Oskar Meding
Die Saxoborussen
Oskar Meding

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Neunzehntes Kapitel

Das Städtchen Weinheim liegt langgestreckt am Fuße der Bergstraße, vorzugsweise bewohnt von wohlhabenden Ackerbürgern, deren Felder und Weinberge sich auf den Abhängen hin bis zu der mit alten Walnußbäumen und edlen Kastanien bepflanzten Chaussee der Bergstraße und der etwas weiterhin vorüberziehenden Eisenbahn ausdehnen. Unmittelbar über der Stadt erhebt sich die malerische Burgruine der alten Windeck, des einstigen Sitzes eines längst ausgestorbenen ritterlichen Geschlechts; unmittelbar neben der Stadt liegt ein Schloß des Grafen Waldner von Freundstein und in einiger Entfernung weiter die Besitzung der alten Gräfin Waldburg, auf der die Saxoborussen früher vielfach verkehrt und von der sie einst die wilde Rückfahrt nach Heidelberg gemacht hatten, bei der Fräulein von Herbingen und Frau von Wartenstein mit ihren Wagen umgeworfen wurden. Alle herrschaftlichen Besitzungen dieser Gegend, in der mutmaßlich die ersten Zusammenstöße mit den preußischen und Reichstruppen stattfinden mußten, standen jetzt leer, im übrigen aber zeigte das Städtchen durchaus nicht den unruhig revolutionären Charakter, wie der größte Teil des übrigen badischen Landes; denn die verschiedenen Corps der Revolutionsarmee waren an den größeren Waffenplätzen zusammengezogen, und hier in dieser Gegend zeigten sich nur selten einzelne von Heidelberg herüberkommende Freischärler, die irgend einen Urlaubstag zu einem Ausflug auf der Bergstraße benutzten. Wenn auch abends in den Bierstuben ein lauteres Treiben als sonst stattfand, da auch die kleinen Ackerbürger, von dem Wehen des Zeitsturms berührt, lebhaft die Tagesereignisse und die Möglichkeiten der Zukunft besprachen, so ging doch im allgemeinen die ganze Einwohnerschaft ruhig ihrer gewohnten Beschäftigung nach, und wenn man die Leute so friedlich und fleißig auf ihren Feldern arbeiten sah, so hätte man kaum glauben mögen, daß ringsumher die Flammen der revolutionären Bewegung immer höher aufloderten.

Seitwärts von der Stadt, nach der Bergstraße zu, inmitten eines wohlgepflegten, schattigen Gartens, rings von Weinbergen umgeben, lag ein großes, freundliches Haus, in dem der Doktor Binzer eine Wasserheilanstalt nach dem Muster des Naturarztes Prießnitz in Gräfenberg eingerichtet hatte, während Doktor Binzer selbst eine hübsche Villa, etwa hundert Schritte von seiner Anstalt, bewohnte. Nach dieser Anstalt ließ Graf Steinborn, der in dem ersten Wagen saß, den seltsamen Zug heranführen. Neugierige Gesichter erschienen an allen Fenstern, um sich bei dem Anblick der bis an die Zähne bewaffneten Freischärler, die mit aufgepflanzten Bajonetten die Rückplätze der Wagen einnahmen, sogleich wieder ängstlich zurückzuziehen.

Nach einigen Augenblicken trat Doktor Binzer erschrocken und unruhig vor die Haustür, um sich nach dem Grunde dieses außergewöhnlichen Besuchs zu erkundigen, der in der damaligen Zeit bedenklich und gefährlich erscheinen mußte. Graf Steinborn aber erklärte ihm mit wenigen Worten einigermaßen die Lage, in der er mit seinen Freunden sich befand, und bat um Aufnahme in seine Anstalt, da sie alle trotz ihrer ganz wünschenswerten Gesundheit eine erfrischende Kaltwasserkur ohne Schaden durchmachen könnten und diese gerade wegen ihrer normalen Körperkonstitution um so besser ertragen würden. Die befolgten Bedenken des Doktors verschwanden bei der Erklärung der Freischärler, daß sie diese Bürgerstudenten auf Befehl des Zivilkommissärs nur zu deren eigner Sicherheit hierher eskortiert hätten und daß diese im übrigen in der Wahl ihres Aufenthalts völlig frei und keiner weiteren Verfolgung ausgesetzt seien. Die Soldaten der Eskorte erhielten für ihren Sicherheitswachdienst eine reiche Belohnung, um auf das Wohl ihres Führers Schlöffel zu trinken; alle nahmen diese dankbar an und fuhren äußerst zufrieden und vergnügt nach Heidelberg zurück, während die Saxoborussen, ebenso zufrieden über die glücklich überwundene Gefangenschaft und Lebensgefahr, sich in die in der Anstalt noch verfügbaren Zimmer teilten, wobei Herr von Sarkow und Luiz Antonio de Souza eine gemeinschaftliche Wohnung wählten.

