Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

.

Zehntes Kapitel

Die große Soiree mit Diner, bestimmt die Wiederversöhnung des Beau und der Herzogin Susanne zu feiern, ging gegen Mitternacht zu Ende. Draußen war die Luft weich, der Himmel sternhell, und die Damen zwitscherten in einem silbernen Plaudern ihr Vergnügen und umarmten, küßten Chloe in einem Anfall von Dankbarkeit. Und ihre Kavaliere, natürlich, gaben sich in Versicherungen aus, daß Chloe die Glücklichste unter den Sterblichsten sei. Die Herzogin wollte zu Fuß nach Hause. Sie schien erregt und ihre Sprache zeigte Nachwehen ihrer Herkunft: aber sie strahlte im Glanze ihrer vollen fleischlichen Schönheit.

»Ich ersticke in der Sänfte, das ist gut für das Vieh, sich im Stall einsperren zu lassen.«

Dabei schlug sie ihren Fächer, und die Schleppe ihres Kleides lag pomphaft um sie gerundet. Sie hatte den Oberst Poltermore zur Seite, besiegt und gefangen. Dieses Individuum gefiel sich darin, geschickte Worte anzubringen, die jeweils als Pulver, jeweils als Zündhölzchen dienten, die Herzogin in Brand zu setzen.

»Bin ichs denn noch?« hörte man sie ausrufen. Und ganz ungewöhnlich tiefe Seufzer entrangen sich ihrer Brust, Seufzer einer Koketten, die große Gefühle spielt.

In einem anderen Augenblicke lancierte sie die Worte:

»Glauben Sie denn, daß ich möchte?«

Die Blinklichter, die sie mit ihren Antworten auf die Taktik des Obersten warf, amüsierten höchlich die Gesellschaft, die hinter ihr ging: zwei Damen sehr hohen Ranges, von Caseldy, Beau Beamish, ein Lord und Chloe.

»Halt, mein Herr!« rief eine Stimme, die der Herzogin. »Was hör ich? Ich verweigere Ihnen mein Ohr. Ich kann nicht. Genug! Ich soll nicht.«

So sprach sie, aber ihr Köpfchen neigte sich wie ein Schiff nach einer Seite. Sie lieh, wenn auch unwillig, ihr keusches Ohr und überließ sich dem Zauber verführender leiser Worte.

Der Lord schlug ein Gelächter. Man hatte eine Menge getrunken. Und unsere Naturschwärmer um Mitternacht mußten schon wohl alles entschuldigen, was aus der Natur kam.

Die beiden hochadeligen Damen bestanden, vom lauten Lachen des Lord aufmerksam gemacht, darauf, daß Herr Beamish sie begleite, um von Chloe und der Herzogin sich zu verabschieden.

Wie es bei solcher Gelegenheit leicht geschieht, vermischten sich die Paare im Augenblick des Adieusagens. Und die Herzogin konnte Caseldy die Worte zuflüstern:

»Hab ich mich geschickt herausgezogen?«

Er lobte ihr vollendetes Spiel und fügte bei:

»Erinnern Sie sich, um drei Uhr bin ich an Ihrer Tür.«

»Mir springt das Herz in den Hals,« sagte sie ganz rasch.

Der Oberst Poltermore hatte noch den Vorzug, mit ihr die wenigen Schritte bis vor ihr Hotel zu machen.

Caseldy ging neben Chloe. Erst schweigend, begann er:

»Ich habe noch nicht davon gesprochen ...«

»Ist es das Geld? Dann nicht heute abend davon,« sagte sie rasch.

»Alles was ich sagen könnte, ist, daß meine Sachwalter meine Instruktionen bekommen haben. Aber es kommt nicht ihnen zu, Ihnen zu danken. So streng Sie mich auch wegen meiner Fehler ins Examen nehmen, halten Sie mich nie für undankbar. Sie standen in meiner Wertschätzung immer über allen andern Frauen. Und diese meine Meinung wird sich nicht ändern. Sie stehen zu hoch über mir. Ich fürchte, eine Zusammensetzung recht übler Eigenschaften zu sein. Meine Reputation ist auf dem Kontinent nicht einwandfrei. Ich fange an, mich kennenzulernen und mich mit Ihnen vergleichend, liebe Catherin ...«

»Sie sprechen mit Chloe,« unterbrach sie. »Catherin ist begraben. Es hat sie nicht viel gekostet, zu sterben. Sie ist heute Staub und Asche.«

Der Begleiter tat einen kleinen Seufzer.

