Guy de Maupassant
Mont Oriol
Guy de Maupassant

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VII

Christiane, die erst spät zu Bett gegangen war, erwachte, sobald die Sonne in ihr Zimmer ihren roten Schein durch das offen gebliebene Fenster warf. Sie sah nach der Uhr: fünf Uhr. Und auf dem Rücken, köstlich in der Wärme der Kissen, blieb sie liegen.

Sie fühlte sich so glücklich und frisch, daß es ihr schien, in der Nacht wäre ein Glück, ein großes Glück, ein unendliches Glück über sie gekommen. Welches? Sie wußte selbst nicht, welche glückliche Neuigkeit sie so aufgerüttelt. Die ganze Traurigkeit des Abends war verschwunden, dahingeschmolzen während des Schlafes.

Also Paul Brétigny liebte sie! Wie anders erschien er ihr, als am ersten Tage. Trotz aller Anstrengungen, die sie machte, sich ihn vorzustellen, konnte sie sich nicht mehr erinnern, wie sie ihn zuerst gesehen und gefunden. Der Mann, den ihr der Bruder vorgestellt, war wie verschwunden, der von heute hatte von dem andern nichts behalten, nicht das Gesicht, nicht die Manieren, nichts! Ihr erster Eindruck war allmählich vergangen, Tag um Tag, durch die leise Veränderung, der in uns jeder Mensch unterworfen ist, der allmählich uns bekannt wird, uns näher tritt, den wir lieben.

Man gewinnt ihn Stunde um Stunde, ohne es zu ahnen, man eignet sich seine Züge an, seine Bewegungen, seine ganze Art und Weise, Körper wie Geist, er wird unser durch unsere Blicke, durch unser Herz, vermöge seiner Stimme, seiner Bewegungen, durch alles, was er sagt und was er denkt.

Man versteht ihn, man errät ihn bei seinem kleinsten Lächeln, bei seinem geringsten Wort, und endlich ist es, als gehörte er uns ganz. So liebt man unbewußt alles, was in ihm ist und was von ihm kommt. Und dann ist man nicht mehr imstande, sich zu erinnern, wie er sich einst unserem gleichartigen Auge vorgestellt, das erste Mal, da wir ihn sahen.

Also Paul Brétigny liebte sie. Christiane empfand davor weder Angst noch Beklemmung, aber eine tiefe Rührung, ein unendliches, köstliches Glück, geliebt zu sein und zu wissen, daß man geliebt wird. Und doch beunruhigte sie es ein wenig, wie er gegen sie sein, und wie sie sich stellen würde gegen ihn.

Aber da sie zu zartfühlend war, sich selbst, auch nur in Gedanken mit solchen Dingen zu beschäftigen, hörte sie auf daran zu denken, im Vertrauen auf ihre Geschicklichkeit und Zartheit, die Ereignisse zu lenken. Zur gewohnten Stunde verließ sie ihr Zimmer und traf Paul, der vor der Thür des Hotels eine Cigarette rauchte. Er grüßte sie förmlich:

– Guten Morgen, gnädige Frau, haben Sie gut geschlafen?

Sie antwortete lächelnd:

– Sehr gut, Herr Brétigny, ich habe ausgezeichnet geschlafen.

Sie streckte ihm die Hand entgegen und fürchtete doch, er möchte sie zu lange behalten, aber er drückte sie kaum, und sie begannen ruhig zu schwatzen, als ob sie eines den andern vergessen hätten.

Und der Tag strich hin, ohne daß er irgend etwas that, um das glühende Geständnis vom Tage vorher in Erinnerung zu bringen. Auch die folgende Zeit war er diskret, ganz ruhig, und sie gewann Vertrauen zu ihm. Sie meinte, er habe erraten, daß er sie verletzen würde, wenn er kecker wäre, und sie hoffte, ja sie glaubte bestimmt, daß er bei dieser reizenden Etappe der Zärtlichkeit stehen bleiben würde, wo man sich liebt, wenn man sich nur in die Augen blickt, ohne Gewissensbisse, ohne Reue.