Der Doktor Binzer, ein freundlicher, behaglicher Mann von etwa fünfzig Jahren, erzählte ihnen, daß er noch einige Patienten in seiner Anstalt habe, die, teils um ihre erfolgreich begonnene Kur zu vollenden, teils um sich nicht den Gefahren einer Reise durch das unruhig bewegte Land auszusetzen, hier zurückgeblieben seien, da sich voraussetzen lasse, daß eine Krankenanstalt sowohl von den revolutionären Truppen als auch von den fremden Armeen mit gebührender Rücksicht werde behandelt werden. Der Doktor fügte ernst, mit einem Anklange leichten Mißtrauens hinzu, daß die Hausgesetze seiner Anstalt äußerst streng seien und auch von den Herren, die jetzt ohne eigentlichen Krankheitsgrund bei ihm Aufnahme fänden, beobachtet werden müßten. Nach diesen Gesetzen dürfe in der Anstalt kein geistiges Getränk irgend welcher Art, ebensowenig Kaffee oder Tee getrunken oder auch nur geduldet werden; jeder seiner Gäste müsse sich dieser Hausordnung unbedingt unterwerfen.

Die Saxoborussen versprachen feierlichst die verlangte strikte Enthaltsamkeit, die, wie der Doktor sagte, von dem allerwohltätigsten Einflusse auf ihre Gesundheit sein werde, und so wurden denn die letzten Ueberreste des durch die Zeitereignisse so traurig zusammengeschmolzenen Corps in dem stillen, friedlichen Asyl des hydropathischen Krankenhauses installiert.

Nachdem die jungen Leute ihr nächstes und tief empfundenes Bedürfnis durch eine gründliche, frische Toilette befriedigt hatten, erschien der Aufwärter des Hauses mit der Anzeige, daß das Diner serviert sei, und einigermaßen neugierig, begab sich die Gesellschaft, die nach der überstandenen Gefahr ihren ganzen fröhlichen Jugendübermut wiedergefunden hatte, nach dem gemeinsamen Speisesaal. Hier waren die übrigen Kurgäste bereits versammelt und erwarteten die neuen Ankömmlinge, zu deren Vorstellung der Doktor heute ebenfalls zu der Mittagsmahlzeit seiner Gäste gekommen war.

Die Gesellschaft, der die Saxoborussen durch den Doktor vorgestellt wurden, war in der Tat ziemlich originell zusammengesetzt. Es war da zunächst ein alter Herr mit blassem, feinem und intelligentem Gesicht, dünnem weißem Haar und weißem Backenbart, der, auf zwei Stücke gestützt, sich mühsam erhob, um sich sogleich wieder auf seinen Stuhl niederzulassen. Der Doktor stellte ihn als Professor Rotin aus Paris vor, der wegen heftiger gichtischer Leiden hierher gekommen sei und durch die Kur bereits so weit gebracht worden wäre, daß er, auf zwei Stöcke gestützt, notdürftig gehen könne, während er bisher in einem Rollwagen habe gefahren werden müssen.

Neben dem Professor stand seine Tochter, Fräulein Célie Rotin, ein Mädchen von etwa siebzehn Jahren und von jener zierlich schlanken, anmutig biegsamen und doch dabei üppig vollen Gestalt, wie man sie fast nur bei den französischen Damen findet. Ihr frisches, ein wenig bräunliches Gesicht mit den vollen Lippen, der feinen, griechischen Nase und den großen dunkeln Augen war von aschblonden, natürlichen Locken umrahmt; aus ihren unter langen Wimpern hervorschimmernden Augen blitzte der durch die Erziehung in den Formen der guten Gesellschaft zurückgehaltene kecke Uebermut eines fröhlichen Jugendsinnes hervor, und um ihren feinen Mund schien ein unwillkürliches Lächeln über irgend einen lustigen Einfall zu zucken, den sie zurückzuhalten gezwungen war.

