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Sechzehntes Buch

Leonardo, Michel Angelo und Rafael

I.

Auch Papst Leo X., der den Überlieferungen des Geschlechtes der Medici treu blieb, verstand es, in den Ruf eines großen Beschützers der Künste und Wissenschaften zu gelangen. Als er von der Wahl erfuhr, sagte er zu seinem Bruder Giuliano Medici:

»Wir wollen die päpstliche Macht genießen, denn sie ist ein Geschenk Gottes!«

Und sein Lieblingsnarr, der Mönch Fra Mariano, fügte mit dem Ernst eines Philosophen hinzu:

»Wir wollen in Herrlichkeit und Freuden leben, heiliger Vater, denn alles übrige ist Unsinn!«

Und der Papst sammelte um sich Dichter, Musiker, Künstler und Gelehrte. Jeder, der eine reichliche Menge von fließenden, wenn auch mittelmäßigen Versen zu liefern verstand, durfte auf eine fette Präbende und auf ein warmes Plätzchen bei Sr. Heiligkeit rechnen. Für die nachahmenden Literaten, die fest daran glaubten, daß die Prosa Ciceros und die Verse Vergils ein unerreichbarer Gipfel der Vollkommenheit seien, brach nun ein goldenes Zeitalter an. Sie sagten:

»Der Gedanke, daß die neuen Dichter die alten übertreffen könnten, ist die Wurzel aller Gottlosigkeit.«

Die Seelenhirten vermieden es, in Predigten Christus beim Namen zu nennen, da dieser Name bei Cicero nicht vorkommt; die Nonnen wurden Vestalinnen genannt, der Heilige Geist – der Odem des höchsten Jupiters. Man hatte den Papst sogar gebeten, den Philosophen Plato heilig zu sprechen.

Der Verfasser des Dialogs über überirdische Liebe »Asolani«, und des überaus cynischen Poems »Priapus«, des späteren Kardinals Pietro Bembo, gestand, er vermeide es, die Episteln des Apostels Paulus zu lesen, »um sich den Stil nicht zu verderben.«

Als König Franz I. nach dem Siege über den Papst von ihm den vor kurzem entdeckten Laokoon zum Geschenk verlangte, erklärte Leo X., er wolle sich eher vom Kopfe des Apostels trennen, dessen Reliquien in Rom aufbewahrt wurden, als vom Laokoon.

Der Papst liebte seine Gelehrten und Künstler; seine Narren aber vielleicht noch mehr. Der berühmte Verseschmierer, Freßsack und Trunkenbold Querno, der den Titel eines Erzdichters erhalten hatte, wurde von ihm in feierlichem Triumph mit einem Küchenlorbeerkranz gekrönt und mit denselben reichen Gnaden überschüttet, wie Rafael Sanzio. Für die üppigen Festgelage der Gelehrten verausgabte er die ungeheueren Einkünfte der Anconischen Mark der Landschaft Spoletos und der Romagna; er selbst zeichnete sich jedoch durch Mäßigkeit aus, da sein Magen schlecht verdaute. Dieser Epikuräer litt an einer unheilbaren Krankheit, – einer eiterigen Fistel. Und seine Seele wurde gleich dem Körper von einer geheimen Wunde, der Langenweile, zerfressen. Er ließ für seine Menagerie seltene Tiere aus fernen Ländern kommen und besaß eine Sammlung von Narren, possierlichen Krüppeln, Mißgeburten und Irrsinnigen aus den Spitälern. Doch weder die Tiere, noch die Menschen konnten ihn zerstreuen. Bei den Festen und Gelagen, inmitten der lustigsten Scherze, behielt sein Gesicht den Ausdruck von Langeweile und Widerwillen.

Nur in der Politik äußerte er seine wahre Natur: er war ebenso kalt, grausam und meineidig wie Borgia.

Als Leo X. im Sterben lag, war ihm nur sein Lieblingsnarr, der Mönch Fra Mariano, von allen seinen Freunden allein bis zuletzt treu geblieben. Als dieser gutherzige und fromme Mann den Papst als einen Heiden sterben sah, flehte er ihn mit Tränen in den Augen an: »Denkt doch an Gott, heiliger Vater, denkt an Gott!« – Das war eine unbewußte, doch beißende Verspottung des ewigen Spötters.

Einige Tage nach seiner Ankunft in Rom wartete Leonardo im päpstlichen Empfangssaal auf eine Audienz. Er war schon einige Male dagewesen, denn es war sehr schwer, von Se. Heiligkeit empfangen zu werden, selbst wenn man zu einer Audienz direkt eingeladen war.

Leonardo hörte den Gesprächen der Höflinge über den geplanten Triumph des päpstlichen Lieblings, des mißgestalteten Zwerges Baraballo, zu, der auf einem kürzlich aus Indien eingetroffenen Elefanten durch die Straßen geführt werden sollte. Man erzählte auch von Fra Marianos neuen Streichen; wie er z. B. neulich beim Abendessen in Anwesenheit des Papstes auf den Tisch gesprungen und darauf herumgelaufen war, indem er unter allgemeinem Gelächter die Kardinäle und Bischöfe auf den Kopf geschlagen und ihnen von einem Ende des Tisches zum anderen gebratene Kapaune zugeworfen, so daß der Strom der Saucen sich über die Gewänder und Gesichter der ehrwürdigen Herren ergossen hatte.

Während Leonardo den Erzählenden lauschte, ertönte hinter der Tür des Empfangszimmers Musik und Gesang. Die durch das Warten ermüdeten Gesichter drückten noch größere Mutlosigkeit aus.

Der Papst war ein schlechter, aber leidenschaftlicher Musiker. Die Konzerte, in denen er stets selbst mitwirkte, dauerten endlos, so daß diejenigen, die ihn geschäftlich aufsuchten, bei den Klängen der Musik verzweifelten.

»Wißt Ihr, Messere«, flüsterte ein neben ihm sitzender verkannter Dichter mit einem hungrigen Gesicht Leonardo ins Ohr. Er wartete seit zwei Monaten vergeblich auf eine Audienz. »Wißt Ihr, Messere, was das beste Mittel ist, um eine Audienz bei Se. Heiligkeit zu erwirken? Man muß sich für einen Narren ausgeben. Mein alter Freund, der berühmte Gelehrte Marco Masuro, der hier mit seiner Gelehrsamkeit nichts auszurichten vermochte, ließ sich durch den Cameriere als ein neuer Baraballo melden. Er wurde sofort vorgelassen und so erreichte er alles, was er wollte.«

Leonardo folgte nicht dem guten Rate, ließ sich nicht als Narr melden und ging, nachdem er wieder vergeblich gewartet hatte, nach Hause.

In der letzten Zeit stiegen in ihm seltsame Ahnungen auf. Sie erschienen ihm grundlos. Die Lebenssorgen, die Mißerfolge am Hofe Leos X. und Giuliano Medicis beunruhigten ihn nicht: er hatte sich längst an solche Dinge gewöhnt. Die unheimliche Unruhe aber steigerte sich unterdessen. Und an diesem strahlenden Herbstabend, als er aus dem Palast nach Hause zurückkehrte, krampfte sich sein Herz mehr denn je, wie vor einem nahenden Unglück, zusammen.

Er wohnte im gleichen Hause, wo er bei seinem ersten Aufenthalte in Rom, in den Tagen Alexanders VI., gewohnt hatte: wenige Schritte vom Vatikan entfernt, hinter St. Peter, in einem engen Gäßchen, in einem der kleinen, voneinander getrennten Gebäude der päpstlichen Münze. Es war ein altes, düsteres Gebäude. Als Leonardo nach Florenz abreiste, blieb es einige Jahre lang unbewohnt, wurde feucht und nahm ein noch düstereres Aussehen an.

Er betrat ein geräumiges Gemach mit einer gewölbten Decke, mit spinnenförmigen Rissen an den Wänden, von denen sich der Mörtel abgebröckelt hatte, mit Fenstern, die dicht an die Mauern des Nachbarhauses stießen, so daß es hier trotz der hellen frühen Abendstunde schon dunkel war.

In einer Ecke saß der kranke Mechaniker Astro mit hinaufgezogenen Beinen, schnitzte Stäbchen und summte durch die Nase sein eintöniges Liedchen, sich nach seiner Gewohnheit hin und her wiegend:

»Kraniche, Stare,
Falken und Aare,
Die Sonne winkt,
Die Erde versinkt.
Kraniche, Stare,
Falken und Aare!«

Leonardos Herz klopfte noch banger in unheilvollen Ahnungen. »Was hast du, Astro?« – fragte er freundlich, ihm die Hand auf den Kopf legend.

»Nichts«, antwortete dieser und blickte den Meister forschend, beinahe vernünftig und sogar schelmisch an. »Ich habe nichts. Aber Giovanni ... Nun, es ist ja so besser für ihn. Er ist fortgeflogen ...«

»Was sprichst du, Astro? Wo ist Giovanni?« fragte Leonardo und wußte auf einmal, daß die bösen Ahnungen, die sein Herz bedrängten, Giovanni galten.

Ohne den Meister weiter zu beachten, begann der Kranke von neuem zu schnitzen.

»Astro«, drang Leonardo in ihn, seine Hand ergreifend, »ich bitte dich, mein Freund, erinnere dich daran, was du mir sagen wolltest. Wo ist Giovanni? Hörst du, Astro, ich muß ihn durchaus gleich sehen! ...Wo ist er? Was ist mit ihm?«

»Wißt Ihr es denn noch nicht?« sagte der Kranke. »Er ist dort oben. Er ist froh ... er ist fort ...«

Er schien nach einem Laut zu suchen und konnte ihn nicht finden; er war seinem Gedächtnis entschwunden. Das kam bei ihm oft vor. Er verwechselte die einzelnen Laute und sogar ganze Worte, und gebrauchte das eine statt des anderen.

»Ihr wißt nicht?« fügte er ruhig hinzu. »Also kommt mit. Ich werde es Euch zeigen. Aber fürchtet Euch nicht. Es ist besser so ...«

Er erhob sich und humpelte auf seinen Krücken die knarrende Stiege hinauf.

Sie kamen auf den Dachboden.

Hier unter dem von der Sonne erwärmten Ziegeldach war es schwül; es roch nach Vogelmist und Stroh. Durch das Dachfenster drang ein schräger, staubiger, roter Sonnenstrahl. Als sie eintraten, flatterte ein erschreckter Taubenschwarm mit den Flügeln rauschend auf und flog davon.

»Hier«, sagte Astro wieder ruhig, indem er in die Tiefe des Dachbodens wies, wo es dunkel war.

