Guy de Maupassant
Mont Oriol
Guy de Maupassant

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Zweiter Teil

I

Am ersten Juli des folgenden Jahres hätte man Enval kaum wiedererkannt. Auf dem Gipfel des Hügels, genau zwischen den beiden Abhängen, erhob sich ein maurisches Gebäude, an dessen Front in goldenen Lettern das Wort »Kasino« stand.

Man hatte ein Wäldchen dazu verwendet, um an dem Abhang, der sich zur Limagne senkte, einen Park herzustellen. Eine Terrasse, deren Mauer der ganzen Länge nach mit Vasen aus imitiertem Marmor geschmückt war, erstreckte sich vor dem Gebäude und beherrschte die weite Ebene der Auvergne.

Etwas tiefer sah man hier und da die lackierten, hölzernen Fronten von sechs kleinen Villen aus den Weinbergen lugen. Auf dem Abhang, der nach Süden zu lag, lockte ein großes, weißes Gebäude schon von weitem die Badenden an, die es sahen, sobald sie Riom verließen. Das war das große Hotel Mont-Oriol, und zu dessen Füßen, ganz unten am Hügel bot ein viereckiges Haus, einfacher aber geräumiger, von einem Garten umgeben, den der aus den Felsen kommende Bach durchfloß, den Kranken die Wunderheilung, die eine Broschüre des Doktor Latonne verhieß.

Auf der Fassade stand:

»Thermen von Mont-Oriol.«

Dann auf dem rechten Flügel in kleineren Buchstaben:

»Hydrotherapie, Magenauspumpungen, fließende Bäder.«

Und auf dem linken Flügel:

»Institut für motorische Heilgymnastik.«

Alles das war weiß, von einem neuen, leuchtenden, grellen Weiß. Allerlei Handwerker waren noch bei der Arbeit: Maler, Klempner, Erdarbeiter, obgleich das Bad schon seit einem Monat eröffnet war.

Der Erfolg hatte übrigens schon seit dem ersten Tage alle Hoffnungen der Gründer übertroffen. Drei große Ärzte, drei Autoritäten, die Herren Professoren: Mas-Roussel, Cloche und Rémusot hatten das Bad unter ihre Fittiche genommen und eingewilligt, zeitweilig ihren Aufenthalt in die Villen der Berner Gesellschaft für transportable Holzhäuser zu verlegen, die ihnen durch die Administration zur Verfügung gestellt waren.

Durch sie kamen eine Menge Kranke. Das große Hotel Mont-Oriol war gefüllt. Obgleich die Bäder schon in den ersten Junitagen zu laufen begonnen hatten, war die offizielle Eröffnung des Bades auf den ersten Juli verschoben worden, um viele Leute anzulocken.

Das Fest sollte gegen drei Uhr mit der Einsegnung der Quellen beginnen, und abends würde eine große Vorstellung stattfinden mit darauf folgendem Feuerwerk und Ball; alle Badegäste, sowie die Kurgäste der nächstgelegenen Bäder und die Honoratioren von Clermont-Ferrand und von Riom waren eingeladen.

Das Kasino auf dem Gipfel verschwand unter Fahnenschmuck. Man sah nur blau, rot, weiß, gold in einer dicken hin- und herwogenden Wolke, während oben auf dem Gipfel gewaltige Masten längs der Allee des Parkes gepflanzt waren und riesige Oriflammen sich wie kolossale Schlangen gegen den blauen Himmel wanden.

Petrus Martel, der die Direktion des neuen Kasinos erhalten, kam sich vor, als ob er unter dieser Fahnen-Ausschmückung der Kapitän irgend eines fantastischen Kriegsschiffes geworden sei. Er gab den Kellnern mit den weißen Schürzen mit fürchterlich dröhnender Stimme Befehle, wie Admiräle beim Kanonendonner kommandieren. Man hörte seine lauten Rufe, die durch den Wind davongetragen wurden, bis in das Dorf hinab.

Andermatt, der schon ganz außer Atem war, erschien auf der Terrasse. Petrus Martel lief ihm entgegen und grüßte mit tiefer Reverenz.

– Alles in Ordnung? – fragte der Bankier.

– Alles tadellos, Herr Präsident.

– Wenn man mich braucht, ich bin im Zimmer des General-Arztes, wir haben heute früh Sitzung.

Und er ging den Hügel wieder hinab. Vor der Thür des Etablissements traten ihm der Kassierer und der Portier entgegen, die man gleichfalls der anderen Gesellschaft – nun der Konkurrenzgesellschaft – die aber keine Aussicht hatte, in dem Kampfe zu bestehen, ausgemietet hatte. Der einstige Gefangenenaufseher salutierte militärisch, der andere verbeugte sich wie ein Armer, der ein Almosen empfängt. Andermatt fragte:

– Ist der Herr Inspektor hier?

Der andere antwortete:

– Gewiß, Herr Präsident, die Herren sind alle da.

Der Bankier trat in den Vorsaal, mitten unter die Badefrauen und die ehrerbietig grüßenden Kellner. Er wandte sich rechts, öffnete eine Thür und fand in einem großen ernsten Raum, in dem viele Bücher und Büsten von Männern der Wissenschaft waren, alle Mitglieder des Aufsichtsrates, die sich in Enval befanden, vor: seinen Schwiegervater, den Marquis, seinen Schwager Gontran, Oriol Vater und Sohn, die jetzt fast das Aussehen von Herren hatten. Die beiden großen Männer trugen lange, schwarze Röcke, so daß sie wirkten wie Reklameschilder für ein Trauermagazin. Dann war Paul Brétigny anwesend und Doktor Latonne.

Nachdem man sich kurz die Hände geschüttelt, setzte man sich und Andermatt sprach:

– Wir müssen noch eine wichtige Frage ordnen, nämlich: wie wir die Quellen zu benennen haben. Ich bin in dieser Hinsicht nicht derselben Ansicht, wie der Herr Generalarzt, der vorschlägt, unseren drei Quellen die Namen der drei ärztlichen Autoritäten zu geben, die hier sind.

Gewiß wäre das eine Schmeichelei, die sie sehr freuen und sie uns noch mehr verbinden würde. Aber Sie können gewiß sein, daß sie auf ewige Zeiten uns ihre berühmten Kollegen abspenstig machen würde, die Kollegen, die unserer Einladung noch nicht entsprochen haben und die wir mit allen Gründen und mit allen Opfern von der Überlegenheit unserer Quellen überzeugen müssen.

Ja meine Herren, die menschliche Natur bleibt sich immer gleich, man muß sie nur kennen, um sich ihrer zu bedienen. Niemals werden die Professoren Plantureau, de Larenard und Pascalis, um nur diese drei Spezialtäten für Magenleiden und Verdauungsstörungen zu nennen, uns ihre Kranken, ihre besten Patienten, die höchststehenden, die Prinzen, die Herzöge schicken, alle die mondainen Berühmtheiten, die zugleich ihr Glück und ihren Ruf gemacht haben.

Nie werden sie sie uns schicken, um die Mas-Roussel-Quelle zu gebrauchen oder etwa den Cloche-Brunnen oder den Rémusot-Brunnen, denn diese Patienten und das ganze übrige Publikum würden der Überzeugung sein, daß diese Herren, die Professoren Mas-Roussel, Cloche und Rémusot unsere Quellen entdeckt haben und daß sie ihnen gehören.

Meine Herren, es ist nicht zweifelhaft, daß der Name Gubler, mit dem man die erste Quelle in Châtel-Guyon getauft hatte, die heute stark besucht ist, der Grund gewesen ist, warum lange Zeit von den großen Ärzten, die von Anfang an dafür hätten eintreten können, gerade dieser Brunnen nicht empfohlen worden ist.