Eine ziemlich große und vielleicht etwas zu schlanke Dame, deren Alter in der etwas bedenklichen und peinlichen Periode zwischen fünfunddreißig und vierzig Jahren stehen mochte, in der die Damen dem nahenden Alter unwillig den Rücken wenden und die entschlüpfende Jugend ängstlich und eifrig an ihren Rosenflügeln festzuhalten sich bemühen, wurde von dem Doktor als Miß Maggins vorgestellt – es hätte dieser Vorstellung nicht bedurft, um sie als eine Tochter des meerbeherrschenden Inselreiches erkennen zu lassen. Ihr Gesicht, von durchsichtiger Zartheit des Teints, zeigte in seinen Zügen die Linien einer regelmäßigen Schönheit, nur waren diese Züge etwas streng und scharf geworden, es fehlte ihnen ebenso die Bewegung, wie den großen hellblauen Augen Wärme und Licht des von innen hervorstrahlenden Feuers. Lange blonde Ringellocken hingen von ihren Schläfen herab, und eine ganz leichte, zarte Röte auf ihren Wangen konnte wohl zu dem Zweifel Veranlassung geben, ob dieser duftig hingehauchte Karminschimmer ein Erzeugnis der Natur oder der Kunst sei. Sie trug ein Kostüm von roher Seide mit einem kurzen, über die Schulter fallenden Kragen von dem gleichen Stoff, Schleifen von der gleichen Farbe bildeten den einzigen Schmuck ihres Gewandes, und nur eine halb aufgeblühte weiße Rose von jener Gattung, die man mit dem Namen »Mädchenerröten« bezeichnet hat, schwankte einsam an der Seite ihres Hauptes über den lang herabhängenden blonden Locken. Miß Maggins vereinigte in ihrer ganzen Erscheinung und Haltung in eigentümlicher Weise die pedantische Strenge einer Gouvernante oder der Directrice eines Pensionsinstituts mit der kindlichen Naivität eines eben in die Welt hinaustretenden Backfisches, und diese beiden Charaktereigenschaften drückten sich auch in der steifen, kalt abwehrenden Verbeugung aus, mit der sie die Saxoborussen begrüßte, während zugleich ihre schüchtern aufgeschlagenen Augen mit kindlich neugierigen Blicken die Herren musterte.

Die Gesellschaft wurde vervollständigt durch zwei Herren, die auf den ersten Blick als Landsleute der mittelalterlichen Miß Maggins erkennbar waren. Der eine von ihnen, den der Doktor als den Colonel Mr. Coombe vorstellte, war ein großer, kräftig gebauter Mann von fünfzig Jahren mit kurzgeschnittenem, dunkelblondem Haar und einem langen, wohlgepflegten Backenbart. Sein regelmäßiges, scharfgeschnittenes, vornehmes Gesicht zeigte eine gewisse militärische Strenge und zugleich jene kühle Unnahbarkeit, die der englische Gentleman allen Fremden gegenüber zu bewahren gewohnt ist, und die erst langsam bei näherer Bekanntschaft einer größeren Vertraulichkeit weicht. Er war in einen Nankinganzug von der gleichen Farbe wie das Kostüm der Miß Maggins gekleidet, in seinem Knopfloch steckte eine Rosenblüte, die derjenigen ganz ähnlich war, die von den blonden Locken seiner Landsmännin herabnickte. Der Colonel Coombe hatte, wie der Doktor kurz bemerkte, in Indien gedient, dort am Klimafieber gelitten und war nun von einem Heidelberger Arzt zum Schluß einer längeren Kur hierher gesendet, um sich durch das kalte Wasser wieder völlig zu kräftigen.