Und Leonardo erblickte Giovanni unter einem der dicken Querbalken; er stand gerade, reglos und seltsam gestreckt da und schien ihn mit weit geöffneten Augen anzustarren.

»Giovanni!« rief der Meister aus. Er erblich und seine Stimme versagte.

Er stürzte zu ihm hin, sah das furchtbar verzerrte Gesicht und berührte seine Hand; sie war kalt. Der Körper machte eine schaukelnde Bewegung: er hing an einer festen Seidenschnur, einer von jenen, die der Meister für seine Flugmaschinen benützte. Sie war an einem neuen Eisenhaken festgebunden, der offenbar vor kurzem in den Balken hineingeschraubt worden war. Daneben lag auch ein Stück Seife, mit dem der Selbstmörder wahrscheinlich die Schlinge eingeseift hatte.

Astros lichter Moment war wieder vorbei, er trat jetzt an die Dachluke und schaute hinaus.

Das Haus stand auf einer Anhöhe. Man sah von hier die Ziegeldächer, Türme und Campanile Roms, die wie ein Meer wogende, mattgrüne, von den Strahlen der untergehenden Sonne beleuchtete Ebene der Campagna mit den langen, schwarzen, sich hier und da unterbrechenden Linien der römischen Aquädukte, die Hügel Albano, Frascati und Rocca di Papa und den klaren Himmel, unter dem jetzt Schwalben kreisten.

Er betrachtete das alles mit halbgeschlossenen Augen, sich mit einem seligen Lächeln hin und herwiegend und die Arme gleich Flügeln schwingend:

»Kraniche, Stare,
Falken und Aare ...«

Leonardo wollte fortlaufen und um Hilfe rufen, konnte sich jedoch nicht bewegen und blieb vor Entsetzen gelähmt zwischen seinen beiden Schülern stehen – dem Toten und dem Wahnsinnigen ...

 

Als der Meister nach einigen Tagen die Papiere des Verstorbenen durchsah, fand er darunter das Tagebuch. Er las es aufmerksam durch.

Leonardo begriff nicht jene Widersprüche, an denen Giovanni zugrunde gegangen war; er fühlte nur noch deutlicher als je zuvor, daß er die Ursache dieses Unglücks war, daß sein »böser Blick ihn verdorben«, daß er ihn mit den Früchten des Baumes der Erkenntnis vergiftet hatte.

Einen besonders starken Eindruck machten auf ihn die letzten Zeilen des Tagebuchs, die, nach dem Unterschied in der Farbe der Tinte und in der Schrift zu urteilen, nach einer mehrjährigen Unterbrechung geschrieben waren:

»Neulich zeigte mir im Kloster bei Fra Benedetto ein Mönch, der von Athos kam, ein altes Pergament mit einer kolorierten Zeichnung, die Johannes den Täufer den Geflügelten darstellte. In Italien gibt es keine solchen Darstellungen; sie ist von griechischen Heiligenbildern übernommen. – Die Glieder sind fein und lang. Das Antlitz ist seltsam und furchtbar. Der mit einem zottigen Gewand aus Kamelhaaren bekleidete Körper erscheint befiedert wie bei einem Vogel. – ›Siehe, ich will meinen Engel senden, der vor mir her den Weg bereiten soll. Und bald wird kommen zu seinem Tempel der Herr, den ihr sucht; und der Engel des Bunds, den ihr begehret, siehe er kommt!‹ Prophet Maleachi III, 1. – Aber es ist kein Engel, kein Geist, sondern ein Mensch mit Riesenflügeln.«

»Im Jahre 1503, dem letzten Regierungsjahr des scharlachfarbenen Tieres, des Papstes Alexander VI., erzählte mir der Augustinermönch Thomas Schweinitz in Rom folgendes über den Flug des Antichrist:

»Und dann wird das Tier, das das Feuer vom Himmel geraubt hat und auf dem Thron des allmächtigen Gottes im Tempel zu Zion sitzt, zu den Menschen sprechen: ›Warum ist euch bange und was wollt ihr? Ihr seid ein falsches und hinterlistiges Geschlecht! Ihr wollt ein Zeichen sehen und ich werde euch ein Zeichen geben. Ihr werdet den Menschensohn schauen, der da in den Wolken nahet, um die Toten und Lebenden zu richten.‹ So wird Er sprechen und wird große Feuerflügel nehmen, die teuflische Künste ersonnen haben und wird sich unter Donner und Blitz in den Himmel schwingen, von seinen Schülern, die Engelsgestalt annehmen werden, umgeben, und er wird fliegen.«

Es folgten abgerissene, sichtlich mit zitternder Hand geschriebene, an vielen Stellen durchgestrichene Worte:

»Die Ähnlichkeit zwischen Christus und dem Antichrist ist eine vollkommene. Das Antlitz des Antichrist ist im Antlitze Christi, das Antlitz Christi ist im Antlitze des Antichrist, wer wird sie unterscheiden können? Wer wird nicht in Versuchung geraten? Das letzte Geheimnis ist das letzte Leid, wie es auf Erden noch keines je gegeben hat.«

»Im Dome Zu Orvieto, auf dem Bilde des Luca Signorelli flattern die Kleiderfalten des in den Abgrund fliegenden Antichrist im Winde. Und dieselben Falten, die an die Flügel eines ungeheuren Vogels erinnern, waren hinter Leonardos Schultern, als er auf dem Gipfel des Monte Albano über dem Dorfe Vinci am Rande eines Abgrundes stand.«

Ganz unten auf der letzten Seite war wieder mit einer anderen Schrift, wahrscheinlich nach einer langen Unterbrechung, geschrieben:

»Die weiße Teufelin ist immer und überall. Fluch über sie! Das letzte Geheimnis ist: zwei ist eins. Christus und der Antichrist sind eins. Der Himmel ist oben und unten. Das soll, das darf nicht sein! Lieber den Tod. Ich befehle meinen Geist in deine Hände, mein Gott! Richte mich.«

Mit diesen Worten schloß das Tagebuch. Und Leonardo wußte nun, daß sie am Vorabend oder am Tage des Selbstmordes geschrieben waren.

II.

In einem der Empfangsräume des Vatikans, in der sogenannten Stanza della Segnatura mit den kürzlich vollendeten Wandgemälden Rafaels, saß unter einer Freske, die den Gott Apollo inmitten der Musen auf dem Parnaß darstellte, Papst Leo X., umringt von den Würdenträgern der Römischen Kirche, Gelehrten, Dichtern, Zauberkünstlern, Zwergen und Narren.

Sein ungeheurer, weißer, aufgedunsener Körper, wie ihn alte, an Wassersucht leidende Frauen haben, das dicke, runde, bleiche Gesicht mit den farblosen, glotzenden Froschaugen war widerwärtig; mit dem einen Auge sah er beinahe gar nicht, mit dem anderen nur schlecht, und wenn er etwas anschauen mußte, gebrauchte er, statt eines Augenglases, eine Linse aus Beryll – » Ochialle«; aus dem sehenden Auge leuchtete ein kalter, klarer und sich grenzenlos langweilender Verstand. Der Stolz des Papstes waren seine tatsächlich schönen Hände: er stellte sie bei jeder passenden Gelegenheit zur Schau und prahlte mit ihnen ebenso wie mit seiner angenehmen Stimme.

Der heilige Vater ruhte sich nach den geschäftlichen Empfängen aus und unterhielt sich dabei mit seinen Vertrauten über zwei neue Gedichte.

Sie waren beide in tadellos eleganten lateinischen Versen geschrieben und der Aeneis des Vergil nachgebildet. Das eine, mit dem Titel » Christias«, war eine Übertragung des Evangeliums mit der zu jener Zeit modernen Vermischung von christlichen und heidnischen Gestalten: so wurde das heilige Abendmahl »die göttliche Speise« genannt, »die für die schwachen menschlichen Augen in der Gestalt der Ceres und des Bacchus verborgen wird«, was mit Brot und Wein gleichbedeutend ist; Diana, Thetis und Äolus erwiesen der Mutter Gottes ihre Dienste; bei der Verkündigung des Erzengels Gabriel in Nazareth hatte Merkur an der Tür gehorcht und diese Kunde der Versammlung der Olympier überbracht, damit sie ihre Maßregeln ergreifen könnten.

Das zweite Gedicht von Fracastore war » Syphilis« betitelt und dem künftigen Kardinal Pietro Bembo gewidmet, – demselben, der die Episteln des Apostel Paulus zu lesen vermied, um sich »den Stil nicht zu verderben«. – In tadellosen Versen im Geschmacke Vergils wurden darin die französische Krankheit und die verschiedenen Arten ihrer Behandlung mit Schwefelbädern und Quecksilbersalben besungen. Die Entstehung der Krankheit wurde unter anderen in folgender Weise erklärt: in uralten Zeiten habe ein Schäfer, namens Syphilus, den Sonnengott durch seinen Spott erzürnt und sei von diesem durch eine Krankheit bestraft worden, die so lange keinerlei Behandlung gewichen, bis ihn die Nymphe Amerika in ihre Mysterien eingeweiht und in einen Hain heilkräftiger Guajakobäume zu einer Schwefelquelle und einem Quecksilbersee geführt hätte. Spanische Reisende hätten den Ozean durchquert und den neuen Erdteil, in dem die Nymphe Amerika wohnte, entdeckt. Sie hätten den Sonnengott beleidigt, indem sie bei einer Jagd einige von den ihm geweihten Vögeln erschossen hätten. Einer von den Vögeln hätte dabei mit menschlicher Stimme prophezeit, daß Apollo sie für dieses Sacrilegium mit der französischen Krankheit bestrafen würde.

Der Papst rezitierte einige Stellen aus den beiden Gedichten. Besonders gut gelang ihm die Rede Merkurs vor den olympischen Göttern über die Verkündigung und die Liebesklage des Schäfers vor der Nymphe Amerika.

Als er unter begeistert geflüsterten Beifallsworten und ehrerbietig zurückhaltendem, gleichsam unwillkürlich ertönendem Beifallklatschen schloß, wurde ihm der kürzlich aus Florenz eingetroffene Michel Angelo gemeldet.

Der Papst runzelte ein wenig die Stirne, aber befahl, ihn sofort vorzulassen.

Der düstere Buonarotti flößte Leo X. ein Gefühl ein, das an Furcht grenzte. Er zog den lustigen, zu allem bereiten, verträglichen, »guten Kerl« Rafael vor.

