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Elftes Buch

Wir werden Flügel haben!

I.

In Toskana, zwischen Pisa und Florenz in der Nähe von Empoli, liegt am westlichen Abhange des Monte Albano das Dorf Vinci – die Heimat Leonardos.

Nachdem Leonardo alle seine Geschäfte in Florenz geordnet hatte, wollte er vor seiner Abreise nach Romagna, wohin ihn Cesare Borgia berief, dieses Dorf besuchen, wo noch sein alter Onkel väterlicherseits, der durch Seidenzucht reich gewordene Ser Francesco da Vinci, lebte. Er war der einzige in der ganzen Familie, der den Neffen liebte. Der Künstler wollte ihn besuchen und, wenn möglich, in dessen Hause seinen Schüler Zoroastro da Peretola, der sich von den Folgen seines schrecklichen Sturzes noch immer nicht erholt hatte, unterbringen. Die Verletzungen Astros waren so schwer, daß er für den Rest seines Lebens wahrscheinlich ein Krüppel blieb. Der Meister glaubte, die Bergluft, die ländliche Stille und Ruhe würden ihm mehr als alle Arzneien nützen.

Leonardo verließ Florenz auf seinem Maultiere durch das Tor Al Prato ganz ohne Begleitung und folgte den Ufern des Arno. Bei der Stadt Empoli ließ er das Arnotal und die nach Pisa führende Landstraße abseits liegen und schlug einen schmalen Feldweg ein, der sich über niedere einförmige Hügel wand.

Der Himmel war bewölkt und es war nicht heiß. Die Sonne ging im Nebel unter und ihr trübes weißliches zerstreutes Licht kündete Nordwind an.

Die Aussicht zu beiden Seiten der Straße erweiterte sich ganz allmählich. Die Hügel stiegen fast unmerklich, gleichmäßig wie Wellen, und hinter ihnen ahnte man das Gebirge. Das Gras der Wiesen war wenig üppig und von einem blassen Grün. Die ganze Gegend sah mehr nordisch aus; alles war etwas blaß und armselig, die Farben grau und grün, ruhig und verschwommen. Auf den Feldern standen blasse Ähren, endlose Weinberge zogen sich, von Mauern umgeben, in die Ferne und in gleichen Abständen voneinander standen Olivenbäume mit festen, krummen Stämmen, die seltsam gewundene spinnenähnliche Schatten auf die Erde warfen. Ab und zu sah man vor einer einsamen Kapelle, vor einem verlassenen Landhause, in dessen gelben Mauern ganz unsymmetrisch vergitterte Fenster angebracht waren, oder vor einem ziegelgedeckten Schuppen für landwirtschaftliche Geräte, auf dem ruhigen Hintergrunde der schon einmal gesehenen grauen Berge Reihen kohlschwarzer, spindelförmiger Cypressen, wie man sie auf manchen alten Bildern der florentiner Schule findet.

Die Berge wurden anscheinend immer höher. Man fühlte eine langsame, doch ununterbrochene Steigung. Man atmete leichter. Der Reisende passierte Sant' Ausano, Calistri, Lucardi und die Kapelle von San Giovanni.

Der Abend brach an. Der Himmel heiterte sich auf und die Sterne wurden sichtbar. Plötzlich wurde es kühl: es war der Anfang des durchdringend kalten und reinen Nordwindes – Tramontano.

Plötzlich wurde bei der letzten scharfen Biegung des Weges das Dorf Vinci sichtbar. In der ganzen Gegend gab es keinen ebenen Fleck: die Hügel wurden zu Bergen, die Ebene zu Hügeln. An einem dieser Hügel, der nieder und spitz war, klebte das Dorf mit seinen engen, zwischen Steinmauern eingeschlossenen Straßen. Der schwarze Turm der alten Festung hob sich schlank und leicht vom abendlichen Himmel ab. In den Fenstern der Häuser sah man Licht.

Am Fuße des Berges stand am Kreuzwege in einer Mauernische ein von einem Lämpchen erleuchtetes Muttergottesbild. Es war aus weiß und blau glasiertem Ton, und der Künstler kannte es noch von seiner Kindheit her. Vor der Madonna kniete in gebückter Stellung und das Gesicht mit den Händen bedeckend, eine weibliche Gestalt in ärmlicher dunkler Kleidung, wohl eine Bauersfrau.

»Katharina!« flüsterte Leonardo den Namen seiner verstorbenen Mutter, die ja auch eine einfache Bauersfrau aus Vinci gewesen war.

Er passierte die Brücke, die über einen reißenden Bergbach führte, und schlug einen schmalen Pfad zwischen Gartenmauern nach rechts ein. Hier war es schon ganz finster. Eine von einer Mauer herabhängende Rosenranke streifte leise sein Gesicht, küßte ihn gleichsam im Finstern, und ein frischer Duft schlug ihm entgegen.

Vor einem alten Holztor, das in einer Mauer angebracht war, saß er ab. Er ergriff einen Stein und schlug an eine der Eisenklammern. Dieses Haus hatte einst seinem Großvater Antonio da Vinci gehört und gehörte jetzt seinem Onkel Francesco. Hier hatte Leonardo seine Kindheit zugebracht.

Auf sein Klopfen bekam er keine Antwort. Er hörte in der Stille den Strom Moline di Gatte in der Schlucht rauschen. Oben im Dorf bellten die Hunde, von Leonardos Klopfen geweckt. Ein wohl sehr alter Hund antwortete ihnen ganz heiser vom Hofe her.

Endlich kam ein krummer Greis mit einer Laterne. Er war schwerhörig und konnte lange nicht verstehen, wer der Gast sei. Als er es aber schließlich doch begriff, begann er vor Freude zu weinen und hätte beinahe seine Laterne fallen lassen. Er küßte dem vornehmen Herrn, den er vor vierzig Jahren auf seinen Armen getragen, die Hände und stammelte schluchzend: »O Signore, Signore, o mein Leonardo!« Der Hofhund wedelte so träge mit seinem hängenden Schweife, als tue er es nur seinem alten Herrn zu Liebe. Gian-Battisto – so hieß der alte Gärtner, – erzählte, Ser Francesco sei nach seinem Weinberge bei Madonna del'Erta verreist und wolle von dort aus noch nach Marciliana gehen, um sich da von einem alten Mönch mit einer Abkochung aus Tausendgüldenkraut wegen seiner Kreuzschmerzen behandeln zu lassen. Nach ein oder zwei Tagen werde er heimkehren. Leonardo wollte so lange warten, um so lieber, als am nächsten Tage Zoroastro und Giovanni Beltraffio aus Florenz eintreffen mußten.

Der Greis führte ihn ins Haus, das unbewohnt war; denn Francescos Kinder lebten in Florenz. Er lief geschäftig hin und her und rief endlich seine hübsche sechzehnjährige blonde Enkelin herbei, um ihr das Nachtmahl zu bestellen. Leonardo aber wollte sich mit etwas Vincianer Wein, Brot und Quellwasser begnügen; die Quelle in der Besitzung des Onkels war wegen ihres vorzüglichen Wassers berühmt. Trotzdem Ser Francesco einiges Vermögen besaß, lebte er ebenso bescheiden, wie sein Vater, Großvater und Urgroßvater gelebt hatten; dieses Leben mußte einem an die Bequemlichkeiten der Großstadt gewöhnten Menschen ärmlich erscheinen.

Der Künstler betrat das ihm so wohl vertraute Gemach im Erdgeschoß, das zugleich als Empfangszimmer und Küche diente. Die Ausstattung bestand aus einigen plumpen Stühlen, Bänken und Truhen aus dunklem und vom Alter spiegelblankem geschnitztem Holz und einer Kredenz mit schwerem Zinngeschirr; von den rauchgeschwärzten Deckenbalken hingen Bündel getrockneter Arzneikräuter herunter. Das Zimmer hatte einfach weiß getünchte Wände, einen steinernen Fußboden und einen mächtigen verrußten Kamin. Neu waren nur die dicken, grünlichen Butzenscheiben in den Fenstern. Leonardo erinnerte sich noch, wie in seiner Kindheit diese Fenster, wie in allen toskanischen Bauernhäusern, mit gewachster Leinwand überzogen waren, so daß im Zimmer auch am Tage Dämmerung herrschte. In den oberen Räumen, die als Schlafzimmer dienten, wurden die Fenster nur mit hölzernen Läden geschlossen, so daß im Winter, der in dieser Gegend manchmal sehr streng ist, zuweilen das Wasser in den Waschschüsseln einfror.

Der Gärtner machte Feuer aus duftendem Gebirgsheidekraut und Wacholder – Ginepri –, und zündete eine kleine Lampe an, die im Innern des Kamins an einer Messingkette herabhing. Sie war aus Ton, hatte einen langen engen Hals und Handgriff und glich jenen Lampen, die man in alten etruskischen Gräbern findet. In dem einfachen ärmlichen Zimmer erschien die vornehme, schlanke Form der Lampe noch reizvoller. Hier in diesem halbwilden Winkel der Toskana hatten sich im Blut und in der Sprache, im Hausgerät und in den Sitten der Einwohner noch einzelne Anklänge an den uralten Etruskerstamm erhalten.

Während das junge Mädchen den Tisch deckte und ein rundes flaches ungesäuertes Brot, eine Schüssel mit Lattichsalat in Essig, einen Krug Wein und getrocknete Feigen herbeischaffte, stieg Leonardo die knarrende Treppe zu den oberen Räumen hinauf. Auch hier war noch alles beim Alten. Die Mitte des geräumigen niederen Zimmers nahm ein riesengroßes quadratisches Bett ein, in dem eine ganze Familie Platz finden konnte. In diesem Bette schlief einst Leonardo mit seiner guten Großmutter Monna Lucia, der Frau Antonio da Vincis. Dieses Familienheiligtum gehörte jetzt dem Onkel Francesco. Wie vor Jahren hing auch jetzt am Kopfende des Bettes ein Kruzifix, ein Weihwasserbecken, ein Bündel grauen trockenen Grases, das »Nebel« – »Nebbia« hieß, und ein uraltes Papierblatt mit einem lateinischen Gebet.