Aber sie nahm sich in Acht, mit ihm allein zu sein. Da kehrten sie eines Abends, am Sonnabend derselben Woche, wo sie in Tazenat gewesen, gegen zehn Uhr ins Hotel zurück. Der Marquis, Christiane und Paul gingen zusammen, sie hatten Gontran mit Herrn Aubry-Pasteur, Riquier und Doktor Honorat in dem kleinen Saal des Kasinos bei seinem Ecarté gelassen.

Da sagte Brétigny, als er den Mond sah, der durch die Zweige schien:

– Gott wie hübsch wäre es, einmal die Ruinen von Tournoël in einer solchen Nacht zu besuchen.

Bei dem Gedanken schon ward Christiane innerlich erregt. Mondschein und Ruinen machten auf sie denselben Eindruck wie beinahe auf alle Frauenseelen. Sie drückte die Hand des Marquis:

– O Papachen, das wäre nett! Willst Du nicht?

Er zögerte, denn er wollte eigentlich zu Bett gehen. Sie bat noch einmal:

– Ach denke doch, Tournoël ist ja auch am Tage so schön, Du sagtest ja selbst, daß Du noch nie eine so malerische Ruine gesehen hättest, mit dem großen Turm über dem Schloß, wie muß das erst in der Nacht dort sein!

Er gab nach:

– Nun gut, gehen wir hin, aber wir sehen es uns nur fünf Minuten an und kommen gleich wieder zurück. Ich will um elf Uhr zu Bett sein!

– Ja wir kehren gleich wieder zurück, wir brauchen nur zwanzig Minuten.

Nun gingen sie alle drei davon; Christiane am Arm ihres Vaters, während Paul neben ihr schritt. Er sprach von Reisen, die er gemacht, von der Schweiz, Italien, Sizilien. Er erzählte von Eindrücken, die ihm gewisse Dinge hinterlassen, von seiner Begeisterung beim Anblick des Monte Rosa, wenn die Sonne am Horizont emporsteigt über diese hellen weißen Gipfel, dieser ganzen Welt von ewigem Schnee und auf jede der einzelnen Riesen-Zinnen ein strahlendes weißes Licht wirft, sie entzündet wie die fahlen Leuchttürme, die wohl das Reich der Toten erhellen.

Dann schilderte er seine Bewegung, als er am gewaltigen Krater des Ätna gestanden, als er sich dreitausend Meter hoch in den Wolken befunden, nur Meer und Himmel rundum, das blaue Meer unter, den blauen Himmel über sich und gebückt über jenen schrecklichen Mund der Erde, dessen Atem einen zu ersticken droht.

Er malte die Bilder aus, um der jungen Frau Eindruck zu machen, und sie zitterte, während sie ihm zuhörte, denn sie sah selbst durch einen Aufschwung ihrer Phantasie all diese Dinge vor sich.

Plötzlich gewahrten sie an einer Wegbiegung Tournoël; das alte Schloß auf seinem Felsen thronend, von dem hohen schlanken Turm überragt, durchbrochen wie ein Spitzensaum, und zerbröckelt durch die Zeit, durch die Kriege, die darüber hingebraust, zeichnete vom Himmel seine gewaltigen, phantastischen Umrisse ab.

Sie blieben alle drei erstaunt stehen, endlich sagte der Marquis:

– Das ist allerdings sehr hübsch! Das ist wie ein Wirklichkeit gewordener Traum von Gustav Doré; setzen wir uns doch ein paar Minuten hin.

Er ließ sich auf dem Gras am Grabenrand nieder. Christiane aber rief ganz begeistert:

– O Papa, wir wollen weiter gehen. Es ist so schön, so wunderschön! Gehen wir doch bis an den Fuß, ich bitte Dich!

Aber der Marquis weigerte sich:

– Nein liebes Kind, ich bin genug gelaufen, ich kann nicht mehr. Wenn Du es Dir in der Nähe ansehen willst, gehe doch mit Herrn Brétigny hin, ich erwarte Dich hier.

Paul fragte:

– Ja, ist es Ihnen recht, gnädige Frau?

Sie zögerte in leiser Furcht, sie wollte nicht mit ihm allein sein, und wollte auch einen Ehrenmann nicht kränken, indem sie sich vor ihm zu fürchten schien. Der Marquis sagte noch einmal:

– Geht doch! Geht! Ich bleibe hier.

