Johannes Richard zur Megede
Das Prinzessinlächeln
Johannes Richard zur Megede

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Fünftes Kapitel

Die weiße Hitze brütete stumm über Kissingen.

Carl Frederick von Henk war den Vormittag in seinem Zimmer geblieben. Nach Tisch ging er ins 345 Aktienbad, endlich die wirkliche Kur zu beginnen. Aber nur ein Nobelbassin war noch frei, und da er durchaus kein Verschwender war, gedachte er die anderthalb Stunden, bis sich die stets überfüllte zweite Solklasse öffnete, in den Zeitungssälen oben zu verbringen.

Er hatte sich ans offene Fenster gesetzt und schaute hinaus, während neben ihm an langen Tischen die Zeitungen monoton geblättert wurden. Zuweilen schielte ein alter Zeitungstiger unter der Brille mißbilligend zu ihm herüber oder der Lesediener schlich lautlos vorbei. Vom Kurplatz her klang Musik – weich und müde wie die heiße Sommerluft. Unter ihm blinkte die Saale, die weißen Algenblüten trieben, von leisem Sprudeln umwallt, in der lauen, lächelnden Flut. Da wurde er der blätternden Zeitungen müde und ging hinüber zum Konzert.

Die schlaffe Luft eines Warmbades – ein regelmäßig wogender Menschenstrom – der dumpfe, fast drohende Laut einer großen Menge. Das Kurorchester spielte die Ouverture zu Carmen – sanft und feurig. Es war, als wenn auch die Menschenwogen dem wiegenden Taktstock des Dirigenten folgten, bald rascher, bald langsamer dahinflossen, getragen von den reizenden Melodien. Wieder fühlte der Afrikaner die Versuchung, in diesen Menschenstrom niederzutauchen, zu verschwinden. Er versuchte es nicht! Er wußte, daß einsame Menschen sich doch nie verlieren. Ein Fluch und ein Glück . . . Vor dem Kurhause lief ein breiter Bogengang hin, der gepflegte Blumenrabatten und sattgrüne Rasenboskette halb umschloß. Ein Springbrunnen warf den dünnen Strahl munter plätschernd empor, und Wasserluft wehte hinüber. In diese Anlagen hatte sich die elegante Welt zurückgezogen und saß träumend oder müde umher, sah gleichgültig auf den gleichmäßigen Menschenstrom, 346 horchte den Tönen vom Musikpavillon her. Der Afrikaner begann in dem Bogengang auf und ab zu wandeln. Einige Frauen sahen ihm nach. Er that ihnen vielleicht leid, dieser junge, einsame Mensch. Er merkte davon nichts. Er promenierte wie eine Schildwache, die Augen am Boden, den Stock unterm Arm.

Dicht am Springbrunnen saß im Kreise eine kleine distinguierte Gesellschaft und schlürfte ihren Fünfuhrthee. Die Herren in weißen Tennisanzügen, die Frau im hellen Foulardkleid. Es war das markgräfliche Paar mit seiner unvermeidlichen Suite – den beiden Leutnants, zwei Durchschnittsgesichter, gutmütig, dreist das eine, massiv das andre – und einem schon ergrauenden hageren Herrn mit klugen Augen und kühlem Lächeln, Legationsrat auf Urlaub. Er saß ein wenig zurück und ließ den Blick schweifen – ein Blick, der nie vergeblich sucht. Die Schildwache im Bogengang war ihm sofort aufgefallen, und er folgte lange und interessiert jedem Schritt und jeder Bewegung des Afrikaners.

Einmal wandte er sich nachlässig zu dem verbissenen Leutnant: »Da wandelt ja Ihr Mann, den Sie gestern durchaus umfahren wollten.«

»So, der? – Ich hätte ihn kaum wiedererkannt. Dösiger Kerl! Wegen dem habe ich meine Wette verloren.«

»Er ist krank,« sagte der Legationsrat. »Wer von Ihnen beiden hat ihn eigentlich neulich auf der Trimburg Meuchelmörder getauft?«

Die Leutnants meldeten sich zugleich, und es entstand ein freundschaftlicher Streit, wonach der Lustige den Namen erfunden und der Verbissene ihn sofort kolportiert hatte. Graf Stechelberg lehnte sich im Stuhl etwas zurück und meinte, den Blick über die Schulter:

»Kaisers Bart . . . Es ist höchstens ein Engländer aus den Kolonien.« 347

Der Legationsrat schien nicht hingehört zu haben. »Meuchelmörder? – Nicht übel!«

»Haben Sie sich bei dem epitheton ornans was gedacht?«

»I wo!« gestand ehrlich der lustige Leutnant. »Der Kerl schlich so geheimnisvoll um die Trimburg 'rum – und ich wollte zu gleicher Zeit eine gewisse gefühlvolle Witwe ärgern, die einen gewissen älteren Gentleman gern ködern möchte.«

»Und auch wohl wird!« Der verbissene Leutnant lachte kurz auf.