Ich schlage Ihnen also vor, einfach der ersten Quelle, die entdeckt worden ist, den Namen meiner Frau zu geben, und die Namen der Fräulein Oriol den beiden andern. Das gäbe also einen Christianen-Brunnen, einen Louisen- und einen Charlotten-Brunnen. Das klingt sehr gut, ist sehr hübsch, was meinen Sie dazu?

Seine Anschauung teilte sogar Doktor Latonne, der hinzufügte:

– Man kann ja die Herren Mas-Roussel, Cloche und Rémusot bitten, mit Pate zu stehen und bei der Taufe die Patinnen zu führen.

– Ausgezeichnet! Ausgezeichnet! – sagte Andermatt. Ich werde sofort zu ihnen gehen, und sie werden auch annehmen, dafür bürge ich, sie werden gewiß annehmen. Also auf Wiedersehen um drei Uhr in der Kirche, wo sich der Zug bildet.

Und er rannte spornstreichs davon. Der Marquis und Gontran folgten ihm fast augenblicklich, die beiden Oriol mit ihren großen Cylindern setzten sich Seite an Seite in Bewegung, und Doktor Latonne sagte zu Paul, der erst am Abend vorher angekommen war, um sich an dem Fest zu beteiligen:

– Verehrter Herr, ich habe Sie zurückgehalten, um Ihnen etwas zu zeigen, wovon ich mir sehr viel verspreche, nämlich mein Heil-Institut für motorische Gymnastik.

Und er nahm ihn beim Arm und zog ihn ein Stück davon. Aber kaum befanden sie sich im Vorsaal, als der Bademeister dem Arzt meldete:

– Herr Riquier wartet auf seine Ausspülung.

Doktor Latonne hatte noch das Jahr vorher Magenausspülungen, die Doktor Bonnefille in dem Etablissement, dessen Direktor er war, eingeführt hatte, verworfen, aber mit der Zeit hatte sich seine Meinung geändert, und die Baraduc-Sonde war das große Marter-Instrument des neuen General-Arztes geworden, der sie mit kindischer Freude in alle Mägen hinunterließ. Er fragte Paul Brétigny:

– Haben Sie schon mal eine Magen-Ausspülung gesehen?

Der andere antwortete:

– Nein, niemals!

– So kommen Sie mal mit, es ist sehr interessant.

Sie traten in den Douche-Raum, in dem Herr Riquier wartete, jener Mann mit dem Ziegelgesicht, der dieses Jahr die neuen Quellen versuchte, wie er jeden Sommer alle neu eröffneten Bäder der Reihe nach durchgemacht hatte. Er war, wie ein Gefolterter in alter Zeit, in eine Weste aus Wachsleinewand eingeschnürt, die die Kleider vor Beschmutzung und Bespritzung schützen sollte.

Er sah unglücklich aus, nervös und unruhig, wie ein Patient, zu dem der Chirurg kommt, um zu operieren. Sobald der Doktor erschien, nahm der Gehilfe eine lange Tube, die sich in der Mitte in drei Teile teilte und wie eine Schlange mit drei Schwänzen aussah. Dann befestigte der Mann das eine Ende an einem kleinen Hahn, der mit der Quelle in Verbindung stand, das zweite Ende ließ man in ein Gefäß sinken, in das nachher die ganze Magenflüssigkeit aus dem Magen des Kranken hineinlaufen sollte, und der General-Arzt nahm den dritten Schlauch, näherte sich mit liebenswürdiger Miene dem Munde des Herrn Riquier, steckte ihm das Ding hinein, ließ es geschickt hinuntergleiten und stopfte es mit dem Daumen und Zeigefinger tiefer und tiefer nach in verbindlichster Weise, indem er immerfort dabei sagte:

– Ausgezeichnet! Ausgezeichnet! Ausgezeichnet! So, es geht, es geht, es geht ausgezeichnet!

Herr Riquier saß da mit verzweifelten Blicken, violetten Wangen, Schaum am Mund, als drohte er zu ersticken und stieß vor Verzweiflung auf. Er klammerte sich an die Armlehnen des Stuhles und machte fürchterliche Versuche, um dies Kautschuktier, das ihm in den Leib hineinglitt, von sich zu stoßen. Als er etwa einen halben Meter davon hinuntergeschluckt hatte, sagte der Doktor:

– So, jetzt sind wir unten!

Und der Gehilfe öffnete den Hahn; bald schwoll der Leib des Kranken an, indem der Magen mit dem Wasser der Quelle gefüllt wurde.

– Husten Sie! Husten Sie! – sagte der Arzt. Aber statt zu husten röchelte der Arme, wand sich und sah aus, als würde er gleich seine Augen verlieren, die ihm aus dem Kopf traten. Da hörte man plötzlich neben dem Stuhl an der Erde ein leises Plätschern, das Doppelende war endlich bis hinunter gedrungen, der Magen leerte sich jetzt in das tieferstehende Glas und der Arzt beobachtete mit Interesse die Symptome des Magenkatarrhs und die Spuren ungenügender Verdauung, die man darin erblickte.

– Sie dürfen nie wieder Erbsen essen, und um Gotteswillen keinen Salat, das versuchen Sie ja nicht. Auch keine Erdbeeren, ich habe es Ihnen doch schon zehnmal gesagt, keine Erdbeeren!

Herr Riquier schien wütend, er erregte sich jetzt, aber er konnte nicht sprechen, mit diesem Schlauch in der Kehle der ihm den Mund stopfte. Aber als die Ausspülung vorüber war und der Doktor ihm die Sonde vorsichtig herauszog, rief er:

– Kann ich dafür, wenn ich alle Tage solchen Fraß esse, der mir die Gesundheit kostet. Sollten Sie nicht lieber über das Menü in Ihrem Hotel wachen? Ich bin in Ihre neue Kneipe gekommen, weil man mich in der alten Wirtschaft vergiftete mit dem Fraß, aber ich bin in eurer großen Bude Mont-Oriol fast noch schlechter aufgehoben, auf Ehrenwort.

Der Arzt mußte ihn beruhigen und versprach ihm, von jetzt ab die Table d'hôte der Kranken selber zu beaufsichtigen. Dann nahm er Paul Brétignys Arm und führte ihn davon.

– Nun passen Sie mal auf, auf welche rationellen Grundsätze ich die Behandlung meiner Heilgymnastik aufgebaut habe, die wir jetzt sehen werden. Sie kennen mein System von organometrischer Untersuchung, nicht wahr? Ich behaupte, daß ein großer Teil unserer Krankheiten nur daher kommt, weil ein Organ sich unmäßig entwickelt, die benachbarten beunruhigt und zu gleicher Zeit die Harmonie im Körper in Unordnung bringt, sodaß daraus die verschiedensten Störungen entstehen.

Nun ist die Gymnastik, mit dem Anwenden des Brunnens zusammen, eines der energischsten Mittel, um das Gleichgewicht wieder herzustellen und die gestörten Teile auf die richtige Proportion zurückzuführen.

Und wie soll man die Menschen dahin bringen, gymnastische Übungen zu machen?

Ist doch zu der einfachen Bewegung, beim Gehen, beim Reiten, beim Rudern, beim Schwimmen, nicht nur ein ziemlich starker physischer Kraftaufwand nötig, sondern auch ein starker moralischer? Energische Menschen lieben immer Bewegung. Energie ist also in der Seele und nicht in den Muskeln, der Körper gehorcht einem starken Willen.

