Oskar Meding
Die Saxoborussen
Oskar Meding

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Immer neue Truppenabteilungen rückten auf der Bergstraße heran, das ganze Städtchen Weinheim und seine Umgebung glich einem großen Lager, und die ganze Bergstraße, der einzig passierbare Weg, war von marschierenden Kolonnen aller Waffengattungen bedeckt. Die Eisenbahn war dem Verkehr des Publikums noch nicht wieder geöffnet, und die Saxoborussen, die so schnell als möglich nach Heidelberg zurückkehren wollten, suchten vergebens eine Gelegenheit, um dahin zu gelangen, da alle Pferde für Militärfuhren requiriert waren. Herr von Sarkow und Graf Steinborn durchstreiften am Nachmittage die Stadt nach allen Richtungen, um irgend ein Gefährt zu erlangen, aber überall fanden sie die gleiche Antwort, daß alles bereits requiriert sei, und wer noch ein Pferd im Stall verborgen hatte, der verweigerte dessen Vermietung auch für den höchsten Preis, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, daß sein Tier, sobald es sich zeigte, mit Beschlag belegt würde, – beide überlegten, ob sie nicht irgend ein Fuhrwerk kaufen und damit auf ihre eigne Gefahr hin sich auf den Weg machen sollten; aber auch dies ließ sich nicht ausführen, die Preise, die man forderte, waren zu hoch für die Kasse der jungen Leute, die seit lange keinen Zufluß mehr erhalten hatte und deshalb ziemlich erschöpft war. Während sie ganz traurig durch die Straßen der Vorstadt von Weinheim gingen und entschlossen waren, sich am andern Morgen zu Fuß auf den Weg zu machen, sahen sie vor den letzten Häusern der Stadt, als sie sich einem Feldwege zuwendeten, um durch die Weinberge nach dem Kurhause zurückzukehren, eine eigentümliche Gruppe, die ihre Aufmerksamkeit fesselte. Ein junger Mann, dessen elegante Kleidung sich stark in Unordnung befand und an einigen Stellen zerrissen war, stand neben einem Walnußbaum, seine Hände waren mit einem starken Strick gebunden und das andre Ende dieses Strickes um den Baumstamm geschlungen, so daß der Gefesselte sich höchstens einen Schritt von diesem entfernen konnte; das vornehme und hübsche Gesicht dieses jungen Mannes war bleich und zeigte die Spuren höchster Aufregung und Angst. Ein Unteroffizier der hessischen Truppen, die soeben unter dem General Schäfer in Weinheim eingerückt waren, stand neben dem Gefangenen, hinter ihm vier hessische Soldaten mit gefälltem Bajonett. Der Gefangene redete laut und lebhaft in französischer Sprache, indem er zuweilen einige deutsche Worte in fremdartigem Accent mit einmischte; der Unteroffizier aber schüttelte den Kopf und zuckte die Achseln mit einer Miene, welche deutlich ausdrückte, daß er kein Verständnis für die immer lebhafter und eifriger an ihn gerichteten Worte habe.

Herr von Sarkow und Graf Steinborn traten näher heran und fragten den Unteroffizier, warum der junge Mann gefangen und so schwer gefesselt sei.

Der Unteroffizier sah sie ein wenig mißtrauisch an, das Militär war in jenen Tagen geneigt, in jedem Zivilisten einen Feind zu erblicken.

»Es ist ein Freischärler.« sagte er, »und wenn ihr etwa auch zu diesem Gelichter oder etwa gar zu seinen Freunden gehört, so macht, daß ihr fortkommt, die Luft ist hier nicht gesund für euresgleichen.«

»Nein, guter Freund,« erwiderte Herr von Sarkow lachend, wir sind keine Freischaren, wir sind Studenten von Heidelberg und gut königlich gesinnt. »Hier, nehmen Sie,« fuhr er fort, seinen Zigarrenvorrat dem Unteroffizier und den Soldaten bietend; »nehmen Sie,« sagte er, als diese noch zögerten, »es macht uns herzliche Freude, braven Soldaten irgend etwas zur Erfrischung zu bieten.«

»Nun, wenn Sie zu den Rechtlichen und Gutgesinnten gehören,« sagte der Unteroffizier, »so nehme ich gern eine Zigarre von Ihnen, ich habe schon lange nicht mehr geraucht auf dem Marsche, und dann geben Sie nur dem armen Kerl da auch eine, es wird wohl die letzte sein, die er auf dieser Welt raucht, und wenn er auch seine Strafe redlich verdient hat, so thut's mir doch um das junge Blut leid, das vielleicht doch nur verführt ist, wie so mancher hier im Lande.«

Der Gefangene hatte mit angstvoller Spannung dieser Unterhaltung gelauscht, seine Miene zeigte die äußerste Anstrengung, den Sinn der gesprochenen Worte zu erfassen.

