Guy de Maupassant
Mont Oriol
Guy de Maupassant

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VI

Der nächste Tag fing schlecht an für Andermatt. Als er ins Kurhaus kam, erfuhr er, daß Herr Aubry-Pasteur in der Nacht im Splendid-Hotel einem Schlaganfall erlegen war. Ganz abgesehen davon, daß der Ingenieur durch seine Kenntnisse und seinen Eifer und die Liebe, die er für das Bad Mont Oriol, das er wie sein Kind betrachtete, gefaßt hatte, sehr nützlich war, war es sehr unangenehm, daß ein Kranker, der darauf ausging, ein Leiden zu bekämpfen, gerade auf diese Art mitten in der Behandlung, mitten in der Saison gestorben war, in dem Moment, wo das Bad anfing, in die Höhe zu kommen.

Der Bankier war sehr erregt, er lief in das Zimmer des abwesenden Inspektors, kam wieder heraus, lief wieder hinein. Er wünschte der Sache einen anderen Namen zu geben, er erdachte sich einen Unglücksfall, einen Sturz, eine Unvorsichtigkeit, und ungeduldig wartete er, daß Doktor Latonne kommen sollte, damit der Tod in günstiger Weise konstatiert werden könnte, ohne daß irgend ein Verdacht über die wahre Ursache aufkam.

Plötzlich erschien der Arzt, bleich, verstört und fragte beim Eintreten:

– Wissen Sie schon das Unglück?

– Gewiß, daß Aubry-Pasteur gestorben ist.

– Nein, nein, Doktor Mazelli ist mit der Tochter des Professor Cloche durchgebrannt.

Es überlief Andermatt eisig kalt:

– Was sagen Sie?

– Ja, Herr Präsident, es ist ein fürchterliches Unglück, ein Jammer für uns.

Er setzte sich, wischte sich die Stirn und erzählte, was geschehen, wie es ihm Petrus Martel mitgeteilt, der die Einzelheiten vom Diener des Herrn Professors erfahren.

Mazelli hatte der hübschen rothaarigen Witwe den Hof gemacht, sie war eine große Kokette, deren erster Mann an der Schwindsucht gestorben, wie man sagte, die Folge ihrer zu großen Zärtlichkeit. Professor Cloche, hinter die Pläne des italienischen Arztes gekommen, und da er nicht als zweiten Schwiegersohn einen solchen Abenteurer haben wollte, hatte ihn, als er ihn zu den Füßen seiner Tochter gefunden, vor die Thür gesetzt. Mazelli ging durch die Thür, kehrte aber durch das Fenster mit der seidenen Strickleiter der Liebenden zurück. Es kursierten zwei Versionen, die eine besagte, er hatte die Tochter des Professors ganz verrückt gemacht vor Liebe und Eifersucht, die andere, er hätte sie immer im geheimen wiedergesehen, indem er so that, als mache er einer anderen Frau den Hof.

Da er nun durch seine Geliebte erfuhr, daß der Professor unbeugsam blieb, war er in der Nacht mit ihr durchgegangen, um durch den Skandal eine Heirat zu erzwingen.

Doktor Latonne erhob sich und lehnte sich an den Kamin, während Andermatt unruhig auf und ab lief.

Der Doktor rief:

– Denken Sie nur: ein Arzt, ein Arzt soll so etwas machen! So eine Charakterlosigkeit!

Andermatt war verzweifelt. Er wog die Folgen ab und ordnete sie in seinem Geist wie zu einem Additionsexempel. Erstens das unliebsame Gerücht, das gewiß in den Nachbarbädern bekannt werden und bis nach Paris dringen würde. Aber wenn man es geschickt anfinge, wäre es vielleicht nicht unmöglich, die Flucht dieses Paares zur Reklame zu verwenden. Mit einem halben Dutzend geschickt redigierter Notizen in den meistgelesenen Blättern würde man gewiß die Aufmerksamkeit der Leute auf Mont Oriol lenken.

Zweitens der Fortgang des Professor Cloche, ein unersetzlicher Verlust.

Drittens: Abreise der Herzogin und des Herzogs von Ramas-Aldavarra, ein zweiter Verlust, für den es gar keinen Ersatz gab.

Im Ganzen hatte Doktor Latonne recht, es war ein furchtbares Unglück.

Da wandte sich der Bankier zum Arzt:

– Sie sollten mal sofort ins Splendid-Hotel gehen und für Aubry-Pasteur den Totenschein ausstellen, so, daß man nicht an einen Schlaganfall denkt.

Doktor Latonne nahm seinen Hut, dann sagte er beim Gehen:

– Hören Sie, da ist noch eine Nachricht, die den Ort durchlauft. Ist es denn wahr, daß Ihr Freund Paul Brétigny Charlotte Oriol heiraten wird?

Andermatt zitterte vor Erstaunen:

– Brétigny, ach was, wer hat Ihnen denn das erzählt?

– Nun, wieder Petrus Martel, er hat's vom alten Oriol selbst.

– Vom alten Oriol?

– Ja, vom Vater Oriol. Der behauptete, sein Schwiegersohn hätte drei Millionen Vermögen.

Andermatt wußte nicht mehr, was er denken sollte. Er brummte:

– Ja Gott, das ist ja möglich, er hat ihr mächtig nachgestellt seit einiger Zeit. Ja dann gehört uns ja das ganze Ding, das ganze Ding. Das muß ich mal gleich feststellen.

Und er folgte dem Arzt, um Paul noch vor dem Frühstück zu treffen. Als er ins Hotel kam, teilte man ihm mit, daß seine Frau mehrmals nach ihm gefragt hätte. Er fand sie noch zu Bett, sie sprach mit ihrem Vater und ihrem Bruder, der schnell und zerstreut die Zeitung durchlief. Sie fühlte sich leidend, sehr leidend, sie war unruhig. Sie hatte Angst, und sie wußte nicht warum. Und dann war ihr ein Gedanke gekommen, der seit ein paar Tagen bei ihrem Zustand immer stärker in ihr ward. Sie wollte Doktor Black konsultieren. Da sie immerfort um sich herum nur Witze über Doktor Latonne gehört, hatte sie alles Zutrauen zu ihm verloren und wollte die Ansicht eines anderen Arztes vernehmen, des Doktors Black, dessen Ruf täglich stieg.

Befürchtungen aller Art, ängstliche und quälende Gedanken, die am Ende der Schwangerschaft die Frauen überfallen, quälten sie jetzt von früh bis abends. Seit dem Tage vorher bildete sie sich infolge eines Traumes ein, daß das Kind schlecht läge und zwar so, daß die natürliche Entbindung nicht möglich sein und man zur Operation würde schreiten müssen. Und in ihren Gedanken erlebte sie selbst die Operation, die man an ihr machte. Sie sah sich auf dem Rücken liegen, mit geöffnetem Leib in einem blutüberströmten Bett, während man etwas Rotes davon trug, das sich nicht bewegte, das nicht schrie, das tot war. Und alle zehn Minuten schloß sie die Augen, um das Bild wieder vor sich zu sehen, um wieder ihre furchtbaren Schmerzensqualen im geheimen durchzumachen.

Da hatte sie sich eingebildet, daß Doktor Black ganz allein ihr die Wahrheit sagen würde, und sie verlangte, ihn sofort zu sehen, sie verlangte, daß er den Augenblick geholt werden sollte, augenblicklich, augenblicklich!

Andermatt, der sehr zerstreut war, wußte nicht mehr, was er antworten sollte.

– Ja aber, liebes Kind, das ist für mich sehr schwer, denke doch an meine Beziehungen zu Latonne, das ist sogar unmöglich. Höre mal, mein Kind, ein Gedanke, ich werde mal Professor Mas-Roussel rufen, der ist hundertmal bedeutender wie Doktor Black, er wird es mir nicht abschlagen.

Aber sie verbiß sich darauf, sie wollte Black, nur Black, sie mußte ihn sehen, seinen dicken Doggenkopf an ihrer Seite wissen, es war eine fixe Idee, ein toller Gedanke, sie mußte ihn haben.

Da versuchte William den Gedankengang zu ändern:

– Weißt Du nicht, daß dieser Intrigant von Mazelli diese Nacht mit der Tochter des Professor Cloche durchgegangen ist? Sie sind fort, weiß der Teufel, wo sie hin sind!

Sie hatte sich aus den Kissen aufgerichtet mit durch ihr Leid großen Augen und stammelte:

– Ach, die arme Herzogin, die arme Frau, die thut mir so leid!

Seit längerer Zeit hatte ihr Herz begriffen, was vor sich ging, ihr armes leidenschaftliches gequältes Herz, sie litt an demselben Leid, sie weinte die gleichen Thränen.

Aber sie begann von neuem:

– Hör mal, Will, Du mußt mir den Doktor Black rufen, ich fühle, ich sterbe, wenn er nicht kommt.