Er ging wieder hinunter, setzte sich zum Herdfeuer, trank den mit Wasser vermischten Wein aus einer runden Holzschale, deren frischer Olivenholzduft ihn wieder an seine früheste Kindheit erinnerte, und versank, sobald sich Gian-Battisto und seine Enkelin zurückgezogen hatten, in seine ruhigen, klaren Gedanken.

II.

Er dachte an seinen Vater, den Notar der Florentiner Kommune, Ser Piero da Vinci, den noch rüstigen siebzigjährigen Greis mit rotem Gesicht und silberweißen Locken, den er noch vor einigen Tagen in Florenz gesehen hatte. Der Alte bewohnte da ein selbsterworbenes Haus in der Gibellino-Straße. Leonardo hatte noch nie einen Menschen gesehen, der mit einer so ursprünglichen Liebe am Leben hing, wie Ser Piero. Vor Jahren war der Notar seinem natürlichen erstgeborenen Sohne mit väterlicher Liebe zugetan. Als aber die beiden legitimen Söhne Antonio und Giuliano heranwuchsen, fürchteten sie, der Vater werde ihrem älteren Bruder das gleiche Erbteil vermachen, wie ihnen; daher gaben sie sich Mühe, zwischen Leonardo und dem Vater Feindschaft zu stiften. Bei seinem letzten Besuch in der Familie fühlte er sich allen fremd. Sein Bruder Lorenzo, ein tüchtiger Kaufmann von der florentiner Wollhändlerinnung, der zwar noch ein Knabe an Jahren, aber schon eifriger Savonarola-Schüler war und zu den »Greinern« gehörte, zeigte besondere Empörung über die zu jener Zeit stadtbekannte Gottlosigkeit Leonardos. Er unterhielt sich oft mit dem Künstler in Gegenwart des Vaters über den christlichen Glauben, über die Notwendigkeit von Buße und Einkehr und über die ketzerischen Ansichten einiger neueren Philosophen. Zum Abschied schenkte er ihm ein von ihm selbst verfaßtes frommes Buch.

Am Herde des alten Familienzimmers sitzend, holte Leonardo dieses mit einer sauberen Kaufmannshandschrift engbeschriebene Buch hervor.

»Buch der Beichte, von mir, Lorenzo di Ser Piero da Vinci, verfaßt und für meine Schwägerin Nanna bestimmt. Ein gar nützliches Buch für alle, die ihre Sünden beichten wollen. Nimm dies Buch und lies: wenn du im Register deine eigene Sünde findest, so schreibe sie dir heraus; aber die Sünden, die du nicht begangen, lasse aus: sie werden vielleicht einem anderen nützlich sein; denn sei überzeugt, daß auch tausend Zungen diesen Stoff nicht bewältigen können.«

Diesem Titel folgte das vom jungen Wollhändler mit peinlicher Genauigkeit zusammengestellte Register aller möglichen Sünden; dann kamen acht fromme Betrachtungen, »die jeder Christ vor der Beichte in seiner Seele haben müsse.«

Lorenzo erörterte mit theologischem Ernst die Frage, ob es sündhaft sei, Tuch und andere Wollwaren zu tragen, für die kein Zoll entrichtet wurde. »Was die Seele betrifft,« hieß es da, »so kann ihr das Tragen von ausländischen Stoffen keinerlei Schaden zufügen, insofern die Zölle ungerecht sind. In diesem Punkte könnt ihr ein ruhiges Gewissen haben, ihr geliebten Brüder und Schwestern! Wenn mir aber jemand sagt: Lorenzo, worauf begründest du deine Meinung, wenn du so über die ausländischen Tuchwaren sprichst?, – so antworte ich: als ich mich im vergangenen Jahre 1499 in geschäftlichen Angelegenheiten in Pisa aufhielt, hörte ich in der Kirche San-Michele die Predigt eines Mönches vom Orden des heiligen Dominicus, eines gewissen Fra Sanobi, der mit einer erstaunlichen Menge wissenschaftlicher Argumente die gleiche Ansicht über die ausländischen Tuchwaren verfocht, die ich jetzt verfechte.«

Zum Schluß erzählte er im gleichen langweiligen und weitschweifigen Ton, wie ihn der Teufel lange am Schreiben dieses frommen Buches gehindert und ihm u. a. vorgehalten habe, daß er nicht über die notwendige Gelehrsamkeit und einen schönen Stil verfüge und daß es einem guten Wollhändler besser zieme, sich um seinen Laden zu kümmern, als Bücher geistlichen Inhalts zu verfassen. Als er diese Versuchungen des Teufels glücklich überwunden, sei er zur Ansicht gelangt, daß es hier nicht so sehr auf Gelehrsamkeit und einen guten Stil ankomme, wie auf christliche Gottesfurcht und Glaubensstärke; und so habe er mit der Hilfe Gottes und der heiligen Jungfrau Maria dieses Buch vollendet, das er nun seiner Schwägerin Nanna, sowie allen Brüdern und Schwestern in Christo widme.

Leonardo blieb bei einem Passus stehen, wo Lorenzo von den vier christlichen Tugenden sprach und, vielleicht nicht ohne Hintergedanken an seinen Brüder, den berühmten Künstler, den Malern den Rat erteilte, sie durch folgende Allegorien darzustellen: die Weisheit mit drei Gesichtern, was besagen sollte, daß sie in die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft schaue; die Gerechtigkeit mit Schwert und Wage; die Kraft mit einer Säule, an die sie sich lehnt; die Mäßigkeit mit einem Zirkel in der einen Hand und einer Schere in der andern, »mit der sie jeden Überfluß abschneidet und kürzt.«

Aus dem Buche schlug Leonardo der ihm wohlbekannte Geruch von kleinbürgerlicher Tugendhaftigkeit entgegen, die seine Kinderjahre beherrscht hatte und in der Familie von Geschlecht auf Geschlecht vererbt wurde.

Schon hundert Jahre vor seiner Geburt waren die Ahnen des Hauses Vinci ebenso sparsame, tüchtige und gottesfürchtige Beamte der Florentiner Kommune, wie es jetzt sein Vater war. In Urkunden aus dem Jahre 1339 wird der Ururgroßvater des Künstlers, ein gewisser Ser Guido di Ser Michele da Vinci, Notar der Signoria, zuerst erwähnt.

Seinen Großvater Antonio sah er wie lebendig vor sich. Die Lebensweisheit des Alten glich vollkommen der seines Enkels Lorenzo. Er lehrte seine Söhne, nie nach Höherem zu streben; weder nach Ruhm und Ehren, noch nach staatlichen oder militärischen Ämtern, weder nach übermäßigem Reichtum, noch nach übermäßiger Gelehrsamkeit. Er pflegte zu sagen:

»Der goldene Mittelweg ist der einzig sichere Weg.«

Leonardo konnte sich noch gut an den ruhevollen und würdigen Ton erinnern, mit dem der Alte diese Grundlehre vom goldenen Mittelweg dozierte.

»Meine Kinder, nehmt euch die Ameisen zum Vorbild, die schon heute an die Sorgen von morgen denken. Seid sparsam, seid mäßig. Mit wem soll ich den guten Hausherrn und Familienvater vergleichen? Ich vergleiche ihn mit der Spinne, die im Mittelpunkte ihres weiten Netzes sitzt und auf das leiseste Zittern eines der Fäden sofort zur betreffenden Stelle eilt.«

Er verlangte, daß alle Familienmitglieder Abend für Abend beim Ave-Läuten zu Hause versammelt seien. Er machte selbst die Runde durch den ganzen Besitz, sperrte eigenhändig die Tore ab und versteckte die Schlüssel unter sein Kissen. Nichts in der Wirtschaft – wie gering es auch sei – entging seinem stets wachenden Auge: ob die Stiere zu wenig Heu bekommen, ob die Magd den Lampendocht zu hoch eingesetzt hatte, so daß zu viel Öl verbrannte, – alles merkte er sofort und überall griff er ein. Dabei war er gar nicht geizig. Er wählte für seine Kleidung immer das beste und teuerste Tuch und veranlaßte auch seine Kinder, das gleiche zu tun: denn teures Tuch sei haltbarer und die daraus gefertigten Kleider seien nicht nur vornehmer, sondern auch billiger.

Die Familie sollte, nach Ansicht des Großvaters, stets unter einem Dache zusammenbleiben und einen gemeinsamen Haushalt führen: »wenn alle an einem Tische essen, so genügt ein Tischtuch und eine Kerze; bei zwei getrennten Tischen braucht man aber zwei Tischtücher und zwei Kerzen; wenn alle bei einem Herde sitzen, genügt ein Bündel Holz, aber für zwei Herde braucht man zwei Bündel. So ist es auch in allen anderen Dingen.«

Auf die Frauen sah er von oben herab: »sie haben sich nur um die Küche und um die Kinder zu kümmern und sollen ihre Nase nicht in die Angelegenheiten des Mannes stecken. Nur ein Narr glaubt an den weiblichen Verstand.«

Die Weisheit Ser Antonios war nicht ohne List:

»Meine Kinder,« lehrte er: »seid barmherzig, wie es unsere heilige Mutter Kirche vorschreibt; doch zieht die glücklichen Freunde den unglücklichen und die reichen den armen vor. Gerade darin besteht die höchste Lebenskunst: den Listigen zu überlisten und dabei tugendhaft zu bleiben.«

Er lehrte sie, die Obstbäume so an der Grenzlinie zwischen eigenem und fremdem Besitz zu pflanzen, daß der Schatten nur auf das Feld des Nachbars falle; oder, daß man einem Menschen, der um ein Darlehen bittet, eine abschlägige und dabei freundliche Antwort geben müsse.