Neben ihm stand ein etwas kleinerer, korpulenterer Mann von dem gleichen Alter, sein freundliches, rundes und gesundes Gesicht war der vollständige Gegensatz zu dem seines Landsmannes, aber er gab sich ersichtlich die größte Mühe, jenem in allen Stücken zu gleichen. Er war genau in den gleichen Stoff gekleidet und versuchte, wenn auch mit geringem Erfolge, ebenso würdevoll und feierlich zu blicken und sich ebenso steif zu halten als jener. Der Doktor stellte ihn als Mr. Willis aus Liverpool vor, und da Mr. Coombe mit den Saxoborussen, deren vornehme und elegante Erscheinungen ihm zu imponieren schienen, einige artige Worte in einem wunderlich accentuierten Deutsch wechselte, so fühlte sich auch Mr. Willis bewogen, den neuen Ankömmlingen freundlich entgegenzukommen und ihnen in einem noch merkwürdigeren Deutsch zu erzählen, daß er auf einer großen Tour durch Europa begriffen sei und in der Schweiz seinen ausgezeichneten Landsmann, den Colonel Coombe gefunden habe; es sei ihm eine besondere Freude, in dessen liebenswürdiger und distinguierter Gesellschaft seine Reise fortzusetzen, und da ihm von den Autoritäten der Heidelberger Fakultät die Kaltwasserkur verordnet sei, so habe er es sich zur Ehre gerechnet, seinem Freunde auch hier Gesellschaft zu leisten, obgleich eigentlich seine ausgedehnte Geschäftstätigkeit seine Rückkehr nach Hause verlange.

Bei den letzten Worten nickte Mr. Coombe seinem kleinen Begleiter mit herablassender Freundlichkeit zu, und Mr. Willis schien ganz glücklich über diese dankbare Anerkennung seiner aufopfernden Hingebung durch seinen so vornehmen und distinguierten Freund.

Man setzte sich zu Tisch, auf dem als ausschließliches Getränk große Glasflaschen mit kristallhellem Trinkwasser standen. Fräulein Célie Rotin saß neben ihrem Vater, der Platz an ihrer andern Seite erregte fast einen Wettlauf unter den jungen Leuten, aber allen andern voraus war diesmal Charles Clarke der Glückliche, der den Preis errang und sich neben die schöne Pariserin setzte, die ihn mit dem Ausdruck neugieriger Verwunderung ansah, denn gerade er mußte dem jungen, in der Eleganz der großen Weltstadt aufgewachsenen Mädchen fremdartig auffallen, da er mit seinem eigentümlich geschnittenen Rock, seinem weit aufgeschlagenen Hemdkragen und seinen roten, rauhen Händen so ganz wesentlich von seinen Freunden abstach und so durchaus gar nicht in die Schablone der Gesellschaftsformen hineinpaßte.

Der Colonel Coombe nahm seinen Platz neben Miß Maggins ein; Herr von Sarkow stand zufällig gerade an der andern Seite dieser Dame, so daß er dem flüchtigen Wink, den sie mit der Würde einer Königin an ihn richtete, folgen mußte, wenn er nicht unartig sein wollte.

Das Diner war äußerst kräftig und gut. Der Doktor suchte, in verschiedenen Sprachen radebrechend, eine möglichst heitere Unterhaltung herzustellen, was bei dem kalten Getränk, das die Patienten vorschriftsmäßig in großen Quantitäten zu sich nahmen, nicht ganz leicht erschien, doch wurde er heute durch die Saxuborussen kräftig unterstützt; denn so wenig ihnen auch das ungewohnte kalte Wasser zusagte, so waren sie doch durch die Befreiung aus dem Zellengefängnis und der so nahe drohend an sie herangetretenen Gefahr in einer so heiteren Stimmung, daß sie die ganze Gesellschaft mit sich fortrissen und sogar zur großen Erheiterung des Colonel Coombe mit freilich nur halbgefüllten Wassergläsern einen Salamander rieben. Die militärische Präzision, mit der dieses Manöver ausgeführt wurde, imponierte dem Colonel nicht wenig, und infolgedessen war auch Mr. Willis entzückt über diese eigentümliche studentische Operation.