Sie müssen nicht etwa denken, mein Lieber, Sie könnten dem Feigen Mut geben, oder dem Schwachen Entschlußkraft; aber etwas anderes können wir wohl machen, wir können mehr thun, wir können den Mut unterdrücken, die Energie schwächen, die moralische Anstrengung aufheben und nur die körperliche Bewegung lassen. Die seelische Bewegung ersetzen wir sehr vorteilhaft durch eine seltsame, rein-mechanische Kraft, verstehen Sie?

– Nein, nicht ganz.

– Also treten wir ein.

Er öffnete eine Thür, die zu einem großen Saal führte, wo seltsame Instrumente standen, Lehnstühle mit hölzernen Beinen, hölzerne Pferde, bewegliche Arme, die sich Stühlen entgegenstreckten, die am Fußboden befestigt wurden, und alle diese Gegenstände waren mit einer komplizierten Mechanik versehen, die sie in Bewegung setzte. Der Doktor fuhr fort:

– Also sehen Sie, hier haben wir vier hauptsächliche Übungen, ich möchte sie die natürlichen Übungen nennen, nämlich: den Gang, den Ritt, das Schwimmen und das Rudern. Jede dieser Bewegungen entwickelt andere Muskelgruppen und wirkt auf ihre besondere Weise.

Nun haben wir sie hier alle vier künstlich hergestellt. Man braucht an nichts zu denken, und man kann rudern, gehen, schwimmen und reiten, ohne daß der Geist im mindesten an dieser Muskelbewegung teilnimmt.

In diesem Augenblick trat Aubry-Pasteur ein, gefolgt von einem Mann, dessen aufgekrempelte Ärmel gewaltige muskulöse Arme zeigten. Der Ingenieur war noch dicker geworden. Er ging jetzt, die Schenkel weit von einander, die Arme vom Körper abgesperrt, und atmetete heftig.

Der Doktor sagte:

– Nun, Sie werden beim Zusehen jetzt dahinterkommen. Dann wandte er sich an seinen Kranken:

– Nun Herr Ingenieur, was wollen wir heute machen? Wollen Sie gehen oder reiten?

Herr Aubry-Pasteur, der Paul die Hand gegeben, antwortete:

– Ich möchte ein wenig sitzend gehen, weil mich das nicht so ermüdet.

Doktor Latonne antwortete:

– In der That, wir können gehen lassen, sitzend und stehend. Das Stehend-Gehen ist ziemlich anstrengend, ich bewirke es durch Pedale, auf die man tritt und die die Beine in Bewegung setzen, während man sich im Gleichgewicht hält, indem man sich an ein paar Ringen in der Wand festhält. Aber nun passen Sie mal auf, wie man sitzend geht.

Der Ingenieur hatte sich in einen Fauteuil mit Lehnen niedergesetzt, legte die Füße auf Holzbeine, die an dem Stuhl befestigt waren, man band ihm die Oberschenkel, die Waden und die Knöchel fest, so daß er keine freiwillige Bewegung machen konnte. Dann faßte der Mann mit den aufgekrempelten Ärmeln das Schwungrad und drehte es, so stark er konnte. Nun begann der Stuhl zuerst wie eine Hängematte hin und her zu schwingen, dann bewegten sich plötzlich die Beine, streckten sich und krümmten sich, und kamen in Gang mit wahnsinniger Geschwindigkeit.

– Er läuft: – sagte der Doktor. Dann befahl er:

– Langsamer Schritt!

Der Mann drehte langsamer und zwang den dicken Ingenieur zu einer gemäßigteren Gangart, die in ganz komischer Weise seinen ganzen Körper durcheinanderwirbelte.

Nun erschienen zwei andere Kranke, beide enorm dick, beide auch von Wärtern mit aufgekrempelten Hemdsärmeln gefolgt. Sie wurden auf Holzpferde gehoben, die man in Bewegung setzte und die sofort auf dem Fleck anfingen hin und her zu springen, indem sie ihre Reiter fürchterlich zusammenschüttelten.

– Galopp! – rief der Doktor, und die vermeintlichen Tiere machten ungeheure Sätze und ermüdeten die beiden Patienten derartig, daß sie beide zu brüllen begannen, mit kläglicher, atemloser Stimme:

– Genug, genug, ich kann nicht mehr! Genug!

Der Doktor befahl:

– Halt!

Dann fügte er hinzu:

– Erholen Sie sich ein wenig, in fünf Minuten fangen wir wieder an.

Paul Brétigny, der vor Lachen fast erstickte, bemerkte, daß die Reiter gar nicht warm waren, während die Leute, die das Schwungrad gedreht hatten, schwitzten. Er sagte:

– Wenn Sie die Rollen vertauschten, wäre das nicht besser?

Der Doktor antwortete ernst:

– O durchaus nicht, man muß nicht die Übung und die Ermüdung verwechseln. Die Bewegung, die der Mann macht, der das Rad dreht, ist sehr schlecht, während die Bewegung des Fußgängers oder des Reiters ausgezeichnet ist.

Da sah Paul einen Damensattel.

– Ja, – sagte der Arzt, – der Abend ist für die Damen allein reserviert. Die Herren haben nachmittags keinen Zutritt. Nun sehen Sie sich mal das Schwimmen auf dem Trocknen an.

Ein System von kleinen, beweglichen Brettern, die in der Mitte und an ihren Enden zusammengeschraubt waren, bildeten je ein Viereck, wie jenes Kinderspiel, an dem Soldaten hängen, sodaß man immer drei zu gleicher Zeit bewegen kann.

Der Doktor sagte:

– Ich brauche Ihnen die Vorteile des Trockenschwimmens nicht erst auseinanderzusetzen, das den Körper nicht benetzt, außer mit Schweiß und den Schwimmer daher nicht einem plötzlichen Rheumatismus aussetzt.

Aber ein Mann kam mit einer Visitenkarte.

– Mein Lieber, entschuldigen Sie mich, ich muß Sie verlassen. – Der Herzog von Ramas wünscht mich zu sprechen.

Paul war allein geblieben und wandte sich um. Die beiden Reiter trabten wieder, Herr Aubry-Pasteur lief noch immer, und die drei Auvergnaten waren außer Atem, die Arme thaten ihnen weh, sie waren wie zerschlagen, wie ihre Patienten.

Als Brétigny draußen stand, sah er Doktor Honorat, der mit seiner Frau den Vorbereitungen des Festes zusah. Sie begannen sich zu unterhalten, indem sie nach den Fahnen sahen, die den ganzen Hügel schmückten.

– Bildet sich der Zug in der Kirche? fragte die Doktorsfrau.

– Ja, in der Kirche.

– Um drei Uhr?

– Um drei Uhr.

– Werden die Herren Professoren da sein?

– Ja gewiß, sie werden die Patinnen führen.

Dann hielten ihn die beiden Paille an, dann Monécu Vater und Tochter. Und da er mit seinem Freunde Gontran im Kasino-Café frühstücken wollte, ging er langsam hinauf. Paul, der den Tag vorher angekommen, hatte seinen Freund seit vier Wochen noch nicht allein gesehen, und er wollte ihm allerlei neues aus Paris erzählen, Weibergeschichten und Klatsch. Bis einhalb drei Uhr saßen sie da und schwatzten, dann kam Petrus Martel und meldete, es ginge schon zur Kirche.

– Wir wollen Christiane abholen, – sagte Gontran.

– Gut, – antwortete Paul. Sie fanden sie auf der Terrasse des neuen Hotels. Sie hatte die hohlen Wangen und den seltsamen Ausdruck der Frauen, die in anderen Umständen sind. Ihre starke Figur deutete auf eine Schwangerschaft von etwa sechs Monaten.

– Ich erwartete Sie, – sagte sie. William ist schon immer voraus gegangen, heute ist so viel zu thun.