Andermatt nahm ihre Hand und küßte sie zärtlich:

– Ach Gott, hör doch mal, meine kleine Christiane, sei doch vernünftig.

Er sah die Thränen in ihren Augen und wandte sich zum Marquis:

– Lieber Papa, das müßtest Du machen, ich kann das nicht. Black kommt alle Tage hierher gegen ein Uhr zur Prinzessin von Maldenburg, rede ihn dann unterwegs an und bringe ihn zu Deiner Tochter. Du kannst doch noch eine Stunde warten, Christiane, nicht wahr?

Sie willigte ein, eine Stunde zu warten aber lehnte es ab, aufzustehen, um mit den Herren zu frühstücken, die nun allein ins Eßzimmer gingen.

Paul war schon dort. Als Andermatt ihn sah, rief er:

– Hören Sie mal, was hat man mir da vorhin erzählt, Sie wollen Charlotte Oriol heiraten? Das ist doch nicht wahr?

Der junge Mann antwortete halblaut, indem er einen unruhigen Blick nach der geschlossenen Thür warf:

– Mein Gott, ja.

Da es noch niemand wußte, blieben sie alle drei mit offenem Munde vor ihm stehen. Andermatt fragte:

– Aber wie kamen Sie nur darauf, bei Ihrem Vermögen sich zu verheiraten. Sie, der Sie alle haben können, sich an eine zu hängen? Und dann ist doch die Familie nicht gerade sehr vornehm. Für Gontran, der keinen Dreier hat, ist es ja etwas anderes.

Brétigny begann zu lachen:

– Nun, mein Vater hat durch Mehlhandel sein Geld verdient, er war also Müller – en gros – wenn Sie ihn gekannt hätten, würden Sie vielleicht auch gedacht haben, er wäre nicht gerade übermäßig elegant. Na, und das junge Mädchen?

Andermatt unterbrach ihn:

– O, die ist reizend, köstlich, famos und wissen Sie, sie wird mal so reich sein wie Sie, wenn nicht reicher, das verspreche ich Ihnen, das verspreche ich Ihnen.

Gontran brummte:

– Ja, die Verlobung bindet ja nicht und deckt den Rückzug. Er hätte ja doch bloß vorher etwas sagen können! Nun sag mal, mein Alter, wie ist denn das passiert?

Da erzählte Paul die ganze Geschichte, indem er sie nur ein klein wenig veränderte. Er sprach von seinen Zweifeln, die er verstärkte, von seiner plötzlichen Entscheidung, als ein Wort vonseiten des jungen Mädchens ihm die Hoffnung gab, daß er geliebt sei. Er erzählte, wie plötzlich der alte Oriol eingetreten, wie sie sich gezankt, indem er etwas übertrieb, dann wie der alte Bauer gezweifelt, daß er Geld hätte und das Papier mit den Stempelmarken aus dem Schrank genommen.

Andermatt lachte bis zu Thränen und schlug mit der Hand auf den Tisch:

– Na so was, da hat er meinen Coup mit dem Stempelpapier sofort nachgemacht.

Aber Paul stammelte und ward ein wenig rot:

– Bitte, sagen Sie aber Ihrer Frau noch nichts davon; so wie wir mit einander stehen, ist es besser, ich sage es ihr selbst.

Gontran sah seinen Freund mit einem seltsamen Lächeln an, das zu sagen schien: »Das ist ganz famos, ganz famos, so muß so etwas zu Ende gehen, ohne jeden Lärm, ohne große Geschichten.«

Er schlug vor:

– Wenn es dir recht ist, mein alter Paul, gehen wir nach dem Frühstück hin, wenn sie aufgestanden ist, und dann kannst du ihr die Sache mitteilen.

Ihre Blicke trafen sich, und Paul antwortete gleichgiltig:

– Ja, gewiß, sehr gern, wir wollen mal nachher über die ganze Geschichte reden.

Ein Bedienter des Hotels trat ein, um zu melden, daß der Doktor Black eben zur Prinzessin gekommen, und sofort ging der Marquis davon, um ihn unterwegs noch zu treffen. Er setzte dem Arzte die Lage auseinander, die Verlegenheit, in der sich sein Schwiegersohn befände und den Wunsch seiner Tochter, und ohne weitere Schwierigkeiten nahm er ihn mit.

Sobald der kleine Mann mit dem dicken Kopf ins Zimmer getreten war, bat Christiane:

– Bitte, laß uns allein Papa.

Und der Marquis zog sich zurück.

Nun sprach sie von ihrer Unruhe, ihrer Angst und ihren Träumen, mit leiser, weicher Stimme, als ob sie beichtete. Und der Arzt hörte zu wie ein Priester, indem er manchmal seine großen, runden Augen auf sie richtete, durch ein Nicken seine Aufmerksamkeit bezeugte, oder durch ein »Gewiß«, das zu sagen schien: Ich kenne Ihren Fall bis ins kleinste, und wenn Sie wollen, mache ich Sie sofort gesund.

Als sie fertig erzählt hatte, begann er seinerseits sie zu fragen mit größter Genauigkeit über ihr Leben, ihre Gewohnheiten, ihre ärztliche Behandlung. Manchmal schien er eine zustimmende Bewegung zu machen, manchmal durch ein diskretes »Oh!« seine abweichende Ansicht zu bekunden.

Als sie zu ihrer Befürchtung kam, das Kind möge schlecht liegen, erhob er sich und befühlte sie mit der Schamhaftigkeit eines Geistlichen durch die Decken, und dann erklärte er:

– Nein, sehr gut!

Sie wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen. Ein wundervoller Mann dieser Arzt!

Er nahm ein Stück Papier vom Tisch und schrieb ein Rezept auf, es war sehr lang. Dann trat er an ihr Bett und begann in einem ganz anderen Ton, um festzustellen, daß er seine heiligen beruflichen Pflichten jetzt beendigt hatte, zu plaudern. Er hatte eine tiefe, fettige Stimme, eine gewaltige Stimme, wie ein Zwerg, er sprach über alles mögliche, die bevorstehende Heirat Gontrans schien ihn besonders zu interessieren. Dann sagte er mit einem süßlichen Lächeln:

– Ich sprach Ihnen noch nicht von der Verlobung des Herrn Brétigny, obgleich sie wohl kein Geheimnis mehr ist, denn der alte Oriol erzählt es ja aller Welt.

Sie wurde fast ohnmächtig, bei den Fingerspitzen begann es, lief über den ganzen Körper, die Brust, die Beine, aber sie begriff trotzdem nicht. Nur eine furchtbare Angst, nichts zu wissen, machte sie plötzlich vorsichtig, und sie stammelte:

– Was, der alte Oriol erzählt es aller Welt?

– Ja, ja, vor zehn Minuten noch hat er mit mir darüber gesprochen. Herr Brétigny scheint ja sehr reich zu sein, und er scheint die kleine Charlotte seit längerer Zeit schon zu lieben. Übrigens hat Frau Doktor Honorat die beiden Verlobungen gemacht, in ihrem Hause trafen sich die jungen Leute.

Christiane hatte die Augen geschlossen, sie verlor die Besinnung.

Der Doktor rief die Jungfer, dann erschienen der Marquis, Gontran und Andermatt, die Essig holten, Parfüms, und zwanzig verschiedene, unnütze Dinge.

Plötzlich machte die junge Frau eine Bewegung, öffnete die Augen, hob die Arme und stieß einen herzzerreißenden Schrei aus, während sie sich in ihrem Bette wand. Sie versuchte zu sprechen und stammelte:

– Ach, thut das weh! Mein Gott, thut das weh! Es zerreißt mich! O, mein Gott!

Und sie begann wieder zu schreien. Die ersten Wehen waren eingetreten. Da lief Andermatt davon, um Doktor Latonne zu rufen. Er traf ihn sofort und rief:

– Kommen Sie schnell, bei meiner Frau ist ein Unglück geschehen, schnell!

Da kam ihm ein schlauer Gedanke, er erzählte ihm, daß Doktor Black gerade im Hotel gewesen sei, als die ersten Schmerzen sich eingestellt. Doktor Black wiederholte diese Lüge seinem Kollegen, indem er sagte, er wäre soeben bei der Prinzessin gewesen, als man ihm meldete, Frau Andermatt ginge es schlecht, und so sei er natürlich sofort hingelaufen.

William, der sehr bewegt war, dem das Herz schlug, der ganz verwirrt schien, ward plötzlich von Zweifeln ergriffen über den Wert dieser beiden Männer, und er lief ohne Hut hinaus, um den Professor Mas-Roussel anzuflehen, zu kommen.