»O meine Herren, meine Herren!« rief er in französischer Sprache, als Herr von Sarkow, der Aufforderung des Unteroffiziers folgend, ihm mit mitleidigen Blicken eine Zigarre bot, »ich bin nicht im stande, mich diesen Soldaten verständlich zu machen, helfen Sie mir um Gottes willen, ich bin unschuldig, ganz unschuldig.«

»Sprechen Sie, mein Herr,« erwiderte Herr von Sarkow, »was können wir für Sie thun?«

»O welches Glück!« rief der Gefangene, »Sie verstehen mich!«

Der Unteroffizier schien bei dem Beginn dieser französischen Unterhaltung, von der er nichts verstand, wieder Verdacht gegen die beiden Studenten zu fassen, doch gelang es Herrn von Sarkow, die Erlaubnis zu einem kurzen Gespräch zu erreichen, da der Fremde ihm etwas mitteilen wolle, was er bis jetzt nicht habe verständlich machen können.

»Nun, so lassen Sie sich sagen, was er will,« bemerkte der Unteroffizier mürrisch, »helfen werden ihm seine Winkelzüge nichts – hat er doch,« fügte er lachend hinzu, »sich schon für einen Prinzen ausgegeben, soviel ich aus seinem Kauderwelsch verstanden habe.«

»Hören Sie mich an, meine Herren!« rief der Gefangene in atemloser Hast, »ich bin der Prinz Warassow, Kammerjunker des Kaisers von Rußland; ich bin zum Besuch hier bei meinem Schwager, dem Grafen von Brocklingen, wir sind auf der Reise, um nach Karlsruhe zu gelangen. Wir rasteten hier in einem kleinen Gasthof. Da wir durch das Land gekommen sind, wo noch einzelne versprengte Freischaren sich umhertrieben, so waren wir bewaffnet. Mein Schwager war ausgegangen, um einen Wagen nach Heidelberg zu suchen; ich fürchtete, daß wir verdächtig werden könnten, wenn wir geladene Pistolen bei uns führten, und schoß diese aus einem Fenster nach dem Hofe hinaus ab; hinter der Hofmauer aber marschierten hessische Truppen vorbei, sie drangen sogleich in das Haus, sie glauben, ich hätte auf sie geschossen; sie fesselten mich und schleppten mich mit sich fort. Hier stehe ich nun, sie verstehen mich nicht, ich kann den Zusammenhang nicht aufklären, und nach ihren Mienen und einzelnen Worten, die ich verstanden habe, muß ich glauben, daß sie schlimme Absichten mit mir haben.«

»Nun,« sagte der Unteroffizier, »was sagt er, was will er? Es kann ihm alles nichts helfen, wir haben ihn auf der Tat ertappt, als er heimtückischerweise aus seinem Fenster auf die Truppen schoß. Das ist schon öfter vorgekommen, wir haben Befehl, jeden solchen Fall sogleich zu melden, wir sollen diese heimtückischen Meuchelmörder nicht ohne weiteres massakrieren, wie es am besten wäre, aber der General hat sie jedesmal gleich erschießen lassen; ich habe die Meldung abgesendet und warte hier auf die Ordre, auch mit dem da ein Ende zu machen – fast mochte er mir leid thun, aber wenn ich denke, daß diese Schufte so niederträchtig und hinterlistig unsre braven Soldaten morden wollen, da wäre es doch himmelschreiend, wenn man sie wollte laufen lassen.«

»Aber mein Gott,« sagte Herr von Sarkow, »er sagt, daß es ein Mißverständnis sei, – es ist ein Fremder, ein russischer Prinz.«