Sie blickte Paul Brétigny zärtlich an und nahm seinen Arm; langsam setzten sie sich in Bewegung, und sie sagte immer:

– Ach ich bin so schwer, ich kann gar nicht mehr gehen, ich habe immer Angst, hinzufallen.

Er antwortete nichts und stützte sie vorsichtig, indem er ihren Augen auswich, die sie unausgesetzt auf ihn richtete.

Eine große Menschenmenge erwartete sie vor der Kirche. Andermatt rief:

– Na endlich, nun macht schnell, also hört mal die Reihenfolge: zwei Chorknaben, zwei Sänger, das Kreuz, das Weihwasser, der Priester, dann Christiane mit Professor Cloche, Fräulein Louise mit Professor Remusot, Fräulein Charlotte mit Professor Mas-Roussel; dann kommt der Aufsichtsrat, die Ärzte und dann das Publikum. Kapiert? Nu los!

Da kam die Geistlichkeit aus der Kirche und setzte sich an die Spitze der Prozession, dann ein kleiner Herr mit langen weißen Haaren, die glatt hinter die Ohren gestrichen waren, der Gelehrte wie er im Buche stand. Er näherte sich Frau Andermatt und machte eine tiefe Verbeugung; nachdem er sich aufgerichtet, ging er mit ihr davon, barhaupt, um seine schöne Gelehrtenfrisur zu zeigen, den Hut am Schenkel haltend, so würdig, als ob er auf der Bühne gehen gelernt und so, daß er recht dem Volk die Rosette der Ehrenlegion zeigte, die eigentlich zu groß war für den bescheidenen Mann. Er unterhielt Christiane:

– Gnädige Frau, Ihr Herr Gemahl hat mir schon von Ihnen erzählt und von dem Zustand, der ihm lebhafte Besorgnisse einflößt. Er hat mir all Ihre Unsicherheit über die Stunde der Entbindung mitgeteilt.

Sie war bis zu den Schläfen errötet und flüsterte:

– Ja, ich glaubte Mutter zu sein, längst ehe ich es war und ich weiß nicht mehr, ich weiß nicht mehr.

Eine Stimme klang hinter ihnen:

– Dieses Bad hat die größte Zukunft, es hat schon die erstaunlichsten Erfolge erzielt.

Das war Professor Rémusot, der zu Louise Oriol sprach, er war klein, mit gelbem Haar, einem Überrock von schlechtem Schnitt, der echte Gelehrte, der auf den Anzug nichts giebt.

Mas-Roussel, der Charlotte Oriol den Arm reichte, war ein schöner, ganz glattrasierter Mann, lächelnd, peinlich gekleidet, mit kaum ergrauendem Haar, ein wenig stark, dessen unbeweglich ernstes Gesicht weder wie das eines Priesters, noch das eines Schauspielers aussah, etwa wie das des Doktor Latonne.

Der Aufsichtsrat folgte dann, mit Andermatt an der Spitze, von den gewaltigen Hüten der beiden Oriol überragt. Hinter ihnen kam noch eine ganze Gesellschaft von hohen Hüten, die Ärzte von Enval, unter denen nur Doktor Bonnefille fehlte, statt seiner übrigens zwei neue Ärzte, Doktor Black war der eine, ein alter vertrockneter Mann, der fast wie ein Zwerg aussah, aber dessen sorgfältige Krankenpflege in der ganzen Gegend vom Tage seiner Ankunft an bekannt geworden war.

Dann kam ein schöner Kerl, kokett einen kleinen Hut auf dem Kopf, Doktor Mazelli, ein Italiener, der den Herzog von Ramas begleitete, einige behaupteten die Herzogin. Und hinter ihnen das Publikum, eine Menge Badegäste und besonders Bewohner der Nachbarorte.

Die Einsegnung der Quellen war sehr kurz. Der Abbé Litre besprengte sie eine nach der andern mit Weihwasser, dann traten alle Ehrengäste in den großen Lesesaal, wo Erfrischungen standen. Paul sagte zu Gontran:

– Wie die beiden kleinen Oriol hübsch geworden sind!

– Sie sind reizend, mein Lieber!

– Haben Sie nicht den Herrn Präsidenten gesehen? fragte Petrus Martel die jungen Leute.

– Ja, er steht da in der Ecke.

– Der alte Clovis hat einen Auflauf verursacht.

Schon als man zu den Quellen gepilgert war zur Einsegnung, war die ganze Prozession an dem alten Krüppel, der das Jahr vorher geheilt worden, vorüberdefiliert. Er schien jetzt gelähmter denn je. Er hielt die Fremden an der Straße an, um den zuletzt Angekommenen seine Geschichte zu erzählen:

– Hören Sie mal, das Wasser mit dem ist nischt los, das heilt, das is ganz richtig, aber dann wird man wieder kränker, so wie noch nie. Ich hatte Beene, die garnich mehr mitmachen wollten, aber nur die Beene, aber jetzt gehts mir mit den Armen ooch so durch die Kur, und meine Beene, die sind wie Eisenstöcke, die kann ich nich mehr krumm machen, eher müßt man sie mir durchschneiden.

Andermatt war verzweifelt, er hatte versucht, den Kerl ins Loch stecken zu lassen, indem er ihn gerichtlich verfolgen ließ, weil er Verleumdungen über Mont Oriol in die Welt gesetzt, um Erpressung zu üben, aber er hatte keine Verurteilung erreicht, man konnte ihm den Mund nicht schließen.

Sobald er gehört, daß der Alte an der Thür des Etablissements schwatzte, stürzte er hin, ihm den Mund zu verbieten. Mitten auf der Chaussee aus einem großen Menschenhaufen heraus hörte er wütende Stimmen. Man drängte sich heran, um zu sehen und zu hören. Damen fragten:

– Was ist denn los?

Herren antworteten:

– Ein Kranker, den die hiesigen Quellen ganz zu Grunde gerichtet haben!

Andere behaupteten, es wäre ein Kind erdrückt worden. Man sprach auch von einem epileptischen Anfall einer alten Frau.

Andermatt durchbrach die Menge, wie nur er es verstand, indem er mit aller Kraft seinen kleinen, runden Leib durch die anderen zwängte. Der alte Clovis, der im Graben saß, jammerte laut, erzählte heulend seine Leiden, während die beiden Oriol vor ihm standen und ihn vom Publikum abschnitten. Sie waren wütend, beschimpften und bedrohten ihn.

– Das is nich wahr! – rief Koloß.

– Der Kerl is ein verdammter Heuchler, ein Wilddieb, der die ganze Nacht im Walde rumläuft.

Aber der Alte wiederholte, ohne sich zu erregen, mit durchdringender Stimme, die man trotz des Geschreies der beiden Männer vernahm:

– Meine guten Herren, Sie haben mich zu Grunde gerichtet, Sie haben mich tot gemacht mit Ihrem Wasser. Sie haben mich gezwungen zu baden voriges Jahr, und so haben Sie mich nu zugerichtet.

Andermatt gebot Ruhe, beugte sich nieder zu dem Krüppel und blickte ihm in die Augen:

– Wenn Sie noch kränker sind, so ist es Ihre Schuld, verstehen Sie! Aber wenn Sie auf mich hören, so verspreche ich Ihnen, Sie zu heilen, durch fünfzehn, höchstens zwanzig Bäder. Kommen Sie in einer Stunde in das Badehaus, wenn die Menschen fortgegangen sind, und wir werden die Sache in Ordnung bringen. Bis dahin aber halten Sie mal das Maul!