Da überlegte sie, daß ihr Vater ja immer in Rufweite bliebe, und sagte entschlossen:

– Also gehen wir!

Und sie entfernten sich Seite an Seite. Aber kaum waren sie ein paar Minuten gegangen, als eine jähe Empfindung sie überkam, eine unbestimmte, seltsame Angst, die Furcht vor der Ruine, vor der Nacht, vor diesem Mann. Ihre Beine versagten plötzlich den Dienst wie neulich abends an dem See von Tazenat, sie trugen sie nicht weiter, sie knickten ein unter ihrem Gewicht; es war als bohrten sie sich in die Straße, in der ihre Füße stecken blieben, wenn sie sie aufheben wollte.

Ein großer Baum stand am Wege. Christiane war außer Atem, als ob sie gelaufen wäre und ließ sich gegen den Stamm sinken. Sie stammelte:

– Ich bleibe hier, man sieht hier sehr schön.

Paul setzte sich an ihre Seite, sie fühlte ihr Herz heftig klopfen. Er sagte nach kurzem Schweigen:

– Glauben Sie, daß wir schon einmal gelebt haben?

Sie flüsterte, aber sie hatte in ihrer Erregung nicht richtig verstanden, was er gesagt:

– Ich weiß nicht, ich habe noch nicht darüber nachgedacht.

Er sagte:

– Ich glaube es manchmal, oder vielmehr ich fühle es. Das lebende Wesen, das doch aus Geist und Körper besteht, die getrennt zu sein scheinen und doch ohne Zweifel ein und derselben Art sind, muß wieder erscheinen, wenn die Elemente, aus denen es einmal gebildet war, ein zweites Mal genau so zusammentreffen. Dann ist es nicht dasselbe Wesen, aber doch derselbe Mensch der wiederkehrt wenn ein Körper, der seine frühere Gestalt ändert von einer Seele bewohnt wird, die seiner anderen gleicht, die er früher inne hatte.

Nun gnädige Frau, ich bin heute abend ganz gewiß, daß ich in diesem Schloß einmal gewohnt habe, daß ich es besaß, daß ich dort kämpfte und es verteidigte. Ich erkenne es genau wieder, mir gehörte es, das weiß ich ganz bestimmt und ebenso bestimmt weiß ich auch, daß ich eine Frau einmal liebte, die Ihnen ähnlich sah und die wie Sie Christiane hieß.

Ich weiß das so sicher, daß es mir ist, als sähe ich Sie noch vor mir, wie Sie mir oben von der Zinne herab zurufen. Suchen Sie einmal, erinnern Sie sich! Dort hinten ist ein Gehölz das in ein tiefes Thal hinuntergeht, dort sind wir oft mit einander spazieren gegangen. An den Sommerabenden trugen Sie leichte Kleider und ich schwere Waffen, die da klirrten im grünen Wald.

Erinnern Sie sich? Suchen Sie einmal in Ihrem Gedächtnis! Ihr Name ist mir ja so bekannt, als käme er aus meiner Kindheit. Wenn man sorgfältig alle Steine dieses alten Kastells durchsuchte, fände man ihn eingekratzt von meiner Hand. Ich versichere Sie, ich kenne mein Haus wieder, meine Heimat, wie ich Sie wiedererkannt habe das erste Mal, als ich Sie gesehen.

Er sprach mit exaltierter Überzeugung, indem er durch die Nähe dieser Frau sich poetisch angeregt fühlte, zugleich durch die Nacht, durch den Mondschein und durch die Ruine. Plötzlich warf er sich vor Christiane auf die Kniee und sagte mit zitternder Stimme:

– Lassen Sie mich Sie doch anbeten, da ich Sie nun einmal wiedergefunden habe, Sie, die ich so lange schon suche!

Sie wollte aufstehen, davonlaufen zu ihrem Vater, aber sie hatte nicht die Kraft, nicht den Mut dazu, sie war wie gelähmt von dem verzehrenden Wunsch, ihm noch zu lauschen, zu hören, wie die Worte, die sie beglückten, in ihr Herz drangen. Sie fühlte sich wie ihm Traum, in dem immer ersehnten poetischen süßen Traum, voll Mondenschein und alter Gesänge.