»Hier ist der Vorteil doppelt,« fügte er hinzu, »denn erstens behaltet ihr dabei euer Geld und zweitens habt ihr noch das Vergnügen, über den, der euch betrügen wollte, zu lachen. Wenn der Betreffende klug ist, so wird er euch verstehen und euch für die freundliche Art, mit der ihr ihm seine Bitte abgeschlagen, noch mehr schätzen. Ein Schwindler nimmt, ein Narr gibt. Aber den Verwandten und Hausgenossen sollt ihr nicht nur mit Geld, sondern auch mit Schweiß und Blut helfen und nicht nur eure Ehre, sondern auch euren ganzen Besitz und selbst euer Leben dem Wohle der Familie opfern. Denn, meine Geliebten, ehrenvoller und vorteilhafter ist es, seinen Angehörigen Gutes zu tun, als Fremden.«

Der Künstler saß nun nach dreißigjähriger Abwesenheit wieder am heimatlichen Herd, hörte den Wind heulen, sah die Glut im Kamin erlöschen und überdachte, wie sein ganzes Leben eine ununterbrochene Verletzung der sparsamen, uralten Ameisen- und Spinnenweisheit seines Großvaters gewesen sei: es war vielmehr jene wilde Unmäßigkeit, jener gesetzwidrige Überfluß gewesen, den, nach Ansicht Lorenzos, die Göttin der Mäßigkeit mit ihrer eisernen Schere beschneiden sollte.

III.

Am nächsten Morgen verließ er ganz früh, als der Gärtner noch schlief, das Haus, durchquerte das ärmliche Dorf Vinci, dessen hohe schmale Häuser sich am Abhange des Hügels um die Festung drängten, und stieg den steilen Weg zum nächsten Dorf – Anchiano – empor.

Das Sonnenlicht war wie am Vortage trüb und blaß, beinahe winterlich, der Himmel war wolkenlos und kalt und hatte selbst zu dieser frühen Stunde einen lilafarbigen Rand. Der Tramontano war über Nacht steifer geworden. Der Wind kam nicht mehr ruckweise wie gestern, sondern in einem gleichmäßig starken Zug direkt vom Norden; er pfiff und schien steil vom Himmel zu stürzen. Leonardo sah wieder die gleichen einförmigen blassen und stillen, wenig üppigen Felder, die hier auf dieser Höhe noch mehr an eine nordische Landschaft erinnerten; an den Abhängen der Hügel lagen in halbrunden Stockwerken – »Monde« nannten sie die Einwohner von Vinci – dürre Weinberge. Die Gräser waren weder saftig, noch üppig; abgeblühter Mohn und staubig-graue Olivenbäume, deren kräftige schwarze Äste im Winde ruckweise, gleichsam vor Schmerz zusammenzuckten, vervollständigten die Landschaft.

Als Leonardo das Dorf Anchiano erreicht hatte, blieb er stehen, denn er erkannte die Gegend nicht wieder. Er konnte sich erinnern, daß hier einst ein halbzerfallenes Schloß Adimari gelegen, in dessen zu jener Zeit noch erhaltenem Turme sich ein kleines Wirtshaus befunden hatte. Nun sah er aber auf dieser Stelle, auf dem sogenannten Campo della Torraccia, zwischen den Weinbergen, ein neues weißes Haus stehen. Hinter einer niederen Mauer arbeitete ein Bauer an den Weinreben. Er erzählte dem Künstler, daß der Besitzer des Wirtshauses gestorben sei und seine Erben den Besitz an einen reichen Schafzüchter aus Orbignano verkauft hätten; dieser habe den Hügel vom Mauerwerk gesäubert und einen Weinberg und einen Olivenhain angelegt.

Leonardo erkundigte sich nicht ohne Grund nach diesem Wirtshause: denn hier stand seine Wiege.

Hier bei der Einfahrt in das arme Bergdorf befand sich vor fünfzig Jahren bei der Landstraße, die über Monte Albano aus dem Nievole-Tale nach Prato und Pistoja führte, in der finsteren Ruine des Ritterschlosses Adimari eine lustige Dorfschenke – Osteria. Über der offenen Türe, durch die der Blick auf Reihen von Fässern, Zinnkrügen und bauchigen Tonflaschen fiel, hing auf verrosteten knarrenden Eisenhaken das Schild mit der Inschrift »Bottigleria«. Unter den frischen sonnendurchschienenen Reben, die das Haus umwucherten, sahen wie zwei kurzsichtige, schelmisch lächelnde Augen – zwei Gitterfenster ohne Glasscheiben, mit altersgeschwärzten Laden hervor; die Stufen vor der Türe waren von den Füßen der unzähligen Besucher glattgescheuert. Die Bewohner der Nachbarortschaften machten auf ihrem Wege zum Jahrmarkt von San-Mignato und Fucechio oft einen Abstecher in diese Osteria; auch die Gemsenjäger, Maultiertreiber, florentiner Grenzzollwächter – Doganieri und andere anspruchslose Leute besuchten gerne die Wirtschaft, wenn sie ein wenig plaudern, ein Glas herben Wein trinken und eine Partie Dame, Karten, Domino, Zara oder Tarocca spielen wollten.

Ein sechzehnjähriges Mädchen, namens Katharina, ein armes Waisenkind aus Vinci, war hier als Schankmagd angestellt.

Im Frühjahr 1451 kam der junge florentiner Notar Piero di Ser Antonio da Vinci in das Dorf Vinci, um hier seinen Vater zu besuchen. Einmal wurde er in seiner Eigenschaft als Notar nach Anchiano berufen: er sollte einen Vertrag über die langfristige Pacht eines sechsten Teiles von einer Ölpresse abfassen. Nachdem die Bedingungen des Vertrages festgelegt und rechtsgiltig unterschrieben worden waren, luden die Parteien den Notar in die Osteria nach Campo della Toraccia, um den Abschluß des Geschäftes bei einem Glase Wein zu feiern. Ser Piero, der stets einfach und selbst im Umgange mit geringen Leuten liebenswürdig war, folgte gerne dieser Einladung. Katharina bediente. Der junge Notar verliebte sich, wie er später selbst erzählte, gleich beim ersten Blick in das Mädchen. Unter dem Vorwande, auf Wachteln jagen zu wollen, verschob er seine Abreise auf den Herbst und verkehrte den ganzen Sommer über fast täglich in der Schenke. Er machte dem Mädchen eifrig den Hof; doch sie erwies sich unzugänglicher, als er ursprünglich gedacht hatte. Ser Piero genoß nicht umsonst den Ruf eines Bezwingers weiblicher Herzen. Er war damals vierundzwanzig Jahre alt, trug sich elegant, war schön, kräftig, geschmeidig und verfügte in Liebessachen über eine ausgezeichnete Rednergabe, durch welche Frauen aus dem Volke leicht geködert werden können. Katharina widerstand ihm lange; sie flehte die heilige Jungfrau um Beistand an, mußte ihm schließlich aber doch nachgeben. Um die Zeit, wenn die von den saftigen Herbsttrauben fettgewordenen toskanischen Wachteln aus dem Nievole-Tale wegziehen, war sie bereits schwanger.

Das Gerücht über das Verhältnis Ser Pieros mit der armen Waise, dem Schenkmädchen aus der Osteria zu Anchiano, kam auch bald Ser Antonio da Vinci zu Ohren. Er drohte ihm mit dem väterlichen Fluche und schickte ihn sofort nach Florenz zurück. Im gleichen Winter verheiratete er ihn – »um den Burschen zur Vernunft zu bringen« – mit Madonna Albiera di Ser Giovanni Amadori, die weder jung, noch schön war, aber aus einer geachteten Familie stammte und eine anständige Mitgift hatte; zu gleicher Zeit verheiratete er Katharina mit seinem Taglöhner Accattabriga di Piero del Vacca, einem armen Bauer aus Vinci. Dieser war ein älterer, finsterer, streitsüchtiger Mann und es hieß, daß er seine erste Frau oft in betrunkenem Zustande geprügelt hätte und daß diese an den Folgen solcher Behandlung gestorben sei. Accattabriga erklärte sich bereit, gegen eine Vergütung von dreißig Florins und ein winziges Stück Olivenhain, die fremde Sünde mit seinem Namen zu decken. Katharina fügte sich drein ohne zu murren. Doch sie wurde krank vor Gram und wäre nach der Niederkunft beinahe gestorben. Sie hatte auch keine Milch. Der kleine Leonardo – so hieß das Kind – wurde daher mit der Milch einer Ziege vom Monte Albano großgezogen. Auch Piero fügte sich, trotz seiner Sehnsucht nach Katharina, die er noch immer liebte, in sein Schicksal; er setzte aber durch, daß der Vater das Kind in sein Haus aufnahm. Um jene Zeit schämte man sich nicht seiner natürlichen Kinder; man zog sie fast immer mit den legitimen Kindern auf und schätzte sie oft höher als diese. Der Großvater erfüllte die Bitte um so lieber, als die erste Ehe seines Sohnes kinderlos blieb. Er überließ das Kind der Obhut seiner Frau, der guten alten Großmutter Monna Lucia di Piero Sofi da Bacaretto.

So wurde Leonardo, das uneheliche Kind des vierundzwanzigjährigen florentiner Notars und der von ihm verführten Schenkmagd des Wirtshauses von Anchiano, in die tugendhafte und gottesfürchtige Familie der da Vinci aufgenommen.

Im Archiv der Stadt Florenz befand sich im »Catastro« des Jahres 1457 eine eigenhändige Eintragung des Großvaters und Notars Antonio da Vinci:

»Leonardo, unehelicher Sohn des obigen Piero und der Katharina, jetzigen Frau des Accattabriga di Pier del Vacca da Vinci, fünf Jahre alt.«

Leonardo konnte sich noch dunkel an seine Mutter erinnern. Ihr zartes unergründliches, leicht dahingleitendes, etwas schelmisches Lächeln, das sich so sonderbar auf ihrem einfachen, traurigen, strengen, schönen Gesicht ausnahm, hatte er für immer im Gedächtnis bewahrt. Einmal sah er zu Florenz, im Museum der Medici-Gärten von San-Marco, ein in der alten etrurischen Stadt Arezzo ausgegrabenes Bildwerk. – eine kleine kupferne Kybele, die uralte Göttin der Erde. Und sie hatte das gleiche sonderbare Lächeln, wie seine Mutter, die junge Bäuerin aus Vinci.

Folgende Worte aus seinem »Traktat von der Malerei« galten der Katharina:

»Hast du denn nie bemerkt, daß die ärmlich gekleideten Frauen aus den Bergen mit ihrer Schönheit oft die anderen reicher gekleideten Frauen besiegen?«

Leute, die seine Mutter in der Jugend kannten, behaupteten, daß Leonardo ihr gliche. Seine feinen langen Hände, sein seidenweiches blondes Haar und sein Lächeln erinnerten an Katharina. Vom Vater hatte er den kräftigen Körperbau, Gesundheit und die Liebe zum Leben; von der Mutter die weibliche Anmut, von der sein ganzes Wesen erfüllt war.