»Die Frauen machen sich keine Vorstellung von den Versuchungen, denen wir ausgesetzt sind.«

»Ich absolviere Sie von allen Ihren Irrtümern, Caseldy. Erinnern Sie sich immer daran.«

Er tat einen stärkeren Seufzer:

»Sie haben das Herz einer Christin.«

»Ich bin im Gegenteil zu dem Schluß gekommen, daß ich ein heidnisches Herz habe.«

»Was mich betrifft, ich bin Fatalist. Während meines ganzen Lebens sah ich mein Schicksal sich erfüllen. Es kommt das, was kommen muß. Wir können daran nichts ändern.«

»Ich hörte einmal von einem Menschen erzählen, der an einer von ihm vorausgesehenen, ja sogar angezeigten Indigestion gestorben ist, während er dieser seiner Überzeugtheit noch einen letzten Bissen gönnte.«

»Er wurde dazu getrieben.«

»Ja, von einer inneren Kraft.«

Caseldy gab seine Zustimmung. Seine Fähigkeiten seien verdunkelt gewesen. Er hätte durchaus Zeichen und Seufzer gebildet, die ein noch viel derberes und groteskeres Bild gestützt hätten.

»Ja, es ist so, fremde Hände sind es, die uns stoßen und treiben.«

»Man sagt sich das gern. Sagen Sie sich das morgen, an mich denkend, wollen Sie?« fragte Chloe.

Er versprach es ihr mit schönem Eifer, denn er verlangte selber, nach diesem Grundsatze beurteilt zu werden.

Nichts Besonderes war in den Worten, mit denen sie sich Gute Nacht sagten. Die hübschen bräuchlichen Formalitäten liefen vor dem Tore ab, und die beiden Herrn entfernten sich.

»Es ist noch völlig Nacht,« sagte die Herzogin zum Himmel blickend. Sie stieg die Treppe hinauf und sank in einen Fauteuil im Schlafzimmer Chloes, das vor ihren Appartements lag. Sie klagte, sich nicht mehr aufrecht halten zu können vor Müdigkeit. Dann fragte sie nach der Uhr und tat unfreiwillig einen unterdrückten Seufzer. Das Herz schlug ihr immer stärker. Sie erhob sich mit einem Ruck und begab sich rasch in ihr Zimmer, ihre Müdigkeit käme wohl davon, daß sie so sehr Schlaf habe.

Das Schlafzimmer hatte, wie auch das Chloes, eine Tür in das Boudoir, und man kam von diesem aus, das die Länge der beiden Schlafzimmer hatte, auf den Korridor und die Treppe. Die Herzogin öffnete weit ein Fenster, um es gleich wieder zu schließen, öffnete und schloß die Tür, trat in ihr Zimmer zurück und rief Chloe, bat sie, Ihr etwas vorzulesen. Chloe schlug einiges Beruhigende, wie Gedichte vor. Die Herzogin wählte erst Predigten, dann warf sie das Buch beiseite.

»Wir sind alle so große Sünder,« sagte sie. »Man soll sich nicht noch Kummer darüber machen, gar des Nachts um die Zeit.«

Chloe schlug Gedichte vor.

»Die versteh ich nicht, außer wo sie von Lerchen handeln, von Butterblumen, Feld und Wiesen. Und alles das ist nichts für eine Frau, die sich wie Feuer fühlt.«

»Haben Sie Fieber, Madame?« fragte Chloe.

»Ja, Madame, ich hab Fieber,« sagte die Herzogin lebhaft.

Dann, sich wieder zurücknehmend, ruhiger, weicher:

»Nein. Chloe, ich hab kein Fieber. Nur die Luft, die man hier atmet, ist so aufregend, wie auch der Arzt sagt. Und ich mußte Wein trinken und ich habe vor dem Souper gespielt. – Ach, mein Geld! Ich sagte mir immer, ich werde mir anderes verschaffen müssen, und jetzt ...«

Sie seufzte auf.