Er hatte ihre Hände genommen und küßte ihre Fingerspitzen, indem er stammelte:

– Christiane, Christiane ich bin Dein! Töte mich, ich liebe Dich, Christiane!

Sie fühlte, wie er zitterte und bebte zu ihren Füßen. Er küßte ihr jetzt die Kniee, und wie tiefes Schluchzen kam es aus seiner Brust. Sie hatte Angst, er möchte den Verstand verlieren und erhob sich. Sie wollte davonlaufen, aber er hatte sich schneller aufgerichtet, als sie, und sie in die Arme genommen, indem er sich auf sie stürzte und ihren Mund suchte.

Da ließ sie sich ohne Schrei, ohne Abwehr, ohne Widerstand ins Gras fallen, als ob seine Liebkosungen ihr alle Muskeln gelähmt und den Willen zerbrochen hätten, und er nahm sie, so leicht, als pflückte er eine reife Frucht.

Aber kaum hatte er sie aus seiner Umarmung gelassen, so erhob sie sich und lief verzweifelt, zitternd davon, plötzlich wie erstarrt, als wäre sie ins Wasser gestürzt. Mit ein paar Sprüngen war er ihr nach, packte sie beim Arm und flüsterte:

– Christiane, Christiane, passen Sie auf, Ihr Vater!

Sie lief weiter, ohne zu antworten; ohne sich umzublicken, rannte sie geradenwegs vor sich hin. Er folgte ihr, aber er wagte es nicht, sie anzureden. Sobald der Marquis sie sah, erhob er sich:

– Na nun kommt schnell, mir ist schon kalt geworden. All das ist ja sehr schön, aber nicht gut bei der Kur!

Christiane preßte sich an ihren Vater, als flehte sie um seinen Schutz, als suchte sie Rettung in seiner Zärtlichkeit.

Sobald sie wieder in ihrem Zimmer war, entkleidete sie sich, und wenige Sekunden darauf schlüpfte sie in ihr Bett, indem sie die Decke über den Kopf zog und weinte. Sie weinte, das Gesicht in das Kopfkissen versteckt, lange, lange. Sie dachte an nichts, sie litt nicht, sie bedauerte nicht, sie weinte, ohne nachzudenken, ohne sich irgend etwas zu überlegen, ohne zu wissen, warum sie weinte. Sie weinte aus Instinkt, wie man singt, wenn man heiter ist. Und dann, als sie ganz erschöpft war von den Thränen, wie zerschlagen von all dem Schluchzen, schlief sie vor Müdigkeit ein.

Sie wurde aufgeweckt durch ein leises Klopfen an ihrer Zimmerthür, die zum Salon ging. Es war heller, lichter Tag, schon neun Uhr. Sie rief: herein; und ihr Mann erschien, lustig, angeregt, eine Reisemütze auf dem Kopf, seine kleine Geldtasche umgehängt, die er stets auf der Reise trug.

Er rief:

– Was, Du schliefst noch, mein Kind, und ich wecke Dich! Ja, ich komme, ohne mich anzumelden; ich hoffe, es geht Dir gut. In Paris war wundervolles Wetter.

Und nachdem er die Mütze abgesetzt, näherte er sich ihr, um sie zu küssen. Sie zog sich bis an die Wand zurück voll wahnsinniger, nervöser Angst vor diesem kleinen rosigen Mann, der ihr die Lippen entgegenstreckte, und plötzlich bot sie ihm die Stirn und schloß die Augen. Er drückte einen leisen Kuß darauf und fragte:

– Darf ich mich in deinem Toilettenzimmer ein wenig zurecht machen? Da man mich nicht erwartet hat, ist mein Zimmer nicht in Ordnung.

Sie stammelte:

– Aber gewiß!

Und er verschwand durch eine Thür am Fußende des Bettes. Sie hörte ihn sich bewegen, hörte das Wasser plätschern und dann ihn rufen:

– Giebts was Neues hier? Ich habe wundervolle Nachrichten, die Analyse hat ein ganz unverhofftes Ergebnis gehabt, wir können mindestens drei Krankheiten mehr behandeln als in Royat, das ist großartig!

