Guy de Maupassant
Mont Oriol
Guy de Maupassant

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VI

Die folgenden Tage waren reizend für Christiane Andermatt. Sie lebte leicht und glückselig dahin; das Bad am Morgen war ihre erste Freude, etwas Köstliches, eine wunderbare halbe Stunde in dem warmen, fließenden Wasser, dessen Wirkung bis zum Abend anhielt. Sie war in der That glücklich in all ihren Gedanken, in all ihren Wünschen. Die Zuneigung, von der sie sich durchdrungen und umgeben fühlte, der Taumel der Jugend, der durch ihre Adern schoß, und dann diese neue Umgebung, diese wundervolle Gegend wie geschaffen für Träume. Alles was zu ihr kam, alles was sie erlebte, war wie eine Fortsetzung des wohligen Gefühls am Morgen, als ob sie immer in einem warmen Bade säße, einem Bade von Glück, in dem sie Leib und Seele baden konnte.

Andermatt, der in Enval nur vierzehn Tage zubringen wollte, war nach Paris zurückgekehrt und empfahl seiner Frau, ja darauf zu achten, daß der Gelähmte nicht etwa seine Bäder aussetze. Christiane ging also jeden Morgen vor dem Frühstück mit ihrem Vater, ihrem Bruder und Paul, um das zu betrachten, was Gontran die Armensuppe nannte. Andere Badegäste kamen auch hin, und man stand um das Loch herum und sprach mit dem Landstreicher. Er behauptete, es ginge ihm nicht besser, aber er hätte Ameisenlaufen in den Beinen, und er setzte auseinander, wie die Ameisen hin und herliefen und ihm die Schenkel hinaufstiegen, er fühlte sie selbst nachts, diese ewig krabbelnden Tiere, die ihm den Schlaf raubten. Alle Bauern und alle Fremden, in zwei Lager, die Gläubigen und die Ungläubigen, geteilt, interessierten sich für die Kur.

Nach dem Frühstück holte Christiane öfters die kleinen Oriols ab und ging mit ihnen spazieren. Es waren die einzigen weiblichen Wesen hier, mit denen sie sprechen mochte, mit denen sie in angenehme Beziehungen treten konnte, denen sie etwas freundschaftliches Zutrauen schenken und von denen sie etwas weibliche Zuneigung fordern durfte. Sie war sofort eingenommen gewesen für das ernste Wesen der älteren und für den kecken, komischen Geist der jüngeren, und sie suchte jetzt, weniger um ihrem Manne zu gefallen, als weil es ihr selbst Spaß machte, die Freundschaft der beiden kleinen Mädchen zu gewinnen.

Man machte zusammen Ausflüge, manchmal im Landauer, in einem alten Landauer mit sechs Plätzen, den man bei einem Fuhrwerksbesitzer in Riom mietete, manchmal auch zu Fuß. Vor allem liebten sie ein kleines, wildes Thälchen bei Châtel-Guyon, das zur Eremitage von Sanssouci führte. Auf dem schmalen Wege gingen sie langsam unter den Tannen hin, dem kleinen Bach folgend, immer zu zwei und zwei sich unterhaltend. Jedesmal, wenn man über den Bach mußte, den der Pfad unausgesetzt kreuzte, standen Paul und Gontran mitten im Wasser auf großen Steinen, nahmen die Frauen beim Arm und hoben sie mit einem Ruck hinüber, um sie auf dem anderen Ufer niederzusetzen.

Bei dem Spaziergange wechselten die Paare. Christiane ging bald mit dem einen, bald mit dem andern. Aber jedesmal wußte sie es so einzurichten, daß sie mit Paul Brétigny, sei es vorn, sei es hinten, eine Zeitlang allein blieb.

Er war gegen sie nicht mehr so wie am ersten Tag, weniger lustig, weniger derb, weniger guter Kamerad, sondern rücksichtsvoller und artiger. Ihre Unterhaltung aber wurde sehr intim. Herzensfragen nahmen einen großen Raum darin ein. Er sprach von Gefühlen und von Liebe, wie ein Mann, der diesen Gegenstand kennt, der die Liebe der Frauen erfahren und ihnen ebenso Glück wie Leid verdankt. Sie war bezaubert, ein wenig bewegt, suchte ihn zu Geständnissen zu bringen, mit glühender und listiger Neugier. Alles, was sie von ihm wußte, weckte in ihr das brennende Bedürfnis, noch mehr zu erfahren und in Gedanken in dieses Leben und Treiben eines Mannes einmal einzudringen, das sie nur aus Büchern kannte, ein solches Dasein voller Stürme und Geheimnisse der Liebe.