Der Papst empfing Michel Angelo mit seiner unveränderlichen gelangweilten Liebenswürdigkeit. Als der Künstler jedoch von einer Angelegenheit zu reden begann, in welcher er sich tödlich gekränkt wähnte, von den ihm erteilten und dann plötzlich zurückgezogenen Auftrag, für die Florentiner San Lorenzo-Kirche eine neue Marmorfassade zu bauen, brachte der heilige Vater das Gespräch auf andere Dinge; er warf ihm durch die geschliffene Beryllinse einen gutmütigen Blick zu, unter dem sich aber etwas wie Hohn verbarg, und sagte:

»Messer Michel Angelo, wir möchten gern deine Meinung in einer gewissen Sache hören: unser Bruder, Herzog Giuliano, rät uns, deinen Landsmann, den Florentiner Leonardo da Vinci, für irgend eine Arbeit zu verwenden. Sei so gut und sage mir, was du von ihm hältst und welche Arbeit man ihm wohl am besten geben könnte?«

Michel Angelo schwieg mit düster gesenkten Äugen. Die auf ihn gerichteten neugierigen Blicke, seine unüberwindliche Schüchternheit und das Bewußtsein seiner Häßlichkeit quälten ihn wie immer. Der Papst betrachtete ihn aber aufmerksam durch sein Beryllglas und wartete auf Antwort.

»Es dürfte Ew. Heiligkeit vielleicht unbekannt sein«, sagte endlich Buonarotti, »daß viele mich für Messer da Vincis Feind halten. Mag es wahr sein oder nicht, jedenfalls glaube ich, daß ich am wenigsten berufen bin, in dieser Sache Schiedsrichter zu sein und irgend eine Meinung zu seinen Gunsten oder Ungunsten zu äußern.«

»Beim Bacchus,« rief der Papst erregt aus, der offenbar einen lustigen Spaß vor hatte, »wenn dem auch wirklich so wäre, so wünschen wir um so mehr deine Ansicht über Messer Leonardo zu erfahren, denn wir würden jeden anderen eher als dich für parteiisch halten, wir zweifeln nicht daran, daß du in einem Urteil über den Feind nicht weniger edelmütig sein wirst, als in einem Urteil über einen Freund. Ich habe übrigens niemals daran geglaubt und werde es auch nicht glauben, daß ihr tatsächlich Feinde seid. Unsinn! Solche Künstler wie du und er müssen über jede Eitelkeit erhaben sein. Und was solltet ihr denn miteinander teilen, um welchen Vorrang streiten? Und wenn zwischen euch auch wirklich etwas vorgefallen sein sollte, so müßt ihr es einfach vergessen! Ist es denn nicht besser, in Frieden zu leben? Man sagt, bei Eintracht wächst Kleines und bei Zwietracht geht Großes zugrunde. Und wenn ich, dein Vater, wünschen sollte, eure Hände zu vereinigen, könntest du es mir denn wirklich abschlagen und ihm deine Hand verweigern?«

Buonarottis Augen blitzten auf: wie es so oft bei ihm geschah, ging seine Schüchternheit auch jetzt in Wut über.

»Verrätern reiche ich nicht die Hand!« sagte er dumpf und kurz, sich kaum beherrschend.

»Verrätern?« fiel ihm der Papst ins Wort; auch seine Erregung wuchs. »Es ist eine schwere Anklage, Michel Angelo, eine sehr schwere, und wir sind überzeugt, daß du dich nie entschlossen hättest, sie auszusprechen, wenn du nicht sichere Beweise in Händen hättest ...«

»Ich habe keine Beweise und brauche sie auch nicht! Ich sage nur das, was alle wissen. Fünfzehn Jahre lang war er ein Lakai des Herzogs Moro, desjenigen, der zuerst die Barbaren nach Italien gerufen und ihnen das Vaterland ausgeliefert hat. Als Gott den Tyrannen so bestrafte, wie er es verdiente, so daß er zugrunde ging, trat Leonardo in die Dienste eines noch größeren Schurken, – des Cesare Borgia über; er, ein Bürger von Florenz, verschmähte es nicht, Kriegskarten von Toskana anzufertigen, um dem Feinde die Eroberung seines Vaterlandes zu erleichtern.«

»Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet«, sagte der Papst mit einem weisen Lächeln. »Du vergißt, mein Freund, daß Leonardo weder ein Krieger, noch ein Staatsmann, sondern nur ein Künstler ist. Sollten die Diener der freien Musen nicht ein größeres Recht auf Freiheit besitzen, als die andern Sterblichen? Was geht euch die Politik und Feindschaft zwischen Völkern und Herrschern an; euch Künstler, die ihr in höheren Regionen lebt, wo es weder Sklaven, noch Freie, weder Juden und Hellenen, noch Barbaren und Skythen gibt und wo überall und immer nur Apollo herrscht? Könntet ihr euch nicht gleich den alten Philosophen Bürger des Weltalls nennen, für die das Vaterland dort ist, wo es ihnen gut geht?«

»Ew. Heiligkeit verzeihe mir«, unterbrach ihn Michel Angelo beinahe grob. »Ich bin ein einfacher, ungebildeter Mann und verstehe nichts von philosophischen Feinheiten. Ich bin es gewohnt, das Weiße weiß und das Schwarze schwarz zu nennen. Und ein Mensch, der seine Mutter nicht ehrt und sich von seiner Heimat lossagt, erscheint mir als der verächtlichste Schurke. Ich weiß, Messer Leonardo glaubt sich über die menschlichen Gesetze erhaben. Aber mit welchem Recht? Er verspricht Wunder, die die Welt in Erstaunen versetzen sollen, wäre es nicht an der Zeit, mit Taten zu beginnen? Wo sind sie denn, seine Zeichen und Wunder? Oder sollten es vielleicht seine Narrenflügel sein, mit denen einer seiner Schüler zu fliegen versucht hat? Er hat sich auch wie ein Narr den Hals gebrochen. Wie lange sollen wir denn noch seinen Worten trauen? Haben wir, gewöhnliche Sterbliche, denn nicht das Recht zu zweifeln und uns zu fragen, was denn eigentlich hinter allen seinen Rätseln und Geheimnissen steckt? ... Ach, wozu überhaupt noch davon reden! In früheren Zeiten wurden die Betrüger Betrüger genannt und die Schufte Schufte, jetzt heißen sie aber Weise und Bürger des Weltalls, und es wird wohl bald keinen Spitzbuben und Taugenichts mehr geben, der sich nicht für den Gott Hermes Trismegistos und den Titanen Prometheus ausgäbe! ...«

Der Papst blickte Michel Angelo unverwandt, ruhig und kalt mit seinen hellen Froschaugen an und dachte dabei an die Vergänglichkeit alles Irdischen, an die Eitelkeit aller Dinge; er sah die Erniedrigung des Großen, die Nichtigkeit des Stolzen. Er hatte sich vorgenommen, die beiden Nebenbuhler zusammenzubringen und sie aufeinander zu hetzen. Es sollte ein noch nie dagewesenes Schauspiel geben, einen Hahnenkampf von Riesendimensionen, eine philosophische Komödie, die er, der Liebhaber alles Seltenen und Ungeheuerlichen, mit derselben epikuräischen, ein wenig verächtlichen Neugierde und derselben Langenweile genießen würde, wie den Kampf seiner Narren, Krüppel, Schwachsinnigen, Affen und Zwerge.

»Mein Sohn«, sprach er endlich mit einem stillen, traurigen Seufzer, »ich sehe jetzt, daß die Feindschaft, an die wir bis heute nicht glauben wollten, zwischen euch tatsächlich besteht. Ich bin erstaunt, ja, ich muß gestehen, ich bin erstaunt und zugleich betrübt, wenn du so über Leonardo urteilst, wie ist es nur möglich, Michel Angelo ich bitte dich! Wir haben ja so viel Gutes über ihn gehört! Von seiner hohen Kunst und Gelehrsamkeit will ich gar nicht sprechen, man sagt aber auch, er sei so gutherzig, daß er nicht nur mit Menschen, sondern auch mit den stummen Tieren und sogar mit den Pflanzen Mitleid habe und nicht dulde, daß man ihnen etwas zu leide tue; – er gleicht darin den indischen Weisen, den sogenannten Hymnosophisten, von welchen uns die Reisenden so viel Wunderbares erzählen ...«

Michel Angelo schwieg mit abgewandtem Gesicht, durch das ab und zu ein zorniges Zucken ging. Er fühlte, daß der Papst ihn verhöhnte. Pietro Bembo, der aufmerksam dem Gespräch folgte, befürchtete, der Scherz könnte schlecht enden: Buonarotti eignete sich wenig zu dem vom Papst ersonnenen Spiele. Der geschickte Hofmann ergriff um so lieber seine Partei, als er selbst Leonardo nicht sehr gewogen war, von dem behauptet wurde, daß er die Literaten »Nachahmer der Alten« und »Krähen mit fremden Federn« verspottete.

»Ew. Heiligkeit«, – sagte er, – »in Messer Michel Angelos Worten ist vielleicht etwas Wahres enthalten; jedenfalls sind über Leonardo so viel sich widersprechende Gerüchte in Umlauf, daß man manchmal wirklich nicht weiß, woran man glauben soll. Man sagt, daß er Tiere liebt und kein Fleisch genießt; zugleich erfindet er aber todbringende Geschütze zur Vertilgung des Menschengeschlechtes und liebt es, Verbrecher zum Schafott zu begleiten, um auf ihren Gesichtern den Ausdruck des letzten Entsetzens zu beobachten. Ich habe auch gehört, seine Schüler und die des Marc-Antonio hätten Leichen, die sie zum Studium der Anatomie brauchten, nicht nur aus den Spitälern gestohlen, sondern auch aus der Erde christlicher Friedhöfe ausgegraben. Ich glaube übrigens, daß den großen Gelehrten aller Zeiten außergewöhnliche Sonderbarkeiten eigen waren: so berichten die Alten von den berühmten alexandrinischen Naturforschern Erasistratus und Herophylus, welche ihre anatomischen Lektionen an lebendigen Menschen und zwar an zum Tode verurteilten Verbrechern, ausgeführt haben sollen und welche ihre Grausamkeit den Menschen gegenüber mit der Liebe zur Wissenschaft rechtfertigten, was auch Celsius bestätigt: Herophylus homines odit ut nosset«. Herophylus haßte die Menschen, um wissend zu sein ...«

»Schweig! schweig! Pietro! Gott sei mit uns!« unterbrach ihn der Papst in nicht mehr geheuchelter Bestürzung. »Das Zerschneiden lebendiger Menschen ist eine schöne Wissenschaft, das muß ich sagen! ... Wage es nie, uns von diesen Schändlichkeiten zu erzählen. Und wenn wir nur erfahren sollten, daß Leonardo ...«

Er sprach nicht zu Ende und bekreuzte sich. Sein ganzer dicker, aufgedunsener Körper bebte.