Sie hatte sich im Bett aufrecht gesetzt, sie erstickte fast, sie war ganz verstört durch die unerwartete Rückkehr, die sie traf wie ein plötzlicher Schmerz, wie Gewissensbisse.

Er kam wieder herein, zufrieden, einen starken Geruch von Verbenen um sich verbreitend. Nun setzte er sich gemütlich auf das Fußende des Bettes und fragte:

– Und der Krüppel, wie gehts ihm denn, kann er schon gehen? Bei dem Zeug, das wir alles im Wasser gefunden haben, muß er ja gesund werden.

Sie hatte diesen seit einigen Tagen ganz vergessen und stammelte:

– Ja, ich glaube, es fängt an besser zu gehen, ich habe ihn die Woche nicht gesehen, ich fühle mich nicht ganz wohl.

Er sah sie forschend an und sagte:

– Es ist wahr, Du bist ein wenig bleich, aber sonst geht Dirs doch gut? Du bist reizend so, ganz reizend!

Er näherte sich ihr, beugte sich zu ihr nieder und wollte mit einem Arm im Bett ihre Taille umfassen. Aber sie machte eine so entsetzte Bewegung nach rückwärts, daß er erstaunt innehielt mit ausgestreckten Händen und offenem Mund. Dann fragte er:

– Was hast Du denn? Man darf Dich ja gar nicht mehr anrühren. Ich will Dir ja nicht wehe thun.

Und er näherte sich ihr mit von plötzlichen Wünschen funkelnden Augen. Da stammelte sie:

– Nein laß mich! Laß mich! Ich glaube – – ich glaube, ich bin – – guter Hoffnung!

Sie hatte es in ihrer Verzweiflung gesagt, ohne daran zu denken, nur um seine Berührung zu vermeiden, so als ob sie etwa gerufen hätte: Ich bin leprakrank, oder: Ich habe die Pest!

Nun ward er blaß vor tiefer Freude, und stammelte nur:

– Schon?

Jetzt hatte er Lust, sie zu küssen, lange, weich und zärtlich, als dankbarer Vater; aber er ward wieder unruhig:

– Ist es auch möglich, glaubst Du wirklich, so schnell? Sie antwortete:

– Ja, es ist möglich!

Da sprang er im Zimmer herum, indem er sich die Hände rieb und rief:

– Donnerwetter, Donnerwetter, der Tag fängt gut an!

Man klopfte wieder an der Thür, Andermatt öffnete, und das Zimmermädchen sagte:

– Doktor Latonne möchte den Herrn sofort sprechen!

– Gut, führen Sie ihn in den Salon, ich komme gleich.

Er ging in das Nebenzimmer. Der Doktor erschien sofort. Er hatte ein feierliches Gesicht aufgesetzt, war stumm und förmlich, berührte kurz die Hand, die ihm der ein wenig erstaunte Bankier gereicht, setzte sich und erklärte mit dem Ton etwa eines Kartellträgers in einer Ehrensache:

– Verehrter Herr, mir ist etwas sehr Unangenehmes zugestoßen, was ich Ihnen sofort erklären muß, um mein Benehmen zu rechtfertigen. Als Sie mir die Ehre gaben, mich zur Behandlung Ihrer Frau Gemahlin zuzuziehen, bin ich sofort gekommen, ohne zu wissen, daß ein paar Minuten vor mir mein Kollege, der Badearzt, zu dem ohne Zweifel Frau Andermatt mehr Vertrauen hat, durch Herrn Marquis von Ravenel gerufen worden war.

Daraus folgt, daß, da ich als zweiter gekommen bin, es so aussehen muß, als hätte ich dem Doktor Bonnefille wissentlich eine Patientin abspenstig machen wollen, die ihm schon gehörte. Ich komme in den Ruf, eine Taktlosigkeit begangen zu haben, etwas Unerhörtes, Unanständiges unter Kollegen. Wir müssen nämlich, wenn wir unsere Kunst ausüben, äußerst vorsichtig sein und mit größtem Takt vorgehen, um alle Schwierigkeiten zu vermeiden, die vielleicht ernste Folgen haben könnten.