Und von ihr ermuntert, erzählte er ihr täglich ein wenig mehr aus seinem Leben, von seinen Abenteuern, von seinem Leid mit Worten, die die Glut der Erinnerung manchmal leidenschaftlich, der Wunsch, ihr zu gefallen, aber auch unwahr machte. Er that vor ihren Augen eine unbekannte Welt auf, er fand beredte Worte, um die zarten Empfindungen erster Wünsche und Träume, die wilde Glut wachsender Hoffnungen zu schildern, erzählte von Blumen und Bändern und all den kleinen Gegenständen, die man als Heiligtum bewahrt, von dem Schmerz erster Treuezweifel, von der Angst aufregender Beobachtungen, den Qualen der Eifersucht und der unaussprechlichen Seligkeit des ersten Kusses.

Er wußte das alles zu sagen, etwas verschleiert, sehr anständig, poetisch und verführerisch. Wie alle Männer, die es unausgesetzt in Gedanken und Wünschen zu den Frauen zieht, sprach er in diskreter Weise von denen, die er geliebt, als wäre das Fieber in ihm noch nicht ganz erloschen. Er erinnerte an tausend reizende Kleinigkeiten, eigens geschaffen, um das Herz zu bewegen, tausend Zartheiten, daß die Augen naß werden, an all die reizenden Unbedeutendheiten der Galanterie, die die Lebensbeziehungen zwischen Menschen von seiner Seele und Geist zu dem elegantesten und hübschesten machen, was es auf der Welt giebt.

Alle diese intimen Gespräche, die sich täglich wiederholten und täglich länger wurden, senkten sich in Christianes Seele, wie Samen in die Erde. Und der Reiz der weiten Landschaft, die köstliche Luft, diese blaue Limagne, so weit, daß sie die Seele zu weiten schien, diese erloschenen Krater auf den Bergen, die Öfen der Welt, die nur noch dazu dienten, die Brunnen für die Kranken zu wärmen, dann die Frische im Schatten, das leise Murmeln der Bäche über die Steine, alles trug dazu bei, in Herz und Fleisch der jungen Frau zu dringen, und durchweichte sie wie ein warmer, weicher, leiser Regen einen noch jungfräulichen Boden, ein Regen, nach dem die Blumen sprießen.

Sie fühlte wohl, daß der junge Mann ihr ein wenig den Hof machte, daß er sie hübsch fand, ja sogar vielleicht mehr als das, und der Wunsch, ihm zu gefallen, brachte sie zu tausend geschickten und doch einfachen Listen, die ihn gewinnen und erobern sollten. Wenn er bewegt schien, verließ sie ihn ganz plötzlich, wenn sie fühlte, daß er eine zärtliche Anspielung machen wollte, warf sie ihm, ehe er noch seinen Satz hatte beenden können, einen jener kurzen tiefen Blicke zu, die wie Feuer in die Herzen der Männer fallen. Sie sagte kein Wort, machte nur eine ganz leise Kopfbewegung, eine zerstreute Geste mit der Hand. Sie sah manchmal melancholisch aus, aber schnell kam ein Lächeln, um ihm zu zeigen, ohne daß sie ein Wort sprach, daß seine Bemühungen nicht erfolglos seien. Was wollte sie eigentlich? Nichts! Was erwartete sie davon? Nichts! Das Spiel unterhielt sie nur, weil sie eben Frau war, weil sie keine Gefahr fühlte, weil sie sehen wollte, ohne etwas davon vorauszuahnen, was er thun würde.

Und da war plötzlich in ihr jene Koketterie erwacht, die in allen weiblichen Wesen schlummert. Dem naiven Kind von gestern waren plötzlich die Augen aufgegangen, durch diesen Mann, der ihr unausgesetzt von Liebe sprach. Sie erriet, wie er sich allmählich für sie entflammte, sie sah seine immer deutlicher sprechenden Blicke, sie verstand die verschiedenen Töne seiner Stimme, mit jener eigenen Feinfühligkeit aller derer, die empfinden, daß sie Liebe erwecken.