»Da scheinen Sie ja weit besser orientiert zu sein als der betreffende Gentleman selbst. Ich wenigstens fühle mein Herz noch bedenklich frei . . . Uebrigens, der Mann da ist nicht Engländer. Er ist« – dabei sah er unverwandt auf die Schildwache – »Deutscher und könnte Offizier gewesen sein . . . sogar Kavallerist . . .«

Die Leutnants, die beide Infanteristen waren, zuckten pikiert die Achseln.

»Sagen Sie doch lieber gleich 11. Kürassier!«

Darauf der Graf wieder über die Schulter weg:

»Ein sehr nettes Regiment zur Abwechslung. Ich habe ganz gern da gestanden. Für die Garnison kann das Regiment doch schließlich nichts.«

»Der Mensch ist selbstverständlich ein Engländer,« entschied der Verbissene. »Und vermutlich Schuster.«

»Oder Schneider.«

»Dann wenigstens Damenschneider,« sagte scherzend der Graf.

Aber der Legationsrat fuhr in nachlässiger Ruhe fort: »Wenn die Majorität im Leben immer entschiede, hätten Sie drei recht. Jedenfalls interessiert mich der Mensch . . . Meuchelmörder – hm . . . Er hat so was, und was nicht ist, kann ja noch werden . . . Uebrigens, meine Herren, gerade um die Ecke gegangene preußische Offiziere sind zu allem fähig.« 348

Die Majorität schlug eine Lache auf.

Die Gräfin, die abgewandten Gesichts der Musik gelauscht hatte, fragte, aufmerksam geworden:

»Was habt ihr?«

Darauf antwortete der Graf: »Dein Vetter Otto macht alle Anstrengungen, seinem Vornamen und seinem Beruf zu entsprechen. Bismarck II. Gerade Vortrag über Scharfsinn. Er will uns nämlich beweisen, daß ein Herr, der dort unter den Kolonnaden flaniert und den wir für einen Engländer, Schuster, Schneider, vielleicht sogar Damenschneider halten – 11. Kürassier war und jetzt in seinen Mußestunden Meuchelmörder ist.«

Der weiche Frauenmund verzog sich: »Otto sagt gern häßliche Sachen.«

Der Legationsrat schwieg.

Zwischen den Blumenbosketten tauchte die Haube der Augustaschwester auf. Die Gräfin winkte freundlich schon von weitem. Der Diplomat war aufgestanden und fragte:

»Sagen Sie mal, Schwester, Sie kennen doch so viel Menschen hier in Kissingen. Haben Sie eine Ahnung, wer der hellkarierte Herr dort im Wandelgang neben dem Bogenpfeiler ist?«

»Gewiß, Herr Baron. Ich bin sogar mit ihm zusammen gefahren und er wohnt in unserm Hotel. Er heißt Frederick, Kaufmann aus Englisch-Ostafrika.«

»Also doch!« rief die Majorität, von der die beiden Leutnants immer laut, der Graf ohne das Gesicht zu verziehen, lachten.

»Siehst du, Otto!« Und die Gräfin wandte sich wieder der Musik zu.

Der Legationsrat zuckte die Achseln. »Kaufmann ans Englisch-Ostafrika sagt gar nichts.«

»Na, den Meuchelmörder wollen wir ihm 349 wenigstens zugestehen!« riefen der Verbissene und der Lustige unisono.

»Kellner, Bier! . . . Ich will auf sein Wohl trinken.«

»Mir auch!«

Der Graf nahm nur lächelnd einen Schluck Thee.

Darauf sagte der Legationsrat etwas ärgerlich:

»Das ist doch ein dummer Schnack! Sie mögen ja wie gewöhnlich recht haben, meine Herren, aber so viel weiß ich gewiß, daß der Mann aus unsern Kreisen ist und mehr durchgemacht hat als wir alle. Und sonst – pah! – ich habe allerdings etwas übrig für Leute, die anders sind als andre. Sie bleiben immer sie selbst. Kann man das von vielen sagen?«

Der Kellner mit dem Bier kam.

