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Zwölfter Brief.

E Einer der größten und beklagenswerthesten, aber durch unzählige Erbauungsbücher, Romane, Gedichte, Zeitungen etc. verbreiteten Irrthümer unserer Zeit ist der, meine gnädige Gräfin! daß das Gewissen eine Stimme Gottes in unserm Herzen sei, welche einen Jeden über das belehre, was er als Recht zu ergreifen, und als Unrecht zu vermeiden habe. Unendlicher Jammer ist überall und insonderheit bei den politischen Bewegungen der neueren Zeit aus dieser »Schwarmlehre« hervorgegangen, die um kein Haar breit besser ist, als die ursprüngliche Lehre Luthers von den Wirkungen des heiligen Geistes in seinen Gläubigen, ja unter verändertem Namen und mit modernen Redensarten verbrämt, gewissermaßen dieselbe ist.

Denn wo bezeugen Geschichte und Psychologie diese fanatische Lehre? Zeigen sie nicht vielmehr im Gegentheil, und heut zu Tage mehr als je, daß es so viele Gewissen giebt, als – wenn ich so sagen darf – Vernunften? Billigt nicht das Gewissen des Democraten, was das Gewissen des Conservativen verwirft? Verwirft nicht das Gewissen des Katholiken, was das Gewissen des Protestanten billigt? Und – gehen wir nun gar weiter: Verwirft nicht das Gewissen des Juden, was das Gewissen des Christen gut heißt und umgekehrt, billigt es bei diesem Volk nicht die scheußlichsten Verbrechen, z. B. den Kindesmord, das Verbrennen der Wittwen etc., welche es bei andern Völkern verabscheut? Konnte nicht sogar das Gewissen eines Plato Laster empfehlen, vor welchen uns Alle schaudert, de republ. V. vergl. Schleiermachers Einleitung zum Staate S. 35. und ein Cicero eingestehen, daß diese Verbrechen in den Gymnasien frei und erlaubt seien? quaest. tuscul. IV. 35. Wo bleibt hier die Stimme Gottes in dem menschlichen Herzen? Ja, sehen wir nicht, daß oft in einer Familie in diesem oder jenem gegebenen Falle ganz widersprechende Regungen des Gewissens stattfinden und – noch mehr: daß bei dem Einzel-Menschen sogar das Gewissen heute schon billigt, was es vor kurzer Zeit verworfen hatte, und umgekehrt?

Das Gewissen an sich kann also nicht die Stimme Gottes in unserm Herzen sein, Dabei soll aber keinesweges in Abrede gestellt werden, daß Gott auch nicht selten unmittelbar in das Gewissen tritt, wie er unmittelbar in den Verstand tritt. Hiervon hängt ja das ganze Werk der Wiedergeburt ab, obgleich wir das Wie nicht begreifen können. Joh 3, 8.
Nur daß Jeder die Stimme Gottes unter seinem Mantel trägt, wie der Wilde seinen Fetisch, bestreiten wir durchaus und gänzlich, da weder die heilige Schrift noch die Erfahrung dafür das geringste Zeugniß ablegen.
sondern betrachten wir es in seiner anthropologischen Allgemeinheit, so werden wir es nur als ein Vermögen der menschlichen Seele definiren können, welches auf den Grund einer religiösen Vorschrift, je welche freie Selbstbestimmung billigt oder verdammt.

Ich sage: religiöse Vorschrift; denn ohne eine solche giebt es kein Gewissen. Darum haben sie in ihrer Weise auch alle Völker, Juden, Christen, Türken, Heiden, und unter den modernen Tiraden und Phrasen, um die Irreligiosität unserer Zeit zu entschuldigen, giebt es keine tollere und der menschlichen Natur widersprechendere, als die: Es käme nicht auf den Glauben des Menschen an, sondern allein auf sein sittliches Handeln.

Denn, wie sein Glaube beschaffen ist, oder, was hier gleich gilt, das Fürwahrhalten seiner religiösen Vorschrift, so ist auch sein Gewissen beschaffen, und demgemäß sein sittliches Handeln. Ist diese Vorschrift an sich schlecht, so übt er auch das an sich Schlechte, z. B. den Kindesmord, ohne Vorwürfe des Gewissens, wie die Berichte unserer Missionen bezeugen. Genügt dem Menschen aber seine religiöse Vorschrift nicht mehr und nimmt er eine neue an, wie die bekehrten Heiden es thun und die reformatorischen Christen es thaten, so wird auch sein Gewissen ein anderes. Was es früher verwarf, billigt es plötzlich und umgekehrt.