Das Häuschen, in dem Katharina mit ihrem Manne lebte, lag in der Nähe von Ser Antonios Villa. Zur Mittagszeit, als der Großvater sein Schläfchen hielt und Accattabriga sich mit seinen Ochsen auf die Feldarbeit begab, schlich sich der Knabe zum Weinberg, kletterte über die Mauer und lief zu seiner Mutter. Sie saß mit ihrem Spinnrocken auf dem Hausflur und erwartete ihn. Sie streckte ihm ihre Arme entgegen, er fiel ihr an die Brust und sie bedeckte mit ihren Küssen sein Gesicht, Augen, Mund und Haar.

Noch besser gefielen ihnen die nächtlichen Begegnungen. An Festtagen ging der alte Accattabriga abends ins Wirtshaus oder zu seinen Freunden, um mit ihnen Würfel zu spielen. Leonardo schlich sich nachts aus dem alten Familienbett, in dem er mit der Großmutter Lucia schlief, kleidete sich halb an, öffnete vorsichtig einen Fensterladen, kletterte aus dem Fenster, ließ sich an den Ästen eines alten Feigenbaumes herab und lief zu seiner Mutter. Die Kühle des staubbedeckten Grases, die Schreie der nächtlichen Vögel, die Brennesseln und die spitzen Steine, an denen er seine nackten Füße verbrannte und verwundete, das Funkeln der fernen Sterne, die Angst, daß die Großmutter erwachen und ihn vermissen könnte, und das Geheimnis der gleichsam verbotenen Liebkosungen, mit denen ihn seine Mutter empfing, wenn er zu ihr unter die Decke kroch und sich mit seinem ganzen Körper an den ihrigen schmiegte, – dies alles war ihm unsagbar süß und von höchster Wonne erfüllt.

Monna Lucia liebte und verhätschelte ihren Enkel. Er konnte sich noch an das dunkelbraune Kleid, das die Großmutter immer trug, erinnern, an das weiße Kopftuch, das ihr dunkles, von Runzeln durchfurchtes gutmütiges Gesicht umrahmte, an die stillen Lieder, mit denen sie ihn in den Schlaf sang und an den leckeren Geruch des in Sahne bereiteten »berlingozzo«, des ländlichen Kuchens, den sie für ihn buk.

Mit dem Großvater aber kam er nicht so gut aus. Anfangs unterrichtete Ser Antonio seinen Enkel selbst. Der Knabe folgte dem Unterricht mit Widerwillen. Mit sieben Jahren kam er in die Schule bei der Kirche Santa Petronilla. Doch das Latein reizte ihn wenig.

Oft schwänzte er die Schule und verbrachte die Schulstunden in irgend einem Graben oder einer schilfbewachsenen Schlucht; er legte sich da platt auf den Rücken und verfolgte oft stundenlang mit neidischen Augen die vorüberziehenden Kraniche. Oder er betrachtete die Blumen, die er, ohne sie vom Stiel zu brechen, ganz behutsam in die Hand nahm, um in ihre Kelche hineinzublicken und den feinen Bau der zartbehaarten Blüten, der honigbedeckten Staubfäden und Narben zu bewundern. So oft Ser Antonio in die Stadt reiste, lief der kleine Nardo, die Güte seiner Großmutter mißbrauchend, für ganze Tage in die Berge. Er kletterte auf Pfaden, die nur den Ziegen bekannt waren, über gähnende Abgründe, auf steile Abhänge, erklomm die kahlen Gipfel des Monte Albano, und genoß von da aus die Aussicht auf die weiten Wiesen, Felder und Haine, den sumpfigen See Fucechio, Pistoja, Florenz, Prato und die schneebedeckten Apuanischen Alpen; bei klarem Wetter sah er zuweilen den schmalen bläulichen Streifen des Mittelländischen Meeres. Von solchen Ausflügen kehrte er zerschunden, schmutzig, sonnenverbrannt, aber so lustig nach Hause zurück, daß Monna Lucia nicht den Mut hatte, auf ihn zu schelten oder ihn beim Großvater zu verklagen.

Der Knabe wuchs einsam heran. Den guten Onkel Francesco und seinen Vater, der ihm zuweilen aus der Stadt Süßigkeiten mitbrachte, sah er nur selten, denn beide verbrachten den größeren Teil des Jahres in Florenz. Unter den Schulkollegen hatte er keinen einzigen Freund. Ihre Spiele waren ihm fremd. Wenn sie einem Schmetterling die Flügel ausrissen und sich dann an seinen Schmerzen ergötzten, zuckte es in seinem Gesicht, er erblich und lief davon. Nachdem er einmal gesehen, wie die alte Haushälterin zum Feste ein mit Milch gemästetes Ferkel abstach, das ihren Händen zu entschlüpfen suchte und herzzerreißend schrie, weigerte er sich längere Zeit, ohne den Grund anzugeben, Fleisch zu essen, worüber sich Ser Antonio nicht wenig ärgerte.

Die Schuljungen hatten einmal unter Führung des ausgelassenen, klugen und boshaften Rosso einen Maulwurf gefangen. Nachdem sie sich an seinen Qualen geweidet, banden sie dem halbtoten Tier eine Schnur ans Bein und wollten ihn den Schäferhunden vorwerfen. Leonardo, der stark und gewandt war, stürzte in die Kinderschar, warf drei Knaben um, entriß den erstaunten Jungen, die von dem sonst stillen Nardo einen solchen Überfall nicht erwartet hatten, den Maulwurf und lief mit ihm ins Feld. Als sich die Kameraden von ihrem Erstaunen erholt hatten, jagten sie ihm schreiend, johlend, pfeifend und schimpfend nach und bewarfen ihn mit Steinen. Der lange Rosso, der fünf Jahre älter als Nardo war, packte ihn an den Haaren und so entstand eine wüste Balgerei. Aber Leonardo hatte sein Ziel erreicht: dem Maulwurf gelang es bei der allgemeinen Schlägerei zu entweichen und sich in Sicherheit zu bringen. Im Feuer des Gefechts hatte Leonardo, sich gegen Rosso wehrend, diesen leicht am Auge verletzt. Rossos Vater, der Koch bei einem in der Nähe wohnenden Edelmanne war, beschwerte sich beim Großvater. Ser Antonio geriet außer sich und wollte den Enkel empfindlich strafen. Aber die Fürbitte der Großmutter rettete den Knaben vor der Züchtigung. Der Großvater beschränkte sich darauf, daß er Nardo für einige Tage in die Kammer unter der Treppe sperrte.

Als er später an diese erste Ungerechtigkeit der langen Reihe, die er zu erdulden hatte, zurückdachte, fragte er sich in seinem Tagebuche:

»Wenn man dich schon als Kind ins Gefängnis sperrte, als du nach deinem Gewissen handeltest, was wird man mit dir erst jetzt tun, da du erwachsen bist?«

In der finsteren Kammer beobachtete der Knabe, wie eine Spinne, deren Netz von einem durch eine Ritze fallenden Sonnenstrahl gestreift in allen Farben des Regenbogens schillerte, eine Fliege aussaugte. Das Opfer schlug mit den Flügeln und summte immer leiser und leiser. Nardo konnte sie retten, wie er den Maulwurf gerettet hatte. Aber ein unbestimmtes Gefühl, dem er nicht widerstehen konnte, hielt ihn davon zurück: er ließ die Spinne ruhig ihr Opfer verzehren und beobachtete die Gier des ungeheuerlichen Insektes mit der gleichen leidenschaftslosen und unschuldigen Neugier, mit der er die Geheimnisse der zarten Blüten erforschte.

IV.

In der Nähe von Vinci baute der Florentiner Architekt Biagio da Ravenna, ein Schüler des großen Alberti, eine Villa für den Signor Pandolfo Ruccelai. Leonardo ging öfters zur Baustelle und beobachtete, wie die Arbeiter die Mauern aufführten, die Steine mit Hilfe eines Winkelmaßes richteten und sie mit Maschinen hoben. Als sich Ser Biagio einmal mit dem Knaben in ein Gespräch einließ, mußte er über seinen klaren Verstand staunen. Er brachte ihm anfangs scherzend, dann ganz ernsthaft die Elemente der Arithmetik, Algebra, Mechanik und Geometrie bei. Die Auffassungsgabe des Knaben erschien dem Lehrer ungewöhnlich, beinahe wunderbar: es war, als erinnere sich das Kind beim Unterricht an Dinge, die es schon früher gewußt hatte.

Der Großvater fand wenig Gefallen an der eigentümlichen Veranlagung des Enkels. Auch seine Linkshändigkeit gefiel ihm nicht, denn sie galt als schlimmes Vorzeichen. Man behauptete, daß die Menschen, die einen Pakt mit dem Teufel unterschreiben, also alle Zauberer und Hexenmeister, linkshändig auf die Welt kämen. Dies feindselige Gefühl wurde noch stärker, als eine weise Frau aus Faltugnano dem Alten erzählte, das alte Weib aus dem entlegenen Städtchen Fornelzo, der die schwarze Ziege gehörte, mit deren Milch Leonardo großgezogen wurde, sei eine Hexe gewesen. Wie leicht war es möglich, daß sie, um dem Teufel einen Gefallen zu tun, die Milch der Ziege behext hatte.

»Es muß schon etwas Wahres dabei sein,« dachte sich der Großvater. »Der Wolf läßt wohl seine Haare, aber nicht seine Mucken. Aber so ist wohl Gottes Wille. Jede Familie hat ihre Mißgeburt.«

Der Großvater erwartete mit Ungeduld, daß ihn sein Lieblingssohn Piero mit der Geburt eines legitimen Enkels und würdigen Stammhalters beglücke; denn Leonardo war in dieser Familie ein wirklicher Bastard und gleichsam ein Findelkind.