»Prosit, Meuchelmörder!« rief der lustige Leutnant und hob das Glas in der Richtung der Wandelhalle. »Na, Prosit! Hörst de nich? – Na, endlich kapiert!«

Es war im scherzhaften Uebermut gesagt, und selbst der Legationsrat mußte lächeln. Nur der Graf sagte noch immer über die Schulter weg: »Wir fallen nächstens auf. Und das möchte ich nicht gerade.«

Die Gräfin horchte der Musik, sie hatte noch keinen Tönen so andächtig gelauscht; es war wie ein Zauber heut.

Einmal hatte der Afrikaner seine Wanderung unterbrochen, um an einen Pfeiler gelehnt über die Menge hinzuschauen. Ohne Hochmut, nur müde. Wenige Schritte von ihm zerstob der Springstrahl in funkelndem Silberstaub, und die Vorstellung von köstlicher Kühle und Wasserfrische lockte. Den Afrikaner überkam eine träumerische Stimmung. Wo war sie? – War sie unter der Menge? . . . War sie glücklich? . . . – Er sah eigentlich nichts als die kühlenden, blinkenden Tropfen. Einer stob leuchtend weit über den 350 Fontänenrand. Und Gräfin Mia Stechelberg hob lächelnd die Hand, den Fürwitzigen zu fangen.

Da fuhr der Mann erschreckt zusammen. Erst jetzt sah er sie, erkannte sie – das Kameenprofil, das Goldhaar, das holde Kinderlächeln. Er nahm seine Promenade sogleich wieder auf. Und als wenn dieser menschengedrängte Kurplatz plötzlich leer geworden wäre, einsam, rahmte ihm jeder Halbbogen dasselbe reizende Bild: der silbrige Wasserstaub, die traumverlorene, in die Ferne lauschende Frau. Dazu die weichen Töne der Musik, der dumpfe Wogenlaut, das Prinzessinlächeln! Wohl nie in seinem Leben war ihm das Glück so nahe gewesen und doch so fern. Wie schön sie war, noch heut war, wie jung – und wie er sie geliebt hatte einst! . . . Wenn er jetzt leise auf sie zuschliche, ihr das Haar zu küssen, den Nacken. Und wenn sie erst erschreckt und dann erfreut ihn wiedererkannte in einem lieben Lächeln! Wenn die weiche Stimme flüsterte: »Schatz, mein lieber Schatz!« – Viel junge, thörichte Träume erwachten. Jetzt schien sie zu sprechen. Er horchte. Noch einmal den Laut, die Stimme, ihre Stimme! Wie sehnte er sich danach, wie lange hatte er sie entbehrt! . . . Aber er sah nur die roten Lippen sich bewegen, die Lippen, die er einmal, ein einziges Mal geküßt. Er empfand den heißen Wunsch, nahe, ganz nahe zu ihr zu treten und zu sagen: »Sprich doch, Mia, sprich doch! Nur einmal ein einziges Wort! Und ich bin gesund, glücklich!«

Allmählich waren viele Menschen auf diesen sonderbaren Träumer aufmerksam geworden, Herren stießen sich an, Frauen lächelten. Er bemerkte es nicht. Und seltsam – während er stumm wie das Schicksal immer wieder den Wandelgang maß, den einen ein Spott, den andern ein Rätsel – schaute die Frau nicht ein einziges Mal herüber. Hier schritt wirklich 351 ihr Schicksal, und sie ahnte seine Nähe nicht! Ob ein glücklicher Rosenschleier immer vor diesem reizenden Gesichte lag, ob die Musik sie gefangen nahm in diesem Augenblick – sie, die Menschen, Neues liebte, hätte nur eine Wendung des weißen Halses einmal zu machen brauchen, um ihn zu sehen.

Und das Schicksal wandelte, wandelte . . .

Noch einmal war der Afrikaner stehen geblieben, an demselben Bogenpfeiler wie das erste Mal, gerade in dem Augenblick, als der lustige Leutnant das Bierglas übermütig nach ihm schwenkte. Der Traum zerriß ihm jäh. Er hörte das Lachen, er erkannte die Herren, er ahnte, wem dieses höhnische Prosit galt. Es war ein Nichts, etwas Lächerliches für einen Nüchternen, für den Kranken aber bedeutete es einen jener grauesten Momente im Leben, wo die Wirklichkeit Tod, weil nur der Traum Leben. Er verfärbte sich, die Augen bekamen einen flackernden Glanz – der Tierbändiger greift nach der bleigefüllten Peitsche, der Irrenarzt winkt nach der Zwangsjacke . . . Eine lange Minute sah er stumm und unverwandt nach der Gesellschaft hinüber, und den Grafen überkam schon das Vorgefühl einer sehr unangenehmen Scene. Dann drehte er sich weg und ging.