Die lebhafte Unterhaltung, die rings um den Tisch stattfand, konnte ein wenig an den babylonischen Turmbau erinnern: Colonel Coombe sprach ein wenig deutsch und ein wenig französisch, beides indes ziemlich mangelhaft; Mr. Willis hatte während seines Aufenthalts in Deutschland nur sehr wenig von der Sprache dieses Landes gelernt, der Professor Rotin und seine Tochter sprachen bloß französisch und waren glücklich, bei den Saxoborussen eine so sichere Kenntnis ihrer Muttersprache zu finden. Miß Maggins sprach mit einer gewissen Ostentation vorzugsweise französisch, und führte auch die Unterhaltung mit Herrn von Sarkow, obgleich er sich ziemlich sicher und gewandt englisch auszudrücken verstand, ausschließlich in französischer Sprache, die sie für das Idiom der vornehmen Welt und der guten Gesellschaft halten mochte, wobei sie sich denn freilich eines so eigentümlichen Accents und so wundersamer Wortbildungen bediente, daß Herr von Sarkow häufig alle Mühe hatte, um für seine unüberwindlich ausbrechende Heiterkeit irgend einen schicklichen Vorwand zu suchen. Er schien übrigens in den Augen seiner mittelalterlichen Nachbarin ganz besondere Gnade zu finden, denn sie unterhielt sich fast ausschließlich mit ihm, und ihre wasserblauen Augen leuchteten zuweilen, wenn sie auf dem jungen Manne ruhten, in einem so lebhaften Feuer auf, als ob das kristallklare Brunnenwasser, das er ihr diensteifrig einschenkte, sich unter seiner Hand in das heiße Blut der Trauben von Burgund verwandelt hatte. Der Colonel Coombe schien über die gänzliche Nichtbeachtung, die ihm von seiner Nachbarin zu teil wurde, mehr und mehr verstimmt und warf zuweilen Herrn von Sarkow, wenn Miß Maggins sich, über irgend eine komische und etwas gewagte Bemerkung lachend, zurücklehnte, einen feindlich drohenden Blick zu.

Lieber freilich hätte sich Herr von Sarkow mit der schönen Célie unterhalten, aber diese war so vollständig im Gespräch mit Charles Clarke vertieft, daß sie die übrige Tischgesellschaft kaum beachtete. Der junge Hurone mit seinem wilden, kühnen Gesicht, dessen ganzes Wesen so vollständig von allen Regeln der ihr bekannten Gesellschaft abwich, und der sich doch so sicher und gewandt in ihrer Muttersprache auszudrücken wußte, erregte das immer wachsende Interesse des jungen Mädchens, und auch er, der sonst allen Damengesellschaften aus dem Wege ging, war heute wie verwandelt und erschöpfte sich gegen seine Nachbarin in galanten Aufmerksamkeiten, die in ihrer originellen Unbehilflichkeit zwar häufig ein Lächeln auf Fräulein Célies frischen Lippen erscheinen ließen, ihr aber dennoch Wohlgefallen oder wenigstens ihrer Eitelkeit schmeicheln mußten, denn die Blicke, die sie unter ihren Wimpern hervor zu Charles Clarke hinüberflammen ließ, waren durchaus nicht spöttisch oder zurückweisend, sie plauderte immer herzlicher und vertraulicher mit dem jungen Mann und schien sich mit einer gewissen kindlich naiven Genugtuung der Herrschaft zu freuen, die ihre schönen Augen immer sichtbarer über ihn ausübten.

Nach Tisch zogen sich die Damen zurück. Der Professor Rotin und die beiden Engländer ruhten ein wenig aus, um sich auf ihre Nachmittagsduschen vorzubereiten, und die Saxoborussen plauderten in ihren kühlen Zimmern über die eigentümliche Lage, in die sie sich plötzlich versetzt sahen, und über die noch eigentümlichere Gesellschaft, mit der sie der Zufall hier zusammengeworfen hatte, wobei es nicht an Neckereien gegen Herrn von Sarkow und Charles Clarke fehlte über die Eroberungen, die beide an Miß Maggins und Fräulein Célie Rotin gemacht hätten. Herr von Sarkow ließ alle diese scherzhaften Bemerkungen mit philosophischer Ruhe über sich ergehen, Charles Clarke aber schien peinlich durch sie berührt, er verstummte, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit fand er keine seiner gewohnten derben und kräftigen Antworten, und häufig stieg eine dunkle Glut in seinem wetterbraunen Gesicht auf, wenn der Name seiner schönen Tischnachbarin genannt wurde.