Trotz seiner Skepsis war Leo X. abergläubisch wie ein altes Weib. Vor allem aber fürchtete er die schwarze Magie, während er mit der einen Hand die Verfasser solcher Gedichte wie »Syphilus« und »Priapus« belohnte, unterfertigte er mit der anderen die Vollmachten des Großinquisitors Fra Giorgio da Casale zum Kampf gegen die Zauberer und Hexen.

Als er von dem Raub von Leichen aus den Gräbern hörte, erinnerte er sich an die soeben eingelaufene Anzeige, die er zuerst nicht beachtet hatte; ein bei Giuliano Medici angestellter deutscher Spiegelmacher Johann, welcher in Leonardos Hause wohnte, beschuldigte den Künstler, daß er unter dem Vorwande anatomischer Studien, in Wirklichkeit jedoch für Zwecke der schwarzen Magie, die Embryos aus den Leichen schwangerer Frauen herausschneide.

Das Entsetzen des Papstes hielt übrigens nicht lange an: als Michel Angelo fort war, wurde ein Konzert veranstaltet, wobei seiner Heiligkeit eine schwere Arie besonders gut gelang, was ihn stets in eine gute Stimmung versetzte. Als er dann bei der Mittagstafel in seinem Narrenrat die Ordnung des Triumphzuges des Zwerges Baraballo auf dem Elephanten festsetzte, war er wieder guter Dinge und dachte nicht mehr an Leonardo.

Am nächsten Tage aber erging an den Vorsteher des Spitals von San Spirito, wo sich der Künstler mit Anatomie beschäftigte, der strenge Befehl, ihm keine Leichen zu geben und ihn nicht in die Krankensäle einzulassen; zugleich wurde ihm die Bulle Bonifazius VIII. De sepulturis in Erinnerung gebracht, welche die Sektion von menschlichen Körpern ohne Genehmigung der Apostolischen Kurie unter Androhung des Kirchenbannes verbot.

III.

Nach Giovannis Tode wurde dem Meister der Aufenthalt in Rom lästig.

Die Ungewißheit, die Erwartung, die erzwungene Untätigkeit hatten ihn ermüdet. Die gewohnten Beschäftigungen, die Bücher, die Maschinen, die Versuche und das Malen flößten ihm Ekel ein. An den langen Herbstabenden, wenn ihm das Alleinsein in dem jetzt noch düstereren Hause mit dem wahnsinnigen Astro und mit Giovannis Schatten zu unheimlich wurde, besuchte er Messer Francesco Vettori, den Florentiner Gesandten, der mit Niccolo Macchiavelli im Briefwechsel stand, von ihm viel erzählte und seine Briefe manchmal dem Künstler zu lesen gab.

Das Schicksal verfolgte Niccolo noch immer. Der Traum seines ganzen Lebens, das von ihm geschaffene Volksheer, von dem er die Rettung Italiens erwartete, erwies sich als ganz unbrauchbar: bei der Belagerung von Prato im Jahre 1512 lief es vor seinen Augen bei den ersten spanischen Kugeln wie eine Hammelherde auseinander. Nach der Rückkehr der Medici wurde Macchiavelli seines Amtes enthoben, »abgesetzt, entfernt und um alles gebracht.« Bald darauf wurde eine Verschwörung zur Wiedererrichtung der Republik und zum Sturz der Tyrannen entdeckt. Niccolo war in die Sache verwickelt. Er wurde verhaftet, vors Gericht geschleppt, gefoltert und viermal auf den Wippgalgen gehoben. Er ertrug die Folter mit einem Mut, den er, nach seinem eigenen Geständnis, »von sich nicht erwartet hätte.« Man ließ ihn gegen Bürgschaft frei, stellte ihn jedoch unter Bewachung und verbot ihm, im Laufe eines Jahres die Grenzen Toskanas zu überschreiten. Er verfiel in solche Armut, daß er Florenz verlassen und sich auf dem ererbten kleinen Landsitz in einem Gebirgsdorf nächst San Casciano, zehn Meilen von der Stadt entfernt, auf der Straße nach Rom niederlassen mußte. Doch auch hier kam er nach allen erlittenen Schicksalsschlägen nicht zur Ruhe: aus dem feurigen Republikaner wurde plötzlich ein eifriger Anhänger der Tyrannen; diese Metamorphose war durchaus aufrichtig gemeint, wie er überhaupt bei allen seinen Sprüngen aus einem Extrem ins andere stets aufrichtig war. Noch aus dem Gefängnisse schrieb er an die Medici reuevolle und loberfüllte Episteln in Versen. In seinem Buche »Vom Fürsten«, das er Giulianos Neffen, Lorenzo dem Prächtigen, gewidmet hatte, stellte er als das höchste Beispiel staatsmännischer Weisheit den inzwischen in der Verbannung gestorbenen Cesare Borgia hin, den er einst selbst so grausam entlarvt hatte. Jetzt umgab er ihn wieder mit einem Glorienschein beinahe übermenschlicher Hoheit und zählte ihn zu den unsterblichen Helden. Macchiavelli fühlte im geheimen, daß er sich selbst betrog: die spießbürgerliche Autokratie der Medici war ihm ebenso widerwärtig wie die spießbürgerliche Republik Soderinis; da er jedoch nicht mehr die Kraft hatte, auf diesen letzten Traum zu verzichten, klammerte er sich an ihn, wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm. Der kranke, einsame Mann, auf dessen Händen und Füßen die Narben von den Stricken des Wippgalgens noch nicht vernarbt waren, flehte Vettori an, sich für ihn beim Papst und Giuliano zu verwenden und ihm irgend einen Posten zu verschaffen; denn der Müßiggang sei ihm furchtbarer als der Tod: wenn man ihn nur wieder anstellte, wäre er zu jeder Arbeit, selbst zum Steinetragen bereit.

Um seinem Beschützer durch die ewigen Bitten und Klagen nicht lästig zu fallen, bemühte sich Niccolo, ihn manchmal durch Scherze und Berichte über seine Liebesabenteuer zu unterhalten. Er war zwar fünfzig Jahre alt und Vater einer hungrigen Familie, doch stets verliebt wie ein Schulknabe; oder er heuchelte es zu sein. »Ich habe alle klugen, wichtigen Gedanken bei Seite gelassen: weder die Überlieferung der Heldentaten des Altertums, noch die Gespräche über zeitgenössische Politik interessieren mich: ich liebe!«

Als Leonardo diese leichtsinnigen Briefe las, fielen ihm Niccolos Worte ein, die er einst in der Romagna beim Verlassen einer Spielhölle, wo er vor dem spanischen Gesindel den Hanswurst abgegeben, zu ihm gesagt, hatte: »Not lehrt auch den Bären tanzen«. Manchmal entriß sich ihm auch in diesen Briefen, mitten zwischen epikuräischen Ratschlägen, Liebesergüssen und der schamlos zynischen Selbstverspottung, ein Schrei der Verzweiflung:

»Ist es denn möglich, daß auch nicht eine einzige lebende Seele sich meiner erinnert? Wenn Ihr mich noch liebt, Messer Francesco, wie Ihr mich einst geliebt habt, könntet Ihr das unwürdige Leben, das ich jetzt führe, nicht ohne Empörung mit ansehen.«

In einem anderen Brief beschrieb er dieses Leben:

»Die Drosseljagd war bis jetzt meine Hauptzerstreuung. Ich stand vor Sonnenaufgang auf, ordnete eigenhändig die Netze und verließ mit Käfigen beladen das Haus, wobei ich dem Freigelassenen Gythes glich, der Amphytrions Bücher vom Hafen heraufschleppte. Ich fing gewöhnlich nicht weniger als zwei und nicht mehr als sechs Drosseln. So verbrachte ich den September. Dann hörte auch dieser Spaß auf; so dumm er auch war, geht er mir doch ab.

»Jetzt stehe ich etwas später auf und gehe in meinen Hain, der ausgeholzt wird; ich bleibe da etwa zwei Stunden, prüfe die Arbeit des Vortages und plaudere mit den Holzknechten. Dann gehe ich zum Brunnen und von dort in den Wald, wo ich früher gejagt habe. Ich trage immer irgend ein Buch mit mir – Dante, Petrarca, Tibull oder Ovid. Leim Lesen ihrer leidenschaftlichen Klagen denke ich an meine eigenen Herzensangelegenheiten und finde in diesen Träumen kurzes, aber süßes Vergessen. Dann gehe ich in den Gasthof auf der Landstraße, unterhalte mich mit den Reisenden, höre Neuigkeiten und beobachte die menschlichen Geschmacksrichtungen, Gewohnheiten und Launen. Zur Mittagsstunde kehre ich nach Hause zurück, setze mich mit den Meinigen zu Tische und stille den Hunger mit jenen bescheidenen Gerichten, welche uns die spärlichen Einkünfte des Gutes erlauben. Nach dem Essen schlendere ich wieder in den Gasthof zurück. Hier ist schon eine ganze Gesellschaft versammelt: der Wirt, der Müller, der Fleischer und zwei Bäcker. Ich verbringe den ganzen Rest des Tages mit ihnen und spiele Dame und Würfel, wir streiten, ereifern uns, schimpfen, meistens wegen eines Hellers, und lärmen so, daß man es in San Casciano hört.

»So ist also der Sumpf beschaffen, in dem ich versinke. Ich bin nur um das Eine besorgt: daß ich nicht endgültig verschimmele, oder vor Langerweile wahnsinnig werde; im übrigen überlasse ich es dem Schicksal, mich mit Füßen zu treten und mit mir alles zu tun, was es nur wünscht, um endlich zu erfahren, ob seine Schamlosigkeit wirklich grenzenlos ist.

»Am Abend gehe ich nach Hause. Bevor ich mich aber in meinem Zimmer einschließe, werfe ich meine schmutzigen Werkeltagskleider von mir, ziehe Hof- oder Senatsgewänder an und betrete in dieser angemessenen Kleidung die Paläste des Altertums, wo große Weise und Helden mich wohlwollend empfangen, wo ich mich von der Speise nähre, für die ich geboren bin, wo ich ohne Scheu mit ihnen rede, sie befrage und die Beweggründe ihrer Handlungen erfahre; in ihrer Güte antworten sie mir wie einem ihresgleichen, während einiger Stunden langweile ich mich nicht; ich fürchte weder Armut noch Tod, vergesse alle meine Leiden und lebe ganz in der Vergangenheit. Dann notiere ich mir alles, was ich von ihnen erfahren habe; auf diese Weise entsteht mein Buch ›Vom Fürsten‹.«

IV.