»Ihr lacht mich aus – und ihr habt recht!« murmelte er bebend, »ich bin und bleibe ein Narr . . . Wenn ich von euch eine Erklärung verlangt hätte, meinen Namen gesagt, ein Achselzucken würde, müßte geantwortet haben, denn mit einem Manne, der Ehrenscheine verfallen läßt, schießt man sich nicht!«

Der bodenlose Abgrund gähnte, der ihn von seinesgleichen schied. Nie hatte er sich ehrloser, wehrloser gefühlt, nie hatte ihm der Verbrecherinstinkt, der in jedem Deklassierten schlummert, scheußlichere Wünsche zugeraunt als hier, wo ein dummer Witz, ein übermütiges Lachen den unseligen Träumer aus einem 352 Himmel direkt in ein Bagno schleuderten, dessen schimpfliche Fessel er bleischwer am Knöchel spürte.

Er war weggegangen unter die Bäume drüben, zu den Tennisplätzen auf seine alte Bank. »Ich bin elend geworden, nicht weil ich schlechter, nein, weil ich besser bin wie ihr!« Er fühlte die würgende Hand eines ungerechten Schicksals an seiner Gurgel und empörte sich mit der Kraft der Verzweiflung gegen den unwürdigen Zwang. »Ja, besser, viel besser!– Ich habe die Frau ehrlich geliebt, darum bin ich ehrlich elend geworden . . . Und ich will nicht mehr Verstecken spielen. Sie war es, sie, der ich mich geopfert habe! – Und ihr, die ihr eine Attacke reitet und dekoriert werdet dafür, habt ihr einem schrecklicheren Tod ins Antlitz geschaut als ich damals, wo ich mich bewußt selbst aufgab? – Es war Mord, qualvollster Selbstmord! Und ihr, die ihr nichts besitzt als eure dürre Ehre, wagt mich zu verhöhnen, weil ihr feig seid, weil ihr mich wehrlos wißt? . . . Irrt euch nicht! – Ich habe Waffen, ich habe Waffen . . .« Und wieder tastete die Hand nach dem schmalen, scharfen Stilett. Das übermütige Lachen klang ihm in den Ohren. »Ja, lacht nur, lacht! Ich thue euch nicht die Ehre an, euch zu hassen – aber ihn hasse ich, ihn, den glatten, blonden, höflichen Hund, dem ich nicht mal das Lächeln wert war.« Er sah das dressierte aristokratische Gesicht vor sich. »Du hast nichts gethan – und du besitzest, bist glücklich! . . . Ja, dich könnte ich morden, ganz ruhig, ganz überlegt – ich könnte, ich könnte . . .« Und alles, was er an Liebe für diese Frau empfand, schien zum dumpfen Haß sich zu wandeln gegen den Mann. Er war ungerecht, aber er war unglücklich.

Und während der instinktive Haß fessellos wogte, tauchte allmählich aus dem blutigen Dunst, der seine Augen verschleierte, die holde Gestalt wieder empor. 353 Und mit der Inbrunst eines Gläubigen, dem man seinen Gott, mit der Angst der Mutter, der man ihr Kind nehmen will, sagte er wie beschwörend: »Nein, dich hasse ich nicht – dich nicht! Du Einzige, du Gute! Du warst ja immer bei mir, und wo wäre ich geblieben, wenn ich nicht deinen Schatten um mich gehabt hätte, deinen lieben Schatten! . . . Mia, Mia . . .«

Er hüllte sie in alle die Zärtlichkeit, die Liebe, deren seine schwerblütige Natur fähig war; ein Heiligenschein umleuchtete das anmutige Haupt. Er wollte, er durfte sie nicht verlieren, er klammerte sich an das Idol wie ein Ertrinkender an eine Planke. Vielleicht nie in seinem Leben hatte er die Frau abgöttischer geliebt, hatte kindischer zu seiner Heiligen gefleht als in dem Augenblicke, wo mit der düsteren Lohe eines ungerechten Hasses sich die reine Flamme einer großen Liebe mischte.

Carl Frederick von Henk war wohl ein finsterer Träumer, aber kein wahlloser Phantast. Er wußte genau, daß diese Frau ihm ewig verloren war. Und ob sie auch beide hüben und drüben mit gerungenen Händen gestanden hätten, die Kluft dazwischen barg nur Tod. Es war nicht mehr das junge, glühende Begehren, das ihn durchfieberte, es war die kranke Vorstellung eines Sterbenden, der das brechende Auge fest und hoffnungsvoll auf die Sonne richtet und wähnt, das liebe Gestirn müsse ihn retten – bis sie lächelnd sinkt und er mit ihr.