»Ein Mißverständnis!« rief der Unteroffizier laut lachend – ein russischer Prinz, das kann jeder sagen, wir haben ihn gesehen, wie er zum Fenster herausschoß, es ist kein Zweifel, seine Pistolen waren noch warm, als wir ihn abfaßten. Es ist übrigens gar nicht hübsch von ihm, daß er so feige jammert, da sieht man den Unterschied zwischen so einem Freischärler und einem regelrechten Soldaten, uns hat er totschießen wollen aus dem Hinterhalt, aber nun will er leugnen und die Sache verdrehen. Nun, ich will weiter nichts über ihn sagen und will für ihn beten, daß Gott ihn gnädig richten möge, und hinge es von mir ab, so ließe ich ihn vielleicht dennoch laufen, aber er bekommt ja immer noch einen ehrlichen Soldatentod, streng genommen hätte er den Strang verdient.«

»Was können wir thun, mein Herr,« fragte Herr von Sarkow den Gefangenen, »die Sache steht schlimm, und die höchste Eile ist nötig – haben Sie irgend eine Legitimation?« »Alle meine Papiere sind in meinem Koffer,« antwortete der Gefangene, »aber um Gottes willen, suchen Sie meinen Schwager, den Grafen von Brocklingen; im Gasthof zum goldnen Stern waren wir abgestiegen, er muß jetzt wohl schon wieder dort sein, erzählen Sie ihm, wie Sie mich gefunden, er kann mich legitimieren, alles wird sich aufklären.«

»Wir kennen den Grafen Brocklingen aus der Mannheimer Gesellschaft,« erwiderte Herr von Sarkow, »fassen Sie Mut, wir werden alles aufbieten, um die Sache aufzuklären.«

Er bat den Unteroffizier, in jedem Fall, was auch geschehen möge, seine Rückkehr zu erwarten, und machte ihn auf die große Verantwortung eines übereilten Handelns aufmerksam; der Unteroffizier aber schüttelte den Kopf mit einer Miene, die wenig Neigung zeigte, die an ihn gerichtete Bitte zu erfüllen, und in vollem Lauf eilte Herr von Sarkow mit dem Grafen Steinborn nach dem Gasthof zum goldnen Stern, den sie auf ihren Streifzügen durch die Stadt bereits gesehen hatten. Eben war der Graf von Brocklingen hierher zurückgekehrt und hatte zu seinem höchsten Schrecken von den Wirtsleuten des Hauses die Verhaftung und Fortführung seines Schwagers, des Prinzen Warassow, erfahren. Auf die Erzählung der beiden Studenten eilte er nach dem Rathause der Stadt, wo der hessische General Schäfer sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte. Der Graf, einer der größten Grundbesitzer des hohen unmittelbaren Reichsadels, fand glücklicherweise in dem Stabe des Generals einen ihm persönlich bekannten Offizier, infolge dessen Vermittlung es ihm gelang, bei dem mit militärischen Dispositionen bis zur Ueberlast beschäftigten General sogleich Gehör zu finden.

»Sie kommen zur rechten Zeit, Herr Graf,« sagte der General Schäfer, »es sind so viele Fälle vorgekommen, in denen die Revolutionäre noch aus den Häusern hinterlistig auf unsre Truppen geschossen haben, daß ich gezwungen bin, mit äußerster Strenge vorzugehen. Soeben habe ich die Meldung erledigt und den Befehl unterzeichnet, den bei der Tat ergriffenen Freischärler zu erschießen. Verhält es sich so, wie Sie mir sagen, so ist das freilich etwas andres, indes muß ich die Sache untersuchen und zu Protokoll nehmen lassen; in diesem Augenblick sollte die Ordonnanz mit meinem Befehl abgehen; ich werde jetzt den Gefangenen hierher führen lassen und selbst seine Identität und den Tatbestand feststellen.« Er erteilte einem Adjutanten seinen Befehl, in höchster Spannung wartete Graf Brocklingen mit den beiden Studenten im Vorzimmer. Nach einiger Zeit führte der Adjutant den Prinzen und den Unteroffizier herein, der General Schäfer vernahm beide – Graf Brocklingen rekognoscierte und legitimierte seinen Schwager, und der General befahl seine Freilassung.