Andere Männer hatten ihr in der Gesellschaft wohl schon den Hof gemacht, aber sie hatte nie anders darauf geantwortet als durch Spott. Die Banalität ihrer Redensarten machte ihr Spaß, ihre traurigen Mienen machten ihr riesiges Vergnügen, und auf alle Liebesäußerungen antwortete sie mit Hohn und Gelächter.

Bei diesem aber hatte sie sich plötzlich einem gefährlichen Gegner gegenübergefühlt, und sie war jenes geschickte, instinktiv ahnende Wesen geworden, mit Keckheit und Kaltblütigkeit bewehrt, das, solange sein Herz frei ist, die Männer bespäht, überlistet und fängt im unsichtbaren Netze des Gefühls.

Er hatte sie zuerst nichtssagend gefunden. Er war an eine ganz andere Sorte Frauen gewöhnt, an die, die in der Liebe geschult sind, wie alte Soldaten im Manöver, die mit allen Listen der Galanterie und Zärtlichkeit ausgerüstet sind, und so fand er dieses einfache Herz ein wenig banal und behandelte es mit leichter Verachtung.

Aber allmählich hatte es doch angefangen, ihn zu unterhalten und anzuziehen, und indem er seiner leicht erregbaren Natur nachging, hatte er begonnen, der jungen Frau den Hof zu machen. Er wußte sehr wohl, daß das beste Mittel, um eine reine Frau zu bethören, das ist, unausgesetzt mit ihr von der Liebe zu sprechen, indem man thut, als dächte man immer an andere, und indem er eifrig dieser beginnenden Neugierde nachging, die er in ihr erregt unter dem Vorwand, als vertraue er ihr etwas an, hatte er angefangen, ihr unter dem Dunkel der Bäume auf Tod und Leben den Hof zu machen. Ihm machte dies Spiel wie ihr Spaß, und er zeigte ihr durch jene tausend kleinen Aufmerksamkeiten, die die Männer zu finden wissen, wie er sich immer mehr für sie erwärmte. Er that wie ein Verliebter, ohne zu ahnen, daß er es wirklich noch werden würde.

So trieben sie es beide während der langen Spaziergänge, und es schien ihnen so natürlich, wie es natürlich ist, daß man ein Bad nimmt, wenn man sich an einem heißen Tage an einem Fluß befindet. Aber in dem Moment, wo die Koketterie bei Christiane begann, in dem Augenblick hatte sie alle natürliche Findigkeit der Frau, um die Männer zu beherrschen; in dem Augenblick, wo sie sich vornahm, diesen Mann vor sich auf die Kniee zu zwingen, etwa wie sie den Ehrgeiz besaß, eine Partie Krokett zu gewinnen, ließ dieser gerissene, geschickte Mann sich von den Reizen dieser unschuldigen jungen Frau fangen, und er begann sie zu lieben.

Da wurde er ungeschickt, unruhig, nervös, und sie spielte mit ihm, wie die Katze mit der Maus. Einer anderen gegenüber hätte er sich nicht geniert gefühlt, hätte in sie hineingesprochen und sie durch sein Temperament gewonnen, mit ihr wagte er es aber nicht, so anders schien sie ihm, als alle übrigen, die er bis jetzt gekannt. Die anderen Frauen waren doch im Grunde alle solche, die das Leben schon in die Schule genommen, denen man alles sagen konnte, mit denen man das Gewagteste wagen durfte, indem man ihnen Worte ins Ohr flüsterte, die ihr Blut entflammten. Er wußte sich unwiderstehlich, wenn er dem Herzen, der Seele und den Sinnen derjenigen, die er begehrte, das stürmische Verlangen, das ihn verzehrte, ungehindert nahebringen konnte.

Bei Christiane meinte er einem jungen Mädchen gegenüber zu stehen, so unberührt fand er sie. Das entwaffnete ihn. Und dann liebte er sie auf ganz andere Art, wie ein Kind, wie eine Braut. Er begehrte sie, aber fürchtete sich, sie zu berühren, sie zu beschmutzen, sie zu brechen. Er hatte nicht das Verlangen, sie zu umarmen wie die anderen, sondern sich vor ihr auf die Kniee zu lassen, ihr Kleid ganz leise zu küssen, mit keuscher, sanfter Berührung die kleinen Härchen an ihren Schläfen, die Winkel ihres Mundes, ihrer Augen, dieser geschlossenen Augen, deren blauen Blick er förmlich fühlte, diesen weichen Blick unter dem niedergeschlagenen Augenlid. Er hätte sie schützen mögen gegen alle Welt und gegen alles, daß sie nicht in Berührung kam mit gemeinen Menschen, daß sie nichts Häßliches sah und nicht neben ungepflegten Leuten ging.