»Übrigens gibts was Besseres auf der Welt als das Geld. Du weißt es gut, Liebling, nicht wahr, du weißt es? Sag mirs. Ich wünsche Ihr Glück, Chloe. Sie sollen einsehn, daß ich es wünsche. Ich wollte, alle Welt könnte glücklich sein.«

Sie begann zu weinen und meinte, etwas Musik würde sie beruhigen.

Chloe streckte die Hand nach der Laute. Die Herzogin hörte einige Takte an, dann rief sie, ihr Herz würde davon zu traurig. »Alles was wir sehr lieben ist mit einer Planke umgeben mit einem Geschreibe drauf, Eintritt verboten. Und dann gibts auch so viele Leute auf der Welt ... Nicht mehr spielen, Liebling. Legen Sie das Ding bitte hin. Sie sind ungeheuer begabt. Alle sagen es. Ich wollte ich wärs ... Die hübschen Frauen bemächtigen sich der Männer, und die Frauen mit Talent, die behalten sie. Ich hab das hier in dem verfluchten Nest sagen hören. Da hab ich arme blöde Person ja schöne Aussichten! Ja, ja, ich weiß genau, daß ich blöd bin.«

»Der Herzog betet Sie an, Madame.«

»Der arme Herzog! Lassen Sie ihn in Ruh. Was hat er doch für ein unglücksgeschlagenes Aussehen, wenn er schläft mit dem Mund so – und mit seinem Kinn wie ein Bébé. Er schaut aus als ob er von einem Groschenpfeiferl träumte. Er hätt mich nicht hierherkommen lassen sollen. Sprechen wir von Beamish. Sie gehn ihm sehr ab, Chloe!«

»Ich weiß,« sagte Chloe traurig.

»Wenn Sie zu ihm gingen. Liebstes!«

»Ich will.«

»Warum verließen Sie ihn denn, Chloe?«

»Es mußte sein.«

»Und der Gedanke macht Sie unglücklich! Das ists.«

»Ja.«

»Sicher sind Sie nicht verpflichtet, ihn zu verlassen.«

Chloe sah sie an.

Die Herzogin wandte den Kopf weg.

»Warum sind Sie nicht heiter wie beim Souper, Chloe? Mit dem Beau, da gehn Sie auf wie eine Blume, wenn die Sonne über dem Hügel hervorkommt. Da sind Sie leicht wie eine Lerche am frischen Morgen, oder wie ich, wenn ich an nichts denke. Gott – da dämmerts schon – und ich hab so Schlaf! Ganz trottelhaft komm ich mir in meinen schönen Kleidern vor um die Stunde, die Vögel werden gleich zu singen anfangen und ich bin müd zum Umfallen! Zeit, daß ich mich ausziehe.«

Sie umarmte Chloe, küßte sie hastig, sagte, sie stürbe vor Müdigkeit und führte sie zur Tür.

»Nicht nötig, daß Sie mir helfen. Ich werd ganz allein fertig. Susanne Barley wußte gut, sich auszuziehen. Sie können die Tür schließen, ich hab heute keine Furcht. Ich bin zu müd dazu.«

»Einen Kuß noch.« sagte Chloe sehr zart.

»Ja, noch einen.« und die Herzogin hielt ihr die Wange hin. »aber ich bin so müd, daß ich nicht weiß, was ich tu.«

»Ihr Gewissen wird nicht das Gewicht Ihres Tuns tragen,« sagte Chloe und küßte sie mit Wärme.

Sie verließ das Schlafzimmer. Die Herzogin schloß die Tür und schob eilig den Riegel vor.

»Ich bin zu müd, um zu wissen, was ich tu,« sagte sie sich, während sie mit geschlossenen Augen stand und sich bestimmten Gedanken überließ. Ihre Brust hob sich mit dem lebhaften Atem.

Ihre Blicke gingen vom Bett zur Pendüle. Sie könnte sich noch ein bißchen im Bett strecken und ruhig in den Morgen träumen, jetzt, wo jede Klippe umschifft sei. Sich mit den Träumen aufs Bett zu legen schien ihr süß und lockend, nur für eine Minute. Aber gleich wieder kam es ihr vor, solches hieße ein ältliches Leben wählen, ohne Neuheit, ein Leben von Ende Herbst, kältend und ohne Ziel und nur gut für ein zahnloses und gleichzeitig ausgehungertes Geschöpf. Das Bett, das einen unschuldigen Schlaf anbot, stieß sie ab und sie wandte sich zur Pendüle.