»Nehmen Sie sich vor ähnlichen Torheiten in acht,« sagte er ernst, »wenn man mitten durch die Truppen des Feindes reist, muß man vorsichtig sein. Ich will den Herren, um Sie vor ähnlichen Vorfällen zu sichern, einen Paß ausstellen; ohne den glücklichen Zufall, der den Prinzen diese Herren hier begegnen ließ, wäre er verloren gewesen, und zum zweitenmal dürfte auf einen solchen Zufall nicht zu rechnen sein. Wohin wollen Sie?«

»Nach Heidelberg,« sagte Graf Brocklingen, »und von dort weiter nach Karlsruhe; aber ich fürchte, daß es nicht möglich sein wird, weiter zu kommen, da ich den ganzen Ort hier vergeblich nach einem Wagen durchsucht habe.«

»Nun,« sagte der General Schäfer, »ich will den Befehl geben, daß Sie auf einem unsrer Gepäckwagen nach Heidelberg fahren; von dort werden Sie dann wohl schon leichter weiter kommen können.«

Er schrieb den Paß und die Ordre, den Grafen von Brocklingen mit seiner Begleitung auf einem Wagen des Trains nach Heidelberg zu befördern, und entließ die Herren, ihren Dank kurz abschneidend, um sich sogleich wieder den dringenden Geschäften seines Kommandos zuzuwenden.

Herr von Sarkow und Graf Steinborn führten den Grafen von Brocklingen und den Prinzen Warassow nach dem Kurhause, und die so seltsam zusammengesetzte Gesellschaft daselbst brachte mit ihren beiden neuen Mitgliedern den Abend heiter und fröhlich zu.

In der Frühe des nächsten Morgens brach man auf. Luiz Antonio blieb bei Langenberg zurück. Charles Clarke begleitete seine Freunde mit dem Versprechen, bald wieder zurückzukehren und noch einige Tage mit dem Professor Rotin und Fräulein Célie zu verleben. Der Professor wollte dann nach Paris zurückkehren, und Charles Clarke sollte ihm nach dem Schluß des Semesters und nach Ankunft der Einwilligung seines Vaters dorthin folgen. Er hatte dem Professor über seine Verhältnisse so befriedigende Auskunft gegeben, daß der alte Herr, so schmerzlich ihm auch die Trennung von seiner Tochter fiel, doch in die baldige Vermählung der beiden jungen Leute eingewilligt hatte. Es war verabredet, daß sie dann, immer die Zustimmung des alten Mr. Clarke vorausgesetzt, eine Reise durch Europa machen sollten, und die Zukunft erschien dem jungen Paare in so rosigem Licht, daß Charles Clarke trotz der modernen und eleganten Krawatte, die er gewissenhaft trug, doch häufig plötzlich und ohne ersichtlichen Grund in sein wildes huronisches Freudengeschrei ausbrach. Obgleich ihm Fräulein Célie dann lächelnd mit dem Finger drohte, so schien sie sich doch seines Jubels zu freuen, und ihre strahlenden Blicke zeigten, daß sie denselben im Innern ihres Herzens teilte.

Mit dem Morgengrauen des Tages bestieg Graf Brocklingen mit dem Prinzen Warassow und den Saxoborussen einen Gepäckwagen des Trains; die Straße war häufig durch marschierende Kolonnen gesperrt, und mit unendlicher Langsamkeit rückte der Wagenzug nach Heidelberg vor, so daß die Gesellschaft, die sich auf so eigentümliche Weise zusammengefunden, erst nach fünf bis sechs Stunden durch das alte Karlstor in die Stadt einfuhr. Auch diese hatte sich in ihrem Aussehen völlig verändert: während früher der Sitz der Ruperto-Carolina, niemals eine militärische Garnison gehabt hatte, war jetzt bereits am Tor eine Wache aufgezogen; alle Straßen waren von Soldaten gefüllt, vor allen öffentlichen Gebäuden standen Posten, eine starke Hauptwache befand sich auf dem Museumsplatz, und auch die Einwohner bewegten sich zahlreich auf den Straßen, froh der Erlösung von dem Druck der revolutionären Herrschaft und den einrückenden Truppen alle möglichen Aufmerksamkeiten dankbarer Gastfreundschaft erweisend.