Der Professor war sofort dabei, knöpfte seinen Überrock mit der Gebärde des Arztes zu, der auf Krankenbesuch geht, und mit eiligen langen Schritten, wie es einem so berühmten Mann zukommt, dessen Gegenwart ein Menschenleben retten kann, eilte er davon.

Sobald er eintrat, kamen die beiden anderen ihm sehr artig entgegen, konsultierten ihn mit größter Ergebenheit, indem sie beinahe zu gleicher Zeit sagten:

– Herr Kollege, die Sache liegt nämlich so . . . Herr Kollege, glauben Sie nicht auch, daß . . . Sollte man nicht, Herr Kollege . . .?

Andermatt seinerseits schien ganz den Verstand verloren zu haben durch das Stöhnen seiner Frau, quälte den Professor mit Fragen, und nannte ihn: hochverehrter Herr Geheimrat.

Christiane, die fast nackt vor den Männern da lag, sah nichts mehr, wußte nichts mehr, begriff nichts mehr. Sie litt fürchterlich. Alle Gedanken schienen ihr aus dem Kopf entwichen, es schien ihr, als ob man eine lange Säge in ihrem Leib, in ihrem Rücken, in die Seiten der Hüften senkte, eine Säge mit Zähnen, die ihr die Knochen, die Muskeln langsam mit unregelmäßigem Hin- und Herzerren zerriß, mit Stößen, mit Anhalten und wieder mit schnellerer, furchtbarerer Bewegung.

Als der Schmerz ein paar Augenblicke nachließ, als sie dadurch einen Moment wieder Besinnung bekam, senkte sich ein Gedanke in ihre Seele, schmerzlicher noch, entsetzlicher als der körperliche Schmerz: er liebte eine andere Frau und würde sie heiraten!

Und damit diese neue Qual, die ihr den Sinn verwirrte, wieder erlösche, gab sie sich Mühe, die körperlichen Schmerzen wieder hervorzubringen, bewegte sich und wälzte sich hin und her, und als die Wehen wiederkamen, konnte sie wenigstens daran nicht mehr denken.

Fünfzehn Stunden lang ward sie so gequält, so durch die Schmerzen und die Verzweiflung zerrüttet, daß sie sterben wollte, daß sie sich Mühe gab, in den Qualen, die sie durchmachte, die Seele auszuhauchen. Aber nach einer Wehe, noch länger und heftiger als die anderen, war es ihr plötzlich als ob alles aus ihrem Leibe herausdrängte. Es war aus, die Schmerzen beruhigten sich, wie Wellen, die geringer werden, und die Erleichterung, die sie empfand, war so groß, daß all ihr Leid eine zeitlang einzuschlafen schien.

Man sprach mit ihr, sie antwortete mit sehr leiser, sehr matter Stimme. Plötzlich beugte sich Andermatts Gesicht zu ihr herab, und er sprach:

– Sie lebt, es ist eine Tochter!

Christiane konnte nur flüstern:

– O, mein Gott!

Sie hatte also ein Kind, ein Kind, das da wachsen und groß werden würde, ein Kind von Paul! Und die Lust kam sie an, wieder zu schreien, so zerstückte ihr dies neue Unglück das Herz. Sie hatte eine Tochter. Sie wollte keine, sie wollte sie nicht sehen, sie niemals anrühren.

Man hatte sie frisch gebettet, versorgt und liebevoll geküßt. Wer? Ihr Vater und ihr Mann wahrscheinlich, sie wußte es nicht. Aber er, wo war er, was that er? Wie glücklich wäre sie zu dieser Stunde gewesen, hätte er sie ein wenig lieb gehabt.

Die Zeit verstrich, die Stunden folgten einander, ohne daß sie selbst Tag und Nacht unterscheiden konnte, denn sie fühlte nur den Gedanken quälend, brennend: er liebt eine andere!

Plötzlich sagte sie sich: und wenn das nun nicht wahr wäre? Wie ist es möglich, daß ich die Verlobung nicht gehört habe, ehe dieser Arzt davon sprach.

Dann dachte sie nach, daß man sie ihr wohl verborgen hatte, Paul würde schon dafür gesorgt haben, daß sie nichts erfuhr. Sie blickte sich im Zimmer um, wer da wäre. Eine unbekannte Frau wachte bei ihr, eine Bauersfrau. Sie wagte nicht, sie zu fragen. Wen konnte sie überhaupt fragen?

Plötzlich ward die Thür geöffnet, ihr Mann kam auf den Fußspitzen herein, und da er ihre offenen Augen sah, näherte er sich ihr.

– Geht's dir besser?

– Ja, danke!

– Du hast uns seit gestern Angst gemacht, aber nun ist die Gefahr vorbei. Aber ich bin Deinetwegen in großer Verlegenheit. Ich hab unserer Freundin, Frau Icardon, telegraphiert, die zu Deiner Niederkunft da sein sollte, ihr die Entbindung mitgeteilt und sie gebeten sogleich zu kommen. Nun ist sie aber bei ihrem Neffen, der Scharlach bekommen hat. So ohne eine Pflegerin – eine Pflegerin, die ein bißchen – ein bißchen feiner ist, aber kannst Du doch nicht bleiben, und da hat sich eine Dame von hier angeboten, Dich zu pflegen und Dir Gesellschaft zu leisten, alle Tage, und ich habe es angenommen: Frau Honorat.

Christiane kam plötzlich die Erinnerung an das, was Doktor Black gesagt, eine jähe Angst packte sie, und sie stöhnte:

– O, nein, nein, die nicht!

Will begriff nicht und meinte:

– Ich weiß ja wohl, daß sie etwas gewöhnlich ist, aber Dein Bruder hat sie sehr gern, und sie ist ihm sehr nützlich gewesen, und dann wird behauptet, sie wäre Hebamme gewesen, Honorat habe sie bei einer Kranken kennen gelernt. Wenn sie Dir zu unangenehm ist, schicke ich sie Dir morgen wieder weg, aber wir wollen es doch versuchen, laß sie doch ein-, zweimal kommen.

Sie dachte nach. Das Bedürfnis zu wissen, alles zu wissen, kam ihr so heftig, daß die Hoffnung, dieses Weib selbst zum Sprechen zu bringen, ihr nach und nach die Gewißheit, die ihr Herz zerreißen würde, zu entlocken, sie bewog, zu antworten:

– Also gut, hole sie gleich her, aber gleich, geh!

Und zu diesem unwiderstehlichen Wunsch, alles zu erfahren, trat noch das sonderbare Bedürfnis, mehr zu leiden, ein krankhafter, exaltierter Wunsch, wie der einer Märtyrerin, die nach Schmerzen verlangt. Und sie stammelte:

– Ja, mir ist es recht, bringe Frau Honorat her!

Aber da fühlte sie plötzlich, daß sie nicht länger warten konnte, ohne Gewißheit zu haben, ohne genau von seinem Verrat zu wissen, und sie fragte William mit einer Stimme, schwach wie ein Hauch:

– Ist es wahr, daß Herr Brétigny sich verlobt hat?

Er antwortete ganz ruhig:

– Ja, das ist wahr. Man hätte es Dir schon längst gesagt, wenn Du nicht krank gewesen wärst.

Sie fragte noch:

– Mit Charlotte?

– Mit Charlotte!

Nun hatte aber auch William eine fixe Idee, die ihn schon gar nicht mehr verließ: seine Tochter, die noch kaum lebte und die er alle Augenblicke ansah. Er war empört, daß nicht das erste Wort Christianes die Frage nach dem Kind gewesen war, und er sagte mit leisem Vorwurf:

– Aber höre mal, Du hast doch noch gar nicht nach der Kleinen gefragt. Weißt Du, daß es ihr sehr gut geht?

Sie zuckte zusammen, als ob man ihr in eine offene Wunde gegriffen, aber sie mußte alle Stationen dieses Calvarienberges zurücklegen.

– Bringe sie mir, – sagte sie.

Er verschwand hinter dem Vorhang zu Füßen des Bettes und kam dann wieder mit vor Stolz und Glück leuchtendem Gesicht, indem er in seinen Händen ungeschickt ein Paket weißer Wäsche hielt. Er legte es auf das Kopfkissen, nahe Christianes Kopf, die vor Erregung zitterte, und sagte:

– Sieh mal, da ist sie, ist sie nicht allerliebst?

Sie blickte das Kind an.

Er hielt mit zwei Fingern die leichten Spitzen zurück, die um ein kleines, rotes Gesicht lagen, so klein, so rot, mit geschlossenen Augen und saugendem Mund. Und sie dachte, indem sie sich über dieses eben erst beginnende Menschenkind beugte: »Das ist nun meine Tochter . . . Pauls Tochter. Das hat mir solche Schmerzen gemacht, . . . das . . . ist meine Tochter!«

Aber plötzlich war ihr Widerwillen gegen das Kind verschwunden, gegen das Kind, dessen Geburt so fürchterlich ihr armes Herz und ihren Leib zerrissen. Sie betrachtete mit schmerzlicher Neugierde, mit tiefem Erstaunen das Kind mit dem Erstaunen eines Tieres, das sein erstes Junges geworfen.

