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Neuntes Kapitel

Es dunkelte, als Chloe durch den Ginster ging. Sie zog aus dem Ausschnitt ihres Kleides die Seidensträhne und ließ sie durch die Finger gleiten. »Ich habe kein Recht zu leben,« sagte sie laut. An sieben Stellen war die Strähne geknotet. Sieben Jahre hatte sie die Rückkehr ihres Verlobten erwartet, sie machte die Rechnung ihrer Jahre mit der Ziffer sieben. Fatalismus hatte sie während der Abwesenheit des Geliebten aufrecht erhalten, und Fatalismus besaß sie völlig in dieser Stunde. Er war es, der sie zum Sprechen brachte, wenn sie sagte: er wird kommen.

»Er ist gekommen,« flüsterte sie, die Hand um den ersten Knoten schließend. Sie hatte die Kraft nicht, Ihre Finger von ihm zu lösen. Das Ereignis, das dieser Knoten bedeutete, hatte sich in ihr Hirn mit düsterroten Buchstaben gebrannt. Nicht mit den Augen, nicht mit der Vernunft waren sie lesbar. Aber sie ließ diese Stunde aufleben, deren Erinnerung sie in den Knoten geschlagen. Sie erlebte die Stunde aufs neue. Genau die gleichen Eindrücke kamen ihr wieder mit aller Deutlichkeit und Schärfe dessen, was, bis auf das Tageslicht, dieser Welt angehört. Sie spürte die doppelte Sensation, nicht heller zu sehen und doch deutlicher als früher. Alles sagte ihr, daß sie hier besser sähe als die andern. Sie sah auch, in welchem Augenblick es wünschenswert wäre, daß sie zu leben aufhöre.

Welch unglückliches Los! Denn sie besaß die Gabe poetischer Imagination, und ihr Herz erzitterte bei allen weiblichen Empfindungen, die jene verdrängt hatten, – sie fühlte selber die Faszination, welche die andere von seiten des Ungetreuen erfahren hatte.

Vom ersten Augenblicke an, da sie die beiden zusammensah, hatte sie es gewußt, daß sie sich kannten. Sie bedauerte sie, falsche Worte sagen zu müssen, verstellte, und als sie das Versprechen gab, den Lauf des Verhängnisses aufzuhalten, geschah es ohne irgendein Gefühl von Rivalität zu dem bloßen Zwecke, ein Geschöpf zu retten, Frau und jünger als sie. Immer bezeugte sie in ihren Beziehungen zu den beiden einen stolzen Edelmut, der weit über den feinen Takt hinausging. Alles was ihre Seele an Eigennutz enthielt, verbrauchte sich, beschäftigte sich in der Lust an ihrem einzigen Monat lebhaft gewollter Illusion.

Niemanden hatte sie verletzt damit, daß sie sich Camwells Küssen hingab, nicht einmal ihren eigenen Körper, der alle seine Reinheit bewahrte. Denn von dem Tage ab, an dem dieser erste Knoten geschlungen wurde, lieferte sie sich ihrem endlichen Schicksal aus, – von da ab war sie Staub in einer Hülle geworden, Asche in einem Sack.

Die andern Knoten markierten Tatsachen, die sich bestätigten: aber der erste erinnerte einen Verdacht. Deshalb war er der wertvollste, jener, der die vollkommenste Gewißheit gab. Was er erzählte, kam aus der dunklen jenseitigen Welt, in der alle Dinge gekannt sind. Davon war sie überzeugt. Und ihr Zustand seit jenem Augenblick war ihr ein Beweis mehr. Sie fühlte sich von Dunkelheiten umgeben und verbrauchte ihre letzten lebendigen Kräfte in der Anstrengung, ein kindliches Glück zu heucheln. Sie ließ es währen, damit es werde, dieses Gefühl, heftig werde, süß und bitter gleichzeitig, aus dieser Minute, wo sie, ihren Geliebten endlich wiedersehend, seine Perifidie fühlte gegen eine Seele, die sich ihm vertraute, begriff, daß sie gelebt hatte und daß Zuflucht, die sich ihr bot, das liebenswerte Reich der Unempfindlichkeit sei. Was sie erlebte, gleicht vielleicht der Freude, welche den Verdammten gestattet ist.

Mit einer tragischen Demut war sie erkenntlich für die Verwundung, an der sie starb. Ohne das hätte ich ihn nicht wiedergesehen, sagte sie sich: der, den sie liebte, wäre zu ihr nicht zurückgekommen, hätte er nicht ein andere gesucht.

Sie verzieh es ihm, dem Reiz dieser schönen Wiesenblume erlegen zu sein, und sie verzieh der Frau. »Als ich ihn das erstemal sah, kam er mir so schön vor wie ihr. Ich hätte es vielleicht ebenso gemacht wie sie.«

Ganz fern, in einem beleuchteten Saal des Westens machten die Ihren ihr Zeichen des Vorwurfs. Sie erschienen ihr wie Gegenstände, verkleinerte Silhouetten, geschnitten in Stahl. Sie konnte kein recht warmes Gefühl für sie aufbringen, sie waren zu weit unten, und ein Ozean, der sie versenkt hatte, hölte einen Abgrund zwischen ihr und ihnen.

Von der Seite her gab ihr ein gewisser weißer ›Rhaiadr‹ warme Empfindungen, ein Rhaiadr, der aus zusammengefallner Wolke sich bäumend sprang und über die astbedeckten Felsen hüpfte. Da war es, wo sie als Kind herumgeklettert und geträumt hatte. Von kommenden Tagen, von leuchtenden Farben. Heute war ihre Seele noch kindlicher. Sie sah das Flußwasser sich wie ein Tischtuch breiten: sie roch den Geschmack des Schaumes: saß am Wasserfall und füllte sich mit der Vision der Landschaft, wie das Lamm von keinerlei Hoffnung verwirrt, war sie vom Kinde nur darin verschieden, daß sie wußte, die Last des Lebens hingelegt zu haben, sich auf dem Weg Ihrer Heimat zu befinden und ganz nah der Rast. Sie hörte die Ihren plaudern, ohne Ende schwatzten sie im Wasserfall. Die Wahrheit war bei ihnen zu Haus, die Klugheit auch. Warum denn sollte sie Anspruch machen auf irgendein Recht zu leben? Schon besaß sie keinen Namen mehr, weniger lebendig als ein Leichenstein. Denn wer war Chloe? Chloes Eltern könnten an ihrem Grabe vorbeigehen, ohne Tränen zu vergießen, ohne moralische Bemerkungen zu machen. Sie haben ja ihr Verderben vorausgesagt. Sie hörte ihre im Sington gesprochenen Voraussagungen im Lärm des Wassers: sie sah, wie sie übers Feld liefen, der Welt diese ihre Offenbarung zu bringen.

Indem sie an jene dachte, fand sie es leicht, das von niemandem noch Gewußte zu vollbringen.

Den Hügel unten machten die Lichter der Stadt eine Linie aus Punkten, da gedrängter, dort weiter auseinander. Sie riefen Chloe zu ihrer Pflicht: einmal noch mußte man sich als die heiterste unter denen zeigen, die heute atmen und deren Herzen morgen weiterschlagen.


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