Der Graf von Brocklingen und der Prinz Warassow begaben sich nach dem Hotel zum Badischen Hof, um dort noch Unterkommen zu finden; die Saxoborussen aber eilten, sogleich am Tor den Wagenzug verlassend, noch ehe sie ihre Wohnungen aufsuchten, nach dem Riesenstein, um vor allem nach so langer und so verhängnisvoller Unterbrechung das Corps wieder aufleben zu lassen und aller Welt zu zeigen, daß die Saxoborussia wieder in die alte Musenstadt am Neckar eingezogen sei. Jubelnd empfing sie der alte Fax. Die weißgrün-schwarzweiße Fahne stieg auf und flatterte lustig im Winde. Zahlreiche Einquartierung befand sich in den unteren Räumen des Riesensteins, es waren preußische Soldaten; Herr von Sarkow lud sie alle in den großen Saal der Kneipe ein, ein Faß wurde aufgelegt und der erste Salamander auf den König von Preußen, dessen Bruder, den fürstlichen Feldherrn, und alle tapferen und treuen Truppen, die unter dessen Führung die Revolution niedergeworfen, gerieben. Die Soldaten waren zwar ein wenig erstaunt über das akademische Exerzitium des Salamanders und klapperten, um dasselbe nachzuahmen, ziemlich unregelmäßig mit ihren Gläsern auf den Tischen umher, aber sie begriffen doch vollkommen den Sinn und die Bedeutung der Ovation, ihr brausender Jubelruf übertönte das Gläserklirren, und voll dankbarer Freude tranken sie ihrerseits auf das Wohl der Saxoborussen, die dem Wirt erklärten, daß die auf dem Riesenstein Einquartierten die Gäste des Corps seien. Während die Saxoborussen sich nun mit den Soldaten unterhielten, die nicht müde wurden, ihnen von dem Feldzuge und den verschiedenen Gefechten, die sie mitgemacht hatten, zu erzählen, kamen Fritz und Franz von Helmholt und Graf Kronau, die bereits nach Heidelberg zurückgekehrt waren, atemlos herauf. Die Fahne auf dem Riesenstein war in der Stadt bemerkt worden; da dieselbe nur dann aufgezogen werden durfte, wenn drei Corpsburschen versammelt waren, so mußte ja dort oben ein Stamm des auseinandergesprengten Corps wieder eingezogen sein; man überließ den Soldaten den großen Saal und zog sich in das eigentliche Kneipzimmer zurück; alle erzählten ihre Erlebnisse, wobei Herr von Sarkow eilig über den Besuch in Trottlingen hinwegglitt und um so ausführlicher die Gesellschaft und deren Leben im Kurhause zu Weinheim schilderte. Charles Clarke wurde mit Glückwünschen überschüttet und auf Fräulein Célie ein regelrechter, donnernder Salamander gerieben. Kaum war der Salamander verklungen, als die Tür polternd aufgerissen wurde und der rote Schiffer atemlos hereinstürzte; er war in vollem Lauf den Berg heraufgestürmt, die freudige Aufregung machte ihn unfähig, ein Wort zu sprechen; um seinen Gefühlen einen entsprechenden Ausdruck zu geben, schlug er mit seiner gewaltigen Hand den alten Fax so mächtig auf die Schulter, daß dieser schmerzhaft aufschreiend in die Kniee sank, aber er zürnte über diese sonderbare Begrüßung nicht, sondern beeilte sich, dem roten Schiffer einen schäumenden Schoppen zu reichen, indem er zugleich den drei kleinen Fäxen befahl, ein Gleiches zu tun. Der rote Schiffer stürzte die vier Gläser jedes auf einen Zug hinunter, dann atmete er tief auf, schlug sich schallend auf seine breite Brust und rief:

»Hurra – hurra – hurra – die Herren Saxoborussen sind wieder da! – Was steht ihr da, ihr dummen Fäxe? Gebt mir einen Schoppen und nehmt euch auch einen.«

Als dies geschehen, rieben die Fäxe nach dem Kommando des roten Schiffers einen tadellosen Salamander.