Bei der unwiderstehlichen Macht der Jugendeindrücke traten freilich nach der Reformation häufige Reactionen des Gewissens ein, und führten nicht selten zu den traurigsten Selbstmorden, aber diese traten auch, wie die Kirchengeschichte bezeugt, bei den bekehrten Heiden ein, und Luther sprach daher irgendwo, psychologisch sehr wahr: daß die ganze Wohlthat seiner Lehre von der Gerechtigkeit durch den Glauben erst der nächsten Generation zu statten kommen würde, welche die katholischen Jugendeindrücke nicht mehr besäße. So hängt also bei allen Völkern das Gewissen durchaus von ihrer religiösen Vorschrift ab.

Hat der Mensch dagegen allen Glauben aufgegeben, wie so viele in unserer Zeit; so wird auch sein Gewissen aufhören, und er in den meisten Fällen nicht mehr sittlich zu handeln vermögen, wenn er auch wollte, weil er nicht mehr unterscheidet, was gut und böse ist.

Denn Junker Fleisch, um mit unserm guten Klausner zu reden, dem er jetzt allein unterworfen ist, ohne es zu wissen, wird ihn allmählig die Vernunft für Unvernunft, die Wahrheit für die Lüge, das Gute für das Böse, das Recht für das Unrecht und die Stimme der Leidenschaft für die Stimme des Gewissens vorstellen.

Nichts mehr bezeugt diese unumstößliche Wahrheit, als die erste französische Revolution, in welcher ein ganzes Volk mit dem Aufgeben seiner religiösen Vorschrift auch sein Gewissen aufgab, und fast alle Begriffe von Recht und Unrecht auf den Kopf kehrte. Dasselbe würden wir heut zu Tage wieder erlebt haben, wenn die radicalen Bewegungen gelungen wären, die unsere klugen Weltverbesserer erregten.

Es ist also, wie gesagt, eine wahnsinnige Behauptung unserer Zeit, daß es nicht auf den Glauben des Menschen, sondern allein auf sein sittliches Handeln ankomme; denn die sittlichen Handlungen des Menschen hängen, damit ich es noch einmal sage, überall von seinem Glauben, das ist: von dem Fürwahrhalten seiner religiösen Vorschrift ab, wie der Minutenzeiger auf der Uhr von dem Stundenzeiger, wie die Frucht auf dem Baume von der Blüthe.

Nichts desto weniger vermag das ursprüngliche Verderben, welches seit dem Falle ja nicht blos als Sünde, sondern zugleich auch als Irrthum in die menschliche Natur gedrungen ist, diese nicht ganz zu überwältigen. Denn selbst die Heiden tragen, wie der Apostel Paulus (Römer 2, 14.) uns belehrt, das göttliche Sittengesetz ins Herz geschrieben, und üben den einen oder den anderen Theil desselben, denn so müssen die Worte τὰ τοῦ νόμου mit den alten Exegeten gegeben werden (Gesetzliches) und nicht wie Luther übersetzt: sie thun des Gesetzes Werk. Das können sie aus dem obigen Grunde nicht, wenn sie auch wollten. eine Wahrheit, welche die Geschichte aller Zeiten bis zu den französischen Sansculotts und unsern modernen Weltverbesserern hinab bestätigt. Aber, wird man hier fragen, wenn alle Völker das göttliche Sittengesetz in ihr Herz geschrieben tragen und seinen dunkel gewordenen Inhalt in ihren religiösen Vorschriften auszusprechen sich bemüht haben: welche Völker lesen die verwitterten Züge am deutlichsten und irrthumlosesten?