Beim Lesen dieser Briefe fühlte Leonardo, wie nahe Niccolo ihm stand, trotzdem er in Vielem sein Gegensatz war. Er gedachte seiner Prophezeiung, daß sie ein gemeinsames Schicksal haben würden: sie würden in dieser Welt, »in der es außer dem Pöbel niemanden gibt«, ewig heimatlose Wanderer bleiben. Leonardos Leben in Rom war tatsächlich ebenso unwürdig wie Macchiavellis Leben in der Einöde San Casciano: – es war die gleiche Langeweile, die gleiche Einsamkeit, der erzwungene Müßiggang, der furchtbarer als jede Folter ist, dasselbe Bewußtsein seiner Kraft und zugleich seiner Unbrauchbarkeit. Ebenso wie Niccolo überließ er es dem Schicksal, ihn mit Füßen zu treten und mit ihm alles Erdenkliche zu tun; nur äußerte er dabei eine noch größere Sanftmut, da er nicht einmal zu wissen wünschte, ob diese Schamlosigkeit eine Grenze habe: er war nämlich schon lange davon überzeugt, daß es dafür keine Grenze gäbe.

Leo X., der mit dem Triumphzug des Narren Baraballo beschäftigt war, hatte noch immer nicht Zeit gefunden, Leonardo zu empfangen. Um ihn los zu werden, beauftragte er ihn mit der Vervollkommnung der Prägemaschine in der päpstlichen Münze. Der Meister, dem wie gewöhnlich keine Arbeit, auch nicht die bescheidenste, zu gering erschien, führte den Auftrag vollendet gut aus: er erfand eine Maschine, die es ermöglichte, die vorher ungleichen, zackigen Ränder der Münzen tadellos rund zu machen.

Um diese Zeit waren seine Verhältnisse, infolge alter Schulden, so zerrüttet, daß der größte Teil seines Gehaltes zur Abzahlung der Zinsen diente. Hätte ihn Francesco Melzi, der seinen Vater beerbt hatte, nicht unterstützt, so hätte Leonardo die bitterste Not leiden müssen.

Im Sommer 1514 erkrankte er an römischer Malaria. Das war die erste ernste Krankheit während seines ganzen Lebens. Er nahm keine Arznei und befragte keinen Arzt. Francesco allein pflegte ihn und Leonardo gewann ihn mit jedem Tage lieber; er schätzte seine ungekünstelte Anhänglichkeit, und manchmal schien es dem Meister, Gott hätte ihm in Francesco einen letzten Freund, einen Schutzengel und eine Stütze für sein einsames Alter gesandt.

Der Maler fühlte, daß er in Vergessenheit gerate, und machte manchmal vergebliche Versuche, sich in Erinnerung zu bringen. Während der Krankheit schrieb er seinem Gönner, Giuliano Medici, Huldigungsbriefe, mit der zu jener Zeit üblichen höfischen Liebenswürdigkeit, die ihm aber schlecht gelang:

»Als ich von Eurer so ersehnten Genesung erfuhr, mein ruhmreicher Fürst, war meine Freude so groß, daß sie mich selbst heilte und wie durch ein Wunder aus dem Tode erweckte.«

Gegen den Herbst verging die Malaria. Es blieb aber doch ein Unwohlsein und eine Schwäche zurück. In den wenigen Monaten nach Giovannis Tode war Leonardo so sehr heruntergekommen und gealtert, als ob lange Jahre vergangen wären.

Eine seltsame Mutlosigkeit und eine Bangigkeit, die einer Todesmattigkeit glich, hatten sich seiner nach und nach bemächtigt.

Manchmal nahm er mit scheinbarem Eifer, irgend eine von seinen früheren Lieblingsbeschäftigungen, wie Mathematik, Anatomie, Malerei oder die Flugmaschine vor; doch er ließ sie sogleich wieder liegen und begann etwas anderes, um auch das bald angeekelt beiseite zu schieben.

In seinen schlimmsten Tagen begeisterte er sich plötzlich für kindische Spielereien.

Er verband sorgfältig gewaschene und getrocknete Schafsdärme, die so weich und dünn waren, daß sie in einer Handfläche Platz fanden, durch eine Öffnung in der Wand mit einem im Nebenzimmer versteckten Blasebalg; wenn die Därme zu ungeheuren Blasen aufquollen, so daß der erschrockene Besucher zurücktreten und sich in eine Ecke drücken mußte, verglich er sie mit der Tugend, die auch im Anfang klein und verächtlich erscheint, aber nach und nach wachsend die Welt erfüllt.

Eine ungeheure Eidechse, die er im Belvederegarten gefunden hatte, beklebte er mit schönen Fisch- und Schlangenschuppen, versah sie mit Hörnern, einem Bart, mit Augen und befestigte an ihr mit Quecksilber gefüllte, bei jeder Bewegung des Tieres zitternde Flügel; er setzte sie in eine Schachtel, zähmte sie und zeigte sie den Gästen, die dieses Ungeheuer für den Teufel hielten und entsetzt zurückprallten.

Oder er formte aus Wachs kleine unnatürliche Tiere mit Flügeln, füllte sie mit warmer Luft, so daß sie leicht wurden, aufstiegen und in der Luft schwebten. Aber Leonardo genoß das Erstaunen oder die abergläubische Furcht der Zuschauer, triumphierte, und in den ernsten Falten seines Gesichtes, in den trüben, traurigen Augen erschien plötzlich etwas Naives und kindlich Fröhliches. In seinem alten, müden Gesicht aber wirkte es so armselig, daß Francesco das Herz blutete.

Eines Tages hörte er aus dem Nebenzimmer Cesare da Sesto, der die Gäste hinausbegleitete, sagen:

»So ist es, Messere. Mit solchen Spielereien geben wir uns jetzt ab. Wozu es verheimlichen? Unser Alter wird schwachsinnig, der Arme ist kindisch geworden. Er hat mit Menschenflügeln begonnen und mit fliegenden Wachspuppen geendet. Der Berg hat eine Maus geboren!«

Und dann fügte er mit seinem boshaften und gezwungenen Lächeln hinzu:

»Ich wundere mich über den Papst: ich glaube, er sollte doch ein Kenner von Narren und Schwachsinnigen sein. Messer Leonardo ist ein wahrer Schatz für ihn. Sie scheinen füreinander geboren zu sein. Verwendet euch doch wirklich für den Meister, meine Herren, damit der heilige Vater ihn in seine Dienste nehme. Fürchtet euch nicht, er wird zufrieden sein: unser Alter wird ihn besser zu unterhalten verstehen, als selbst Fra Mariano und sogar der Zwerg Baraballo!«

Dieser Scherz war der Wahrheit näher, als man glauben konnte. Als Leo X. von Leonardos Kunststücken, von den Schafsdärmen, die durch Blasebälge aufgeblasen wurden, von der geflügelten Eidechse und den fliegenden Wachsfiguren erfuhr, bekam er solche Lust sie zu sehen, daß er sogar bereit war, die ihm durch Leonardos Zauberei und Gottlosigkeit eingeflößte Angst zu überwinden. Geschickte Höflinge gaben dem Künstler zu verstehen, daß er jetzt die Gelegenheit benützen sollte: das Schicksal bot ihm die Möglichkeit, nicht nur Rafaels, sondern selbst Baraballos Nebenbuhler in der Gnade seiner Heiligkeit zu werden. Doch Leonardo hörte, wie schon so oft im Leben, auch diesmal nicht auf den Rat der Lebensweisheit und verstand es nicht, den richtigen Augenblick zu erfassen und sich rechtzeitig an Fortunas Rad zu klammern.

Francesco fühlte, daß Cesare Leonardos Feind sei und warnte den Meister vor ihm; doch dieser glaubte ihm nicht.

»Laß ihn in Ruhe«, verteidigte er Cesare. »Du weißt nicht, wie er mich liebt, wenn er mich auch hassen will. Er ist ebenso unglücklich und sogar noch unglücklicher als ...«

Leonardo sprach nicht zu Ende. Melzi erriet jedoch, daß er sagen wollte: unglücklicher als Giovanni Beltraffio.

»Und ich soll sein Richter sein?« fuhr der Meister fort. »Vielleicht habe ich ihn selbst auf dem Gewissen ...«

»Ihr habt Cesare auf dem Gewissen?« fragte Francesco erstaunt.

»Ja, mein Freund. Du wirst es nicht verstehen. Aber es scheint mir manchmal, daß ich ihn durch meinen Blick verdorben habe; denn siehst du, mein Junge, ich habe wohl wirklich einen bösen Blick ...«

Nach einer Weile fügte er mit einem leisen, gutmütigen Lächeln hinzu:

»Laß ihn, Francesco, und fürchte nichts: er wird mir nichts Böses tun, er wird mich weder verlassen, noch verraten. Wenn er sich aber empört und gegen mich kämpft, tut er es ja für seine Seele und Freiheit, denn er sucht sich selbst und will selbständig sein. Und er soll es auch tun! Gott helfe ihm dabei, denn ich weiß, er wird zu mir zurückkehren, wenn er gesiegt hat, er wird mir verzeihen, und wird einsehen, wie ich ihn liebe. Dann werde ich ihm alles geben, was ich besitze, ich werde ihm alle Geheimnisse der Kunst und Wissenschaft eröffnen, damit er sie nach meinem Tode den Menschen predigt. Wer sollte es denn tun, wenn nicht er?«

Noch im Sommer, während Leonardos Krankheit, verschwand Cesare wochenlang aus dem Hause. Im Herbst ging er endgültig fort und kehrte nicht mehr zurück.

Als Leonardo seine Abwesenheit bemerkte, fragte er Francesco nach ihm. Dieser schlug verlegen die Augen nieder und antwortete, Cesare wäre zur Ausführung eines eiligen Auftrags nach Siena gereist.

Francesco befürchtete, Leonardo möchte ihn ausfragen, warum Cesare, ohne Abschied zu nehmen, verreist sei. Der Meister aber glaubte oder tat, als glaube er dieser ungeschickten Lüge; er sprach auch gleich von etwas anderem. Nur seine Mundwinkel zuckten und senkten sich mit jenem Ausdruck bitteren Ekels, der in letzter Zeit immer häufiger auf seinem Gesicht erschien.

V.

Der Herbst war regnerisch. Ende November aber kam eine Reihe sonniger, strahlender, stiller Tage, die nirgends so schön sind wie in Rom: das prunkvolle Sterben des Herbstes ist der stillen Pracht der Ewigen Stadt verwandt.

