterschrieben.«

»Erbarme dich unser, heilige Mutter Gottes!« schnatterte die Händlerin Barbaccia. »Neulich erzählte mir Stamma, die beim Scharfrichter als Küchenmagd dient, daß dieser Leonardo – man soll seinen Namen nicht zur Nachtzeit nennen! – Leichen vom Galgen stehle, sie mit Messern aufschlitze und die Gedärme herausziehe ...«

»Davon verstehst du nichts, Barbaccia,« bemerkte Corbolo wichtigtuend: »es ist eine Wissenschaft, die Anatomie heißt ...«

»Man sagt, er hätte eine Maschine erfunden, um mit Vogelflügeln in der Luft zu fliegen,« teilte der Paramentenmacher Mascarello mit.

»Der alte geflügelte Drachen Beliar erhebt sich wider Gott,« erklärte Fra Timoteo. – »Auch der Magier Simon hatte sich in die Lüfte erhoben, er wurde vom Apostel Paulus gestürzt.« »Er geht auf dem Meere wie auf dem Trockenen und sagt: ›Der Herr ging über den Wassern, so werde ich es auch tun.‹ Solche Reden führt er!« erzählte Scarabullo.

»Er taucht in einer gläsernen Glocke auf den Meeresgrund!« fügte der Kürschner Maso hinzu.

»Unsinn, Brüder!« rief Gorgoglio. »Zu was braucht er eine Glocke!? Will er schwimmen, so verwandelt er sich in einen Fisch, will er fliegen, – in einen Vogel!«

»Dieser verfluchte Werwolf! Daß er verrecke ...« .

»Warum passen die Patres der Inquisition nicht besser auf? Der gehört doch auf einen Scheiterhaufen!«

»Man sollte ihm einen Espenpflock in die Gurgel treiben!«

»Wehe! Wehe uns!« heulte wieder Fra Timoteo. »Der Nagel, der heiligste Nagel ist in Leonardos Händen!«

»Das dulden wir nicht!« schrie Scarabullo mit geballten Fäusten. »Wir wollen lieber sterben, als daß wir die Schändung des Heiligtums dulden, wir werden dem Ketzer den Nagel entreißen!«

»Rache für den Nagel! Rache für den ermordeten Herzog!«

»Was tut ihr, Brüder!« rief der Schuhmacher bestürzt: »Gleich kommt ja die Nachtwache auf ihrem Rundgange her! Und der Kapitän der Giustizia ...«

»Zum Teufel den Kapitän! Scher dich zu deinem Weib unter den Rock, Corbolo, wenn du Angst hast!«

Mit Stöcken, Pfählen, Äxten, und Steinen bewaffnet, zog die Menge schreiend und fluchend durch die Straßen.

An der Spitze schritt der Mönch mit einem Kruzifix in den Händen, und sang den Psalm:

»Es stehe Gott auf, daß seine Feinde zerstreuet werden, und die ihn hassen, vor ihm fliehen.

»Vertreibe sie, wie der Rauch vertrieben wird; wie das Wachs zerschmilzt vom Feuer, so müssen umkommen die Gottlosen vor Gott.«

Die Pechfackeln rauchten und knisterten. In ihrem blutroten Scheine erblich die umgekehrte Sichel des einsamen Mondes. Die stillen Sterne erloschen.

X.

Leonardo arbeitete in seiner Werkstatt an der Maschine, die den heiligen Nagel hochheben sollte. Zoroastro fertigte den runden Glaskasten mit Goldstrahlen an, einen Behälter für das Heiligtum. In einer dunklen Ecke saß Giovanni Beltraffio und blickte ab und zu auf seinen Meister.

Leonardo vergaß über dem Studium der Kraftübertragung mittels Hebel und Flaschenzüge die Maschine.

Soeben hatte er eine komplizierte Berechnung abgeschlossen. Die innere Notwendigkeit der Vernunft, die Gesetze der Mathematik bestätigten die äußere Notwendigkeit der Natur, die Gesetze der Mechanik: so deckten sich zwei Geheimnisse zu einem noch größeren.

»Nie werden die Menschen etwas so Einfaches und Herrliches erfinden können,« sagte er sich mit einem stillen Lächeln, »wie es eine Naturerscheinung ist. Die göttliche Notwendigkeit zwingt mit ihren Gesetzen die Wirkung, auf kürzestem Wege der Ursache zu folgen.«

In seiner Seele hatte er das ihm wohlbekannte Gefühl eines ehrfurchtsvollen Erstaunens vor dem Abgrunde, in den er hineinblickte, ein Gefühl, das keinem andern der Gefühle, die den Menschen zugänglich sind, gleicht.

Auf den Rand des Blattes mit dem Entwurfe der Hebemaschine für den heiligen Nagel, neben die Gleichungen und Zahlen schrieb er die Worte, die seinem Herzen wie ein Gebet entströmten:

»O deine wunderbare Gerechtigkeit, du Urheber der ersten Bewegung! Du wolltest keiner Kraft die Ordnung und die Art ihrer notwendigen Wirkungen versagen: denn wenn eine Kraft, die einen Körper hundert Ellen weit fortbewegen soll, auf diesem Wege auf ein Hindernis stößt, so erzeugt die Kraft des Anpralles, weil du es so gewollt, neue Bewegungen und der nicht zurückgelegte Rest der Strecke wird durch die verschiedenen dabei entstehenden Stöße und Erschütterungen wieder eingebracht. O deine göttliche Notwendigkeit, du Urheber der ersten Bewegung!«

Da ertönte heftiges Pochen an die Haustüre, der Gesang von Psalmen, das Fluchen und Schreien der empörten Menge.