Der rote Schiffer zog darauf seine S.C.-Mütze, die er während des Belagerungszustandes auf der Straße nicht zu tragen wagte, aus den Falten seines weiten Hemdes hervor, schwenkte sie über den Kopf, drehte sich mit grotesk komischer Bewegung auf einem Bein um sich selbst und sang mit einer Stimme, die aller musikalischen Harmonie Hohn sprach, aber durch die Stärke ihres Klanges ersetzte, was ihr an Wohllaut abging:

»Juchheirassassa und die Preußen sind da,
Die Preußen sind lustig und rufen Hurra!«

Nachdem er diesen Refrain des alten Blücherliedes, das die Saxoborussen mit besonderer Vorliebe zu singen pflegten, mehrere Male bis zur vollständigen Heiserkeit wiederholt hatte, trank er, um seine angegriffene Kehle wieder zu stärken, noch zwei Schoppen und drückte jedem einzelnen die Hand, indem er mit Gönnermiene seine Freude ausdrückte, daß die Herren so wohl und munter wieder zurückgekehrt seien. Er erzählte dann, wie es in Heidelberg zugegangen, was die Bürger alles hätten leisten müssen, um den Anforderungen der Freischaren zu genügen, wie man auch ihn habe in die revolutionäre Armee einstellen wollen, daß er aber den miserablen Insurgenten gesagt habe, was er von ihnen denke und wie er als treuer Untertan des Großherzogs niemals gegen seinen Landesherrn die Waffen tragen werde. Obgleich er dies mit einem fürchterlichen Schwur bekräftigte, so fand doch seine heldenmütige Loyalität nur schwachen Glauben, und die lachenden Aeußerungen des Zweifels entrüsteten ihn so sehr, daß er mit tief gekränkter Miene die Kneipe verließ und sich in dem großen Saale inmitten der Soldaten, die er durch seine Unterhaltung zu jubelnder Heiterkeit fortriß, an der Vertilgung des dort aufgelegten Fasses beteiligte.

Bald fanden sich auch Nürnberger und Lieber ein; beide erzählten ebenfalls Wunderdinge von ihrer energischen Haltung gegen die revolutionäre Regierung, und von allen ihren Versicherungen war jedenfalls der Ausdruck ihrer Freude über die Wiederherstellung der Ordnung und die Wiederkehr der Saxoborussen aufrichtige Wahrheit. Sie tranken voll Begeisterung auf das Wohl des Corps; Lieber erklärte, daß er sogleich für jeden der Herren eine Teekanne mit dem Riesenstein und der wieder aufgezogenen Corpsfahne malen lassen und ihnen dieselbe zum Selbstkostenpreise überlassen werde, während Nürnberger Herrn von Sarkow eine Liste von einer Menge höchst merkwürdiger Gegenstände mitteilte, die aus alten Heidelberger Häusern an ihn verkauft worden seien, um die von der revolutionären Regierung auferlegten Lasten zu tragen, und die er ohne jeden Gewinn zur Auswahl stellen werde.

Nachdem auf diese Weise auch das Geschäft mit der Freude des Wiedersehens in Einklang gebracht war, wurde die Feier der Reaktivierung des Corps beendet, und während der rote Schiffer noch fortfuhr, die unendlich vergnügten Soldaten in die Geheimnisse einer commentmäßigen Kneiperei einzuweihen, kehrte Herr von Sarkow nach der Stadt zurück, um seine Wohnung aufzusuchen. Er begrüßte den alten Treuberg, der ihn mit herzlicher Freude willkommen hieß, in dem Laden, und trat dann in das trauliche, stille Wohnzimmer, das ihn wie eine alte Heimat wundersam und fast wehmütig anblickte. Dorchen hatte auf ihrem Fensterplatz gesessen und ihn in dem kleinen Spiegel kommen sehen, sie stand bleich, mit niedergeschlagenen Augen, die Hand auf ihre wogende Brust gedrückt da, unfähig, ein Wort zu sprechen.

»Dorchen,« sagte er, indem er zu ihr herantrat und ihre zitternde Hand ergriff – »da bin ich wieder.«

»O mein Gott!« flüsterte sie leise, »was habe ich gelitten, welche Angst habe ich ausgestanden!«

»Sie wollten mich retten, Dorchen,« sagte er innig, »niemals – niemals werde ich das vergessen – sehen Sie jetzt, wie gut es war, daß ich Ihr edles Opfer nicht annahm? Der liebe Gott hat mich doch erhalten, und so ist es besser, tausendmal besser, – wie hätte ich leben können, wenn Ihnen für mich ein Unglück geschehen wäre!«

Sie schlug die Augen zu ihm auf, aus ihren Blicken schimmerte ihm so selige Freude und zugleich eine so liebevolle Hingebung entgegen, daß er nicht zweifeln konnte, sie würde jeden Augenblick wieder bereit sein, das Leben für ihn zu wagen. Er schlang den Arm um sie und zog sie an seine Brust; aber als sie ihr kindliches, von strahlendem Glück verklärtes Gesicht zu ihm aufrichtete, da zuckte er wie erschrocken zusammen, er küßte ihren lächelnden Mund nicht, sondern berührte ihre reine Stirn mit seinen Lippen und ließ sie leise seufzend aus seinen Armen.