Die Tennisplätze waren verödet. Nur das junge Mädchen von neulich mit dem zur Seite gebogenen Kopf eines kranken Vogels spielte und der Balljunge. Das schwächliche Ding war so eifrig, wollte so gerne lernen, sich auszeichnen in dem modischen Sport – und der Schläger schlug immer fehl. Es war auch ein Bild: dieser junge Ehrgeiz und dieses alte Unvermögen . . . Der Tennisjunge, der seine 354 aufgelesenen englischen Brocken im breitesten Fränkisch herausschrie, mußte endlich laut auflachen. Es war wirklich zu komisch!

Der Afrikaner hatte eine Weile zugesehen – der Blick, der nicht sieht, der in Nebelfernen schweift. Endlich stand er auf. Ihn fröstelte trotz der Hitze. Vom Kurplatz drang noch immer die weiche Musik und der dumpfe Wogenlaut. Abseits an der andern Straßenecke stand vor einer Kunsthandlung ein fränkischer Bauernbursche in braunen Sammethosen, mit einem langen Hirtenstock – ein breites, stumpfes, sinnliches Gesicht. Er starrte, ohne die Miene zu verziehen, auf eine weiß leuchtende Alabastergruppe. – Europa, von Zeus entführt. Der Stier schritt wuchtig unter der köstlichen Last. Das nackte, schöne Weib, die vollen Glieder – welch dumpfer Trieb, welch häßliches Begehren mußten unter diesem niedrigen, schwerfälligen Schädel in dieser brütenden Nachmittagshitze kreisen, den ungelenken Knecht auf die Stelle zu bannen, während der Sirenenzauber der Musik von drüben lockte und mehr noch der bunte Menschenstrom mit seinen schillernden Wellen. Unwillkürlich war auch der Afrikaner stehen geblieben. Der Bauernbursche atmete schwer und verlangend. Solch Kunstenthusiasmus mußte mit Entsetzen erfüllen! Der Afrikaner verstand und vermochte doch nur zu lächeln. Die lichte Gestalt einer geliebten Frau war dem einen genau so nahe und genau so unerreichbar wie dem andern das leuchtende Marmorbild.

Während Mister Frederick noch so stand, klopfte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Wie geht's, Mister?« Es war der Arzt, der von einem Patientengange heim wollte.

»O, es geht, Herr Doktor.«

Aber der Arzt, der die fiebrige, magere Hand in der seinen fühlte, schüttelte den Kopf. 355

»Scheint mir eher das Gegenteil. Kommen Sie gleich zu mir!«

Wieder das Bärenfell und die peinliche Untersuchung im Konsultationszimmer.

»Wir wollen mal ganz ehrlich sprechen, Herr Frederick! Kissingen bekommt Ihnen nicht. Die Solbäder strengen Sie offenbar viel zu sehr an. Sie sind, lieber Herr, weniger widerstandsfähig, als ich dachte. Machen Sie, daß Sie fortkommen! Ich werde Ihnen gleich einen Brief an den Kollegen in der Wiesbadener Heilanstalt mitgeben. Das geht so nicht! Wir müssen vor allem die Nerven erst wieder hoch kriegen . . . Einen Augenblick!« Und während er den Brief schrieb, erzählte er in halblautem, beruhigendem Ton, wie viele Malariakranke dort schon genesen seien. »Nur immer den Kopf hoch! Aber der Patient muß natürlich auch den Arzt unterstützen. Und ein junger, kräftiger Herr wie Sie hat doch sicher allen Grund, schnell wieder gesund werden zu wollen.«

Der Afrikaner lächelte als Antwort nur zerstreut. Er, der das erste Mal fast geschwätzig gewesen war, verlor heute kein unnützes Wort. Er nahm den Brief und legte einen Fünfzigmarkschein auf den Schreibtisch. Als der Arzt wechseln wollte, sagte er hastig: »Nein, es stimmt wirklich!«

Der Arzt sah ihn erst etwas verwundert an, verbeugte sich aber zum Abschied sehr tief.

Unten auf der Straße begegnete ihm der Bauernbursche wieder, der langsam und stiernackig seine Entdeckungsreisen von Laden zu Laden fortsetzte. Die beiden sahen sich an. Es war vielleicht instinktiv. Sie hatten ja in der That etwas Gemeinsames.

Der Afrikaner ging weiter.

»Ich muß sie noch einmal sprechen hören – noch einmal . . .« 356



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