Er hätte den Schmutz der Straße, auf der sie schritt, beseitigen, die Steine auflesen mögen am Wege, die Wurzeln und die Zweige brechen, alles um sie herum gefällig und köstlich zu gestalten und sie immer tragen, nur damit sie nicht zu gehen brauchte.

Und er erregte sich darüber, daß sie mit ihren Nachbarn im Hotel sprechen mußte, daß sie das mäßige Table d'hôte-Essen essen, alle die kleinen, unvermeidlichen Unbequemlichkeiten des Daseins mit in Kauf nehmen mußte. Er wußte nicht, was er ihr sagen sollte. Überall dachte er an sie, aber die Unmöglichkeit, ihr sein Herz auszuschütten, ihr das unwiderstehliche Bedürfnis auszudrücken, ihr zu dienen, machte ihn wie zu einem gefesselten, wilden Tier, und dabei hätte er laut weinen mögen.

Sie sah dies alles mit an, aber ohne es völlig zu verstehen, und sie amüsierte sich darüber mit der niederträchtigen Freude der Koketten. Als sie hinter den anderen zurückgeblieben waren und sie an seinem Benehmen fühlte, daß er endlich etwas Beunruhigendes sagen würde, begann sie plötzlich zu laufen, um ihren Vater einzuholen, und als sie ihn erreicht, rief sie:

– Wollen wir nicht Kämmerchen vermieten spielen?

Das Kämmerchenvermieten beendigte jedesmal die Ausflüge. Man suchte eine Lichtung, irgend eine Stelle, wo die Bäume weiter standen, und dann spielten sie wie Kinder auf einer Landpartie. Den kleinen Oriols und selbst Gontran machte das ungeheuren Spaß, denn es gab ihnen Gelegenheit zu laufen, woran alle jungen Menschen Spaß finden. Nur Paul Brétigny brummte, er hatte andere Gedanken, dann aber nahm er Teil und gab sich schließlich mehr Mühe, als alle anderen, nur um Christiane zu fangen, sie zu berühren, plötzlich die Hand auf ihre Schulter oder um ihre Taille zu legen. Der Marquis, dessen gleichgiltige Natur mit allem einverstanden war, wenn es nur seine Bequemlichkeit nicht störte, setzte sich zu Füßen eines Baumes und sah zu, wie sein »Pensionat«, wie er es nannte, spielte. Er fand dieses ruhige Leben köstlich und war mit der ganzen Welt zufrieden.

Aber das Benehmen von Paul erschreckte Christiane bald. Eines Tages hatte sie sogar Angst vor ihm. Sie waren eines Morgens mit Gontran zu dem seltsamen Schlund gegangen, wo der Bach von Enval entspringt, und der das Ende der Welt hieß. Das Thal wurde enger und enger, wilder und wilder und ging tief in den Berg hinein. Man mußte über gewaltige Blöcke, über große Steine, und nachdem man einen Fels von mehr als fünfzig Meter Höhe umgangen, der das Thal völlig versperrte, befand man sich endlich in einer Art engen Graben zwischen zwei gewaltigen Mauern, kahl bis oben hinauf, wo Bäume und Grünes wuchsen.

Der Fluß bildete einen See, klein wie eine Waschschale, aber ein wildes, ganz unerwartetes eigentümliches Loch, das man mehr in Märchen zu finden meint, als in der Wirklichkeit. Paul betrachtete den hohen Fels, vor dem alle Besucher stehen blieben, da er den Weg versperrte, und sah, daß er Spuren trug, als sei er erklettert worden.

– O, da kann man noch weiter gehen!

Und nachdem er ohne Mühe die gerade Wand erklommen, rief er:

– Ach das ist ja reizend! Ein kleines Gebüsch mitten im Wasser! Kommen Sie doch!