Giovanni und Zoroastro eilten hinaus um nachzusehen, was los sei.

Die Köchin Maturina sprang halbentkleidet und zerzaust aus ihrem Bette und stürzte laut schreiend in die Werkstatt:

»Räuber! Räuber! Hilfe! Mutter Gottes, beschütze uns!«

Marco d'Oggione kam mit einer Arkebuse herein und schloß eilig die Fensterladen.

»Was ist los, Marco?« fragte Leonardo.

»Ich weiß nicht. Das Gesindel will das Haus stürmen. Ich glaube, daß Mönche den Pöbel aufgewiegelt haben.«

»Was wollen sie?«

»Der Teufel mag sich bei dem verrückten Gesindel auskennen! Sie fordern den heiligen Nagel.«

»Ich habe ihn ja gar nicht hier. Er befindet sich in der Sakristei beim Erzbischof Archimbaldo.«

»Ich habe es ihnen auch gesagt. Sie wüten und wollen nichts hören. Sie nennen Ew. Gnaden den Mörder des Herzogs Gian-Galeazzo, einen Ketzer und Hexenmeister.«

Der Lärm auf der Straße wurde stärker. Man schrie:

»Macht auf! Macht auf! Oder wir verbrennen euer verdammtes Nest! Warte nur, Leonardo, du verdammter Antichrist, es geht dir an den Kragen!«

»Es stehe Gott auf, daß seine Feinde zerstreuet werden!« rief Fra Timoteo und in seinen Gesang mischten sich die schrillen Pfiffe des Gassenbuben Farfanicchio.

Der kleine Diener Jacopo sprang auf das Fensterbrett, öffnete einen Fensterladen und wollte auf die Straße hinausspringen. Aber Leonardo hielt ihn an einem Rockzipfel zurück.

»Wo willst du hin?«

»Ich will die Berrovieri holen: der Kapitän der Giustizia muß um diese Stunde mit seiner Wache hier vorbeikommen.«

»Was fällt dir ein? Gott sei mit dir, Jacopo! Sie werden dich noch fangen und töten.«

»Die fangen mich nie! Ich springe über die Mauer in den Gemüsegarten der Tante Trulla, dann über den Graben mit den Kletten, dann geht es über die Hinterhöfe ... Und wenn sie auch jemand töten, so lieber mich, als Euch!«

Der Knabe blickte Leonardo zärtlich und verwegen an, glitt aus seinen Händen, sprang zum Fenster hinaus, schrie noch von draußen: »Ich bringe Hilfe, fürchtet nichts!« herein und schlug den Laden zu.

»Ein ausgelassener Teufel!« sagte Maturina kopfschüttelnd. »Aber jetzt, in der Not, kann man ihn brauchen, vielleicht bringt er auch wirklich Hilfe ...«

In einem der oberen Fenster klirrten die Scheiben; man hatte es eingeworfen.

Die Köchin schrie und jammerte; sie schlug die Hände zusammen, stürzte hinaus, fand im Finstern tastend die steile Kellertreppe und kugelte hinunter. Dort verkroch sie sich in ein leeres Weinfaß und hätte da die ganze Nacht gesessen, wenn man sie nicht früher herausgeholt hätte.

Marco lief hinauf, um die Fensterläden zu schließen.

Giovanni kehrte bleich, niedergeschlagen und teilnahmslos in die Werkstatt zurück. Er wollte sich wieder in seine Ecke setzen, als er aber Leonardo gewahrte, ging er auf ihn zu und fiel vor ihm in die Knie.

»Was ist mit dir? Was hast du, Giovanni?«

»Meister, sie sagen ... Ich weiß ja, daß es nicht wahr ist ... Ich kann es nicht glauben ... Aber sagt, um Gotteswillen, sagt es mir selbst!«

Er keuchte und kam nicht weiter.

»Du zweifelst,« sagte Leonardo traurig lächelnd, »ob es wahr ist, was sie da sagen: daß ich ein Mörder bin?«

»Nur ein Wort! Nur ein Wort, Meister, aus Eurem Munde!«

»Was kann ich dir sagen, mein Freund? Und, wozu auch? Du wirst es mir doch nicht glauben, wenn du Zweifel hast ...«

»O Messer Leonardo!« rief Giovanni aus. »Ich quäle mich so sehr, ich weiß nicht, was mit mir vorgeht ... Ich werde wahnsinnig, Meister ... Ich kann nicht mehr ... Helft mir! Erbarmt Euch meiner! ... Sagt mir, daß es unwahr ist! ...«

Leonardo schwieg.

Dann wandte er sich von ihm ab und sagte mit bebender Stimme:

»Auch du bist mit ihnen und gegen mich!«

Plötzlich erzitterte das ganze Haus: der Verzinner Scarabullo bearbeitete die Türe mit einer Axt.

Leonardo hörte das Johlen des Pöbels und sein Herz wurde von der ihm wohlvertrauten stillen Wehmut, vom Gefühl unendlicher Einsamkeit ergriffen.

Er ließ seinen Kopf sinken und sein Blick fiel auf die Zeilen, die er erst eben niedergeschrieben:

»O deine wunderbare Gerechtigkeit, du Urheber der ersten Bewegung!«

»So ist es!« sagte er sich: »alles ist gut, alles kommt von Dir!«

Er lächelte und sprach in tiefer Demut die letzten Worte des Herzogs Gian-Galeazzo:

»Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel!«


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