Andermatt dachte, sie würde es liebkosen, und er war wieder erstaunt und etwas verletzt und fragte:

– Küßt Du es denn nicht?

Ganz leise beugte sie sich zu der Kleinen Stirn, aber je mehr sich ihre Lippen näherten, desto mehr fühlte sie sich angezogen, und als sie die Lippen darauf gelegt, als sie sie berührte, die kleine Stirn, ein wenig feucht, ein wenig warm, die Wärme ihres eigenen Lebens, schien es ihr, als könne sie ihre Lippen nicht mehr loslassen von diesem kleinen Kinderkörper, und daß sie ewig darauf ruhen bleiben würden.

Etwas streifte ihre Wange, es war der Bart ihres Mannes, der sich beugte, um sie zu küssen, und nachdem er sie lange an sich gepreßt mit dankbarer Zärtlichkeit, wollte er auch seine Tochter küssen und gab ihr mit vorgestreckten Lippen ein paar kleine Küßchen auf die Nasenspitze.

Christiane that diese Zärtlichkeit weh, sie blickte die beiden neben sich an, ihre Tochter und ihn.

Bald darauf wollte er das Kind wieder in die Wiege tragen.

– Nein, – sagte sie, – laß es mir noch ein paar Minuten, daß ich es an meiner Wange fühle. Sprich nicht, bewege Dich nicht, laß uns ruhig warten.

Sie schob einen ihrer Arme unter den in den Windeln verborgenen Körper, lehnte ihre Stirn ganz nahe an der Kleinen Gesicht, schloß die Augen, bewegte sich nicht mehr und dachte an nichts.

Aber William berührte sie nach einigen Minuten leise an der Schulter:

– Kind, Du mußt vernünftig sein, rege Dich nicht so auf, weißt Du, nur nicht so aufregen!

Dann nahm er ihre Tochter fort, die sie so lange mit den Augen verfolgte, bis sie hinter dem Bettvorhang verschwunden war. Dann kam er zurück:

– Also abgemacht, morgen früh schicke ich Dir Frau Honorat zur Gesellschaft.

Sie antwortete mit fester Stimme:

– Ja, mein Freund, Du kannst sie mir morgen früh schicken.

Und sie streckte sich im Bett aus, müde, wie zerschlagen, ein bißchen weniger unglücklich vielleicht.

Ihr Vater und ihr Bruder kamen noch am Abend, um sie zu sehen, erzählten ihr Geschichten aus der Gegend, die plötzliche Abreise des Professor Cloche, der seiner Tochter nachgefahren, und das Gerede über die Herzogin von Ramas, die man nicht mehr sah, von der man meinte, sie wäre schon fort, und noch mancherlei Sachen.

Gontran lachte über dieses Abenteuer und zog scherzend einen Schluß aus dem Ereignis:

– Unglaubliche Dinge gehen vor in diesen Bädern, es sind die einzigen Feenländer, die es noch auf der Erde giebt. In zwei Monaten kommt dort mehr vor, als die ganze übrige Zeit auf der ganzen Welt, es ist wirklich, als ob die Quellen keine Mineral-, sondern Zauberquellen wären. Aber das ist überall dieselbe Geschichte in Aix, Royat, Vichy, Luchon, und ebenso in den Seebädern, in Dieppe, Étretat, Trouville, Biarritz, Cannes, Nizza. Man findet dort Fetzen von allen Gesellschaften, von allen Völkern, und eine Rassenmischung, die es sonst nirgends giebt, wunderbare Abenteuer. Die Frauen machen dort mit Leichtigkeit und tödlicher Sicherheit allen möglichen Unsinn. In Paris ist man stark, in den Bädern schwach. Die Männer finden dort Geld, wie Andermatt, den Tod, wie Aubry-Pasteur und andere wieder verloben sich, wie ich und Paul. Du wußtest doch von Pauls Verlobung, nicht wahr?

Sie flüsterte:

– Ja, William hat mir's vorhin erzählt.

Gontran fuhr fort:

– Er hat recht, sehr recht. Sie ist eine Bauerndirne . . . Ja, aber, das ist doch immer noch mehr als die Tochter eines Abenteurers, oder eine Dirne kurzweg. Ich kenne Paul, er hätte doch noch irgendwo so ein Frauenzimmer geheiratet, wenn sie sich nur sechs Wochen lang gewehrt hätte. Und um sich gegen ihn zu wehren, muß man entweder ganz gerissen oder ganz unschuldig sein. Er ist nun auf die Unschuld reingefallen, und das ist besser für ihn.

Christiane hörte zu, und jedes Wort ging ihr durch das Ohr bis ins Herz und that ihr weh, fürchterlich weh. Sie sagte, indem sie die Augen schloß:

– Ich bin sehr müde und möchte ein wenig ruhen.

Sie küßten sie und gingen. Sie konnte nicht schlafen, immer hielten sie ihre quälenden Gedanken wach. Dieser Gedanke, daß er sie nicht mehr liebte, ward ihr so unerträglich, daß, wenn sie jene Frau nicht gesehen hätte, die Krankenwärterin, die in dem Stuhl lehnte, sie aufgestanden wäre, das Fenster geöffnet und sich einfach hinuntergestürzt hätte auf die Stufen der Terrasse.

Ein ganz feiner Mondenstrahl brach durch eine Spalte in den Vorhängen und machte auf dem Parkett einen kleinen hellen Fleck. Sie sah ihn, alle ihre Erinnerungen tauchten mit einem Male wieder auf, der See, der Wald, das erste »Ich liebe dich«, kaum gehört und doch so verwirrend. Dann Tournoël und all ihre Zärtlichkeit an jenem Abend auf dem dunklen Weg und auf der Chaussee von la Roche-Pradière.

Plötzlich sah sie die weiße Straße vor sich an einem strahlenden Sternenabend, und ihn, Paul, der eine Frau umfaßt hielt, der er bei jedem Schritt einen Kuß gab. Sie erkannte sie: es war Charlotte. Er preßte sie an sich, lächelte wie nur er lächeln konnte und flüsterte ihr süße Worte zu, wie nur er sie sagte. Dann warf er sich ihr zu Füßen und küßte die Erde vor ihr, wie er sie vor Christiane geküßt.

Das war so hart, so hart für sie, daß sie sich umdrehte und ihr Gesicht in den Kissen verbarg und zu schluchzen begann. Sie schrie laut auf, so zermarterte die Verzweiflung ihre Seele. Jedes Klopfen ihres Herzens, das in ihrer Brust schlug, und das sie bis in die Schläfen fühlte, klang ihr unausgesetzt wie das einzige immer wiederholte Wort: »Paul! . . . Paul! . . . Paul!«

Sie schloß die Ohren mit den Händen, um nichts mehr zu hören, sie versteckte den Kopf unter den Decken, aber es klang in ihrer Brust dieser Name mit jedem Schlag ihres Herzens, unstillbar.

Die Wärterin war erwacht und fragte:

– Sind Sie krank, gnädige Frau?

Christiane wandte sich um, in Thränen gebadet, und flüsterte:

– Nein, ich schlief, ich träumte, ich habe Angst gehabt.

Dann bat sie, daß zwei Lichter angesteckt würden, um den Mondschein nicht mehr zu sehen, und endlich gegen Morgen schlief sie ein. Als sie ein paar Stunden geschlafen hatte, kam Andermatt, der Frau Honorat mitbrachte.

Die dicke Dame, die ganz familiär that, setzte sich ans Bett, nahm die Hände der Wöchnerin und fragte wie ein Arzt. Dann erklärte sie, zufrieden mit den Antworten:

– Na Gott sei Dank, es geht ganz gut.

Dann nahm sie ihren Hut ab, ihre Handschuhe, ihren Schal und wandte sich zu der Wärterin:

– Sie könnnen gehen, ich werde klingeln, wenn wir Sie brauchen.

Christiane, die ihren Widerwillen schon überwunden, sagte zu ihrem Mann:

– Gieb mir ein bißchen meine Tochter.

William brachte ihr wie gestern das Kind, küßte es zärtlich und legte es auf das Kopfkissen und ebenso wie gestern, als sie an ihrer Wange durch den Stoff hindurch die Wärme des unbekannten kleinen Körpers gefühlt, der in den Windeln eingeschlossen lag, ward sie mit einemmal ruhig. Plötzlich begann die Kleine zu schreien, sie weinte mit greller, durchdringender Stimme.

– Sie will trinken, – sagte Andermatt.