Er legte sich, packte beide Hände von Christiane, die er in die Höhe hob, während Gontran ihr von unten half und ihre Füße auf die schwachen Vorsprünge des Felsen setzte. Die Erde, die von oben herabgefallen war, hatte hier einen kleinen, wilden Garten gebildet, durch dessen Wurzeln der Bach murmelte. Ein anderer Absatz, eine Stück weiterhin, schloß abermals den granitenen Engpaß ab; sie kletterten wieder hinauf, dann kam ein dritter, und nun fanden sie sich zu Füßen einer unüberwindlichen Wand, an der gerade und klar ein Wasserfall von zwanzig Meter Höhe herabstürzte in ein tiefes durch die Fluten ausgehöhltes Bassin, unter Zweigen und winzigen Gewächsen begraben. Der Felsgang war so eng geworden, daß die beiden Männer, wenn sie einander die Hand reichten, rechts und links den Fels berühren konnten. Man sah nur noch einen schmalen Himmelsausschnitt, man hörte nur das Tosen des Wassers, es war wie einer jener Schlupfwinkel, die die Dichter der Alten mit Nymphen bevölkerten. Es war Christiane, als wäre sie in ein Feenreich eingedrungen. Paul Brétigny sagte nichts, Gontran rief:

– O, hier müßte eine blonde, weiße Frau im Wasser baden! Das möchte ich sehen!

Sie kehrten um. Die zwei ersten Absätze waren leicht hinabzuklettern, aber der dritte machte Christiane Angst, so hoch und gerade war er, ohne sichtbare Stufen. Paul ließ sich den Fels hinuntergleiten, dann streckte er Christiane beide Arme entgegen und rief:

– Springen Sie!

Sie wagte es nicht. Sie hatte nicht Angst zu fallen, aber Angst vor ihm, besonders vor seinem Blick. Er sah sie an, wie ein verhungertes Tier, mit wilder, ungeheurer Leidenschaft, und seine beiden ihr entgegengestreckten Hände zogen sie wie mit Gewalt herab, daß sie, plötzlich von Entsetzen gepackt, am liebsten laut hätte schreien mögen, sich retten, den Berg hinaufklettern, nur um dem Unwiderstehlichen zu entgehen. Ihr Bruder hinter ihr rief:

– Los!

Und er stieß sie ab. Sie fühlte, daß sie fiel, schloß die Augen und, weich und doch kräftig umarmt, glitt sie, ohne zu sehen, am ganzen Körper des jungen Mannes herab, dessen warmen Atem sie auf dem Gesicht fühlte. Dann stand sie ihm zu Füßen, lächelnd jetzt, da ihre Angst vorüber war, während nun Gontran herabstieg.

Diese Aufregung hatte sie vorsichtig gemacht, sie nahm sich in Acht, während ein paar Tagen nie allein mit Paul zu sein, der sie jetzt zu umkreisen schien, wie in der Fabel der Wolf die Schafe.

Aber ein größerer Ausflug war verabredet worden; Mundvorrat sollte in dem sechssitzigen Landauer mitgenommen werden, und mit den Schwestern Oriol wollten sie am See von Tazenat ein Picknick veranstalten, um nachts beim Mondschein heimzufahren.

Eines Nachmittags brachen sie also auf, an einem heißen Tage, während die glühende Sonne auf den Granitwänden der Berge wie von Kacheln zurückstrahlte. Der Wagen ward von den drei schnaubenden, schwitzenden Pferden hinaufgezogen, der Kutscher schlief auf seinem Sitz mit gesenktem Kopf. Legionen von Eidechsen liefen über die Steine am Weg, die glühende Luft schien von schwerem, unsichtbarem Feuerstaube erfüllt. Manchmal war es, als wäre sie förmlich erstarrt, so dick, daß man sie nicht durchschneiden konnte. Niemand sprach im Wagen. Die drei Damen auf dem Rücksitz schlossen die geblendeten Augen im rosigen Schatten ihrer Schirme, der Marquis und Gontran hatten ein Taschentuch auf den Kopf gelegt und schliefen, Paul sah Christiane an, die ihn zwischen den halb geschlossenen Wimpern beobachtete, und der Landauer, der eine weiße Staubsäule hinter sich ließ, folgte unausgesetzt dem immer gleichmäßig steigenden Weg.

Als er das Plateau erreicht hatte, richtete sich der Kutscher auf, die Pferde begannen zu traben, und es ging durch ein hügeliges waldiges Land mit Dörfern und einzelnen Häusern. Links in der Ferne sah man die großen Giebel der Berge und den See, zu dem man bald kam. Nachdem sie drei Stunden gefahren waren, sagte Paul plötzlich:

– Sehen Sie dort, Lava!