Erschreckend war diese Pendüle: die Hand, welche die Stunden zeigte, der Finger, der dem eilenden Lauf der Minuten folgte, befahlen ihr, sich nun werktätig vorzubereiten, und sie bekam von solchem Befehl Gedanken über die süße Ruhe in ihrem Bette. Nachdem sie die Lampe nah zur Uhr gestellt hatte, um gut die Zeit zu sehen, legte sie sich aufs Bett, ganz angezogen, um sich glauben zu machen, daß sie schlafen gegangen wäre. Sie dachte noch, daß man sie im Zimmer Chloes gehen hören müsse, als ob sie sich auszöge, und sie stand wieder vom Bett auf und ging zur Pendüle, schaute auf die Ellbogen gestützt auf die verbrecherische Uhr. Kein Irrtum: nur mehr eine Stunde und zwanzig Minuten! Kaum Zeit genug für ihre verschiedenen Vorbereitungen, wenn auch die Kammerzofe das Wichtigste besorgt und in dem Koffer mitgenommen hatte. Aber ein anderes Kleid müsse sie anziehen, andere Schuhe, und dann Versteckspielen mit all diesem Hin und Her ihrer Gedanken, ein Verfahren bei Frauen ihres Temperamentes in Brauch statt eines niederschlagenden Trankes vor einem fatalen Schritt. Kraft des Zögerns verbrauchen sie alle ihre Skrupel und das Blut nimmt seinen normalen Gang.

Die Herzogin dachte, daß zu dieser der verabredeten Zeit so nahen Stunde ihr Los entschieden sei. Glücklich zu einem Schluß gekommen zu sein, warf sie sich ganz Erregung aufs Bett und streckte sich, ihren Herzog neben sich. Wirklich begann ihr Kopf alsofort zu arbeiten. Sie untersuchte ihn streng, detaillierte aufs genauste alle seine schwachen Seiten, wie ein zur Nachsicht geneigter Moralist es gegenüber dem weiblichen Geschlecht gemacht hätte. Mit einem Satz war sie wieder aus dem Bett, um ihren Eheherrn zu fliehen, nachdem sie ihn beschworen hatte: halb und halb stellte sie sich vor, er sei wirklich da und läge im Bett. – darum legte sie sich nicht mehr hin. Ein ruhig ablaufendes Leben schien ihr noch viel bedeutungsloser als ein schöngebundenes Buch ohne Text und Bilder drin. Die Vision, die sie davon hatte, sehr verschieden von jener, welche ihr das Tiktak der Uhr suggerierte, entfesselte einen Sturm in ihr; sie brannte danach, davonzulaufen. Gleich.

Aber sie hatte doch Sorge, ein Kissen zu zerknittern, die Bettdecke zu verwühlen, um aller Welt zu zeigen, daß sie da in dem Bett ganz brav geschlafen und nie vorher daran gedacht habe, davonzugehen. Dann zog sie ihr Kleid aus. Noch ist es Zelt, nicht wegzugehn ... noch ists Zeit, sagte sie ganz leise, noch ists Zeit, während sie Stück um Stück ihrer Toilette ablegte. Und sie machte aus Anlaß Ihres seltsamen Schicksals moralische Betrachtungen, die sie einem Zuschauer in den Mund legte: »Mit einem Schlage wurde sie zu höchstem Rang erhoben, und mit einem Schlage stieg sie auf den letzten der letzten.«

»Aber die Liebe führte sie,« flüsterte Susann.

Ganz benommen von den rosafarbnen Visionen der Liebe vollendete sie ihre Vorbereitungen mit einer Sorgfalt und Aufmerksamkeit, die wohl die Ruhe eines völlig zufriednen und heiteren Gemütes wert sind.

Und jetzt blieb ihr nichts weiter zu tun als sich hinzusetzen und zu warten, ganz auf sich zusammengezogen, das Gesicht in den Händen und die Pendelschläge zu zählen, die sagten: Ja – nein, tus – tus nicht, flieh – bleib, flieh – flieh! Es war ihr, als bewegte sich was ... Was Erstaunliches, nach dem, was sie sich einbildete: ihr Herz wars, das so schrecklich laut schlug.