Der Alte hatte kapiert, schwieg, und dann sagte er nach einigem Stillschweigen:

– Nu, man kann's ja mal versuchen!

Andermatt nahm die beiden Oriol am Arm, zog sie schnell davon, während der alte Clovis liegen blieb und in der Sonne mit den Augen blinzelte. Die neugierige Menge drängte sich um ihn herum. Ein paar Herren fragten ihn, aber er antwortete nicht mehr, als hätte er nicht verstanden oder nicht gehört. Und diese nun unnütze Neugierde fing an, ihn jetzt zu ärgern. Er begann, falsch und spitz, irgend ein Volkslied zu gröhlen. Die Menge verlief sich allmählich, nur ein paar Kinder blieben lange vor ihm stehen, die Finger in der Nase, und starrten ihn an.

Christiane war sehr müde, sie war zurückgekehrt, um sich auszuruhen. Paul und Gontran gingen in dem neuen Park mitten zwischen den Besuchern spazieren. Plötzlich sahen sie den Trupp Schauspieler, der auch das alte Kasino verlassen hatte, um dem neuen Glück des neuen Unternehmens nachzujagen.

Fräulein Odelin, die sehr elegant geworden war, erging sich am Arme ihrer Mutter, welche sehr würdig that. Herr Petitnivelle vom Vaudeville bemühte sich um die Damen, denen Herr Lapalme vom Stadttheater in Bordeaux folgte, indem er mit den Musikern sich unterhielt, die immer noch dieselben waren: Maëstro Saint-Landri, der Pianist Herr Javel, der Flötist Herr Noirot und der Kontrebaß Herr Nicordi.

Als Saint-Landri Paul und Gontran sah, lief er ihnen entgegen. Im vergangenen Winter war ein musikalischer Einakter von ihm in einem kleinen Vorstadttheater gegeben worden, die Zeitungen hatten ihn nicht ungünstig beurteilt, und nun sprach er von Massenet und Gounod ziemlich von oben herab.

Er streckte mit wohlwollender Miene den beiden die Hand entgegen und erzählte sofort seine Unterredung mit den Herren vom Orchester, das er dirigierte.

– Ja, mein Lieber, es ist aus mit der alten Schule, die Melodie ist überwundener Standpunkt. Aber das wollen die Leute nicht einsehen, die Musik ist die neue Kunst, die Melodie ist nur ein Stammeln. Das ungebildete Ohr liebte das Ritornell, es hatte eine kindische Freude daran, wie ein Indianer. Ich muß sagen, daß das naive Publikum, daß das Volk immer kleine Lieder und Gesänge gern haben wird, das ist eben eine Unterhaltung, so wie in den Variété- Theatern. Ich möchte ein Bild gebrauchen, daß Sie mich recht verstehen. Das Auge des Landmannes liebt grelle Farben und leuchtende Bilder, das Auge des Städters, der aber nicht Künstler ist, liebt pretentieuse Feinheiten, und das Auge des Künstlers, des wirklichen Künstlers liebt, begreift und unterscheidet die geringsten Modulationen, das sind die mystischen Akkorde, die kein Mensch sonst faßt.

In der Literatur ist es ganz dasselbe. Die Dienstmädchen lieben Hintertreppenromane, die gewöhnlichen Leser Romane, die sie aufregen, aber die wirklichen Kenner nur feine, künstlerische Bücher, die den anderen unverständlich sind.

Wenn ein gewöhnlicher Mensch mit mir von Musik spricht, möchte ich ihn am liebsten sofort niederschlagen, und wenn es in der Oper gar geschieht, so frage ich ihn: »Bitte, können Sie mir vielleicht sagen, ob die dritte Violine in der Ouvertüre des dritten Aktes eine falsche Note gespielt hat?« – »Nein.« – »Also schweigen Sie, das ist weit besser. Jemand, der in der Oper sitzt und nicht das Ganze hört und dabei zugleich jedes einzelne Instrument, hat überhaupt kein Gehör und ist nicht Musiker. So stehts. Mahlzeit!«

Er wandte sich auf dem Absatz herum und sagte:

– Für den Künstler liegt die ganze Musik in einem Akkord und, mein Lieber, diese Akkorde machen mich rasend, flößen mir ein unglaubliches Wonnegefühl ein. Mein Ohr ist heute so geübt, so fein, so reif, daß ich sogar gewisse falsche Akkorde liebe. Ich beginne gerade für das Verderbte zu schwärmen, ich suche äußerliche Sensation. Ja, meine Freunde, gewisse falsche Noten, wie köstlich das klingt. Welche Tiefe, Glückseligkeit darin liegt, wie das einen anlächelt, wie das die Nerven krabbelt, wie das dem Ohr gut thut, ja wie das krabbelt, krabbelt!

Er rieb sich glückselig die Hände und flüsterte:

– Wenn Sie meine Oper hören könnten! Meine Oper!

Gontran sagte:

– Haben Sie denn eine Oper geschrieben?

– Ja, ich beende sie eben.

Aber die Stimme von Petrus Martel tönte:

– Verstehen Sie wohl, also ausgemacht: eine gelbe Rakete, und dann geht's los!

Er gab Befehle für ein Feuerwerk, man hörte ihn weit, und er erklärte seinen Plan, indem er mit dem ausgestreckten Arm hinausdeutete, als ob er eine feindliche Flotte bedrohe. Dabei deutete er auf die hellen Holzstäbe die auf dem Berge standen, auf der anderen Seite des Felsens über dem Abhang.

– Dort geht's los, ich habe dem Feuerwerker gesagt, daß er um einhalb neun Uhr auf seinem Posten sein muß. Sobald das Schauspiel aus ist, werde ich von hier durch eine gelbe Rakete das Signal geben, und dann wird er das Feuerwerk anzünden.

Der Marquis kam:

– Ich will ein Glas Wasser trinken.

Paul und Gontran begleiteten ihn und stiegen den Hügel hinab. Als sie an das Etablissement kamen, sahen sie den alten Clovis, der eben hineinging, von den beiden Oriol gestützt und von Andermatt und dem Doktor gefolgt, und jedesmal wenn er seine Beine auf den Boden streckte, schnitt er fürchterliche Grimassen.

– Da müssen wir zuhören, – sagte Gontran, – das wird ulkig!

Der Krüppel ward in einen Stuhl gesetzt, und dann sprach Andermatt zu ihm:

– Hören Sie mal, was ich Ihnen vorschlage, Sie alter Lump. Sie werden sofort geheilt sein mit zwei Bädern täglich und dann bekommen Sie zweihundert Francs, sobald Sie gehen können.

Der Gelähmte begann zu stöhnen:

– Ach mei guter Herre, meine Beene sind wie Eisen.

Andermatt gebot ihm zu schweigen und fuhr fort:

– Hören Sie: und jährlich bekommen Sie nochmals zweihundert Francs bis zu Ihrem Tode, hören Sie, bis zu Ihrem Tode, wenn Sie immer weiter bezeugen, wie gut unser Brunnen ist.

Der Alte war ganz starr, dies störte alle seine Pläne, und er fragte zögernd:

– Un wenn nu die Bude zu is, und 's mich wieder packt, dann kann ich nischt davor, wenn sie zu is.

Doktor Latonne unterbrach ihn und wandte sich zu Andermatt:

– Sehr gut, sehr gut, dann heilen wir ihn jedes Jahr, das ist sogar noch viel besser, und das beweist die Notwendigkeit, alljährlich die Kur zu gebrauchen und daß man unbedingt wiederkommen muß.

– Ausgezeichnet! Einverstanden!

– Aber gut thuts nich, meine Herren, meine Beene sind wie Eisen, wie Eisen!