Braune, seltsam geformte Felsen thürmten sich längs des Weges auf, man sah einen großen Berg, dessen breiter Gipfel platt und hohl schien, sie bogen um einen Weg, der durch einen dreieckigen Einschnitt zu führen schien und Christiane, die aufgestanden war, gewahrte nun plötzlich in einem weiten und tiefen Krater einen kleinen, schönen See liegen. Die jähen Hänge des Berges, rechts bewaldet, links kahl, stürzten in das Wasser ab, das sie überall gleichmäßig hoch umgaben. Und dieses reine, wie Metall leuchtende Wasser spiegelte auf der einen Seite hohe Bäume wider, auf der anderen den kahlen Hang, so genau, daß man die Uferränder nicht entdeckte und nur in diesen ungeheuren Trichter, in dessen Mitte sich der blaue Himmel spiegelte, in die klare, grundlose Tiefe schaute, die aussah, als durchbohrte sie die Erde, und man erblickte auf der anderen Seite das Firmament.

Der Wagen konnte nicht weiterfahren, man stieg aus, und auf der bewaldeten Seite folgten sie einem Weg, der um den See herumführte unter den Bäumen auf halber Höhe des Abhangs. Dieser Weg, den sonst nur Baumfäller benutzten, war grün wie eine Wiese, und man sah durch die Bäume hindurch auf der anderen Seite immer das leuchtende Wasser des Gebirgs-Sees.

Da gewann man durch eine Lichtung das Ufer und ließ sich auf einem grünen Hügel, unter dem Schatten einiger Eichen nieder.

Alle streckten sich ins Gras mit natürlicher, köstlicher Freude. Die Herren rollten sich, steckten die Hände ins Gras, und die Frauen, die vorsichtig auf der Seite lagen, schmiegten ihre Wangen hinein, um sich von der wohligen Frische streicheln zu lassen; nach dem heißen Wege war es einer jener köstlichen Momente, die beinahe Glück bedeuten.

Da schlief der Marquis wieder ein, Gontran machte es bald ebenso, und Paul begann mit Christiane und den beiden jungen Mädchen zu schwatzen. Wovon? Nichts Bedeutendes. Ab und zu sagte einer einen Satz, ein anderer antwortete, aber die Worte verstummten bald, sie schienen im Munde einzuschlafen wie die Gedanken.

Der Kutscher hatte den Korb mit den Vorräten gebracht, und die beiden kleinen Oriols, die von Haus aus an die Wirtschaft gewöhnt waren, begannen sofort auszupacken und das Essen herzurichten, ein Stück weiter entfernt auf dem Rasen.

Paul blieb neben Christiane liegen, die da träumte. Er stammelte so leise, daß sie es kaum hören konnte und seine Worte ihr Ohr nur trafen, wie ein unbestimmtes Geräusch, das der Wind herüberträgt:

– Das sind die schönsten Augenblicke meines Lebens!

Warum trafen sie diese unbestimmten Worte bis in die Tiefen ihrer Seele? Warum fühlte sie sich plötzlich so bewegt, wie noch nie in ihren Leben?

Sie sah unter den Bäumen, ein Stück weiter hin, ein ganz kleines Häuschen, eine Jagd- oder Fischerhütte, die so klein war, daß sie nur einen einzigen Raum enthalten konnte. Paul folgte ihren Blicken und sagte:

– Gnädige Frau, haben Sie einmal daran gedacht, was es für zwei Wesen, die sich unendlich lieben, bedeuten könnte, in einer solchen Hütte ein paar Tage zu verleben? Sie wären allein auf der Welt, wirklich allein, nur mit einander, und wenn so etwas möglich ist, sollte man nicht alles daran geben, um es möglich zu machen? Das Glück ist so selten, so unfaßbar und kurz. Lebt man überhaupt für gewöhnlich? Giebt es etwas Traurigeres, als früh aufzustehen ohne glühenden Wunsch? Ruhig dieselben Pflichten zu erfüllen, mäßig zu trinken, mit Vorsicht zu essen und zu schlafen wie ein Tier tief und ruhig?