Die Bergbewohner von Monte Albano erzählten von einer Eigentümlichkeit dieser Gegend: der weißen Färbung auffallend vieler Tiere und Pflanzen. Wer es nicht mit eigenen Augen gesehen, wird schwer daran glauben; aber dem Wanderer, der die Wiesen und Wälder von Monte Albano genau kennt, sind da schon oft weiße Veilchen, weiße Erdbeeren, weiße Spatzen aufgefallen und selbst in den Nestern schwarzer Drosseln wurden schon weiße Junge gefunden. Daher hieß auch der Berg – so behaupteten wenigstens dessen Bewohner – seit altersher der Weiße Berg – Monte Albano.

Der kleine Nardo war eines der Wunder des Weißen Berges: er war eine Mißgeburt in der tugendhaften und spießbürgerlichen Familie des florentiner Notars, ein weißes Junges im Neste schwarzer Drosseln.

V.

Als der Knabe dreizehn Jahre alt war, nahm ihn sein Vater zu sich nach Florenz. Seit dieser Zeit kam Leonardo nur selten in seine Heimat.

In den Tagebüchern des Künstlers befindet sich folgende kurze Eintragung, rätselhaft wie fast alle anderen, vom Jahre 1493, also aus der Zeit, als er bereits in den Diensten des Mailänder Herzogs stand:

»Katharina ist hier am 16. Juli 1493 angekommen.«

Man könnte glauben, daß hier von einer neu aufgenommenen Dienstmagd die Rede sei. In der Tat war hier aber Leonardos Mutter gemeint.

Nach dem Tode ihres Gatten Accattabriga di Pier del Vacca kam Katharina das Verlangen, vor ihrem Tode noch einmal den Sohn zu sehen; denn sie fühlte, daß sie bald ihrem Mann in den Tod folgen würde.

Sie schloß sich an einige Wallfahrerinnen an, die aus dem Toskanischen in die Lombardei zur Verehrung der Reliquien des heiligen Ambrosius und des heiligsten Nagels Christi zogen und kam mit ihnen nach Mailand. Leonardo nahm sie mit großer Liebe und Ehrfurcht auf.

In ihrer Gesellschaft fühlte er sich als der frühere kleine Nardo, der vor Jahren zu ihr barfuß gelaufen kam und sich unter ihre Bettdecke verkroch, um sich an sie zu schmiegen.

Die Alte wollte nach dem Wiedersehen mit dem Sohne wieder in ihr Heimatsdorf reisen. Leonardo aber hielt sie zurück und brachte sie in dem in der Nähe seiner Wohnung am Vercellina-Tor gelegenen Kloster Santa-Clara unter, wo er für sie eine geräumige Zelle gemietet und behaglich eingerichtet hatte. Im Kloster erkrankte sie, mußte das Bett hüten, doch weigerte sie sich, in sein Haus überzusiedeln, um ihm nicht zur Last zu fallen. Daher brachte sie Leonardo in das beste Mailänder Krankenhaus – das vom Herzog Francesco Sforza erbaute palastartige Ospedale Maggiore, wo er sie jeden Tag besuchte. In den letzten Tagen ihrer Krankheit wich er nicht von ihrem Bett. Dabei blieb der Aufenthalt Katharinas in Mailand Leonardos Freunden und sogar Schülern unbekannt. In seinen Tagebüchern erwähnte er die Mutter nie. Nur einmal ist von ihr die Rede; doch ganz nebenbei, als er seine Eindrücke über ein interessantes, oder, wie er sich ausdrückte, – »märchenhaftes« Gesicht eines von einer schweren Krankheit heimgesuchten jungen Mädchens niederschrieb, das ihm im Krankenhause, in dem seine Mutter starb, aufgefallen war:

»Giovannina – viso fantastico – sta, asca Catarina all'ospedale.«

»Giovannina – ein märchenhaftes Antlitz – frage bei Katharina im Krankenhause nach.«

Als er zum letzten Mal ihre erkaltende Hand mit seinen Lippen berührte, schien es ihm, daß er dieser armen bescheidenen Bäuerin aus Vinci alles, was er besaß, zu verdanken habe. Er veranstaltete ein prunkvolles Begräbnis, als ob Katharina nicht ein bescheidenes Schenkmädchen aus dem Wirtshause zu Anchiano, sondern eine vornehme Dame gewesen wäre. Mit der bekannten, von seinem Vater, dem Notar, ererbten Genauigkeit, mit der er ganz unnötigerweise die Auslagen für Knöpfe, Silbertressen und rosa Atlas zu einem neuen Kleide für Andrea Salaino aufzeichnete, schrieb er sich nun auch die Kosten der Beerdigung seiner Mutter auf.

Als er sechs Jahre später, im Jahre 1500, schon nach dem Sturze Moros, vor seiner Abreise aus Mailand nach Florenz seine Sachen einpackte, fand er in einem seiner Schränke ein sorgfältig verschnürtes Bündel. Es enthielt die ländlichen Geschenke, die ihm Katharina aus Vinci mitgebracht hatte: zwei Hemden aus grober grauer Leinwand, die sie selbst gewebt hatte, und drei paar gleichfalls selbstverfertigter Socken aus Ziegenwolle. Er trug diese Sachen nicht, da er an seine Wäsche gewöhnt war. Als er aber dieses unter wissenschaftlichen Büchern und mathematischen Modellen und Maschinen verlorene Bündel erblickte, fühlte er, wie sich sein Herz mit Wehmut erfüllte.

Bei allen seinen späteren einsamen und traurigen Reisen und Wanderungen von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, vergaß er nie dieses unnötige armselige Bündel mit den Hemden und Socken mitzunehmen und er verwahrte es stets mit den anderen Dingen, die ihm besonders lieb waren, vor profanen Blicken.

VI.

Diese Erinnerungen gingen Leonardo durch den Kopf, während er den ihm aus seinen Kindertagen vertrauten steilen Pfad zum Monte Albano emporstieg.

Unter einem Felsvorsprung, an einer vom Winde geschützten Stelle setzte er sich auf einen Stein, um etwas auszuruhen. Er sah vor sich niedrige knorrige Eichen mit vorjährigem trocknem Laub, mattgrünes duftendes Heidekraut, das in dieser Gegend »scopa« – »Besen« genannt wird, und blasse wilde Veilchen. Über allen diesen Pflanzen schwebte ein eigentümlicher frischer Duft, der bald an Frühling erinnerte, bald von Wermut, oder von irgendwelchen unbekannten Berggräsern zu kommen schien. Der gewellte Horizont fiel zum Arnotale ab. Rechts türmten sich kahle Berge mit gewundenen Schattenlinien und Rissen und lilagrauen Abgründen. Zu seinen Füßen lag Anchiano, ganz weiß in der Sonne. Noch tiefer in der Ebene klebte an einem runden und oben spitzen Hügel, einem Wespennest gleich, das Dorf Vinci, dessen Festungsturm ebenso spitz und schwarz war, wie die beiden Cypressen an der Anchiano-Straße.

Nichts hatte sich da verändert: es war so, als wäre er erst gestern hier herumgeklettert. Auch jetzt, wie vor vierzig Jahren, wuchsen hier die blassen Veilchen und die üppige Scopa, rauschte das dunkelbraune Laub der eingeschrumpften Eichen, blaute der öde Monte Albano. Und die ganze Landschaft war einfach, ärmlich, still und blaß, beinahe nordisch. Durch diese Stille und Farblosigkeit schimmerte aber zuweilen die feine, unergründliche Anmut des edelsten Landes der Welt – des einstigen Etruriens und jetzigen Toskana, des ewig lenzlichen Landes der Renaissance; es war wie das rätselhafte zarte Lächeln auf dem ernsten schönen Gesicht der jungen Bäuerin aus Vinci, der Mutter Leonardos.

Er erhob sich und stieg den steilen Pfad hinan. Je höher er kam, desto kälter und grimmiger wurde der Wind.

Wieder traten Erinnerungen an ihn heran; diesmal an seine Jünglingsjahre.

VII.

Der Notar Ser Piero da Vinci hatte Glück in allen seinen Unternehmen. Er war tüchtig, immer gut aufgelegt und gutmütig und gehörte zu jenen Leuten, bei denen alles wie geschmiert geht und die auch ihre Mitmenschen leben lassen. Er konnte mit beliebigen Leuten auskommen; mit den geistlichen Herren stand er aber auf besonders gutem Fuß. Ser Piero wurde daher Vertrauensmann des reichen Klosters der Heiligsten Annunziata und noch vieler anderer milder und gottgefälliger Stiftungen; dies ermöglichte ihm, seinen Besitz abzurunden, indem er immer neue Parzellen, Häuser und Weinberge in der Gegend von Vinci ankaufte. Dabei änderte er aber nichts an seiner früheren Lebensweise und blieb immer der Lebensweisheit Ser Antonios treu. Aber zur Ausschmückung der Kirchen steuerte er gern große Summen bei; um die Ehre seiner Familie zu verherrlichen, stiftete er für die Familiengruft der da Vinci in der Florentiner Badia eine Grabplatte.

Als seine erste Frau Albiera Amadori starb, war er achtunddreißig Jahre alt. Er tröstete sich sehr bald und heiratete ein blutjunges reizendes Mädchen, fast noch ein Kind, Francesca di Ser Giovanni Lanfredini. Aber auch diese zweite Ehe blieb kinderlos. Um jene Zeit wohnte Leonardo mit seinem Vater im Hause eines gewissen Michele Brandolini auf dem Platze San Firenze, in der Nähe des Palazzo Vecchio. Ser Piero wollte seinem natürlichen Erstgeborenen eine gute Erziehung zuteil werden lassen, ohne mit dem Gelde zu geizen, um ihn mit der Zeit, aus Ermangelung legitimer Kinder, zu seinem Erben und natürlich auch zu einem Florentiner Notar, wie es alle ältesten Söhne im Hause da Vinci waren, zu machen.