»Das wäre alles schon ganz gut,« sagte Herr von Sarkow, »und wir könnten mit unserm Asyl zufrieden sein, wenn nur dieses verdammte Wasser nicht wäre, das ist ja auf die Dauer ganz unmöglich, es kommt mir vor, als ob ich einen Eisblock im Magen hätte. Ich glaube, wir werden gut tun, einmal in das Städtchen hinauszugehen, uns ein wenig zu orientieren und in irgend einer Kneipe einen erwärmenden Tropfen zu suchen. Wenn wir lange diese Lebensart weiterführen und wenn wir noch dazu die kalten Bäder und Duschen gebrauchen, die der Doktor uns empfiehlt, so werden uns mit der Zeit Fischflossen wachsen müssen.«

Die übrigen stimmten eifrig bei, und man brach auf, um eine Inspektion der Stadt Weinheim vorzunehmen und die unter dem Einfluß des kalten Wassers erschlafften Lebensgeister wieder anzuregen. Bald fand man auch eine Weinstube, in der, wie überall in jener Gegend, ein vorzüglicher Schoppen Affenthaler ausgeschenkt wurde. Heiter und vergnügt, als ob es sich in ruhigen, friedlichen Zeiten um einen Nachmittagsausflug handle, setzte man sich in den Garten nieder, und bald hatte das jugendliche Blut die durch das Wasser herabgedrückte natürliche Lebenswärme wiedergewonnen. Luiz Antonio und Charles Clarke waren bald verschwunden, und auch, als der Abend zu dunkeln begann, noch nicht wieder zu den übrigen zurückgekehrt; man war es gewohnt, daß Luiz Antonio oft die Einsamkeit aufsuchte, um in der Stille sich seinen Träumereien zu überlassen, und gegen Charles Clarke erhob sich der allgemeine Verdacht, daß er fortgegangen sei, um der schönen Célie ungestört den Hof zu machen. So brach denn die übrige Gesellschaft heiter gestimmt und genügend gekräftigt für den beim Abendessen wieder bevorstehenden Wassergenuß nach der Anstalt auf; aber hier waren trotz der immer tiefer herabsinkenden Dunkelheit die beiden Freunde noch nicht angekommen. Man wurde unruhig, da ein Herumstreifen in der Gegend in diesen bewegten Zeiten nicht ohne Gefahr war und es nicht unmöglich schien, daß der um seine Rache betrogene Turnerführer Metternich von Heidelberg aus irgend etwas Feindliches ins Wert setzen möchte. Schon dachte man daran, sich zu bewaffnen und einen Streifzug zu unternehmen, um die Freunde aufzusuchen, als Luiz Antonio erschien und die beruhigende Mitteilung machte, daß er nur einen Spaziergang in den schönen Weinbergen unternommen habe, der ihn etwas weit fortgeführt. Herr von Sarkow bemerkte indes, daß sein Freund heftig erregt schien, er glaubte seinen Wink zu verstehen, daß er ihm eine Mitteilung machen wolle, und folgte ihm in sein Zimmer, in das er sich zurückzog, um für das Souper seine etwas derangierte Toilette wieder zu ordnen.

»Welches Glück!« rief Luiz Antonio, als beide allein waren, »denke dir, ich habe sie gefunden, nachdem ich diese ganze Zeit jede Spur von ihr verloren und mich in Sehnsucht verzehrt hatte.«

»Gefunden?« fragte Herr von Sarkow erstaunt, »hier? – wie ist das möglich?«

»Nicht hier,« sagte Luiz Antonio; »ich bin durch die Weinberge nach dem Schloß der Gräfin Waldburg gegangen. wo sie ja viel verkehrte und wo ich ihr häufig begegnete. Das Schloß war leer, die Gräfin ist nach Frankfurt; ich fragte bei dem Hausverwalter nach ihr und nach allen Bekannten, und der Mann hat mir dann anvertraut, daß Frau von Wartenstein auf ihrem Schloß in Trottlingen sei, drei Stunden von hier, einsam in den Bergen gelegen. Sie habe nicht mehr über die Grenze kommen können, sei aber dort nach aller menschlichen Berechnung vollkommen sicher, da keine Kämpfe sich dorthin ziehen würden. Fräulein von Herbingen sei bei ihr, Herr von Wartenstein aber sei so viel der Mann wußte, in Frankfurt. Du siehst also, das ist ein großes, unendliches Glück; wir müssen dorthin, du mußt mich begleiten, ich mag den Gedanken nicht ausdenken, sie dort zu finden, ich werde eine glückselige Erinnerung für die Einsamkeit meines künftigen Lebens mit mir nehmen; o, ich möchte in dieser Nacht noch aufbrechen.«

Er umarmte stürmisch den Freund, Tränen stürzten aus seinen Augen hervor.