Wie friedlich Chloe schlafen müsse! Wie sie sie beneidete! Aber es war ihr noch vergönnt, ebenso glücklich zu sein wie sie. Warum auch nicht? Aber was für ein Glück hat die denn? Und sie verglich es mit dem eines Toten in seinem Grabe, und es schauderte sie vor Ekel.

Susann begab sich vor den Spiegel, um die Ursache all dieser Wirrungen und Missetaten zu betrachten. Sie streckte die Arme und gähnte wollüstig und nicht ohne Grazie, und ein Schauer von Ekstase durchlief sie, als sie sich zwei liebende Arme vorstellte, die sich um ihre Brust schließen und sie nehmen, während sie ohne Verteidigung. Denn so kommt es sicher, dachte sie. Sie holte aus ihrer Börse einen Diamantring, den er ihr gegeben hatte, gab ihm einen Kuß, steckte ihn an den Finger, zog ihn wieder ab, tat ihn wieder über den Finger und ließ ihn da. Kann sie ihn denn nicht tragen von jetzt ab, ohne unangenehme Fragen zu fürchten und tugendstrenge Blicke? Jetzt ... o köstliches Jetzt! Und sie rief die Stunden zur Eile und sah sich schon dahingetragen beim Galopp der Pferde.

Die furchtbare und ernste Stunde schlug. Mit zögerndem Gedanken erhob sie sich entschlossen. Für einen Augenblick wollten die Füße nicht weiter. Nein, sagte sie fest entschlossen. Aber die Pendüle war ihr Herr, war ihr Geliebter und Herr. Und folgsam glückte es ihr, ins Boudoir zu kommen, gab sich den Vorwand, daß sie nur durchs vordere Fenster schauen wolle, was der Tag mache.

Ah, das fahle Leuchten, das die niedersinkende Welle des Dunkels scheuchte, wie sie das gut kannte!

Die Häuser zeichneten sich drüben scharf ab mit all ihrer Wirklichkeit von gestern. Es kam ihr merkwürdig vor, Häuser zu sehen statt des gewohnten Blickes auf friedliche Felder, braune Heide und die Silhouetten der Bäume. Als wären sie noch nicht aufgewacht, möchte man sagen. Man sah nur ihre Form aufrichten, und die Klarheit des wachsenden Tages gab, sich über die Dinge ergießend, den Eindruck einer großen Leere.

Geschickt war Susannes Herz, den Herzog zu beschuldigen, während sie die weiten freien Räume und die unschuldsvollen Felder heraufbeschwor an Stelle des so ganz andren Bildes, das sich vor ihren Augen versuchte. Ja, das sei die Morgendämmerung eines schlechten schlimmen Ortes, den zu bewohnen man Ihr niemals hätte erlauben sollen. Aber was macht er denn nur, der, dessen Kommen sie erwarte? Da ist er ... Ein Mann, den Mantel vors Gesicht geschlagen, tauchte an der Ecke eines Hauses auf. Er war es! Sie fühlte ihr Herz erstarren, aufhören, aber alle Glieder ihres Leibes waren gespannt unter der Gewalt eines einzigen Gedankens: das Haus verlassen, an die Luft gehen, atmen, und dann – sie sah es schon – vergehen in den schützenden Armen. Glaube man seinen Sinnen, stehe das Haus in Flammen und schreie ihr zu, zu fliehen.