Ich antworte ganz abgesehen von aller Offenbarung, diejenigen, welche durch ihre religiösen Vorschriften die besten Menschen zu erziehen vermögen. Und dies sind von jeher, und nach den vorliegenden Zeugnissen der alten Heiden selbst, die christlichen Völker gewesen. Sobald aber die Reformation ihre religiösen Vorschriften zu verwerfen und das nothwendige Band des Gewissens, wovon ja die ganze Religion ihren Namen hat, religio von religare, » mit Gott verbindenLactant. inst. div. IV. cp. 28. August, de civit. dei. 1 10. cp 4. zu lockern, wenn nicht zu zerreißen begann, brach gleich die Unsittlichkeit wie eine Sündfluth über die Welt herein. Wir haben dies auf den unwiderleglichen Grund der Geschichte gesehen und werden es im Verlauf dieses Werkes leider noch immer weiter sehen. Und mit der Geschichte geht die Statistik Hand in Hand, um vollends alle Zweifel zu heben. Es sei mir erlaubt, in den entgegengesetzten nördlichen und südlichen Theilen des reformatorischen Deutschlands nur zwei Städte hervorzuheben, um die überall wachsende Zahl der Verbrechen zu bezeichnen.

In Nürnberg wurden im ganzen 15. Jahrhundert nur 73 Personen mit dem Tode bestraft, darunter kein Vater-, Mutter-, Bruder-, Braut-, Sohnes-Mörder, ja keine einzige Kindesmörderin. Dagegen werden im Reformations-Jahrhundert 232 Menschen und zum Theil wegen der unnatürlichsten Verbrechen hingerichtet; im nächstfolgenden 17. sogar 282. Die Zahl der Kindesmörderinnen betrug im Reformations-Jahrhundert 6, und wuchs im 17. auf 33. Ebenso stieg daselbst die Zahl der Selbstmorde, davon in dem einen Jahre 1569 sogar 14 vorkamen. Historisch diplomatisches Magazin III 223.

Desgleichen kommen in Stralsund in den nächsten 33 Jahren nach der Reformation 167 Todtschläge vor, während in dem ganzen vorherigen Jahrhundert von 1417-1517 nur 32 Hinrichtungen stattfanden, größtentheils an Seeräubern vollzogen. Baltische Studien VII. 2,18, vergl. Stralsundische Chroniken, herausgegeben von Mohnike und Zober 1. Thl. S. 335 ff.

Will und kann man nun dennoch behaupten: die mit- und nachreformatorischen Christen standen höher als die vorreformatorischen, und die Menschheit hätte durchaus seit Luther einen Riesenschritt gethan aus der dunklen Nacht des Mittelalters; so muß man erst beweisen, daß die elende Wisserei unserer Zeit höher stehe als die Tugend, daß die Unsittlichkeit der menschlichen Gesellschaft mehr nütze, als die Sittlichkeit, Bei seinen gottlosen Predigten versuchte Luther allerdings diesen Beweis. Man höre und erstaune! »Es ist,« spricht er, »gewissermaßen gefährlicher, wenn Gott sein Wort durch heilige Leute giebt, denn so ers durch unheilige giebt: darumb, daß die Unverständigen darauf fallen, und hangen mehr an der Menschen Heiligkeit, denn am Wort Gottes.« Bei Walch XVII, S. 2675. und – da die christlichen Völker ja nicht blos für diese Welt bestehen, – daß Glaube und Unglaube, Tugend und Laster für ihre ewige Bestimmung ganz indifferente Begriffe sind, ein Beweis, den aber wohl Niemand zu führen sich getrauen dürfte.

So verliert denn auch, von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, die Reformation allen sittlichen Gehalt, und die »Gewissensfreiheit,« welche sie brachte und welche jetzt noch in unmäßigerer Ausdehnung gleich der Handelsfreiheit überall erstrebt, erbeten, erschrieen und als unzweifelhafter Fortschritt der Menschheit zum Besseren gepriesen wird, ist nichts anders, als der Fortschritt zur religiösen, sittlichen, wissenschaftlichen und staatlichen Barbarei, welche letztere die stehenden Heere, die Polizei-Anstalten, die telegraphischen Linien u. s. w. schwerlich auf die Länge gegen Junker Fleisch werden zu vertheidigen vermögen, der jetzt überall als Esel gekrönet und für einen unsterblichen Pegasus ausgerufen wird, welcher auf der Höhe aller Bildung sich befinde, wenn wir nicht den segensreichen Fortschritt zum »Rückschritt« versuchen.

O daß doch alle meine Leser diese, auf die ewigen und unwandelbaren Gesetze des menschlichen Herzens, gegründete Abhandlung mehr als einmal lesen möchten, um ganz ihre Wahrheit zu empfinden!

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