»Dorchen,« sagte er sanft, »ich habe das Glück gehabt, ein gutes Werk tun zu können; ich habe dem Himmel, der mich so gnädig beschützte, auch ein Leben erhalten – der arme Langenberg ist verwundet, ich habe ihn gerettet.«

»Langenberg?« sagte sie erbleichend, indem sie ihn starr ansah.

»Er ist in Weinheim,« erwiderte Herr von Sarkow – »der Arzt hat Heilung seiner Wunde versprochen, sobald es möglich ist, muß er hierher kommen, um alles Aufsehen und alle Nachforschungen zu verhüten, niemand darf ahnen, daß er an dem Kampfe beteiligt war. Sie müssen ihn in aller Stille pflegen, bis er sich wieder öffentlich zeigen kann.«

»Langenberg pflegen,« sagte sie, indem ein finsterer Schatten über ihr Gesicht zog – »ich soll Langenberg pflegen – das sagen Sie mir? Ihn, der Sie verwundet hat, der Sie töten wollte – und dann – und dann –«

Sie stockte, und dunkle Purpurglut übergoß ihr Antlitz.

»Er liebt Sie,« sagte Herr von Sarkow, »und vielleicht hat der Schmerz dieser Liebe ihn in den Kampf getrieben, ihn den Tod suchen lassen. Er hat mich verwundet, er hätte mich vielleicht getötet, wenn sein Wille den Weg seiner Kugel hätte bestimmen können – aber hätte ich ihn darum sollen verschmachten lassen, darum dem Kerker und der Schande überliefern? – Hatte ich denn keine Schuld gegen ihn, glaubte er nicht, daß ich ihm die Blüte seines Lebens entwendet hätte – würden Sie nicht vor mir zurückschaudern müssen, wenn ich seine Seele auf meinem Gewissen hätte, und wollen Sie Ihre helfende Hand von dem zurückziehen, der Sie liebt? – Muß er Sie denn nicht lieben? – Nicht wahr, Dorchen, Sie werden ihn pflegen. Sie werden mir beistehen, ihn den Seinen zu erhalten und ihn einem ehrenvollen Lebenslauf wiederzugeben, Sie werden es, – nicht wahr?«

Er ergriff ihre Hand, diese war kalt und starr; sie schlug die Augen nicht auf.

»Ich werde es,« sagte sie tonlos. Er beugte sich zu ihr herab, küßte leicht ihre Stirn und sagte innig:

»Ich wußte es; alles, was gut ist und edel, lebt ja in Ihrem Herzen.«

Schnell stieg er in seine Wohnung hinauf, wo er alles unverändert, sauber und freundlich fand. Eine Schale mit frischen Blumen stand aus dem Tisch. Das freudig herbeieilende Zimmermädchen erzählte ihm, daß Fräulein Dorchen während seiner Abwesenheit jeden Tag selbst alles bei ihm abgestäubt und immer frische Blumen auf den Tisch gestellt habe. Mit einem leisen, wehmütigen Seufzer beugte er sich auf die duftenden Blüten herab.

»Sie werden verwelken,« flüsterte er, »diese armen Blumen, wie die erste zarte Blüte ihres jungen Herzens – sie ist zu schön, zu rein für ein Spiel des Augenblicks, Gott wird neue, festere Triebe in ihrem Herzen erwecken und sie erblühen lassen zu sicherem, ruhigem Glück.« Er faltete die Hände, und ein Tränentropfen fiel aus seinem Auge auf die kleinen Blumen, mit denen Dorchen sein Zimmer für den Tag des Wiedersehens geschmückt hatte.