Sie blickte immer zu dem Häuschen hinüber, und ihr Herz schwoll, daß sie hätte weinen mögen; plötzlich fühlte sie eine Wonne, die sie nie geahnt. Ja, sie dachte daran, wie glückselig man in dieser kleinen, unter den Bäumen versteckten Hütte leben könnte, an diesem winzigen See, diesem köstlichen kleinen See, der da war, wie ein Spiegel der Liebe. Wie glückselig wäre man hier, niemanden in der Nähe, ohne Nachbarn, ohne den Lärm des Lebens, mit dem Geliebten allein, der stundenlang der Angebeteten zu Füßen sitzen würde und in ihre Augen sehen, während sie emporblickte zu dem ewigen Blau, der süße Worte zu ihr spräche mit einem Kuß auf die Fingerspitzen ihrer Hand. Dort würden sie leben in aller Stille unter den Bäumen, im Grunde dieses Kraters, der alle ihre Leidenschaft enthielt, klares und tiefes Wasser in seinem regelmäßigen Rund, ohne eine andere Grenze für die Augen, als die runde Uferlinie, ohne anderen Horizont für den Gedanken, als das Glück sich zu lieben, ohne ein anderes Ziel für ihren Wunsch, als endlos lang die Lippen aufeinander ruhen zu lassen. Gab es denn auf der Welt Menschen, die ein solches Glück empfinden konnten? O warum nicht? Warum hatte sie nicht früher geahnt, daß es solche Wonnen gäbe?

Die kleinen Mädchen meldeten, das Essen wäre fertig. Es war schon sechs Uhr, man weckte den Marquis und Gontran, und ließ sich ein Stück entfernt neben den Tellern auf den flachen Steinen mit gekreuzten Beinen nieder. Die beiden Schwestern servierten noch immer, und die Herren hinderten sie nicht daran.

Sie aßen langsam und warfen Schalen und Hühnerknochen ins Wasser; man hatte Champagner mitgebracht, und das Knallen des ersten Propfens erschreckte alle, so seltsam klang es hier.

Der Tag neigte sich dem Ende zu, es wurde frischer, eine seltsame Melancholie kam mit dem Abend über das schlafende Wasser im Krater. Als die Sonne beinahe niedersank, und der Himmel sich in Glut zu tauchen begann, sah der kleine See plötzlich wie ein Feuermeer aus. Dann, nachdem die Sonne niedergegangen war und der Horizont rot geworden, wie ein Hochofen, der im Erlöschen ist, sah der See aus, wie eine Schale voll Blut, und plötzlich stieg über dem Hügel der beinahe volle Mond auf, bleich an dem noch hellen Firmament. Und je mehr sich die Dunkelheit auf die Erde niederließ, desto höher stieg er und leuchtete rund über dem Krater, der rund war, wie er selbst. Es war, als wollte er sich hineinsenken, und als er hoch am Himmel stand, sah der See aus wie eine Schale voll Silber.

Da lief plötzlich über die den ganzen Tag lang unbewegte Oberfläche ein Schauer, bald langsam, bald schnell.

Es war, als huschten Geister über die Oberfläche und ließen unsichtbare Schleier darüber gleiten.

Es waren die großen Fische aus der Tiefe, die hundertjährigen Karpfen, die gefräßigen Hechte, die beim Mondschein sich jagten.

Die kleinen Oriols hatten das Porzellan und die Flaschen wieder in den Korb gethan, den der Kutscher abholte. Man brach auf.

Als sie über den Weg gingen, unter den Bäumen, durch die helle Flecke wie ein Regen durch die Blätter aufs grüne Gras fielen, hörte plötzlich Christiane, die als Vorletzte ging, von Paul gefolgt, eine keuchende Stimme ihr zuflüstern, fast an ihrem Ohr:

– Ich liebe Sie! Ich liebe Sie! Ich liebe Sie!

Ihr Herz begann so heftig zu klopfen, daß sie fast gefallen wäre, denn sie konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Aber trotzdem ging sie weiter, sie lief wie toll, immer bereit sich umzuwenden, die Arme auszubreiten und ihm die Lippen zu bieten.

Sie nahm jetzt einen Zipfel des kleinen Shawls, der um ihre Schultern hing und küßte ihn verzweifelt. Sie setzte ihren Weg fort, so müde, daß sie den Boden beim Gehen nicht mehr unter ihren Füßen fühlte.