In Florenz lebte zu jener Zeit der berühmte Naturforscher, Mathematiker, Physiker und Astronom Paolo dal Pozzo Toscanelli. Dieser hatte bekanntlich an Columbus einen Brief geschrieben, in dem er ihm durch Berechnungen bewies, daß der Seeweg nach Indien durch die Antipodenländer unmöglich so weit sein könne, wie man annahm; er ermunterte ihn zu der Reise und sagte ihm einen sicheren Erfolg voraus. Ohne Hilfe und Ermunterung Toscanellis hätte Columbus seine Entdeckung nie gemacht; der große Seefahrer war nur ein gefügiges Werkzeug in der Hand des Gelehrten, der in seiner Klause alles durchdacht und berechnet hatte. Toscanelli lebte abseits vom glänzenden Hofe Lorenzo Medicis und ging den eleganten und unfruchtbaren Schwätzern, den Neoplatonikern aus dem Wege. Er lebte nach dem Zeugnisse der Zeitgenossen »wie ein Heiliger«: er war Schweiger, Faster, verachtete das Geld, aß nie Fleisch und blieb bis an sein Lebensende vollkommen keusch. Sein Gesicht war häßlich, beinahe abstoßend. Aber seine leuchtenden, klaren und kindlichen Augen waren schön.

Als einmal im Jahre 1470 zu einer späten Abendstunde ein ihm unbekannter junger Mann an die Türe seines Hauses in der Nähe des Palazzo Pitti klopfte, nahm ihn Toscanelli höchst kühl und unfreundlich auf, denn er glaubte, der Gast sei lediglich aus Neugierde zu ihm gekommen. Als er aber eine Weile mit Leonardo gesprochen hatte, überkam ihn das gleiche Staunen über das mathematische Genie des Jünglings, wie einst den Baumeister Ser Biagio da Ravenna. Ser Paolo nahm ihn als Schüler auf. In klaren Sommernächten stiegen sie beide auf den in der Nähe von Florenz gelegenen Hügel Poggio al Pino, auf dessen Gipfel zwischen Heidekraut, wohlriechendem Wacholder und schwarzen harzigen Tannen eine halbzerfallene Holzhütte stand, die dem großen Astronomen als Observatorium diente. Er eröffnete dem Schüler alles, was er selbst von den Naturgesetzen wußte.

Aus diesen Gesprächen schöpfte Leonardo seinen Glauben an die neue, den Menschen noch unbekannte Macht des Wissens.

Der Vater hinderte ihn nicht an diesem Studium, nur riet er ihm, sich irgendeinen einträglichen Beruf zu wählen. Als er bemerkte, daß sein Sohn viel zeichnete und modellierte, zeigte er einige seiner Arbeiten dem ihm befreundeten Goldschmied, Maler und Bildhauer Andrea del Verrocchio.

Bald darauf trat Leonardo zu Verrocchio in die Lehre.

VIII.

Verrocchio, der Sohn eines armen Ziegelarbeiters, war siebzehn Jahre älter als Leonardo.

Wenn Ser Andrea mit der Brille auf der Nase und der Lupe in der Hand am Arbeitstische in seiner halbzerfallenen Werkstätte – Bottega, in der Nahe des Ponte Vecchio in einem alten, windschiefen Häuschen mit durchfaulten Balken und vom schmutzig grünen Wasser des Arno umspülten Mauern saß, so konnte man ihn eher für einen gewöhnlichen florentiner Krämer, als für einen großen Künstler halten. Sein Gesicht mit dem Doppelkinn war ausdruckslos, flach, weiß, rund und aufgedunsen. Nur seine feinen festzusammengepreßten Lippen und der durchdringende spitze Blick seiner kleinen Augen verrieten einen kalten, scharfen und furchtlos-forschenden Geist.

Andrea hielt sich für einen Schüler des alten Meisters Paolo Uccello. Man erzählte, daß dieser Uccello sich viel mit abstrakter Mathematik, die er in den Dienst der Kunst stellen wollte, und mit den schwierigsten perspektivischen Problemen abgegeben hätte; von allen verachtet und verlassen, sei er gänzlich verarmt und beinahe verrückt geworden. Ganze Tage soll er ohne Speise, ganze Nächte ohne Schlaf verbracht haben. Manchmal, wenn er so mit offenen Augen im Bette lag, weckte er seine Frau mit dem begeisterten Rufe:

»Wie süß ist doch die Perspektive!«

Er starb von allen verlacht und von niemand erkannt.

Verrocchio hielt wie Uccello die Mathematik für die gemeinsame Grundlage von Kunst und Wissenschaft und behauptete, die Geometrie, die einen Teil der Mathematik, der »Mutter aller Wissenschaften« bilde, sei zugleich auch »die Mutter der Zeichnung, der Mutter aller Künste«. Das vollkommene Wissen und der vollkommene Genuß am Schönen waren für ihn gleichbedeutend. Wenn ihm ein Gesicht oder ein anderer Körperteil durch Häßlichkeit oder Schönheit auffiel, so wandte er sich nicht angeekelt ab und vergaß sich nicht in Bewunderung, wie es andere Künstler, z.B. Sandro Botticelli, taten, sondern studierte und machte Gipsabgüsse vom Gesehenen, was vor ihm noch niemand getan hatte. Mit unendlicher Geduld verglich, maß und erforschte er die Erscheinungen, denn er witterte in den Gesetzen der Schönheit Gesetze der mathematischen Notwendigkeit. Er suchte noch unermüdlicher als Sandro nach einer neuen Schönheit; doch suchte er sie weder im Wunder, noch im Märchen, noch in jenem verführerischen Halbdunkel, wo sich der Olymp mit Golgatha vermengt, wie es Sandro tat, sondern in einer so tiefgehenden Erforschung der Geheimnisse der Natur, wie sie noch niemand unternommen hatte; denn für Verrocchio war nicht das Wunder eine Wahrheit, sondern die Wahrheit ein Wunder.

Jener Tag, an dem ihm Ser Piero da Vinci seinen achtzehnjährigen Sohn gebracht hatte, besiegelte das Schicksal der beiden. Andrea wurde nicht nur der Lehrer, sondern auch der Schüler seines Schülers Leonardo.

Auf dem von den Mönchen von Vallombrosa bei Verrocchio bestellten Bilde, das die Taufe des Heilands darstellte, hatte Leonardo den knienden Engel gemalt. Alles, was Verrocchio vorahnte und wie ein Blinder tastend suchte, hatte Leonardo gefunden und in dieser Gestalt Fleisch werden lassen. Man erzählte später, Verrocchio sei darüber, daß sein Schüler ihn übertroffen, in solche Verzweiflung geraten, daß er die Malerei ganz aufgab. In Wirklichkeit bestand zwischen den beiden keinerlei Feindschaft. Sie ergänzten wunderbar einander: der Schüler hatte jene Leichtigkeit, die Verrocchio abging, und der Meister jene Hartnäckigkeit und Fähigkeit sich zu konzentrieren, die die Natur dem vielseitigen und unbeständigen Leonardo versagt hatte. Sie waren aufeinander weder neidisch, noch eifersüchtig und wußten oft selbst nicht, wer von beiden unter dem Einflusse des anderen stand.

Um jene Zeit war Verrocchio mit dem Gusse der Bronzegruppe des Heilands mit Thomas für Or San Michele beschäftigt.

Nach allen den paradiesischen Gesichtern des Fra Beato und den Märchenphantasien Botticellis war diese Gestalt des Thomas, der seine Finger in die Wunden des Heilands legt, der erste, und auf Erden noch nie dagewesene Ausdruck der Vermessenheit des Menschen vor Gott, der prüfenden Vernunft vor dem Wunder.

IX.

Die erste Arbeit Leonardos war ein Entwurf zu einem goldgewirkten Vorhang, den die Florentiner Bürger als Geschenk für den König von Portugal in Flandern bestellen wollten. Die Zeichnung stellte den Sündenfall dar. Der gegliederte Stamm einer der paradiesischen Palmen war mit solcher Vollendung ausgeführt, daß ein Augenzeuge und Zeitgenosse ausrief: »Beim Gedanken, daß ein Mensch so viel Geduld haben könne, steht einem der Verstand still.« Das weibliche Antlitz der Schlange atmete verführerische Schönheit und man glaubte ihre Worte zu hören:

»Ihr werdet mit nichten des Todes sterben; sondern Gott weiß, daß, welches Tags ihr davon esset, so werden eure Augen aufgetan, und werdet sein wie Gott, und wissen, was gut und böse ist.«

Das Weib streckte ihre Hand nach dem Baume der Erkenntnis mit dem gleichen Lächeln verwegener Neugier aus, mit dem auf dem Werke Verrocchios Thomas der Ungläubige seine Finger in die Wunden des Gekreuzigten legt.

Im Auftrage seines Nachbars, eines Bauers aus Vinci, der ihm oft bei Jagd und Fischfang behilflich war, bat Ser Piero einst seinen Sohn, irgend etwas auf einem runden Holzschilde »Rotella« zu malen, solche Schilder mit allegorischen Bildern und Inschriften wurden zum Schmucke der Häuser verwendet.

Der Künstler beschloß nun auf diesem Schilde ein Ungeheuer darzustellen, das dem Betrachter den gleichen Schrecken wie das Haupt der Medusa einflößen sollte.

Er sammelte in seinem Zimmer, das stets verschlossen war, eine Menge Eidechsen, Schlangen, Heimchen, Spinnen, Tausendfüßer, Nachtfalter, Skorpione, Fledermäuse und andere häßliche Tiere. Indem er nun einzelne Körperteile der verschiedenen Tiere wählte, vergrößerte und kombinierte, schuf er ein übernatürliches Ungeheuer, das keinem der existierenden glich und dabei doch möglich erschien; aus Elementen der Wirklichkeit entwickelte er das Phantastische mit der gleichen Überzeugungskraft, mit der Pythagoras und Euklid aus einem geometrischen Lehrsatz einen neuen entwickelten.

Das Ungeheuer kroch aus einer Felsspalte, und man glaubte zu hören, wie es mit seinem schwarzglänzenden, schlüpfrigen, geringelten Bauch auf der Erde rasselte, Aus dem offenen Rachen kam ein stinkender Hauch, die Augen sprühten Flammen, die Nüstern Rauch. Das Sonderbarste dabei war aber, daß das schreckliche Ungeheuer den Betrachter ebenso gefangen nahm und anzog, wie irgend etwas unsagbar Schönes.