Schreckenberger erschien, um seinen Dienst wieder anzutreten, aber während er in ununterbrochenem und unerschöpflichem Redefluß seiner Verzweiflung über den verwahrlosten Zustand Ausdruck gab, in dem er Herrn von Sarkows Kopf fand, und zugleich über alles berichtete, was während der Schreckensherrschaft in Heidelberg geschehen sei und was die armen Bürger unter den ihnen auferlegten Lasten zu leiden gehabt hätten, saß Herr von Sarkow stumm und schweigend unter seinen Händen da, er hielt eine Rosenknospe, die er aus der Schale genommen, in seiner Hand, und sinnend ruhten seine Blicke auf der zarten Knospe, die von dem Stamm ihres Lebens getrennt war, ehe sie sich zur duftenden Blüte erschließen konnte.

Dorchen stand, als Herr von Sarkow sie verlassen hatte, noch eine Zeitlang unbeweglich wie ein lebloses Bild da, ihr starrer Blick war auf die Tür gerichtet, durch die er verschwunden war; dann setzte sie sich wie mechanisch auf ihren Platz am Fenster und nahm ihre Arbeit zur Hand, die Nadel zitterte in ihren Fingern, ihr Haupt sank auf die Brust herab – endlich stürzten heiße Tränen aus ihren Augen, und laut schluchzend stützte sie das Haupt in ihre Hände.

Evchen Meier sprang ins Zimmer.

»Nun,« rief sie fröhlich, »die Angst ist zu Ende, er ist wieder da; nicht wahr? Die Fahne war auf dem Riesenstein aufgezogen, die Saxoborussen sind zurück?«

Betroffen blieb sie vor ihrer Freundin stehen, sie hob Dorchens Haupt in die Höhe und blickte erschrocken in ihr schmerzbewegtes, von Tränen überflutetes Gesicht.

»Er ist wieder da,« fragte sie, »und du weinst? – Du weinst so bitterlich, denn das sind keine Freudentränen – was heißt das, – oder ist er etwa nicht gekommen, ist ihm ein Unglück widerfahren?«

»Er ist gekommen – jetzt ist er wieder gekommen, aber,« sagte sie, den tränenschweren Blick zu Evchen aufschlagend, »es wird ein Tag kommen, es muß ja ein Tag kommen, an dem er dennoch fortgeht, und dann,« flüsterte sie ganz leise, indem ein Schauer ihren Körper durchzuckte – »dann wird er nicht zurückkehren – niemals wieder zurückkehren.«

Evchen sah sie groß an.

»Armes Kind,« sagte sie, sanft über Dorchens Haar streichend – »armes Kind – so steht es mit dir? So mußt du das Leben nicht nehmen – die Blumen des Lebens gehören dem Tage, und wenn die eine verwelkt, so freue ich mich schon der andern; – was nützt es mir, im Frühling mich vor dem Winter zu fürchten – nein, nein, so mußt du das Leben nicht nehmen!«

Dorchen schüttelte traurig den Kopf; Evchen hielt sie noch einen Augenblick in ihren Armen, dann schlug sie das Klavier auf und sang mit einfacher, leiser Begleitung:

»Uebers Jahr kommt der Frühling,
Ist der Winter vorbei,
Der Mensch aber hat nur
Einen einzigen Mai.

Die Blumen, sie blühen
So frisch alle Jahr',
Doch die Lieb' blüht nur einmal,
Und nachher ist's gar.

Die Vöglein, sie ziehn fort
Und ziehn wieder her,
Der Mensch, wenn er fortgeht.
Der kommt nimmermehr.«

Wehmütig klang das alte Volkslied durch das kleine Zimmer, aber es schien dennoch wohltätig auf Dorchen zu wirken, deren Gefühlen es melodischen Ausdruck gab, und in immer stärker fließenden Tränen löste sich ihr starrer Schmerz.

Evchen hatte die Tür nach dem Flur geschlossen, draußen ging Herr von Sarkow vorbei, um sich nach dem Hotel zum Badischen Hof zum Diner zu begeben, nachdem Schreckenberger sein Werk vollendet hatte; er hörte das Lied, einen Augenblick stand er still, aber er trat nicht ein – schmerzlich blickte er auf die kleine Rosenknospe herab, die er in sein Knopfloch gesteckt hatte, und schnell verließ er das Haus, ohne daß die beiden Mädchen im Zimmer seinen Tritt gehört hatten.


 << zurück weiter >>