Er klingelte, und die Amme erschien. Eine dicke, rote Frau, mit einem Maul, wie ein Menschenfresser, leuchtende große Zähne darin, daß Christiane fast Angst bekam. Sie zog aus ihrem offenen Kleide eine gewichtige Brust, weich und schwer von Milch, so etwa wie das Euter einer Kuh, und als Christane ihre Tochter daran trinken sah, überkam sie die Lust, sie zu packen, sie zurückzureißen aus Eifersucht halb, und halb aus Ekel.

Frau Honorat gab jetzt der Amme Ratschläge, die mit dem Kinde davonging. Andermatt folgte, die beiden Frauen blieben allein.

Christiane wußte nicht, wie sie von dem anfangen sollte zu sprechen, was ihre Seele beschäftigte; sie zitterte, zu aufgeregt zu sein, den Verstand zu verlieren, zu weinen, sich zu verraten. Aber Frau Honorat begann ganz allein zu schwatzen, ohne daß man irgend etwas sie gefragt. Nachdem sie allen Klatsch, der herumgebracht ward, erzählt, kam sie auch auf die Familie Oriol.

– 's sind sehr brave Leute, sehr brave Leute. Wenn Sie nur die Mutter gekannt hätten, so eine tapfere, ehrliche Frau, die war zehn wert, gnädige Frau. Na, die Mädel haben was von ihr abgekriegt.

Als sie nun auf ein anderes Thema überging, sagte Christiane:

– Welche von beiden ist Ihnen lieber, Louise oder Charlotte?

– Na ich, gnädige Frau, mag Louise lieber, die Ihr Bruder heiratet, sie ist vernünftiger, das ist eine ordentliche Frau, aber mein Mann mag die andere mehr, wissen Sie die Männer haben so ihren Geschmack, der nicht der unsere ist.

Sie schwieg. Christane, die keinen Mut mehr hatte, stammelte nur noch:

– Mein Bruder hat seine Braut oft bei Ihnen getroffen?

– Ja, gewiß, gnädige Frau, das meine ich wohl, täglich. Das haben wir alles bei mir gemacht. Ich habe die Kinder schwatzen lassen, ich wußte schon, was da los war. Und was mir wirklich Spaß gemacht hat, war, als ich sah, wie Herr Paul hinter der Jüngern hinterher war.

Da sagte Christiane mit fast unhörbarer Stimme:

– Liebt er sie sehr?

– O, gnädige Frau, und ob! In der letzten Zeit war er ganz verrückt, und als dann der Italiener, der da mit der Tochter vom Professor Cloche durchgegangen ist, der Kleinen so 'n bißchen Augen machte, das hätten Sie mal sehen sollen, na, ich dachte, sie würden sich gleich schießen. Sie hätten mal Herrn Pauls Augen sehen sollen, der schien ganz verrückt. Es ist wunderhübsch, wenn einer so liebt.

Da fragte Christiane nach allem: was vorgegangen war, was sie gesprochen hatten, nach allem, was sie gethan. nach ihren Spaziergängen in dem kleinen Thälchen von Sanssouci, wo er ihr auch so oft von seiner Liebe gesprochen.

Sie that ganz unerwartete Fragen, daß die dicke Frau erstaunt war, fragte Dinge, an die kein Mensch gedacht hätte, denn unausgesetzt verglich sie und dachte an hundert Kleinigkeiten vom Jahr vorher, an all die zarten Aufmerksamkeiten Pauls, an alles das, was er erfand, ihr zu gefallen, an all die zarten, reizenden Kleinigkeiten, die verraten, daß ein Mann das dringende Bedürfnis hat, zu gefallen.

Sie wollte wissen, ob er das alles für die andere auch gethan hätte, ob er die Bearbeitung dieser Seele mit derselben Glut begonnen, mit derselben Beharrlichkeit, mit derselben unwiderstehlichen Leidenschaft, und jedesmal, wenn sie eine gleiche Thatsache, einen gleichen Zug, eine jener verwirrenden Überraschungen, die so sind, daß einem das Herz klopft, wiedererkannte, stieß Christiane in ihrem Bett ein leises »Ach!« des Leidens aus.

Frau Honorat war erstaunt über den seltsamen Laut und sagte nun noch nachdrücklicher:

– Ja, gewiß, alles ist so gewesen, wie ich es Ihnen erzähle, ich habe noch nie einen so verliebt gesehen!

– Hatte er ihr Verse vordeklamiert?

– Nu das versteht sich wohl, gnädige Frau. Und so hübsche!

Als sie beide schwiegen, hörte man nur noch den eintönigen, weichen Gesang der Amme, die im Nebenzimmer das Kind einschläferte.

Schritte nahten auf dem Gang, die Herren Mas- Roussel und Latonne kamen, ihren Krankenbesuch zu machen. Sie fanden Christiane etwas aufgeregt, nicht so gut wie am Tage vorher.

Sobald sie fort waren, öffnete Andermatt die Thür und sagte, ohne einzutreten:

– Doktor Black möchte Dich sprechen, ist es Dir recht?

Sie erhob sich etwas in ihrem Bett und rief:

– Nein, nein, ich will nicht! Ich will nicht!

William trat erstaunt herein:

– Ja, aber höre doch, Du mußt doch, das ist man ihm doch, Du mußt . . . .

Sie sah wie wahnsinnig aus, so groß waren ihre Augen, und sie wiederholte mit scharfer Stimme so laut, daß es durch die Wände drang:

– Nein, nein, er soll nie wiederkommen! Hörst Du, nie!

Und dann rief sie, indem sie nicht mehr wußte, was sie eigentlich sprach, und indem sie mit dem ausgestreckten Arm auf Frau Honorat deutete, die mitten im Zimmer stand:

– Die auch nicht, jage sie hinaus, ich will sie nicht sehen, fort mit ihr!

Da ging er auf seine Frau zu, schloß sie in die Arme und küßte ihre Stirn.

– Na, meine kleine Christiane, beruhige Dich doch, was hast Du denn? Beruhige Dich doch!

Sie konnte nicht mehr sprechen, die Thränen quollen ihr aus den Augen:

– Alle sollen fort! Alle sollen fort! Nur Du allein sollst bei mir bleiben!

Er eilte verzweifelt auf die Frau des Arztes zu und schob sie vorsichtig zur Thür.

– Lassen Sie uns mal ein paar Augenblicke allein, bitte, das ist Milchfieber, ich werde sie beruhigen. Ich sehe Sie nachher wieder.

Als er zum Bett zurückkehrte, hatte sich Christiane wieder zurückgelegt und weinte unausgesetzt immer vor sich hin. Und zum erstenmal in seinem Leben begann auch er zu weinen.

In der That brach das Milchfieber in der Nacht aus. Nach ein Paar Stunden äußerster Aufregung begann die Wöchnerin plötzlich zu sprechen. Der Marquis und Andermatt, die bei ihr geblieben waren und Karten spielten, wobei sie die Points mit ganz leiser Stimme ansagten, erhoben sich und traten ans Bett, da sie glaubten von ihr gerufen zu sein.

Sie sah sie nicht, oder sie erkannte sie nicht. Ganz bleich lag sie auf ihren weißen Kissen, mit dem blonden Haar, das über ihre Schultern floß. Sie sah mit ihren blauen, traurigen Augen hinaus wie in die unbekannte, geheimnisvolle, phantastische Welt, in der die Irrsinnigen leben. Ihre Hände lagen auf der Decke, ab und zu bewegten sie sich. Es war zuerst, als spräche sie mit jemand, sie sah jemand und erzählte, aber was sie sagte, war zusammenhanglos und ganz unverständlich.

Sie fand einen Felsen zu hoch, um hinabzuspringen. Dann erkannte sie den Mann, der ihr die Arme entgegenstreckte. Dann sprach sie von Parfüm, es war, als suchte sie vergessene Worte:

– Was giebt es Süßeres? . . . Das macht trunken wie Wein . . . Der Wein betäubt die Gedanken, aber der Duft macht trunkne Träume . . . Mit dem Duft atmet man die Essenz selber ein, die reine Essenz der Dinge und der ganzen Welt . . . Man kann die Blumen schmecken, die Bäume, das Gras auf den Wiesen, . . . man unterscheidet alles bis zu der Seele, die da schläft in alten Möbeln, in alten Vorhängen, in alten Räumen . . .

Dann zog sich ihr Gesicht zusammen, als ob sie erschöpft wäre. Sie stieg sehr langsam einen Abhang hinauf und sagte zu jemand: »O, trage mich noch ein wenig, bitte. Ich will hier sterben, ich kann nicht mehr gehen, trage mich, wie Du dort oben gethan, weißt Du noch, wie Du mich liebtest?«

Dann stieß sie einen Schrei aus, Entsetzen schien in ihren Augen aufzuleuchten, sie sah ein totes Tier vor sich und bat, man möchte es fortnehmen, ohne ihm wehe zu thun.