Herr von Sarkow schüttelte bedenklich den Kopf.

»Welcher Gedanke!« sagte er, »in dieser Zeit sollen wir uns in die unbekannten Berge wagen? Kaum sind wir der Gefahr entgangen, von diesen Freischärlern füsiliert zu werden – fallen wir noch einmal jenem Metternich in die Hände, so wird er kurzen Prozeß mit uns machen, und wir werden schwerlich wieder einen Retter im letzten Augenblick finden.«

»Du willst nicht mit mir gehen!« rief Luiz Antonio heftig, »gut, dann gehe ich allein, ich fürchte nichts; und wenn die offene Hölle mir entgegenflammte, ich würde hindurchgehen, um zu ihr zu gelangen, nach der meine ganze Seele lechzt.«

»Halt, mein Freund, halt,« sagte Herr von Sarkow, »so war es nicht gemeint, verlassen will ich dich nicht, du weißt, daß du auf mich zählen kannst, und wenn du eine Tollheit unternimmst, so werde ich doch jede Gefahr mit dir teilen – aber ich verlange, daß auch in der Tollheit wenigstens so viel Vernunft angewendet werde, als man billigerweise von jedem Menschen verlangen kann. Ich verspreche dir also, so töricht die ganze Geschichte auch eigentlich ist, an deiner Seite zu stehen und für dich zu denken und vorsichtig zu sein. Doch nicht auf die Mitteilung des Hausverwalters der Gräfin Waldburg werden wir diese gefährliche Tour unternehmen, bedenke, wie leicht die Damen schon wieder weitergereist sein könnten, so daß wir ganz vergeblich uns der Gefahr aussetzen, von neuem die Bekanntschaft mit den Gefängnissen des souveränen Volkes zu machen, wozu ich gar keine Neigung habe. Es wird nicht schwer sein, hier irgend einen Boten zu finden, der gegen eine gute Belohnung nach Trottlingen geht und uns gewisse Kunde bringt, ob die Damen dort sind; dann müssen wir uns irgend eine Verkleidung, einen Wagen und Pferde verschaffen, denn, lieber Freund, ich will alles für dich tun, aber keinen Tagemarsch zu Fuß machen, und wenn wir in diesen Anzügen und mit unsern weißen Mützen durch die Bergschluchten gehen, so setzen wir uns unnütz allen möglichen Gefahren aus, vor allem auch derjenigen, daß wir nicht an unser Ziel gelangen, und daß du diejenige, nach der dein Herz sich sehnt, dennoch nicht wieder siehst.«

»Du hast recht, du hast recht!« rief Luiz Antonio, »ich will ruhig und vernünftig sein, ich will warten, aber nicht zu lange, hörst du, nicht zu lange!«

»Laß mich machen,« sagte Herr von Sarkow, »und alles nach meinem Sinn vorbereiten; ich verspreche dir, daß du sie finden sollst, wenn es möglich ist, aber einige Tage mußt du ruhig bleiben und mir für meine strategischen Vorbereitungen Zeit lassen.«

»Ich verspreche es,« sagte Luiz Antonio, indem er bebend die Hand seines Freundes drückte, »ich weiß es, du wirst mich nicht hinhalten, nicht täuschen, das wäre zu grausam.«

Beide kehrten zu den übrigen zurück. Soeben war Charles Clarke atemlos angekommen, er setzte allen Fragen ein geheimnisvolles Schweigen entgegen.

»Wartet nur, wartet,« sagte er, sich vergnügt die Hände reibend, »ich habe eine Ueberraschung, eine ganz vortreffliche Ueberraschung, ihr werdet alle zufrieden sein.«

Er verweigerte jede weitere Auskunft, und da soeben der Hausdiener erschien, um die Gesellschaft zum Souper einzuladen, so ging er, immer stillvergnügt vor sich hin lachend, mit den übrigen nach dem Speisesaal hinab.


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