Sie ging entschlossen, sichern Schritts im Dunkel, tastete die Wand entlang, vermied ein Tischchen umzuwerfen und war bei der Tür. Da war doch die Tür, aber sie mochte mit der Hand tasten, wie sie wollte, die Hand ertastete die Tür nicht. Da war sie nun ganz nah am Ausgang und war vor ihr ein Hindernis, das nicht von Holz sein konnte, und es schien, die Tür sei weder geschlossen noch offen. Sie vermochte weder Klinke noch Schlüssel zu finden, irgendwas deckte beides. Sie überlegte, es möchte ein Kleidungsstück sein, ein Hauskleid vielleicht. Seide spürte sie mit ihren Fingern, sie unterschied etwas wie eine lange aufgehängte Masse und begann ganz mechanisch mit großer Vorsicht genau das abzutasten, damit nur kein Lärm entstünde, wenn sie da vorbeikomme. »Besonders Chloe möchte ich nicht aufwecken,« sagte sie sich. Da stockte sie mit ihrer Unruhe, als die tastende Hand zu zittern anhub, ihre Augen sich aufrissen und ihre Kehle sich zusammenzog, daß sie zu ersticken meinte. Die Anstrengung, wieder zu Atem zu kommen, hinderte sie was Klares zu denken, obwohl sie aufhörte zu tasten und den Gegenstand zwickte, zerrte, zu lachen bereit, zu schreien bereit. Sie hob den Kopf, sah, ganz auf eine Seite geneigt, hoch oben an dem mysteriösen Gegenstand einen weißen ovalen Fleck. Ist es wirklich eine Hand, welche sie mit der ihren umfaßt hat? Ein Arm! Es hat einen Arm! Sie griff ihn und glaubte, daß er sich anklammere. Sie zog an ihm, um sich von seinem Druck zu befreien, ganz verzweifelt zog sie und ein Bündel schlug auf den Boden nieder. In einem Fieber ihrer übererregten Nerven wurde ihr mit einem Male bewußt, daß ein toter menschlicher Leib auf sie gefallen sei.

Ein viertel vor vier Uhr an einem Sommermorgen, wie es Herr Beamish, vom letzenmal erzählend, wo er in Chloes Geschichte eine Rolle gespielt hat, um ein viertel vor vier, berichtet Herr Beamish, stieß die Stimme einer Frau hintereinander drei Schreie aus, durchdringend, grauenvoll. Er vernahm sie, als er gerade die Schwelle seines Hauses überschritt. Zehn Minuten vorher hatte ihn der junge Camwell durch seinen Lakaien dringendst bitten lassen. Als er in die Gasse kam, in der die Herzogin Susann wohnte, bemerkte Herr Beamish an den Fenstern der Häuser eine Menge Köpfe in Nachthauben. Das Haus der Herzogin war offen, aber man sah keinen Menschen am Fenster. Er bemerkte davor zwei Herren mit entblößtem Degen und in einer Attitüde nichts weniger als wohlwollend. Er nahm an, diese beiden hätten die Herzogin damit erschreckt, daß sie sich so lärmend unterhielten, sie oder ihre Zofe. Jedenfalls war unter allen Frauen die unfähigste, diese weiblichen Waffen in einem Moment des Schreckens oder der Gefahr zu ergreifen, Chloe: von ihr kamen diese Schreie sicher nicht.

Der Beau ging auf die beiden Gegner zu, Herrn Camwell und den Grafen Caseldy. Als Herr Camwell ihn sah, versorgte er seinen Degen und sagte, was ihn betreffe, sei seine Arbeit getan. Caseldy war von Wut in einer Weise geschüttelt, daß es mit einiger Gefahr verbunden war, ihm in den Arm zu fallen. Nicht zufrieden damit, einige Stöße empfangen und ausgeteilt zu haben, brüllte er, er wollte seines Feindes Blut.

Der Nachtwächter war unauffindbar. Aber bald kamen die Boutikiers und deren Kommis Herrn Beamish zu Hilfe, um die Ordnung wiederherzustellen, trotz der Wut Caseldys und der Provokationen, die ihm der junge Camwell zurief und »denen«, wie der Chronist bemerkt, »nicht leicht zu widerstehen war«. »Ich wußte, die Partie würde ungleich sein, und deshalb ließ ich Sie rufen,« sagte Herr Camwell zu Herrn Beamish. Dieser war über diese Worte um so erstaunter, als er die Kraft und den Mut des jungen Mannes kannte. Er glaubte, der Streit der beiden jungen Leute wäre die Ursache des schrecklichen Schreies, und daß die Reize Chloes einige Rivalität zwischen den beiden erregt hätten. Er begann Mahnungen und Vorwürfe in gleichen Dosen zu verteilen, als die Haustür vor ihnen aufflog. Die Besitzerin des Hotels bat mit Armen und Händen, hinaufzukommen zu dieser armen, armen Dame.

»Sie ist tot, tot, tot!«

Caseldy stürzte weg und hinauf ins Haus.

»Tot? Was wollen Sie sagen, gute Frau?« fragte der Beau, sehr ungläubig und mit einem leichten Lächeln. Und mitten im Jammern die Frau:

»Tot, aufgehängt – an der Tür!«

Der junge Camwell drückte sich die Handflächen an die Schläfen:

»Herrgott im Himmel!«

Sie kamen oben an der Treppe an, als Caseldy aus dem Boudoir trat.