Der Marquis sagte leise zu seinem Schwiegersohn:

– Sie erinnert sich eines Esels, als wir von einer Partie zurückkamen.

Nun sprach sie mit dem toten Tier, erzählte ihm, auch sie wäre sehr unglücklich, sie wäre noch viel unglücklicher, denn man hätte sie verlassen.

Dann plötzlich weigerte sie sich, etwas zu thun, das man von ihr verlangte und rief: »Nein, ich will nicht . . . nein, nicht . . . Du . . . Du . . . Du verlangst, ich soll diesen Wagen ziehen . . .?!

Nun kam sie außer Atem, als ob sie wirklich einen Wagen gezogen hätte, weinte, stieß einen Schrei aus, und immer stieg sie den Abhang hinauf, während sie mit furchtbarer Anstrengung hinter sich wahrscheinlich den Eselskarren zog. Und jemand mußte sie hart schlagen, denn sie sagte: »O, Du thust mir weh, schlage mich nicht mehr, ich will ziehen, ich will thun was Du willst, nur schlage mich nicht.«

Dann beruhigte sie sich ein wenig und schlummerte nun bis Tagesanbruch unruhig, dann aber schlief sie ganz ein.

Als sie erwachte gegen zwei Uhr nachmittags, war noch das Fieber in ihr, aber sie war wieder bei Besinnung, und doch blieben bis zum andern Tage ihre Gedanken halb wie im Schlafe, flüchtig, unbestimmt. Sie fand nicht gleich die Worte, die sie brauchte, und es ermüdete sie schließlich, sie zu suchen, doch nach einer Nacht, die sie wieder geschlafen, ward sie wieder ganz klar.

Aber sie fühlte sich verändert, als ob diese Krise ihre Seele verändert hätte. Sie litt weniger und dachte mehr nach. Die furchtbaren Ereignisse, die so nahe lagen, schienen ihr in eine weite Vergangenheit zurückversetzt, und sie sah sie mit einer Gedankenklarheit an, die ihr Geist noch nie gehabt. Dieses Licht, das plötzlich gekommen, das manche Wesen in gewissen Leidensstunden erhalten, zeigte ihr das Leben, die Menschen, die Dinge, die ganze Welt mit allem, was sie trägt, so wie sie sie noch nie gesehen.

Da fand sie sich ganz verlassen auf dieser Erde, mehr noch wie an jenem Abend, da sie sich so entsetzlich einsam auf der Welt vorgekommen war in ihrem Zimmer, als sie vom See bei Tazenat zurückgekehrt. Sie begriff, daß alle Menschen Seite an Seite schreiten dem Schicksal entgegen, ohne daß jemals irgend etwas zwei Menschen wirklich eint. Sie fühlte durch den Verrat dessen, dem sie all ihr Vertrauen geschenkt, daß alle andern für sie niemals mehr etwas anderes bedeuten würden, als gleichgiltige Kameraden auf dieser langen oder kurzen Lebensreise, die da traurig oder heiter sein würde, wie der morgende Tag, den keiner vorher kennt.

Sie begriff, daß selbst in den Armen dieses Mannes, mit dem sie gemeint ganz eins zu sein, verschmolzen mit ihm, bei dem sie geglaubt, daß ihre Leiber, ihre Seelen, nur noch ein Leib waren und eine Seele, sich nur zwei Körper einander ein wenig genähert, daß nur die undurchdringlichen Hüllen, in denen die geheimnisvolle Natur des Menschen isoliert und verschlossen, sich gerade berührt hatten. Sie sah genau, daß keiner je die unsichtbare Schranke würde brechen können, die die Wesen im Leben einander so fern hält wie die Sterne am Himmel.

Sie erriet die vergeblichen Bemühungen seit Erschaffung der Welt, die unermüdlichen Anstrengungen der Menschen, den Kerker zu brechen, in dem ihre Seelen ewig eingeschlossen ruhen, ewig einsam. Ein Kampf der Arme, der Lippen, der Augen, des Mundes, das zitternde Ineinandergleiten, ein Kampf der Liebe, die sich in Küssen erschöpft, um wieder nur dahin zu kommen, einem anderen ewig Verlassenen das Leben zu schenken.

Da kam der unwillkürliche Wunsch über sie, ihre Tochter wieder zu sehen. Sie fragte nach ihr, und als man sie ihr brachte, bat sie, man möchte sie von den Hüllen befreien, denn sie kannte ja bisher nur das kleine Gesicht. Die Amme wickelte die Windeln ab und enthüllte auf den Armen tragend das Neugeborene, dessen zappelnde Bewegungen das Leben dieses angehenden Menschen zeigten.

Christiane berührte es mit zitternder ängstlicher Hand, wollte dann den Leib küssen, die kleinen Beinchen, die Füße, und blickte das Kind voll seltsamer Gedanken an.

Zwei Wesen waren einander begegnet, hatten sich mit wahnsinnig köstlicher Glut geliebt, und aus ihrer Umarmung war das entsprossen. Das waren er und sie, bis zum Tode durch dieses kleine Ding vereint, er und sie, die so weiter lebten; ein wenig von ihm und ein wenig von ihr, mit noch etwas Unbekanntem dazu, das anders war als sie beide. In ihm würden sie weiter leben, in der Form seines Leibes, in der Art seines Geistes, in seinen Zügen, seinen Bewegungen, seinen Augen, seinen Leidenschaften, ja im Ton seiner Stimme und in der Art seines Ganges, und doch würde es ein neues Menschenkind sein.

Sie aber, die Erzeuger, waren jetzt getrennt für immer, nie wieder würden ihre Blicke sich in einem jener Zärtlichkeitsmomente zusammenfinden, die das menschliche Geschlecht unvertilgbar macht.

Und sie preßte das Kind an ihr Herz und flüsterte:

– Adieu! Adieu!

Ihm galt der Abschied, den sie in das Ohr ihrer Tochter flüsterte, das mutige, verzweifelte Lebewohl einer stolzen Seele, das Lebewohl einer Frau, die noch lange leiden, immer vielleicht, aber die wenigstens wissen würde, allen Menschen ihre Thränen zu verbergen.

Da rief William durch die halboffene Thür:

– Ei, ei, willst Du mir gleich meine Tochter wiedergeben!

Er lief zum Bett und nahm die Kleine in seine Hände, die jetzt schon gewohnt waren, das Kind zu halten, hob sie über seinen Kopf und rief:

– Guten Morgen, Fräulein Andermatt! Guten Morgen, Fräulein Andermatt!

Christiane dachte: »das ist also mein Mann!« Und mit erstaunten Augen betrachtete sie ihn, als ob sie ihn zum ersten Male gesehen hätte. Das war der Mann, mit dem sie durch das Gesetz vereinigt war, dem sie gehörte, der Mann, der nach den menschlichen, religiösen und sozialen Ansichten ein Teil von ihr war, mehr noch, der Herr ihrer Tage und Nächte, ihres Herzens und ihres Leibes. Sie hatte beinahe Lust zu lächeln, so seltsam erschien ihr das in diesem Augenblick, denn zwischen ihm und ihr würde niemals eine Kette bestehen, keine jener so schnell gerissenen Ketten, die doch ewig scheinen, unendlich süß, beinahe göttlich.

Ihr kamen sogar keine Gewissensbisse, ihn betrogen und verraten zu haben. Sie war erstaunt darüber, sie suchte nach dem Grunde. Warum? Sie waren offenbar zu verschieden, zu sehr einer getrennt von dem andern und zu sehr anderer Rasse. Er verstand sie nicht und sie ihn nicht, und doch war er gut, gefällig und ihr treu ergeben.

Aber vielleicht nur die Wesen von gleicher Natur, von gleichen Ansichten, von gleicher Gestalt können sich durch die heilige Kette freiwilliger Pflicht aneinander gefesselt fühlen.

Man zog das Kind wieder an. William hatte sich gesetzt, er sagte:

– Hör mal, liebes Kind, ich wage Dir gar nicht mehr Besuch anzukünden, seitdem Du mich mit Doktor Black so abgeführt hast, und doch würdest Du mir einen großen Gefallen thun, wenn Du einen Menschen wieder einmal sehen wolltest, nämlich Doktor Bonnefille.

Da lachte sie zum ersten Mal mit einem bleichen Lachen, das auf ihren Lippen stehen zu bleiben schien und gar nicht zu ihrer Seele drang, und fragte:

– Doktor Bonnefille? Welches Wunder! Habt ihr euch denn versöhnt?

– Gewiß, höre, ganz im Geheimen will ich Dir eine Mitteilung machen. Ich habe eben das alte Bad gekauft, jetzt gehört mir alles, Triumph, was? Der arme Doktor Bonnefille hat es sicher früher, wie alle andern wohl erfahren, und ist so schlau gewesen, sich jeden Tag nach Deinem Befinden zu erkundigen, und hat immer mit einem freundlichen Wort seine Karte dagelassen, und ich habe mit meinem Besuch auf seine Artigkeiten erwidert, und jetzt sind wir die dicksten Freunde.