Leonardo verbrachte Tage und Nächte im verschlossenen Zimmer, dessen Luft von den krepierten Tieren so sehr verpestet war, daß man nur mit Mühe atmen konnte. Obwohl Leonardo sonst beinahe überempfindlich war und keinen üblen Geruch vertragen konnte, bemerkte er diesen Gestank gar nicht. Endlich erklärte er seinem Vater, das Bild sei nun fertig, er könne es abholen. Als Ser Piero kam, bat er ihn, noch etwas im Nebenzimmer zu warten. Er selbst aber ging in die Werkstatt, stellte das Bild auf eine Staffelei, drapierte diese mit schwarzem Tuch und schloß fast alle Läden, so daß nur ein Lichtstrahl das Bild traf. Dann rief er Ser Piero herein. Beim Anblicke des Bildes schrie dieser auf und taumelte erschrocken zurück, denn er glaubte, ein lebendiges Ungeheuer vor sich zu haben. Der Künstler verfolgte aufmerksam, wie im Gesichte des Vaters der Ausdruck des Schreckens in den des Erstaunens überging und sagte lächelnd:

»Das Bild erreicht seinen Zweck und wirkt so, wie ich es haben wollte. Nehmt es, denn es ist fertig.«

Im Jahre 1481 bekam er von den Mönchen von San Donato a Scopeto den Auftrag, ein Altarbild mit der Anbetung der heiligen drei Könige zu malen.

In dem Entwurfe zu diesem Bilde zeigte er eine solche Kenntnis der Anatomie und des Ausdruckes menschlicher Gefühle in den Körperbewegungen, wie sie vor ihm noch kein Meister besessen hatte.

Im Hintergrunde des Bildes waren Szenen aus dem Leben der alten Hellas zu sehen: – lustige Spiele, Reiterwettkämpfe, schöne nackte Jünglinge und eine Tempelruine mit halbzerfallenen Bogen und Treppen. Im Schatten eines Olivenbaumes saß auf einem Steine die heilige Jungfrau mit dem Jesuskinde. Sie lächelte kindlich und voller Erstaunen darüber, daß zu dem in der Krippe Geborenen fürstliche Gäste aus fremden Ländern gekommen sind und daß sie ihm ihre Schätze, Weihrauch, Myrrhen und Gold, alle Gaben der irdischen Größe, darbringen. Die Könige ließen ihre Häupter, müde von der Last ihrer tausendjährigen Weisheit, sinken, sie schützten mit den Händen ihre halbblinden Augen und schauten auf das Wunder, das größer als alle Wunder war: auf das Wunder der Geburt Gottes in Menschengestalt; und sie fielen auf ihr Angesicht vor dem, der einst sprechen wird: »Wahrlich, ich sage euch: Es sei denn, daß ihr euch umkehret, und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.«

In diesen beiden ersten Werken ist Leonardos ganzer Gedankenkreis enthalten: im Sündenfall – die Weisheit der Schlange und die Vermessenheit der Vernunft; in der Anbetung der Weisen – die Einfalt der Taube und die Demut des Glaubens.

Dieses Bild blieb übrigens unvollendet, wie fast alle seine folgenden Arbeiten. Er strebte nach unerreichbarer Vollkommenheit und schuf sich selbst Schwierigkeiten, die der Pinsel nicht bewältigen konnte: »Der übermäßige Durst ließ ihn nie Erquickung finden« lautet eine Stelle bei Petrarca.

Die zweite Frau Ser Pieros, Madonna Francesca, starb nach kurzer Ehe. Ser Piero verheiratete sich zum dritten Mal und zwar mit einer gewissen Margherita, der Tochter des Ser Francesco di Gulielmo; sie brachte ihm 365 Florins als Mitgift. Die Stiefmutter mochte Leonardo nicht leiden; sie haßte ihn namentlich seit der Zeit, als sie ihren Gatten mit der Geburt zweier Söhne, Antonio und Giuliano, beglückt hatte.

Leonardo war ein Verschwender. Ser Piero unterstützte ihn, wenn auch nicht besonders freigebig. Monna Margherita vergällte ihrem Mann das Leben mit fortwährenden Vorwürfen, weil er sein Geld, das doch einst den legitimen Erben zufallen sollte, an »diesen Findling, Bastard und Zögling der Hexenziege«, wie sie Leonardo nannte, weggebe.

Unter seinen Kollegen in Verrocchios Bottega und in den anderen Werkstätten hatte er viele Feinde. Einer dieser Feinde verfaßte eine anonyme Anzeige, in der er auf die ungewöhnliche Freundschaft zwischen Lehrer und Schüler hinwies und sie beide der Sodomie beschuldigte. Diese Verleumdung fand leicht Glauben, denn Leonardo, der in Florenz als der schönste Jüngling galt, ging den Frauen stets aus dem Wege. »Seine ganze Erscheinung,« erzählt ein Zeitgenosse, »strahlt in solcher Schönheit, daß bei seinem Anblicke jede vergrämte Seele heiter wird.«

Um jene Zeit verließ er Verrocchios Werkstatt und bezog eine eigene Wohnung. Schon damals waren Gerüchte über Leonardos »ketzerische Ansichten« und »Gottlosigkeit« im Umlauf. Der Aufenthalt in Florenz wurde ihm immer unerträglicher.

Ser Piero vermittelte ihm einen vorteilhaften Auftrag von Lorenzo Medici. Doch gelang es Leonardo nicht, ihn zufrieden zu stellen. Lorenzo verlangte von seiner Umgebung vor allem eine wenn auch verfeinerte, aber doch immer sklavische Verehrung. Menschen, die zu dreist und frei waren, mochte er nicht leiden.

Die Untätigkeit bedrückte Leonardo. In der Suche nach Arbeit knüpfte er sogar durch Vermittlung der Gesandtschaft des ägyptischen Sultans Kaid-Bey, die sich gerade in Florenz aufhielt, Unterhandlungen mit einem syrischen Würdenträger an, in dessen Dienste er als erster Baumeister treten wollte, obwohl er wußte, daß er sich in diesem Falle von Christo lossagen und in den muhammedanischen Glauben übertreten müßte.

Er mußte unbedingt aus Florenz fort, ganz gleich wohin, denn er fühlte, daß er zugrunde gehen würde, wenn er da noch länger bliebe.

Ein Zufall kam ihm zur Hilfe. Er erfand eine vielsaitige, silberne Laute, die die Form eines Pferdeschädels hatte. Lorenzo der Prächtige, der großer Musikliebhaber war, fand Gefallen an der ungewöhnlichen Form und am Ton des Instruments. Er schlug dem Erfinder vor, nach Mailand zu gehen und die Laute dem Herzog von Mailand, Lodovico Sforza Moro, als Geschenk darzubringen.

Im Jahre 1482 verließ Leonardo, der damals dreißig Jahre alt war, Florenz und ging nach Mailand, und zwar nicht in der Eigenschaft eines Künstlers oder Gelehrten, sondern nur in der eines Hofmusikers. Vor seiner Abreise schrieb er dem Herzog Moro:

»Durchlauchtigster Signor, nachdem ich die Arbeiten der neuesten Erfinder von Kriegsmaschinen studiert und untersucht habe, bin ich zu dem Ergebnis gekommen, daß sie sich durch nichts von den schon bekannten und im allgemeinen Gebrauch befindlichen Maschinen unterscheiden. Daher erlaube ich mir, mich an Ew. Durchlaucht zu wenden, um Euch die Geheimnisse meiner Kunst zu eröffnen.«

Dann kam eine Aufzählung seiner Erfindungen: leichte und unverbrennbare Brücken; eine neue Methode, mit Bombarden jede Festung und Zitadelle, wenn sie nur nicht einem Felsen eingebaut ist, zu zerstören; eine Methode, rasch und geräuschlos unterirdische Gänge und Minen unter Gräben und Flüssen anzulegen; gedeckte Wagen, die sich in die Reihen der Feinde einschneiden und die in ihrem Laufe durch keine Kraft aufgehalten werden können: Bombarden, Kanonen, Mörser, Passavolanten von einer neuen »herrlichen und gar nützlichen Konstruktion«; Sturmböcke, Schleudermaschinen und andere Geräte »von einer wunderbaren Wirkungskraft« und außerdem noch für jeden Einzelfall neu zu erfindende Maschinen; Angriffs- und Verteidigungswaffen für Seeschlachten, Schiffe, deren Wandungen steinernen und eisernen Kanonenkugeln widerstehen können und schließlich ganz neue und unbekannte Explosivstoffe.

»Zu Friedenszeiten,« so schloß der Brief, »hoffe ich Ew. Durchlaucht als Baumeister zufrieden zu stellen, denn ich kann öffentliche und private Bauten aufführen und Kanäle und Wasserleitungen anlegen.

»Auch in der Kunst der Bildhauerei in Marmor, Ton und Erz und in der Malerei kann ich beliebige Aufträge nicht schlechter als jeder andere ausführen.

»Auch bin ich erbötig, aus Bronze ein Pferd zu gießen, das den ewigen Ruhm Eures hochseligen Herrn Vaters und des ganzen berühmten Hauses Sforza verherrlichen wird.

»Wenn Euch aber eine von den oben erwähnten Erfindungen unwahrscheinlich vorkommen sollte, so will ich sie Euch gern probeweise ausführen und vorführen, sei es im Schloßparke, sei es an einem andern Ort, nach Angabe Ew. Durchlaucht, deren gnädigem Wohlwollen ich mich als gehorsamster Diener empfehle.

Leonardo da Vinci.«

Als er die ersten schneebedeckten Alpengipfel über der grünen Lombardischen Ebene aufleuchten sah, fühlte er, daß für ihn nun ein neues Leben beginnen und er in diesem fremden Lande eine zweite Heimat finden würde.

X.

So kamen Leonardo die fünfzig Jahre seines Lebens in Erinnerung, während er zum Monte Albano hinaufstieg.

Er näherte sich bereits dem Passe, der auf der Spitze des Weißen Berges lag. Der Pfad ging jetzt schnurgerade und ohne Windungen zwischen trockenem Gesträuch und kleinen krummen Eichen mit vorjährigem Laub hinauf. Die trüben lilagrauen Berge erschienen ihm so wild, unheimlich und öde, als ob sie nicht der Erde, sondern einem andern Planeten angehörten. Der Wind blies ihm ins Gesicht, stach ihn gleichsam mit eiskalten Nadeln und blendete seine Augen. Zuweilen riß sich unter seinem Fuße ein Stein los und rollte polternd in den Abgrund.