»Welche?« sagte Camwell und fragte den Ausdruck des Gesichts.

»Sie.«

»Die Herzogin?« schrie Herr Beamish.

Camwell stürzte ins Zimmer. Er brauchte nach dieser Antwort nichts mehr zu wissen.

Der Leichnam lag auf dem Boden ausgestreckt, eine Decke über ihm.

Der junge Mann fiel hin und legte seinen Kopf neben das Gesicht der Toten, das der Erde zugewandt war.

Bis zum heutigen Tage, nach fünfzehn verfloßnen Jahren, läßt das Fieber jener tragischen Stunde mir das Blut in meinen Venen rascher laufen, erzählt der Beau Beamish. Ich seh immer unter dem Laken die verschleierte Form der Frau, bewundert unter allen, der das Herz gebrochen wurde von einem Manne ohne Glauben, und die ihr ruiniertes Leben dem weihte, eine Seele, schwächer noch als ihre, auf der Bahn des Verderbens aufzuhalten. Sie hatte vom Himmel erbeten, daß sie durch ihren Tod das Ziel erreiche, das sie sterbend verfolgt hatte. Ihre Bitte wurde reichlich erhört. Um zu retten ist sie gestorben.

Man fand auf ihrem Toilettetisch einen Brief an mich gerichtet und der nicht von den nächstbeteiligten Personen gelesen werden solle. Sie schrieb darin, es voraussehend, das ganze Geständnis der unglücklichen Herzogin nieder. Sie schreibt: »Die Herzogin wird Ihnen ganz ehrlich und aufrichtig gestehen, daß sie die Liebe von ganz nah gesehen habe.« Es ist genau das, was mir die arme Frau jeden Tag sagte bis zur Ankunft ihres Lord. Er kam, um die Beisetzung zu leiten und über die derangierte Gesundheit der Herzogin so lange zu wachen, als ihr Zustand die Abreise unmöglich machte. Immer wieder sagte sie, wenigstens wenn sie mit mir sprach: »Nichts mehr von Liebe.« Und nach der Art zu urteilen, wie sie sich gegen ihren Herzog benimmt, waren ihre Worte echt. Sie fühle sich, sagte sie, jedesmal vom Blicke Chloes durchbohrt, wenn sie sich ihre Worte zurückrufe.

Der Tot Chloes machte auch auf den Untreuen seine Wirkung. Er ging im Leichenzug. Und redete zu keinem ein Wort.

Ein kleines Schriftstück mit der Überschrift: »Meine Gründe zu sterben« enthält einen Vers, aus dem man sieht, daß sie um der Sicherheit Camwells willen wachen wollte.

Ich sterbe, weil mein Herz gestorben.
Eine Seele zu retten, die anders verdorben
Und dafür auch, daß Blut nicht fließe ...

In ihrer klugen Voraussicht fürchtete sie. Camwell würde sich hinter den Flüchtigen hermachen, sie stellen und dem Ungetreuen die Weiterreise verbieten, das wollte Camwell, obwohl er wußte, daß er gegen einen auf dem Kontinent gelernten Fechter wie Caseldy sehr im Nachteil wäre.

Sich erinnernd, daß Camwell die geknüpfte Strähne von ihr verlangt habe, bat sie uns in dem Briefe, dieses seidene Seil von ihrem Hals zu nehmen und es ihm zu geben.

Der Beau Beamish leistete sich noch die Genugtuung, Verse für das Grabmal Chloes zu verfassen. Sie sind von einer Art, jedes Gefühl erkalten zu lassen. Aber man möge bedenken, daß ein im allgemeinen für das Lächerliche und die Apropos der Dinge sehr empfindlicher Mann, zeigt er sich indifferent gegenüber der Meinung, doch in dem, was ihn aus der Reserve heraus und dazu treibt sich natürlich zu zeigen, durchaus echt ist. Das poetische Gestottere dieses Sterblichen mag immer einige Akzente eines Dichters haben, auch wenn wir zuzugeben verpflichtet sind, daß man mit einer Zitierung dieser Grabsteinverse unsere Bewegtheit zerstörte.

.

 << zurück