Leonardo hatte schon lange vor, die Sixtinische Kapelle aufzusuchen, um Michel Angelos Fresken zu sehen. Er schob es aber immer wieder auf, als fürchtete er sich davor. Eines Morgens verließ er endlich das Haus und begab sich mit Francesco zur Kapelle.

Es war ein schmales, langes, sehr hohes Gebäude mit kahlen Wänden und Bogenfenstern. Auf der Decke und auf der Kuppel befanden sich die soeben vollendeten Fresken Michel Angelos.

Leonardo betrachtete sie und erstarrte. Trotzdem er sich schon im vorhinein gefürchtet hatte, übertraf das, was er sah, seine Erwartungen.

Von den Riesengestalten, die im Fieberwahn geschaffen schienen, vor Gott Zebaoth, der die Finsternis im Schoße des Chaos vom Lichte schied, die Gewässer und die Pflanzen segnete, Adam aus dem Staube und Eva aus Adams Rippe schuf; vor dem Sündenfall, vor Abels und Kains Opfer, vor der Sintflut, vor Ham, der die Blöße seines schlafenden Erzeugers verspottete; vor den schönen, nackten Jünglingen, den Dämonen der Elemente, welche die Tragödie des Weltalls, den Kampf des Menschen mit Gott mit ihren Spielen und Tänzen begleiteten; vor den Sibyllen und Propheten, den furchtbaren Giganten, die mit übermenschlicher Trauer und Weisheit beladen zu sein scheinen; vor den Vorfahren Jesu, der Reihe dunkler Geschlechter, die die zwecklose Last des Lebens einander übergaben und in den Qualen des Gebärens, des Ernährens und des Todes schmachtend, den unbekannten Erlöser erwarteten, vor allen diesen Geschöpfen seines Nebenbuhlers wagte Leonardo kein Urteil zu fällen, zu vergleichen oder zu messen; er fühlte sich nur vernichtet. Er ließ seine eigenen Werke vor sich im Geiste vorüberziehen: das dem Untergang geweihte Heilige Abendmahl, den vernichteten Koloß, die Schlacht bei Anghiari, die unzählige Menge anderer, unvollendeter Werke – eine Reihe vergeblicher Anstrengungen, lächerliche Mißerfolge und ruhmloser Niederlagen. Er hatte in seinem ganzen Leben nur angefangen, Anstalten getroffen, sich vorbereitet, hatte aber bisher nichts vollendet und – wozu der Selbstbetrug? – jetzt war es schon zu spät, – er würde auch nie mehr etwas vollenden. Glich er, trotz seiner ganzen ungeheuren Lebensarbeit, nicht dem schlauen Sklaven, der seinen Zentner in die Erde vergraben hatte?

Und zugleich wußte er, daß er nach etwas Größerem, Höherem als Buonarotti gestrebt hatte – nach jener Einheit, nach jener letzten Harmonie, die der Andere nicht kannte, und in seiner steten Uneinigkeit mit sich selbst in seiner Auflehnung, in seinem Ungestüm und in seiner chaotischen Verfassung auch nicht kennen wollte. Leonardo fielen die Worte Monna Lisas über Michel Angelo ein: daß seine Kraft dem Sturmwind gleiche, der die Berge zerreißt und die Felsen vor dem Herrn zerbricht und daß er, Leonardo, stärker sei als Michel Angelo, ebenso wie die Stille stärker ist als der Sturm; denn der Herr sei in der Stille und nicht im Sturm. – Jetzt war es ihm klarer als je, daß dem wirklich so sei: Monna Lisa hatte sich nicht geirrt, und früher oder später würde der menschliche Geist auf den von Leonardo gewiesenen Weg zurückkehren, vom Chaos zur Harmonie, vom Zwiespalt zur Einheit, vom Sturm zur Stille. Und doch, wer konnte wissen, wie lange Buonarotti siegreich bleiben und wie viele Geschlechter er mit sich hinreißen würde?

Und das Bewußtsein, daß seine Anschauung die wahre sei, machte ihm das Bewußtsein seiner Ohnmacht in der Handlung nur noch qualvoller.

Schweigend verließen sie die Kapelle.

Francesco erriet, was im Herzen des Meisters vorging, wagte aber nicht zu fragen. Als er dem Meister ins Gesicht sah, erschien er ihm noch mutloser, als wäre er in der einen Stunde, die sie in der Sixtinischen Kapelle verbracht hatten, auf einmal um viele Jahre gealtert.

Sie durchquerten den San-Pietroplatz und begaben sich durch die Straße Borgo-Nuovo zur Sant'-Angelobrücke.

Jetzt dachte der Meister an einen anderen Nebenbuhler, der für ihn vielleicht nicht minder gefährlich war als Buonarotti, an Rafael Sanzio.

Leonardo hatte vor kurzem Rafaels schon vollendete Fresken in den oberen Empfangsräumen des Vatikan, den sogenannten Stanzen gesehen und konnte sich nicht darüber klar werden, was darin überwog, die Größe in der Ausführung oder die Nichtigkeit in der Idee, die unnachahmliche, an die feinsten und klarsten Werke der Alten heranreichende Vollkommenheit oder die sklavische Unterwürfigkeit den Mächtigen dieser Welt gegenüber? Papst Julius II. hatte von der Vertreibung der Franzosen aus Italien geträumt: Rafael ließ ihn auf seinem Bilde bei der Vertreibung des syrischen Feldherrn Heliodor, des Schänders des Heiligtums, durch himmlische Mächte aus dem Tempel des ewigen Gottes zugegen sein; Papst Leo X. hielt sich für einen großen Redner: Rafael verherrlichte ihn in der Gestalt Leos I. des Großen, der den Barbaren Attila ermahnte, von Rom abzulassen; Leo X. war während der Schlacht bei Ravenna von den Franzosen gefangen genommen worden und hatte sich dann glücklich gerettet: Rafael verewigte dieses Ereignis in der Darstellung der wunderbaren Befreiung des Apostels Petrus aus dem Gefängnisse.

So verwandelte er die Kunst in ein notwendiges Attribut des päpstlichen Hofes, in süßlichen Weihrauch der höfischen Schmeichelei.

Dieser Ankömmling aus Urbino, der träumerische Jüngling mit dem Gesicht der unbefleckten Madonna, der ein auf die Erde herabgestiegener Engel zu sein schien, besorgte auf das beste seine irdischen Geschäfte: er bemalte dem römischen Bankier Agostino Chigi die Ställe, verfertigte Zeichnungen für dessen Geschirr, für die goldenen Schüsseln und Teller, welche nach der Bewirtung des Papstes in den Tiber geworfen wurden, damit sie niemandem mehr dienten. »Der glückliche Knabe«, fortunato garzon, wie ihn Francia nannte, erntete wie im Spiel Ruhm, Reichtum und Ehren. Er entwaffnete seine erbittertsten Feinde und Neider durch seine Liebenswürdigkeit. Er heuchelte nicht, sondern war tatsächlich der Freund aller. Und alles gelang ihm, Fortunas Gaben schienen ihm von selbst in den Schoß zu fallen: man überließ ihm das einträgliche Amt des verstorbenen Baumeisters Bramante beim Bau des neuen Domes, seine Einkünfte wuchsen mit jedem Tage; der Kardinal Bibbiena trug ihm die Hand seiner Nichte an, er wartete aber noch ab, da man ihm selbst den Kardinalpurpur versprochen hatte. Er hatte sich auf dem Borgo einen schönen Palast erbaut und lebte darin mit fürstlichem Prunk. Von früh bis spät drängten sich in seinem Vorzimmer Würdenträger und Gesandte fremder Fürsten, die ihr Bildnis, oder wenigstens irgend ein Bild oder eine Zeichnung zum Andenken haben wollten. Er hatte alle Hände voll zu tun und wies alle ab. Die Bittsteller ließen aber nicht nach und bestürmten ihn. Er hatte schon längst keine Zeit mehr, seine Werke zu vollenden; er begann sie nur, machte zwei, drei Pinselstriche und übergab sie sofort den Schülern, die sich darauf stürzten und sie wie im Fluge vollendeten. Rafaels Werkstatt hatte sich in eine ungeheure Fabrik verwandelt, in der geschickte Geschäftsmänner wie Giulio Romano Leinwand und Farben mit erstaunlicher Schnelligkeit und marktschreierischer Frechheit in klingende Münze verwandelten. Er selbst kümmerte sich nicht mehr um die Vollkommenheit, sondern begnügte sich mit der Mittelmäßigkeit. Er diente dem Pöbel und dieser betrachtete ihn entzückt als seinen Auserwählten, als seinen Lieblingssohn, als das Fleisch von seinem Fleische, das Bein von seinem Beine, als die Verkörperung seines eigenen Geistes. Er genoß den Ruf des größten Künstlers aller Zeiten und Völker: Rafael wurde zum Gott der Malerei ernannt.

Und das Schlimmste dabei war der Umstand, daß er auch im Sinken noch groß und berückend schön war, und zwar nicht nur für die Menge, sondern auch für Auserwählte. Er empfing mit ungekünstelter Sorglosigleit das glänzende Spielzeug aus den Händen der Glücksgöttin und blieb rein und unschuldig wie ein Kind. »Der glückliche Knabe« wußte selbst nicht, was er tat.

Und diese leichte Harmonie Sanzios, seine akademisch tote, verlogene Versöhnlichkeit war für die Zukunft der Kunst noch verderblicher als Michel Angelos Zerfahrenheit und das in ihm herrschende Chaos.

Leonardo sah voraus, daß hinter diesen beiden Gipfeln, hinter Michel Angelo und Rafael keine Wege in die Zukunft führten; dort war nichts als ein Abgrund und Leere. Und zugleich war er sich bewußt, wieviel die beiden ihm verdankten: sie hatten von seinem Wissen von Schatten und Licht, von Anatomie, Perspektive, von der Erkenntnis der Natur und des Menschen geschöpft und vernichteten ihn nun, nachdem sie aus ihm entstanden waren.

In diese Gedanken vertieft, setzte er seinen Weg noch immer wie im Traume mit gesenkten Augen und geneigtem Haupte fort.

Francesco versuchte mit ihm zu sprechen, doch die Worte erstarben in ihm jedesmal, wenn er bei einem Blick in das Gesicht des Meisters auf den bleichen Greisenlippen den Ausdruck eines unendlichen, stillen Ekels bemerkte.

Als sie sich der Sant' Angelobrücke näherten, mußten sie einer aus etwa sechzig Personen zu Fuß und zu Roß bestehenden Gesellschaft in prächtigen Kleidern ausweichen, die ihnen in der schmalen Straße Borgo Nuovo entgegenkam.