– Nun, mag er kommen, sagte Christiane, – wann er will, ich werde ihn gern sehen.

– Gut, ich danke Dir dafür, ich werde ihn morgen früh herbringen. Ich brauche Dir wohl nicht zu sagen, daß Paul mir immerfort tausend Grüße für Dich aufträgt und sich sehr nach der Kleinen erkundigt, er möchte sie gern einmal sehen.

Trotz ihres Entschlusses fühlte sie sich verlegen, und sie sagte:

– Danke ihm vielmals von mir.

Andermatt fuhr fort:

– Er wollte durchaus wissen, ob man Dir seine Verlobung mitgeteilt hätte. Ich habe ihm ja gesagt. Da hat er mich mehrmals gefragt, was Du dazu sagtest.

Sie nahm alle Kraft zusammen und flüsterte:

– Sage ihm nur, ich wäre ganz einverstanden.

William fuhr mit größter Beharrlichkeit fort:

– Er wollte auch durchaus wissen, wie Du denn Deine Tochter nennen würdest. Ich habe ihm gesagt, wir schwankten noch zwischen Margarete und Genoveva.

– Ich bin anderer Ansicht geworden, sagte sie. Ich will sie Arlette nennen.

Früher, in den ersten Tagen ihrer Schwangerschaft, hatte sie mit Paul über den Namen gesprochen, welchen sie für einen Sohn oder für eine Tochter wählen sollten, und bei einer Tochter hatten sie zwischen Margarete und Genoveva geschwankt. Jetzt wollte sie von diesen Namen nichts mehr wissen.

William wiederholte:

– Arlette, Arlette, das klingt sehr nett! Du hast ganz recht. Ich hätte sie am liebsten nach Dir Christiane genannt, ich habe das so gern, Christiane.

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus:

– Ach, es verspricht zu viel Leid, den Namen des Gekreuzigten zu tragen.

Er errötete, da er an diese Verbindung nicht gedacht, und erhob sich.

– Übrigens Arlette ist wirklich nett. Wie Du willst mein Kind.

Sobald er fort war, rief sie die Amme und befahl, daß von nun ab die Wiege an ihr Bett gestellt werden sollte. Als das zarte, kleine Bettchen, wie ein kleines Schiff geformt, das immer hin und her schwankte mit den weißen Vorhängen an der Messingstange, wie Segel an einem Mast, neben das große Bett geschoben worden war, streckte Christiane ihre Hand bis zu dem wieder eingeschlafenen Kind und sagte leise:

– Schlafe nur, meine Kleine, Du wirst doch jemand finden, der Dich so liebt wie ich.

Und in ruhiger Melancholie brachte sie die nächsten Tage hin, dachte viel nach, sprach sich Mut zu, um in einigen Wochen das Leben wieder aufzunehmen. Ihre Hauptbeschäftigung bestand jetzt darin, die Augen ihrer Tochter zu betrachten, und sie suchte darin einen ersten ausdrucksvollen Blick. Aber sie sah nur zwei blaue Öffnungen, die unausgesetzt sich zur großen Helligkeit des Fensters wandten. Sie ward tief traurig bei dem Gedanken, daß diese Augen, die da noch schliefen, die Welt einst ansehen würden, wie sie sie selbst gesehen, durch die Illusion eines winzigen Traumes, der die weiblichen Herzen glücklich macht und heiter. Sie würde einmal alles lieben, was sie liebte, schöne, helle Tage, Blumen, Wald und auch die Menschen. Sie würde gewiß auch einem Mann gefallen, ihn lieben, ihre Augen würden in sich des Geliebten Bild tragen, es innerlich sehen, wenn er fern, leuchten, wenn er nahe, und dann . . . würden sie zu weinen lernen. Thränen, fürchterliche Thränen würden über diese kleinen Wangen rinnen, und das furchtbare Leid verratener Liebe würde sie entstellen in Angst und Verzweiflung, diese armen, noch leeren Augen, die blau sein würden.

Und sie küßte wie toll ihr Kind und sagte zu ihm:

– Meine Kleine, liebe nur mich!

Eines Tages erklärte Professor Mas-Roussel, der sie jeden Morgen besuchte:

– Sie können nachher ein wenig aufstehen, gnädige Frau!

Als der Arzt fort war, sagte Andermatt zu seiner Frau:

– Es ist schade, daß Du noch nicht wieder ganz gesund bist, denn wir haben heute eine interessante Beobachtung im Bad gemacht. Doktor Latonne ist ein wahres Wunder mit dem alten Clovis gelungen, nachdem er ihn eine automatische Gymnastik hat durchmachen lassen. Denke Dir nur, der alte Kerl läuft jetzt beinahe wie alle anderen Leute, die Fortschritte der Heilung werden nach jeder Sitzung augenscheinlicher.

Sie fragte, um ihm Freude zu machen:

– Willst Du das öffentlich vorführen?

– Ja und nein, wir wollen die Sache den Ärzten und ein paar Freunden zeigen.

– Um wieviel Uhr?

– Um drei Uhr.

– Wird Herr Brétigny dort sein?

– Gewiß, gewiß, er hat mir versprochen, hinzukommen, der ganze Aufsichtsrat ist da, und die Sache ist sehr interessant.

Nun sagte sie:

– Da ich dann gerade aufgestanden sein werde, bitte doch Herrn Brétigny mich zu besuchen, er soll mir Gesellschaft leisten, während ihr die Sitzung habt.

– Gewiß, mein Kind.

– Vergiß es nicht.

– Nein, nein, sei ganz ruhig.

Und er ging davon, um Zuschauer zu suchen.

Nachdem er einmal von den Oriol bei der ersten Behandlung des Gelähmten hereingelegt worden war, hatte er nun seinerseits die Kranken hereingelegt, die so leicht zu gewinnen waren, wenn es sich um Heilung handelte. Und nun machte er sich selbst mit der Kur eine Komödie vor. Sprach oft darüber und mit solcher Überzeugung und Glut, daß es schwer zu entscheiden war, ob er selbst daran glaubte oder nicht.

Um drei Uhr fanden sich alle Personen, die er aufgefordert, an der Thür des Bades zusammen. Man wartete auf die Ankunft des alten Clovis. Er kam, auf seine beiden Stöcke gestützt, immer die Beine hinter sich herschleppend, und grüßte höflich alle Welt, als er vorüber ging. Die beiden Oriol folgten mit den beiden jungen Mädchen, Paul und Gontran begleiteten ihr Bräute.

In dem großen Saal, wo die Turnapparte standen, wartete Doktor Latonne im Gespräch mit Andermatt und Doktor Honorat. Als er den alten Clovis sah, flog ein freudiges Lächeln über seine glattrasierten Lippen, und er fragte:

– Nun, wie geht's denn heute?

– Nu, es schleicht so, es schleicht so!

Petrus Martel und Saint-Landri erschienen, sie wollten auch sehen. Der erste glaubte, der zweite zweifelte. Hinter ihnen gewahrte man mit Staunen Doktor Bonnefille, der seinen Konkurrenten begrüßen wollte und Andermatt die Hand reichte. Doktor Black kam als letzter.

– Nun meine Herren und Damen, – sagte Doktor Latonne, indem er sich gegen Louise und Charlotte Oriol verneigte, – Sie werden etwas ganz Erstaunliches sehen. Ich bitte zuerst festzustellen, daß vor der Sitzung dieser brave Mann ein wenig, aber sehr wenig, gehen kann. Clovis, können Sie ohne Stöcke gehen?

– Nee, nee, mei guter Herr!

– Nun dann wollen wir anfangen.

Der Alte wurde auf den Stuhl gesetzt, die Beine wurden ihm an die beweglichen Füße des Sitzes festgeschnallt, und als dann der Arzt befahl: »Langsam anfangen!« – drehte der Mann mit den aufgekrempelten Hemdsärmeln das Schwungrad. Nun sah man, wie das rechte Knie des alten Vagabunden sich hob, sich streckte und wieder lang wurde, wie dann das linke Knie folgte, und der alte Clovis begann plötzlich zu lachen, indem er mit dem Kopf und dem langen, weißen Bart darüber den Bewegungen folgte, die die Beine machten.

Die vier Ärzte und Andermatt betrachteten ihn, über ihn gebeugt, während der Kuluß seinem Vater zublinzelte. Da man die Thür offen gelassen hatte, kamen unausgesetzt andere Personen herein, drängten sich herbei, um zu sehen.