Ein neuer Gedanke kam dem Doktor, er sagte:

– Wenn ich ihn ein Paar Sitzungen Gehen im Sitzen durchmachen ließe, das würde dem Erfolg des Brunnes doch sehr nachhelfen. Man könnte es versuchen.

Andermatt antwortete:

– Das ist ein ausgezeichneter Gedanke, aber nun alter Clovis, hören Sie, machen Sie, daß Sie fortkommen und vergessen Sie nicht unsere Abmachung.

Der Alte ging davon und stöhnte immer weiter.

Da es Abend ward, kehrten alle Aufsichtsräte von Mont Oriol zu Tisch zurück, denn die Theateraufführung sollte um einhalb acht Uhr sein. Sie fand im großen Saal des Kasinos statt, der tausend Personen fassen konnte. Die Zuschauer, die keinen nummerierten Sitz bekommen hatten, trafen schon um sieben Uhr ein, um einhalb acht war der Saal voll, und der Vorhang hob sich. Es kam eine Posse in zwei Akten vor der Operette von Saint-Landri, die die Sänger von Vichy, die man zu diesem Abend hatte kommen lassen, aufführen sollten.

Christiane saß auf der ersten Reihe zwischen ihrem Bruder und ihrem Mann, sie litt sehr unter der Hitze und sagte alle Augenblicke:

– Ich kann nicht mehr! Ich kann nicht mehr!

Nach der Posse, als die Operette eben beginnen sollte, ward es ihr schlecht, und sie wandte sich an ihren Mann:

– Mein lieber Will, ich muß hinaus, ich ersticke!

Der Bankier war außer sich, ihm lag vor allen Dingen daran, daß das Fest gelänge und daß dasselbe ohne einen Zwischenfall zu Ende ginge, so antwortete er:

– Gieb Dir nur alle Mühe, ich bitte Dich, wenn Du gehst, würde das sehr störend sein, denn Du mußt durch den ganzen Saal.

Aber Gontran, der mit Paul hinter ihr saß, hatte alles gehört, und er wandte sich an seine Schwester:

– Dir ist zu heiß?

– Ja, ich ersticke!

– Gut, paß mal auf, du sollst mal lachen!

Ein Fenster war in der Nähe. Er schlängelte sich hin, stieg auf einen Stuhl und sprang hinaus, ohne daß irgend jemand ihn bemerkt. Dann ging er in das leere Café, wo er gesehen hatte, daß im Büffet Petrus Martel die Signal-Rakete versteckt hatte, nahm sie, lief zu einem Gebüsch und zündete sie an.

Das gelbe Feuer schoß zu den Wolken empor, indem es einen Bogen beschrieb und mit goldenem Feuerregen über den ganzen Himmel niederflutete. Beinahe sofort hörte man einen gewaltigen Knall auf dem gegenüberliegenden Berge, und ein ganzes Bündel Raketen schoß in die Höhe.

Jemand rief im Saal, wo eben Saint-Landris Musik ertönte:

– Das Feuerwerk geht los!

Die Zuschauer, die der Thür am nächsten saßen, standen schnell auf, um sich zu vergewissern, und schlichen leise hinaus, die anderen drehten sich um nach den Fenstern, aber sie sahen nichts, denn diese gingen nach der Limagne hinaus. Man fragte:

– Ist es wahr? Ist es wahr?

Eine große Bewegung ging durch die Menge, die so begierig war auf die einfache Freude. Eine Stimme rief:

– Es ist wahr, man schießt!

Da sprang binnen einer Sekunde das ganze Publikum auf, man stürzte zu den Thüren, man stieß sich, brüllte die an, die die Eingänge versperrten und rief:

– Schnell! Schnell!

Und bald befand sich alles im Park, nur Maëstro Saint-Landri schlug verzweifelt den Takt weiter vor seinem zerstreuten Orchester.

Und da draußen folgten einander unter lautem Knall Sonnen, Raketen mit Leuchtfeuern. Plötzlich rief eine gewaltige Stimme wütend hinüber:

– Halt! Donnerwetter nochmal Halt!

Und als gerade ein riesiges bengalisches Feuer auf dem Berge erstrahlte, das rechts rot, links blau die gewaltigen Felsen und die Bäume beleuchtete, gewahrte man in einer der imitierten Marmorvasen, die auf der Terrasse standen, Petrus Martel, verzweifelt, barhaupt, die Arme in der Luft gestikulierend und brüllend.

Da erlosch der helle Schein, man sah nichts mehr, als die echten Sterne des Himmels. Aber sogleich ging etwas neues los, und Petrus Martel sprang zu Boden und schrie:

– So eine Schweinerei! So eine Schweinerei!

Mit einer tragischen Geberde stieß er die Worte in die Luft hinaus und rief immer:

– So eine Schweinerei, so eine gottverdammte Schweinerei!

Christiane hatte Pauls Arm genommen, um sich draußen in der freien Luft niederzusetzen, und sie sah glückselig den Raketen zu, die gen Himmel stiegen. Ihr Bruder holte sie plötzlich ein und sagte:

– Nun, ist's geglückt? Ist das nicht gottvoll!

– Was, Du?

– Nun ja ich, das ist doch ein famoser Witz!

Sie begann zu lachen, sie fand es in der That komisch.

Aber Andermatt kam ganz verzweifelt an, er begriff nicht, wie das Unglück möglich gewesen. Man hatte die Rakete aus dem Büffet gestohlen, um das ausgemachte Signal zu geben. Eine solche Infamie konnte nur jemand vom alten Bade begangen haben, ein Agent des Doktor Bonnefille. Und er rief:

– Das ist einfach zum Verzweifeln! Zum Verzweifeln. Das Feuerwerk kostet zweitausenddreihundert Francs und ist einfach hin! Einfach hin!

Gontran meinte:

– Nein, mein Lieber, gut gerechnet beträgt der Verlust höchstens ein Viertel, vielleicht ein Drittel, also siebenhundertfünfundsechzig Francs. Deine Gäste haben also für eintausendfünfhundertzweiunddreißig Francs Raketen genossen, das ist doch ganz hübsch!

Der Zorn des Bankiers wandte sich nun gegen den Schwager, er nahm ihn wütend beim Arm:

– Ich habe ernstlich mit Dir zu reden. Da ich nun einmal jetzt da bin, komm mal mit, wir wollen in den Park gehen, fünf Minuten nur. Ich übergebe Dich unserem Freunde, meine Liebe, aber bleibe nicht zu lange draußen, sonst könntest Du Dich erkälten, nimm Dich in Acht.

Sie flüsterte:

– Ach, fürchte nichts, mein Freund!

Und Andermatt zog Gontran davon. Sobald sie allein waren, ein wenig abseits von der großen Menge, blieb der Bankier stehen:

– Mein Freund, ich muß einmal über Deine finanziellen Verhältnisse mit Dir reden.

– Meine finanziellen Verhältnisse?

– Ja, kennst Du übrigens deine finanziellen Verhältnisse?

– Nein, aber Du wirst sie ja für mich kennen, da Du mir immer pumpst!

– Nun gut, ich kenne sie, und deswegen will ich mit Dir sprechen.

– Na, ich finde, daß der Moment nicht eben gut gewählt ist mitten im Feuerwerk.

– Der Moment ist im Gegenteil sehr gut gewählt. Ich spreche mit Dir nicht während eines Feuerwerks, sondern vor einem Ball.

– Vor einem Ball? Ich verstehe nicht.

– Nun Du wirst gleich verstehen. Deine Lage ist folgende: Du hast nur Schulden und wirst nie etwas anderes wie Schulden besitzen.

Gontran antwortete ernst:

– Du sagst mir das ein wenig grob!