Plötzlich traten sie aus der hohen Wölbung der Bäume ins Freie hinaus, und da begann sie sich zu fassen. Aber ehe sie in den Landauer stieg und den See aus den Augen verlor, drehte sie sich halb herum, um mit beiden Händen dem Wasser einen Kuß zuzuwerfen, eine Bewegung, die der wohl verstand, der ihr folgte.

Während der Rückfahrt war sie wie gelähmt, an Körper und Seele, verstört und wie zerschlagen nach einem Sturz. Kaum war sie ins Hotel zurückgekehrt, so ging sie schnell auf ihr Zimmer und schloß sich ein. Als der Riegel vorgerutscht war, drehte sie auch noch den Schlüssel herum, so fühlte sie sich auch jetzt noch verfolgt und begehrt.

Dann blieb sie zitternd in dem fast dunklen Zimmer stehen. Das Licht, das auf dem Tisch brannte, warf flackernde Schatten der Möbel und der Vorhänge auf die Wand. Christiane ließ sich in einen Lehnstuhl sinken, ihre Gedanken liefen davon, entflohen ihr, sie konnte sie nicht zurückhalten, nicht ordnen.

Sie hatte jetzt Lust zu weinen, ohne zu wissen warum, sie fühlte sich unglücklich, verzweifelt, verlassen in diesem leeren Raum, im Leben verirrt, wie in einem Wald.

Wo steuerte sie hin? Was würde sie thun?

Da sie kaum Atem holen konnte, erhob sie sich, öffnete Fenster und Laden und lehnte sich auf die Fensterbrüstung. Die Luft war frisch; hoch vom gewaltigen und so leeren Himmel, warf der ferne, einsame, traurige Mond, der an dem nachtblauen Horizont emporgestiegen war, sein hartes, kaltes Licht auf das Grün, auf die Berge. Das ganze Land schlief, nur ab und zu klang der leise Ton der Geige Saint-Landris, der jeden Abend sehr spät noch übte, er schien zu schluchzen in der tiefen Stille des Thales. Der grelle, schmerzliche Ton der Saiten schwieg, und dann begann er von neuem.

Und dieser Mond, der an dem einsamen Himmel stand, und dieser schwache Ton, der in der schweigenden Nacht sich verlor, erregten in ihr ein derartiges Gefühl der Einsamkeit, daß sie zu schluchzen begann. Sie zitterte und bebte bis ins Mark, von Angst und Furcht geschüttelt, wie einer, den ein schweres Leiden befällt, und nun begriff sie plötzlich, daß auch sie allein war auf der Welt.

Sie hatte es bis zu diesem Tage noch nicht bemerkt, aber nun fühlte sie es so lebhaft in der Verzweiflung ihrer Seele, daß sie meinte, wahnsinnig zu werden. Sie hatte einen Vater, einen Bruder, einen Mann. Sie liebte sie doch, und sie wurde von ihnen geliebt, aber plötzlich schienen sie ihr alle fremd, als ob sie sie kaum kenne.

Die ruhige Zuneigung ihres Vaters, die kameradschaftliche Freundschaft ihres Bruders, die kalte Zärtlichkeit ihres Mannes schienen ihr nichts, nichts mehr zu sein. Ihr Mann! Das war also ihr Mann! Dieser ruhige Mensch, der mit gleichgiltigem Ton zu ihr sprach:

– Bist Du wohl heute, liebe Freundin?

Sie gehörte ihm, diesem Mann, Körper und Seele kraft eines Vertrages. War das möglich? O, wie sie sich allein und verlassen fühlte!

Sie hatte die Augen geschlossen, um in ihre Seele hineinzublicken, in die tiefsten Abgründe ihrer Gedanken. Und nun sah sie die Gestalten derer, die um sie lebten, vor sich stehen. Ihr Vater, ahnungslos und ruhig, glücklich, wenn man nur seine Gemütlichkeit nicht störte. Ihr skeptischer Bruder, ihr immer beweglicher Mann, der voll Ziffern steckte und ihr sagte: »Ich habe ein feines Geschäft gemacht!«, wenn er ihr hätte sagen können: »Ich liebe Dich!«

Ein anderer hatte es ihr eben noch zugeflüstert, dies Wort, das in ihren Ohren und in ihrem Herzen noch nachzitterte. Sie sah ihn so, diesen anderen, vor sich stehen in Gedanken, wie er sie mit seinen starren Blicken verschlang. Und wenn er wirklich neben ihr gestanden hätte in diesem Augenblick, sie wäre in seine Arme gesunken!

 


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