Leonardo sah zuerst zerstreut hin, in der Meinung, es sei der Hofstaat irgend eines römischen Würdenträgers, eines Kardinals oder eines Gesandten. Ihm fiel aber das Gesicht eines jungen Mannes auf, der reicher als die übrigen gekleidet war und einen weißen Araberhengst mit vergoldetem und mit Edelsteinen übersätem Geschirr ritt. Er glaubte dieses Gesicht schon einmal gesehen zu haben. Da fiel ihm plötzlich der schmächtige, blasse Knabe in dem schwarzen, mit Farben beschmutzten Rock mit den durchgewetzten Ellbogen ein, der ihm vor acht Jahren in Florenz mit schüchternem Entzücken gesagt hatte: »Michel Angelo ist unwürdig Euch auch nur den Schuhriemen zu lösen, Messer Leonardo!« – Das war er, der jetzige Nebenbuhler Leonardos und Michel Angelos, »der Gott der Malerei«, Rafael Sanzio.

Sein Gesicht war noch immer kindlich, unschuldig und ausdruckslos, doch glich es jetzt weniger dem eines Cherubs, denn es schien jetzt etwas voller, aufgedunsener und schwammiger.

Er ritt aus seinem Palazzo auf den Borgo zu einer Audienz beim Papste im Vatikan und war dabei, wie gewöhnlich, von Freunden, Schülern und Anbetern begleitet: es kam bei ihm nie vor, daß er das Haus ohne ein Ehrengeleite von etwa fünfzig Personen verließ, so daß jede seiner Ausfahrten an einen Triumphzug erinnerte.

Rafael hatte Leonardo erkannt, er errötete kaum merklich und grüßte, indem er sein Barett eilig mit übertriebener Ehrerbietung lüftete. Einige der Schüler, die Leonardo nicht persönlich kannten, sahen sich erstaunt nach diesem Alten um, vor dem »der Göttliche« sich so tief verneigte, der aber so bescheiden und beinahe ärmlich gekleidet war, und sich an die Wand drückte, um ihnen Platz zu machen.

Ohne jemanden zu beachten, richtete Leonardo seinen Blick auf einen Menschen, der sich unter Raphaels Schülern befand und an dessen Seite ging und betrachtete ihn verblüfft, als traute er seinen Augen nicht: es war Cesare da Sesto.

Und auf einmal begriff er alles – Cesares Abwesenheit, seine ahnungsvolle Bangigkeit, Francescos ungeschickten Betrug: sein letzter Schüler hatte ihn verraten.

Cesare hielt Leonardos Blick aus und sah ihm mit einem frechen und zugleich armseligen Lächeln in die Augen, das sein Gesicht krankhaft verzerrte und es furchtbar, wie das eines Wahnsinnigen erscheinen ließ. Und nicht er, sondern Leonardo schlug die Augen verlegen, als wäre er der Schuldige, nieder.

Der Zug war vorüber. Sie setzten ihren Weg fort. Leonardo stützte sich auf den Arm seines Begleiters. Sein Gesicht war bleich und ruhig.

Sie gingen durch die Sant' Angelobrücke und die Straße Dei Coronari und gelangten zum Navoneplatz, wo ein Vogelmarkt abgehalten wurde.

Leonardo kaufte eine Menge Vögel: Elstern, Zeisige, Grasmücken, Tauben, einen Jagdsperber und einen jungen wilden Schwan. Er verausgabte das ganze Geld, das er bei sich hatte, und borgte sich noch welches bei Francesco aus.

Diese beiden Menschen, der Greis und der Jüngling, die vom Kopf bis zu den Füßen mit Käfigen, in denen Vögel zwitscherten, behängt waren, lenkten die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Die Vorübergehenden sahen sich neugierig nach ihnen um; die Gassenbuben liefen ihnen nach.

Sie durchquerten ganz Rom und gingen, am Pantheon und dem Forum Trajanum vorbei, zum Esquilinischen Hügel; durch das Tor Maggiore verließen sie die Stadt, und gelangten auf die alte römische Straße, Via Sabicana. Dann schlugen sie einen schmalen, einsamen Pfad ins Feld ein.

Vor ihnen breitete sich die unübersehbare, stille bleiche Campagna aus.

Durch die Bogen des halbzerstörten, von Epheu umrankten Aquädukts, der von den Kaisern Claudius, Titus und Vespasian erbaut worden war, sah man einförmige Hügel, die graugrün wie Meereswellen am Abend waren; hie und da ragte ein einsamer schwarzer Turm auf, das zerstörte Nest eines Raubritters; und weiter am Rande des Himmels war die Ebene von duftigen, blauen Bergen wie von den Stufen eines Riesenamphitheaters eingefaßt. Über Rom leuchteten die Strahlen der untergehenden Sonne hinter den runden, weißen Wolken wie lange, breite Garben hervor. Ochsen mit starken Hörnern und glänzendem weißen Fell, mit klugen, gutmütigen Augen wandten ihren Kopf träge nach den verhallenden Schritten um, während sie langsam wiederkäuten und der Speichel von ihrem schwarzen feuchten Maul auf die stachligen Blätter der staubigen Schlehen herabtropfte.

Das Zirpen der Grillen in dem harten, sonnenverbrannten Gras, das Rascheln des Windes in den toten Stengeln des Beifußes über den Steinen der Ruinen und das Glockengeläute, das aus dem fernen Rom kam, schienen die Stille noch zu vertiefen. Hier, über dieser Ebene, in ihrer wundervollen, feierlichen Einsamkeit schien die Prophezeiung des Engels schon in Erfüllung gegangen zu sein, der »bei dem Lebenden von Ewigkeit zu Ewigkeit« geschworen hatte, »daß hinfort keine Zeit mehr sein soll.«

Sie wählten sich einen Platz auf einem der Hügel, stellten die Käfige auf die Erde, und Leonardo begann die Vögel in Freiheit zu setzen.

Das war seit seiner Kindheit sein liebster Zeitvertreib. Er begleitete sie mit freundlichen Blicken, während sie mit freudigem Flattern und Flügelrauschen emporschwebten. Sein Gesicht wurde von einem stillen Lächeln erhellt. Er vergaß in diesem Augenblick alle seine Leiden und schien glücklich wie ein Kind.

Im Käfig waren nur der Jagdsperber und der wilde Schwan zurückgeblieben; der Meister hob sie bis zuletzt auf.

Er setzte sich hin um zu rasten und entnahm der Reisetasche ein Paket mit dem bescheidenen Abendessen, das aus Brot, gebackenen Kastanien, gedörrten Feigen, einer mit Stroh umflochtenen Flasche roten Orvietoweines und zwei Arten Käse bestand: aus Ziegenkäse für sich und Rahmkäse für seinen Begleiter; er wußte, daß Francesco keinen Ziegenkäse liebte und hatte daher eigens für ihn Rahmkäse mitgenommen.

Der Meister lud den Schüler ein, mit ihm das Mahl zu teilen und begann zu essen, indem er voll Entzücken die Vögel betrachtete, die im Vorgefühl der Freiheit mit den Flügeln schlugen: er liebte es, die Befreiung der geflügelten Gefangenen durch solche kleine Feste im Felde unter freiem Himmel zu feiern.

Sie aßen schweigend. Francesco warf ihm ab und zu einen verstohlenen Blick zu. Zum ersten Mal seit der Krankheit sah er Leonardos Gesicht bei hellem Tageslicht in der Luft, und noch nie war es ihm so müde und alt erschienen. Die schon ergrauenden, gelblich schimmernden Haare, welche oben dünn waren und die die gewölbte, ungeheure, von trotzigen, düsteren Runzeln durchfurchte Stirn enthüllten, fielen nach unten hin noch immer dicht und reich und vereinigten sich mit dem gleich unter den Backenknochen beginnenden langen, bis zur Mitte der Brust reichenden, ebenfalls ergrauenden welligen Bart. Die blaßblauen Augen blickten mit derselben Schärfe und furchtlosen Wißbegier aus den tiefen, dunklen Höhlen unter den dichten überhängenden Augenbrauen. Diesem Ausdruck von beinahe übermenschlicher Geistesmacht und ungeheurem Wissensdrang aber widersprach der Ausdruck menschlicher Ohnmacht und tödlicher Ermattung in den kränklichen Falten der eingefallenen Wangen, in den schweren greisenhaften Säcken unter den Augen, in der etwas vorstehenden Unterlippe und der mit verachtender Bitterkeit und mit unaussprechlichem Ekel gesenkten feinen Mundwinkeln: das war das Gesicht des besiegten, beinahe altersschwachen Titanen Prometheus.

Francesco betrachtete ihn, und das bekannte Gefühl des Mitleids bemächtigte sich seiner.

Er wußte, daß manchmal eine nichtige Kleinigkeit genüge, um den Ausdruck menschlicher Gesichter in einem Augenblick zu verändern und ihre ungeahnte Tiefe zu enthüllen: so stieg in ihm ohne jeden Anlaß ein unverständliches seltsames Mitleidsgefühl auf, wenn er auf der Wanderung sah, wie irgendein ihm unbekannter und gleichgültiger Reisender sein Bündel mit Lebensmitteln hervorholte, sich beiseite setzte und mit jener Schamhaftigkeit, die Menschen, wenn sie an einem ungewohnten Ort und unter fremden Menschen essen müssen, eigen ist, seine Vorräte mit abgewandtem Gesicht zu verzehren begann; solche Menschen erschienen ihm immer einsam und unglücklich. Er hatte dies Gefühl häufig in seiner Kindheit gehabt, doch es bemächtigte sich seiner zuweilen auch in den späteren Jahren. Er hätte dieses Mitleid, dessen Wurzeln tiefer als im Bewußtsein lagen, durch nichts erklären können. Er dachte auch beinahe gar nicht daran; wenn es aber kam, erriet er es sofort und konnte ihm nicht widerstehen.

So auch jetzt, während er beobachtete, wie der Meister zwischen den leeren Käfigen auf dem Grase sitzend und die zurückgebliebenen Vögel betrachtend, mit dem alten Federmesser, das einen zerbrochenen Beingriff hatte, das Brot und die dünnen Käsestücke schnitt, in den Mund schob und angestrengt und sorgfältig zerkaute, wie es Greise mit schwachen Kiefern tun, so daß sich die Haut auf den Backenknochen bewegte: wenn er ihn so sah, fühlte er in seinem Herzen plötzlich dieses bekannte, brennende Mitleid aufsteigen. Und es war um so unerträglicher, als es sich mit Ehrfurcht paarte. Er wollte Leonardo zu Füßen stürzen, sie umfassen und ihm schluchzend sagen, wenn er von den Menschen auch verstoßen und verachtet werde, sei in dieser Ruhmlosigkeit doch mehr Ruhm enthalten, als in Rafaels und in Michel Angelos Triumph.