– Ja, weil es sein muß. Also höre zu. Du hast den Teil deines Vermögens, der von deiner Mutter stammt, verjubelt. Nun davon wollen wir nicht weiter reden.

– Nein, davon wollen wir nicht reden.

– Dein Vater aber besitzt dreißigtausend Francs Rente, also ein Kapital von achtmalhunderttausend Francs; dein Teil würde also später viermalhunderttausend Francs betragen, mir aber bist Du einhundertachtzigtausend Francs schuldig. Dann schuldest Du noch außerdem Wucherern . . . .

Gontran sagte von oben herab:

– Sage nur ruhig, den Juden!

– Gut, den Juden, obgleich sich darunter einer befindet, der einen Priester als Zwischenträger benutzt zwischen sich und Dir. Aber ich will mich bei solchen Kleinigkeiten nicht aufhalten. Du schuldest also verschiedenen Leuten etwa ebenso viel, sagen wir mal einhundertfünfzigtausend Francs, das macht zusammen dreihundertdreißigtausend Francs, deren Zinsen Du zahlen mußt, indem Du immer weiter pumpst, bis auf die meinen, die Du überhaupt nicht begleichst.

– Das stimmt! – sagte Gontran.

– Nun also, dann bleibt Dir gar nichts mehr.

– In der That, nichts als mein Schwager.

– Dein Schwager, der jetzt von der Pumperei genug hat.

– Nun?

– Ja nun, mein Lieber? Der geringste Bauer in einer jener Hütten hat mehr wie Du.

– Sehr schön! Und was weiter?

– Was weiter? Wenn Dein Vater morgen etwa sterben sollte, würde Dir weiter nichts übrig bleiben, als trocken Brot zu essen, verstehst Du, oder aber eine Kommis-Stelle bei mir anzunehmen. Das wäre also die einzige Möglichkeit, die Pension, die ich Dir zukommen lassen würde, zu verdienen.

Gontran sagte ernst:

– Mein Lieber, bitte diese Geschichten fangen an mich zu langweilen, ich weiß das ebensogut wie Du, und ich sage Dir nochmals, daß der Augenblick schlecht gewählt ist, mich daran zu erinnern mit – mit – mit so wenig Diplomatie.

– Bitte sehr, laß mich ausreden. Du kannst Dich aus dieser Situation nur retten durch eine Heirat. Nun bist Du aber, trotz deines Namens, der gut klingt, ohne gerade ganz großartig zu sein, eine ziemlich traurige Partie, denn Dein Name ist nicht einer von denen, die eine reiche Erbin, nicht mal eine Jüdin, mit einem Vermögen bezahlt. Du mußt also eine annehmbare und reiche Frau finden, und das ist nicht allzu leicht.

– Nenne sie mir doch einfach!

– Nun, eine der Töchter des alten Oriol. Du kannst ja wählen, und deshalb möchte ich mit Dir vor dem Ball sprechen.

– Setz mir das bitte noch einmal genauer auseinander.

– Sehr einfach. Du siehst, welchen Erfolg ich mit diesem Bade gehabt habe. Nun, wenn ich, oder vielmehr wir, den ganzen Grundbesitz, den der gerissene Bauer noch hat, zur Verfügung hätten, könnte ich geradezu Gold daraus machen. Wenn ich allein an die Weinberge denke, die vom Etablissement bis zum Hotel und vom Hotel zum Kasino gehen, ich würde morgen, ich Andermatt, eine Million dafür zahlen. Nun werden diese Weinberge, die um den Berg herumliegen, einmal die Mitgift der kleinen Mädchen bilden. Der Vater hat mir dies vorhin noch, vielleicht nicht ohne Absicht, gesagt. Nun, wenn es Dir recht ist, könnten wir da nicht ein schönes Geschäft machen, wir beide?

Gontran murmelte, indem er nachzudenken schien:

– Das ist möglich, ich werde mir's überlegen!

– Überlege es Dir, mein Lieber, und vergiß nicht, daß ich nur von ganz sicheren Sachen spreche, nachdem ich viel darüber nachgedacht habe und daß ich alle möglichen Folgen und alle bestimmten Vorteile kenne.

Aber Gontran hob einen Arm und rief, als ob er plötzlich alles vergessen hätte, was sein Schwager gesagt:

– Sieh mal, sieh mal, ist das schön!

Eine große Feuerwerkgruppe entzündete sich eben in Form eines gewaltigen Palastes, über dem mit Flammen der Name: »Mont Oriol« thronte. Der Mond, der auch einen rötlichen Schein trug, stand der Ebene gerade gegenüber, und es schien, als wäre er nur eben aufgestiegen, um sich dieses Schauspiel mit anzusehen.

Als dann der Palast, nachdem er ein paar Minuten lang geleuchtet hatte, mit einer furchtbaren Explosion erloschen, indem er in den dunklen Himmel Raketen hinaufschickte, die oben platzten, blieb der Mond ganz allein, ruhig und rund am Horizont.

Das Publikum applaudierte lebhaft und rief:

– Bravo! Bravo!

Andermatt sagte plötzlich:

– Nun wollen wir den Ball eröffnen, mein Lieber. Willst Du mein vis-à-vis sein zur ersten Quadrille?

– Gewiß, mein lieber Schwager!

– Wen willst Du auffordern? Ich habe die Herzogin von Ramas.

Gontran antwortete gleichgültig:

– Und ich Charlotte Oriol!

Sie kehrten zurück.

Als sie an dem Platz vorüberkamen, wo Christiane mit Paul gesessen, sahen sie sie nicht mehr. Will tröstete sich:

– Sie hat auf meinen Rat gehört und ist zu Bett gegangen, sie war sehr müde heute.

Und er ging zum Ballsaal, den die Kellner schon während des Feuerwerks in Ordnung gebracht hatten.

Aber Christiane war nicht in ihr Zimmer zurückgekehrt, wie ihr Mann dachte. Sobald sie sich mit Paul allein gewußt, hatte sie ihm leise gesagt, indem sie ihm die Hand drückte:

– Nun, da bist Du also, ich warte seit vier Wochen auf Dich. Alle Morgen frage ich mich: werde ich ihn heute sehn? und alle Abende sage ich: also morgen! Warum hast Du so lange gewartet, mein Geliebter?

Er antwortete etwas verlegen:

– Ich hatte zu thun, Geschäfte.

Sie beugte sich zu ihm und flüsterte:

– Das war nicht schön, mich so lange allein zu lassen mit all denen und vor allem in meinem Zustand.

Er rückte seinen Stuhl ein wenig vor:

– Paß auf, man könnte uns sehen, diese Raketen erhellen die ganze Gegend.

Sie dachte nicht daran, sie antwortete:

– Ich habe Dich so lieb, und ich bin so glücklich! Ich bin so glücklich, daß wir hier zusammen sind, und gerade hier! Denkst Du daran? Paul, wie schön! Und wie wir uns noch lieben?

Dann sagte sie mit schwacher Stimme, nur wie ein Hauch:

– Ich habe eine wahnsinnige Lust, Dich zu küssen, ich habe Dich so lange nicht gesehen.

Und dann plötzlich mit der Hingebung und Leidenschaft einer verliebten Frau, der alles weichen muß, flüsterte sie:

– Hör mal, ich will mit Dir dorthin gehen, wo wir uns voriges Jahr Lebewohl gesagt haben, erinnerst Du Dich, auf der Straße nach la Roche-Pradière?

Er antwortete erschrocken:

– Aber das ist ja ganz verrückt, Du kannst ja nicht mehr gehen, Du hast schon den ganzen Tag gestanden. Das ist verrückt, das erlaube ich nicht.