– Schneller! – befahl Doktor Latonne. Der mit dem Rad drehte stärker, die Beine des Alten begannen zu laufen, und er ward von unwiderstehlicher Heiterkeit gepackt, wie ein Kind, das man krabbelt, nun lachte er laut auf, indem er den Kopf schüttelte und rief zu seinem Heiterkeitsausbruch:

– Nee is das komisch! Is das komisch!

Kuluß seinerseits platzte nun heraus, stieß mit den Fuß auf den Boden, schlug sich auf die Schenkel und schrie:

– Gottverdammter Kerl, der Clovis! Gottverdammter Kerl, der Clovis!

– Genug! befahl der Arzt.

Man band den Vagabunden ab, und die Ärzte machten Platz, um den Erfolg festzustellen. Nun sah man, wie der alte Clovis ganz allein von dem Stuhl herunterstieg und ging. Er ging mit kleinen Schritten, allerdings ganz krumm, gebeugt und bei jedem Versuch ein Gesicht schneidend, aber er ging!

Doktor Bonnefille erklärte zuerst:

– Das ist ein ganz erstaunlicher Fall!

Doktor Black stimmte seinem Kollegen bei, nur Doktor Honorat sagte nichts.

Gontran flüsterte Paul ins Ohr:

– Ich kapiere das nicht, sieh die Kerls mal an, sind sie die Lackierten oder lackieren sie.

Andermatt sprach jetzt, setzte die Kur auseinander vom ersten Tage ab, sprach von dem Rückfall und der nunmehrigen Heilung, die ganz sicher sei, und dann fügte er hinzu:

– Nun, und wenn unser Kranker jeden Winter einen kleinen Rückfall hat, werden wir ihn jeden Sommer wieder auf den Damm bringen.

Dann hielt er eine Rede über die Wirksamkeit der Brunnen von Mont Oriol und feierte all ihre Eigenschaften:

– Ich selbst habe ihre Wirkung erprobt an jemand, der mir sehr nahe steht, und wenn meine Familie nicht mit mir verlöscht, so danke ich dies ganz allein Mont Oriol.

Aber plötzlich erinnerte er sich mit Schrecken an etwas. Er hatte doch seiner Frau versprochen, Paul Brétigny ihr zu schicken. Es war ihm unangenehm, denn er war sonst voller Aufmersamkeit gegen sie. Er blickte also um sich, sah Paul und ging zu ihm hin.

– Lieber Freund, ich habe ganz vergessen, Ihnen zu sagen, daß Christiane Sie jetzt eben erwartet.

– Mich, jetzt?

– Ja, sie ist heute aufgestanden und möchte Sie vor allen anderen mal sehen. Laufen Sie doch schnell mal hin und entschuldigen Sie mich.

Paul ging zum Hotel, sein Herz klopfte vor Erregung. Unterwegs traf er den Marquis Ravenel, der zu ihm sagte:

– Meine Tochter ist aufgestanden und wundert sich, daß Sie noch nicht gekommen sind.

Er blieb auf der ersten Stufe der Treppe halten, um nachzudenken, was er ihr sagen sollte. Wie würde sie ihn empfangen, würde sie allein sein? Wenn sie von seiner Verlobung spräche, was sollte er anworten?

Seitdem er wußte, daß sie niedergekommen war, konnte er an sie nur voll zitternder Unruhe denken, und der Gedanke an ihr erstes Zusammentreffen machte ihn jedesmal, wenn er ihm nur flüchtig kam, erröten oder erbleichen vor Aufregung. Er dachte auch mit tiefer Erregung an das unbekannte Kind, dessen Vater er war, und der Wunsch quälte ihn und die Furcht zugleich, es zu sehen. Er fühlte sich befleckt durch eine jener unmoralischen Handlungen, die bis zum Tode das Gewissen eines Mannes belasten.

Und vor allen Dingen fürchtete er sich vor dem Blick dieser Frau, die er geliebt hatte so heiß und so kurz. Würde sie ihm mit Vorwürfen kommen, mit Thränen, mit Verachtung? Ließ sie ihn nur kommen, um ihn fortzujagen? Und wie sollte er sich gegen sie benehmen, demütig, verzweifelt, flehend, sollte er ihr sein Herz ausschütten, oder zuhören ohne zu antworten? Durfte er sich setzen oder mußte er stehen bleiben?

Und wenn sie ihm ihr Kind zeigte, was sollte er dann thun? Was sollte er sagen? Welches Gefühl durfte er zeigen?

Vor der Thür blieb er noch einmal stehen, und als er die Glocke eben berührte, sah er wie seine Hand zitterte. Aber doch drückte er den Finger auf den kleinen Elfenbein-Knopf und hörte im Innern des Zimmers die elektrische Klingel; ein Mädchen öffnete und ließ ihn eintreten. Sobald er an der Thür des Salons stand, sah er in dem anstoßenden Zimmer Christiane, die ihn ansah, auf einer Chaiselongue liegend.

Es erschien ihm ein unendlicher Weg, den er durch die zwei Zimmer zurücklegen mußte, er fühlte sich taumeln, er hatte Angst an die Stühle zu stoßen. Er wagte nicht auf den Boden zu sehen, um die Augen nicht niederzuschlagen.

Sie machte keine Bewegung, sie sagte kein Wort, bis er neben ihr stand. Ihre rechte Hand blieb ausgestreckt auf dem Kleide liegen, ihre Linke auf den Rand der Wiege gestützt, die dicht mit dem Vorhang verhüllt war.

Als er drei Schritte entfernt war, blieb er stehen, er wußte nicht, was er thun sollte. Die Jungfer hatte die Thür hinter ihnen geschlossen, sie waren allein.

Er wollte ihr zu Füßen fallen und um Verzeihung bitten, aber sie hob langsam ihre Hand, die auf dem Kleide lag und streckte sie ihm entgegen, dann sagte sie mit ernster Stimme:

– Guten Morgen!

Er wagte ihre Finger nicht zu berühren, aber er streifte sie mit den Lippen, indem er sich verbeugte, und sie sagte:

– Setzen Sie sich.

Er setzte sich auf einen niederen Stuhl ihr zu Füßen. Er fühlte, daß er sprechen mußte, aber er fand kein Wort, keinen Gedanken, er wagte es nicht einmal, sie anzusehen. Endlich stammelte er doch:

– Ihr Gatte hat vergessen mir zu sagen, daß Sie auf mich warteten, sonst wäre ich früher gekommen.

Sie antwortete:

– Ach das thut nichts. Ob es nun ein bißchen früher oder später ist, daß wir uns wiedersehen.

Da sie nichts hinzufügte, fragte er eilig:

– Ich hoffe, daß es Ihnen jetzt wieder gut geht.

– Danke, so gut, wie es einem nach solchen Erschütterungen gehen kann.

Sie war sehr bleich, mager, aber hübscher wie vor ihrer Entbindung. Vor allen Dingen hatten ihre Augen jene Tiefe des Ausdrucks gewonnen, die er nicht an ihr gekannt. Sie schienen dunkler, nicht mehr so hell, weniger durchsichtig, tiefer. Ihre Hände waren so weiß, daß sie aussahen wie Totenhände. Sie sagte:

– Es sind schwere Stunden, die man durchmachen muß, aber wenn man einmal so gelitten hat, hat man Kraft bis ans Ende seiner Tage.

Er flüsterte ganz bewegt:

– Ja, das sind fürchterliche Stunden!

Sie antwortete wie ein Echo:

– Fürchterlich!

Seit ein Paar Sekunden hörte man aus der Wiege das Geräusch von ganz leichten Bewegungen, die kaum wahrnehmbaren Zuckungen eines aus dem Schlaf erwachenden Kindes. Brétigny verließ die Wiege nicht mehr mit den Blicken. Ein immer sich steigerndes, schmerzliches Gefühl quälte ihn und das Bedürfnis zu sehen, was darin lebte. Da gewahrte er, daß die Vorhänge des kleinen Bettes von oben bis unten mit goldenen Nadeln zugesteckt waren, die Christiane sonst am Kleide trug. Er hatte sie früher oft zum Spaß herausgezogen und wieder an der Schulter der Geliebten festgemacht, diese feinen Nadeln, deren Kopf einen Halbmond trug.

Er begriff, was sie damit gewollt hatte, und eine bittere Bewegung packte ihn und schreckte ihn zurück vor dieser Schranke von goldenen Nadeln, die ihn auf ewig von diesem Kinde trennte.

Ein leiser Schrei, eine zarte Klage drang aus den weißen Vorhängen. Christiane begann sofort die Wiege zu schaukeln und sagte mit ein wenig harter Stimme:

– Entschuldigen Sie, daß ich so wenig Zeit für Sie habe, aber ich muß mich um meine Tochter kümmern.

Er erhob sich, küßte von neuem die Hand, die sie ihm entgegenstreckte, und als er sich zum Gehen wandte, sprach sie:

– Ich will beten für Ihr Glück!

 


 


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