Er stieg immer höher und höher. In diesem anstrengenden Aufstieg fand er die eigentümliche ihm noch von seiner Kindheit her bekannte Freude wieder: er wurde Herr über diese unfreundlichen, finsteren, windumwehten Berge und mit jedem Schritte wurde sein Blick weiter und schärfer, denn die Ferne wurde immer unendlicher und klarer.

Hier war nichts mehr vom Frühling zu sehen: auf den Bäumen waren noch keine Knospen und das Gras grünte noch nicht. Es roch nur nach feuchtem Moos. Aber auf der Höhe, zu der er emporstieg, war nichts als nacktes Gestein und blasser Himmel. Die Ebene, in der Florenz lag, war von hier aus nicht mehr sichtbar. Aber die ganze unendliche Ebene gegen Empoli lag vor seinen Blicken: zuerst kamen lilagraue Berge mit breiten Schatten, Vorsprüngen und Abgründen, dann zogen sich die unendlichen Hügel von Livorno über Castellino-Maritimo und Volterrano bis San-Gimignano. Er sah nur weiten Raum, Luft und Leere vor sich, der schmale Pfad verschwand gleichsam unter seinen Schritten und er flog auf Riesenflügeln über den welligen Fernen dahin. Hier schienen die Flügel natürlich und notwendig und ihr Fehlen erfüllte die Seele mit Staunen und Angst. Dieses Empfinden hat wohl ein Mensch, dessen Beine plötzlich versagen.

Er erinnerte sich noch, wie er als Kind die dahinziehenden Kraniche mit den Blicken verfolgt und vor Neid geweint hatte, wenn sie ihren kaum hörbaren Schrei vernehmen ließen, der wie ein Zuruf »Fliegen wir! Fliegen wir!« klang. Er erinnerte sich auch, wie er im geheimen die Staare und Grasmücken seines Großvaters aus den Vogelbauern fliegen ließ und sich an der Freude der Befreiten ergötzte; wie ihm einmal der Mönch, der sein Lehrer war, von Ikarus, dem Sohne des Daedalus, erzählt hatte, der sich auf Flügeln, die mit Wachs zusammengefügt waren, in die Lüfte schwang und dabei abstürzte, und wie er auf die Frage des Lehrers, wer der größte unter den Helden des Altertums gewesen sei, geantwortet hatte: »Ikarus, der Sohn des Daedalus«. Er erinnerte sich auch noch an das Erstaunen und die Freude, die ihn erfüllten, als er auf dem Campanile des Domes Maria del Fiore unter den Basreliefs Giottos, die alle Künste und Wissenschaften darstellen, zuerst einen komischen, plumpen, mit Vogelfedern bedeckten Menschen, den fliegenden Mechaniker Daedalus, entdeckt hatte. Er hatte noch eine Erinnerung aus seiner frühesten Kindheit, eine von denen, die den Fremden sinnlos, aber demjenigen, der sie in seinem Herzen bewahrt, geheimnisvoll und prophetisch erscheinen.

»Es wird mir wohl vom Schicksal bestimmt sein, daß ich fortwährend über Geier schreibe,« erzählt er in einem seiner Tagebücher. »Denn ich kann mich noch auf einen Traum aus meiner ersten Kindheit besinnen: mir träumte, daß an meine Wiege ein Geier geflogen kam, mir den Mund öffnete und mehrere Mal mit seinen Federn über meine Lippen strich, wohl zum Zeichen, daß ich mein Leben lang von Flügeln sprechen werde.«

Die Prophezeiung ging in Erfüllung: Menschliche Flügel wurden zum letzten Ziel seines Daseins.

Als er jetzt auf dem Abhange des Weißen Berges stand, empfand er, wie vor vierzig Jahren als Kind, wie tief erniedrigend und sinnlos es sei, daß die Menschen keine Flügel haben. Er dachte sich:

»Wer alles weiß, der kann alles. Wenn die Menschen genügend wissen werden, so werden sie auch Flügel haben!«

XI.

Bei einer der letzten Windungen des Pfades spürte er, daß jemand von hinten den Saum seines Kleides erfaßt hatte. Er wandte sich um und gewahrte seinen Schüler Giovanni Beltraffio.

Giovanni hatte die Augen zusammengekniffen, den Kopf gesenkt, den Hut mit der Hand ins Gesicht gedrückt und kämpfte so gegen den Wind. Er hatte wohl schon früher gerufen und geschrien, aber der Wind übertönte seine Stimme. Als der Meister sich umwandte, erschien seine Gestalt auf dieser toten, öden Leere dem Schüler so erschreckend und fremd, daß er ihn kaum wiedererkannte: sein langes Haar flatterte im Winde, der auch seinen langen Bart über die Schulter geworfen hatte; die tiefen Furchen der Stirne und die Augen unter den streng zusammengezogenen Brauen drückten einen unbeugsamen, beinahe grausamen Willen aus. Die weiten im Winde wehenden Falten seines dunkelroten Mantels sahen wie Flügel eines Riesenvogels aus.

»Ich komme direkt aus Florenz,« schrie Giovanni; aber im Heulen des Windes klang es wie Geflüster und man konnte nur einzelne Worte unterscheiden: »Wichtiger Brief – sofort – bestellen –.«

Leonardo begriff, daß ein Brief von Cesare Borgia gekommen sei.

Giovanni reichte den Brief dem Meister. Der Künstler erkannte die Handschrift des herzoglichen Sekretärs Messer Agapito.

»Steige hinunter!« schrie er Giovanni zu, als er sein von Kälte blaues Gesicht gewahrte. »Ich komme gleich nach ...«

Giovanni begann den steilen Weg hinabzusteigen. Er klammerte sich an Sträucher, glitt an Steinen herab, kroch zusammengeschrumpft und gekrümmt dahin und schien so klein, schwach und gebrechlich, daß man den Eindruck hatte, der Sturm müsse ihn erfassen und wie ein Strohhälmchen davontragen.

Der Anblick des mühevoll absteigenden Beltraffio brachte dem Meister seine eigene Schwäche in Erinnerung: – den Fluch der Ohnmacht, der über seinem ganzen Leben lastete, die unendliche Reihe seiner Mißerfolge, den sinnlosen Untergang des Kolosses und des heiligen Abendmahls, den Sturz Astros, das Unglück, das alle, die er liebte, betroffen, den Haß Cesares, die Krankheit Giovannis, das Grauen in den Augen Majas und seine eigene ewige und schreckliche Einsamkeit.

»Flügel!« dachte er. »Werden auch die Flügel untergehen, wie alles, was ich geschaffen?«

Da fielen ihm die Worte ein, die der Mechaniker Astro in seinem Fieber gesprochen hatte: die Antwort, die der Menschensohn demjenigen gab, der ihn mit den Schrecken des Abgrundes und mit der Wonne des Fluges versuchte: »Du sollst Gott deinen Herrn nicht versuchen.«

Er hob den Kopf und preßte noch strenger seine feinen Lippen zusammen, runzelte noch finsterer die Stirne und stieg weiter, gegen den Wind kämpfend und die Höhe überwindend.

Der Pfad war verschwunden. Er ging ohne Weg auf dem kahlen Gestein weiter, das vor ihm vielleicht noch niemand betreten hatte.

Noch eine letzte Anstrengung, noch ein letzter Schritt – und er stand am Rande des Abgrundes. Weiter konnte er nicht gehen, da konnte man nur fliegen. Der Fels brach hier ab und zu seinen Füßen lag ein bisher unsichtbar gewesener Abgrund. Er gähnte bläulich wie Nebel und Luft, und es schien Leonardo, daß unten, unter seinen Füßen keine Erde, sondern der gleiche unendliche, leere Himmel wäre, wie über seinem Kopfe.

Der Wind wurde hier zum Sturme, er tobte wie Donner, er pfiff, als ob Züge unsichtbarer Vögel mit rauschenden, pfeifenden Riesenflügeln vorbeizögen.

Leonardo sah in den Abgrund hinein und plötzlich ergriff ihn so mächtig wie noch nie zuvor das ihm von seiner Kindheit her vertraute Gefühl der natürlichen Notwendigkeit, der Notwendigkeit der Flügel:

»Wir werden sie haben!« flüsterte er, »wir werden Flügel haben! Wenn es auch mir nicht gelingt, so wird doch ein anderer Mensch fliegen. Der Geist hat nicht gelogen: Wenn die Menschen wissend sein werden, so werden sie Flügel haben und wie Gott sein!«

Und er sah vor sich im Geiste den Herrn der Lüfte, den Bezwinger aller Grenzen und aller Schwere, den Menschensohn im Glanze seiner Macht, den auf riesengroßen, schneeweißen Flügeln im Himmelsblau schwebenden großen Schwan.

Die Freude, die nun seine Seele erfüllte, war wie ein Grauen.

XII.

Als er vom Monte Albano herabstieg, war die Sonne im Sinken. Unter den grellen gelben Strahlen schienen die Zypressen schwarz wie Kohle, die verschwindenden Berge zart und durchscheinend wie Amethyst. Der Wind legte sich.

Er näherte sich Anchiano. Nach einer Biegung des Weges erblickte er plötzlich unten im tiefen Tale wie in einer Wiege das kleine dunkle Dorf Vinci, das einem Wespennest glich, und seinen Festungsturm, so schwarz und spitz wie eine Zypresse.

Er blieb stehen, holte sein Taschenbuch hervor und schrieb:

»Vom Berge, der nach dem Sieger genannt wird,« ( Vincivincere heißt besiegen) »wird der große Vogel, der Mensch auf dem Rücken des großen Schwanes, seinen ersten Flug unternehmen, er wird die Welt mit Staunen und alle Bücher mit seinem unsterblichen Namen erfüllen. – Ewiger Ruhm dem Neste, in dem er geboren!«

Er blickte auf sein Heimatsdorf am Fuße des Weißen Berges hinab und wiederholte die Worte:

»Ewiger Ruhm dem Neste, in dem der Große Schwan geboren!« ›/leer›

Der Brief Agapitos verlangte die sofortige Abreise des neuen herzoglichen Mechanikers zum Lager Cesares, wo er Belagerungsmaschinen zum bevorstehenden Sturme auf Faenza bauen sollte.

Nach zwei Tagen verließ Leonardo Florenz und reiste nach der Romagna zu Cesare Borgia.


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