Sie hatte sich erhoben und wiederholte:

– Ich will es, und wenn Du nicht mitgehst, gehe ich allein.

Und sie deutete auf den Mond, der im Aufgehen war:

– Es war ganz ein solcher Abend, erinnerst Du Dich, wie Du mich küßtest im Dunkeln.

Er hielt sie zurück:

– Christiane, hör doch, das ist ja lächerlich!

Aber sie wandte sich um und eilte dem Abhang zu, der zu den Weinbergen führte. Er kannte diesen Willen, der durch nichts zu erschüttern war, den grenzenlosen Eigensinn dieser blauen Augen, dieser kleinen, blonden Stirn, die nichts hemmte, und er nahm ihren Arm, um sie unterwegs zu stützen.

– Wenn man uns sieht, Christiane!

– Das hast Du voriges Jahr nicht gesagt, und dann sind ja alle beim Fest. Wir werden wieder zurück sein, ohne daß man unsere Abwesenheit bemerkt hat.

Sie mußten den engen Fußweg hinaufgehen, sie war außer Atem, sie stützte sich mit aller Kraft auf ihn, bei jedem Schritt sagte sie:

– Ach, ist das schön, ist das schön, so zu leiden!

Er blieb stehen, er wollte sie zurückführen, aber sie hörte nicht auf ihn:

– Nein, nein, ich bin glücklich, verstehst Du das nicht. Höre doch, ich fühle es, wie es sich bewegt, unser Kind, Dein Kind, welches Glück! Gieb mir die Hand. Fühlst Du es?

Sie begriff nicht, daß er von der Rasse der Liebhaber, aber nicht von der Rasse der Väter war. Seit er wußte, daß sie in anderen Umständen war, entfernte er sich von ihr. Er hatte früher immer gesagt, daß eine Frau, die geboren habe, der Liebe nicht mehr würdig sei.

Was ihn bei der Liebe so mit sich riß, war das Emporfliegen zweier Herzen zu einem unerreichbaren Ideal, diese Umschlingung zweier immateriellen Seelen. Das Poetische und Unfaßbare, das die Dichter in den Liebeskult gelegt haben. Sein Frauenideal war Venus, deren heiliger Leib immer die reine Form der Unfruchtbarkeit bewahrt.

Der Gedanke an ein kleines Wesen, das ihm das Leben verdankte, an eine menschliche Larve, die in diesem Leib sich bewegte, der durch ihn befleckt und so entstellt worden, flößte ihm eine fast unüberwindliche Abneigung ein. Die Mutterschaft machte ein Tier aus dieser Frau. Das war nicht mehr das geträumte, angebetete Ausnahme-Wesen, sondern das Tier, das seine Rasse fortpflanzt. Und zu dem abstoßenden Gedanken kam ein körperlicher Widerwille.

Nie hätte sie das gefühlt und erraten, sie, die jede Bewegung des ersehnten Kindes doppelt an den Geliebten kettete, an diesen Mann, den sie anbetete, den sie jeden Tag mehr geliebt seit der Stunde ihrer ersten Umarmung. Er war bis in die tiefsten Tiefen ihres Herzens eingedrungen, er war eingedrungen in die Tiefe ihres Körpers, in die er sein eigenes Leben gesät, das dann klein wieder ans Licht kam.

Ja, sie trug ihn da, unter ihren gefalteten Händen, ihn selbst, diesen guten, lieben, zärtlichen, einzigen Freund, der da in ihr durch das Mysterium der Natur wiedergeboren wurde. Und sie liebte ihn doppelt so, da sie ihn zweimal besaß, den Großen und den Kleinen, den sie noch nicht kannte, den sie aber in sich fühlte, und den sie sprechen hörte und den sie küßte, dessen Bewegungen sie unter ihrer Haut spürte.

Sie waren auf die Straße gekommen:

– Da unten hast Du mich an jenem Abend erwartet.

Und sie bot ihm die Lippen. Er küßte sie mit kaltem Kuß, ohne ihr entgegenzukommen.

Sie flüsterte zum zweiten Mal:

– Weißt Du noch, wie Du mich küßtest, als wir am Boden saßen, nicht wahr, so?

Und in der Hoffnung, er würde wieder beginnen, begann sie sich von ihm zu entfernen, dann blieb sie außer Atem stehen und wartete mitten auf der Straße. Und der Mond, der ihren Schatten lang auf die Straße warf, zeichnete die Wölbung ihres unförmlichen Leibes ab, und Paul, der zu seinen Füßen den Schatten der schwangeren Frau sah, blieb unbeweglich vor ihr stehen, aus seinen Träumen gerissen, verzweifelt, daß sie das nicht fühlte, daß sie seine Gedanken nicht erriet, nicht genug Takt und feine Weiblichkeit besaß, um all die Einzelheiten zu begreifen, die die Umstände so verschieden machten. Und er sagte zu ihr, Ungeduld in der Stimme:

– Höre mal Christiane, diese Kindereien sind ja lächerlich!

Sie kam auf ihn zu, bewegt, mit ausgestreckten Armen und warf sich an seine Brust:

– O Du liebst mich nicht mehr so, ich fühle es, ich weiß es!

Er hatte Mitleid, nahm ihren Kopf und drückte auf ihre Augen einen langen Kuß.

Dann gingen sie schweigend zurück, und er wußte nichts ihr zu sagen. Und wie sie sich an ihn lehnte, erschöpft, voll Müdigkeit, ging er schneller, um nicht an seiner Hüfte die Berührung dieses unförmigen Leibes zu fühlen.

Als sie sich dem Hotel näherten, trennten sie sich, und sie ging in ihr Zimmer. Das Orchester des Kasinos spielte Tänze, und Paul ging auf den Ball. Es wurde gerade ein Walzer gespielt, alles tanzte: Doktor Latonne mit der jungen Frau Paille, Andermatt mit Louise Oriol, der hübsche Doktor Mazelli mit der Herzogin von Ramas und Gontran mit Charlotte Oriol.

Er sprach ihr ins Ohr, zärtlich, mit Feuer, er begann ihr die Cour zu schneiden, und sie lächelte dazu und schien sich zu freuen. Paul hörte hinter sich:

– Na, na, der junge Ravenel macht meiner Patientin den Hof!

Es war Doktor Honorat, der an der Thür stand und dem es Spaß machte, zuzusehen. Er fuhr fort:

– Ja, ja, das geht schon so eine halbe Stunde, es haben schon alle bemerkt. Übrigens scheints der Kleinen ganz recht zu sein.

Und er fügte nach einem Augenblick Stillschweigen hinzu:

– Das Mädel ist eine wahre Perle. Gut, heiter, einfach, hingebend, offen, wirklich ein braves Mädchen! Da kommen zehn so wie die älteste der beiden Oriol nicht dagegen auf. Ich kenne sie ja von Kindheit an, die beiden Kleinen. Und doch zieht der Vater die ältere vor, weil sie mehr ist wie er, bäuerischer, nicht so offen, sparsam, gerissener und eigensinniger, aber sie ist ein ganz gutes Mädchen trotzdem, und ich will nichts Schlechtes von ihr sagen, nur wenn ich sie vergleiche, dann urteile ich eben so.

Der Walzer ging zu Ende, Gontran kam zu seinem Freund, und als er den Doktor sah, sagte er:

– Na nu, das Corps der Ärzte von Enval scheint merkwürdig angeschwollen. Wir haben einen Doktor Mazelli, der wundervoll tanzt und einen alten kleinen Doktor Black, aber der scheint es mehr mit dem Himmel zu halten.

Doch Doktor Honorat war diskret, er sprach nie über seine Kollegen.

 


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