Er tat es aber nicht – er wagte es nicht zu tun; er betrachtete den Meister schweigend, mit verhaltenen Tränen, die ihm an der Kehle würgten, während er die Brot- und Käseschnitten mit Anstrengung herunterschluckte.

Als Leonardo sein Abendbrot verzehrt hatte, erhob er sich, setzte den Sperber in Freiheit und öffnete den letzten, den größten Käfig mit dem Schwan.

Der große weiße Vogel flatterte heraus, schwang laut und freudig die von den Abendsonnenstrahlen geröteten Flügel und flog geradeaus in die Sonne.

Leonardo folgte ihm mit einem langen Blick, der von tiefer Trauer und unendlichem Neid erfüllt war.

Francesco fühlte, daß der Meister den Traum seines ganzen Lebens beweine, die Menschenflügel und den »Großen Vogel«, von dem er einst in seinem Tagebuch prophezeit hatte:

»Der Mensch wird seinen ersten Flug auf dem Rücken eines großen Schwans unternehmen.«

VI.

Der Papst gab den Bitten seines Bruders Giuliano Medici nach und bestellte bei Leonardo ein kleines Bild.

Der Künstler zögerte wie gewöhnlich mit der Ausführung, verschob die Arbeit von Tag zu Tag und befaßte sich mit vorbereitenden Versuchen, mit der Vervollkommnung der Farben und der Erfindung eines neuen Firnisses für das zu malende Bild.

Als Leo X. davon erfuhr, rief er mit gespielter Verzweiflung aus:

»Dieser Spaßvogel wird es nie zu etwas bringen, denn er denkt an das Ende vor dem Anfang.«

Die Höflinge fingen diese Worte auf und verbreiteten sie in der ganzen Stadt. Leonardos Schicksal war besiegelt. Leo X., der größte Kenner und Schätzer der Kunst, hatte sein Urteil verkündet: von nun an konnten Pietro Bembo und Rafael, der Zwerg Baraballo und Michel Angelo ruhig auf ihren Lorbeeren ruhen, denn ihr Nebenbuhler war vernichtet.

Alle hatten sich plötzlich, wie auf Verabredung, von ihm abgewandt; er wurde vergessen, wie Tote vergessen werden. Der Ausspruch des Papstes wurde ihm aber doch mitgeteilt. Leonardo hörte ihn so gleichgültig an, als hätte er es längst vorausgesehen und als hätte er nichts anderes erwartet.

Als er in der Nacht, die auf diesen Tag folgte, allein blieb, schrieb er in sein Tagebuch:

»Die Geduld ist für den Beleidigten dasselbe, was das Kleid für den Frierenden ist. Kleide dich wärmer, wenn die Kälte zunimmt, und du wirst sie nicht spüren. Ebenso mußt du in der Zeit der großen Kränkungen die Geduld vermehren, und die Kränkung wird deine Seele nicht berühren.«

›leer›

Am 1. Januar 1515 verschied König Ludwig XII. von Frankreich. Da er keine Söhne hatte, folgte ihm sein nächster Verwandter, der Gatte seiner Tochter Claude de France, der Sohn der Louise von Savoyen, der Herzog von Angoulème, François de Valois, unter dem Namen Franz I.

Gleich nach seiner Thronbesteigung unternahm der junge König einen Feldzug zur Rückeroberung der Lombardei; mit einer unglaublichen Schnelligkeit überschritt er die Alpen, zog durch den Engpaß d'Argentière, erschien plötzlich in Italien, errang bei Marignano einen Sieg, stürzte Moretto und zog als Triumphator in Mailand ein.

Um diese Zeit reiste Giuliano Medici nach Savoyen.

Als Leonardo sah, daß er in Rom nichts zu suchen habe, beschloß er bei dem neuen Fürsten sein Glück zu versuchen und reiste im Herbst desselben Jahres nach Pavia, an den Hof Franz I.

Hier gaben die Besiegten Feste zu Ehren der Sieger. An diesen Veranstaltungen sollte Leonardo in Eigenschaft eines Mechanikers teilnehmen; er hatte den Ruf eines solchen noch seit Moros Zeiten in der Lombardei behalten.

Er baute einen sich selbst bewegenden Löwen: diese Figur durchschritt bei einem der Feste den ganzen Saal, blieb vor dem König stehen, stellte sich auf die Hinterbeine und öffnete seine Brust, aus welcher zu den Füßen seiner Majestät die weißen Lilien Frankreichs herabfielen.

Dieses Spielzeug trug zu Leonardos Ruhm mehr bei, als alle seine übrigen Werke, Erfindungen und Entdeckungen.

Franz I. forderte die italienischen Gelehrten und Künstler auf, in seine Dienste zu treten. Rafael und Michel Angelo wurden vom Papst nicht fortgelassen. Da lud der König Leonardo ein und bot ihm ein Jahresgehalt von siebenhundert Écus und das kleine Schloß Du-Cloux in der Touraine, bei der Stadt Amboise, zwischen Tours und Blois, an.

Der Künstler willigte ein und der ewige Wanderer verließ in seinem vierundsechzigsten Lebensjahr ohne Hoffnung und ohne Wehmut die Heimat und zog mit dem alten Diener Villanis, der Magd Maturina, mit Francesco Melzi und Zoroastro da Peretola anfangs des Jahres 1516 aus Mailand nach Frankreich.

VII.

Die Reise war sehr beschwerlich, namentlich aber zu dieser Jahreszeit; – sie ging über Piemont nach Turin, durch das Tal des Doria Riparia, eines Nebenflusses des Po, dann durch den Gebirgspaß Col de Fréjus auf den Bergsattel zwischen Mont Tabor und Mont Cenis.

Sie brachen früh morgens, vor Sonnenaufgang, aus dem Städtchen Bardonecchia auf, um den Sattel noch vor Abend zu erreichen.

Die Maultiere mit den Reisenden und dem Gepäck klommen, mit den Hufen aufschlagend und mit den Schellen läutend, den schmalen Pfad am Rande des Abgrundes hinauf.

Unten, in den südlich gelegenen Tälern, fühlte man schon den Duft des Frühlings, während auf der Höhe noch Winter herrschte. In der trockenen, dünnen, windstillen Luft machte sich die Kälte jedoch wenig fühlbar. Es dämmerte kaum merklich. In den Abgründen, in denen die vereisten Wasserfälle gleich Stalaktiten gespensterhaft weiß schimmerten und die schwarzen Tannenwipfel an den Rändern der Abstürze wie struppige Borsten aus dem Schnee ragten, lagerten schon die Schatten der Nacht. Oben am bleichen Himmel kamen schon die Schneemassen der Alpen zum Vorschein, die von innen beleuchtet zu sein schienen.

An einer der Biegungen machte Leonardo Halt: er wollte die Berge näher betrachten. Da er von den Führern erfahren hatte, daß der schmälere und mühsamere seitliche Fußsteig zu demselben Ziele wie der Reitweg für die Maultiere führte, begann er mit Francesco die nächste Anhöhe zu erklimmen, von der die Berge sichtbar waren.

Als die Schellen verstummt waren, wurde es so still, wie es nur auf den höchsten Bergen zu sein pflegt. Die Reisenden hörten die Schläge des eigenen Herzens und ab und zu das langgedehnte, donnerähnliche Getöse einer Lawine, das von einem vielstimmigen Wiederhall begleitet wurde.

Sie stiegen immer höher und höher.

Leonardo stützte sich auf Francescos Arm. – Und der Schüler dachte daran, wie sie beide vor vielen Jahren im Dorfe Mandello, am Fuße des Campione auf der schlüpfrigen, unheimlichen Treppe in den unterirdischen Abgrund des Erzbergwerks herabgestiegen waren: damals hatte Leonardo ihn auf seinen Armen getragen, jetzt stützte Francesco den Meister. Und dort, unter der Erde, war es eben so still wie hier auf der Höhe.

»Schaut, schaut, Messer Leonardo«, rief Francesco aus, auf den sich plötzlich dicht vor ihren Füßen eröffnenden Abgrund hinweisend, »das ist wieder das Tal des Doria Riparia! Jetzt sehen wir es wohl zum letzten Mal. Gleich kommt der Bergsattel, und dann sehen wir es nicht mehr.«

»Dort liegt die Lombardei, Italien«, fügte er leise hinzu.

In seinen Augen leuchteten Freude und Wehmut auf.

Er wiederholte noch leiser:

»Zum letzten Mal ...«

Leonardo blickte in die Richtung, wohin Francesco zeigte und wo die Heimat lag; sein Antlitz blieb teilnahmslos. Er wandte sich schweigend ab und schritt wieder weiter, dorthin, wo der ewige Schnee und die Gletscher von Mont-Tabor, Mont-Cenis und Roccio Melone schimmerten.

Ohne die Müdigkeit zu beachten, ging er jetzt so rasch weiter, daß Francesco zurückblieb und unten am Rande des Abgrunds noch etwas verweilte, um von Italien Abschied zu nehmen.

»Wohin, wohin eilt Ihr, Meister?« rief er ihm aus der Ferne nach. »Seht Ihr denn nicht, daß der Pfad zu Ende ist? Höher geht es nicht mehr. Dort ist ein Abgrund. Vorsicht!«

Doch Leonardo stieg, ohne auf ihn zu hören, mit festen, jugendlich leichten, gleichsam beschwingten Schritten immer höher und höher über schwindelnde Abgründe empor.

Die Eismassen zeichneten sich am bleichen Himmel immer klarer ab: sie erhoben sich wie eine riesenhafte, von Gott errichtete Wand zwischen zwei Welten. Sie lockten und zogen an, als läge hinter ihnen das letzte Geheimnis, das einzige, das seine Neugierde befriedigen konnte. Sie waren ihm verwandt und von ihm ersehnt, obwohl sie unüberbrückbare Klüfte trennten; sie erschienen ihm so nahe, als genügte es, die Hand auszustrecken, um sie zu berühren. Sie blickten ihn so an, wie Tote einen Lebenden anblicken – mit einem ewigen Lächeln, das dem Lächeln der Gioconda glich.

Leonardos bleiches Gesicht wurde durch ihren bleichen Widerschein beleuchtet. Er lächelte ebenso wie sie. Während er diese Massen von klarem Eis in dem kalten und ebenso klaren Himmel betrachtete, – dachte er an die Gioconda und an den Tod wie an ein und dasselbe.


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