Doktor Bonnefille, der von meinem Besuche hier gehört, und der nun glaubt, ich hatte diese Taktlosigkeit begangen, da in der That der Schein gegen mich ist, hat darüber in Ausdrücken gesprochen, für die ich ihn, wenn er nicht ein so alter Herr wäre, zur Rechenschaft ziehen müßte.

Mir bleibt nur eins übrig, um meine Unschuld in seinen Augen und vor allen Kollegen in der ganzen Gegend darzuthun, nämlich zu meinem großen Bedauern, die Behandlung Ihrer Frau Gemahlin mit dem heutigen Tage niederzulegen und die ganze Wahrheit in dieser Angelegenheit bekannt zu machen.

Andermatt antwortete etwas verlegen:

– Ja, Herr Doktor, ich verstehe sehr wohl die schwierige Lage, in der Sie sich befinden, die Schuld tragen nur nicht ich und meine Frau, sondern trägt mein Schwiegervater, der, ohne uns davon zu benachrichtigen, Doktor Bonnefille gerufen hatte. Könnte ich nicht vielleicht Ihren Kollegen aufsuchen und ihm sagen . . .

– Verehrter Herr, das ist ganz ausgeschlossen, es handelt sich um eine Berufs- und Ehrensache, die vor allem mir am Herzen liegt und trotz meines großen Bedauerns – –

Nun schnitt Andermatt ihm das Wort ab. Er ärgerte sich über diesen Rezepthändler, er, der reiche Mann, der Mann, der zahlt, der eine Verordnung mit fünfzehn, zwanzig oder vierzig Francs genau so honoriert, wie eine Schachtel Streichhölzer für drei Sous, dem durch die Macht seines Geldbeutels alles gehört und der alle Wesen und Gegenstände nur nach ihrem Werte und nach ihrem Nutzen taxiert, und er erklärte in kaltem Ton:

– Gut Herr Doktor sei es, aber ich wünsche nur, daß dieser Schritt auf Ihre Laufbahn nicht einen bösen Einfluß hat, wir werden in der That sehen, wer von uns beiden bei Ihrem Entschluß den Kürzeren zieht.

Der beleidigte Arzt erhob sich und grüßte mit größter Höflichkeit:

– Das werde wohl ich sein, ich zweifle gar nicht daran, es ist mir selber peinlich, was ich heute zu thun genötigt gewesen bin, in jeder Hinsicht, aber ich bin nie im Zweifel zwischen meinem Vorteil und meinem Gewissen!

Und er ging hinaus.

Als er über die Schwelle trat, stieß er fast mit dem Marquis zusammen, der eben mit einem Brief in der Hand hereinkam, und sobald er mit seinem Schwiegersohn allein war, rief er:

– Hör mal, mein Lieber, da ist mir durch Deine Schuld eine sehr fatale Sache passiert. Doktor Bonnefille, der beleidigt ist, weil Du seinen Kollegen zu Christiane gerufen hast, schickt mir seine Liquidation mit sehr kurzen Worten, indem er mir mitteilt, daß ich auf seine Erfahrung nicht mehr zu zählen habe.

Nun wurde aber Andermatt wütend, er lief hin und her, ward ganz erregt beim Sprechen, gestikulierte in einem jener Wutausbrüche, die man gar nicht ernst nahm. Er schrie nur so: wer hatte denn nach allem überhaupt die Schuld, nur der Marquis, der diesen verdammten Esel von Bonnefille gerufen, ohne Andermatt davon ein Wort zu sagen, ihm, der Dank seinem Arzte in Paris den wirklichen Wert dieser drei Quacksalber von Enval genau kannte.

Und dann, hatte sich nicht der Marquis in Dinge gemischt, die ihn nichts angingen, indem er hinter dem Rücken des Mannes, der allein das Recht hatte, allein verantwortlich war für die Gesundheit seiner Frau, einen anderen konsultiert?

Es war immer und ewig dieselbe Geschichte, alle Menschen um ihn herum machten nur Unsinn, nur Unsinn, und er sagte es unausgesetzt, aber er predigte es in den Wind, niemand begriff ihn, niemand vertraute seiner Erfahrung, und die Leute wurden erst klug, wenn es zu spät war. Und er sagte immerfort »mein Arzt« und »meine Erfahrung« mit der Überzeugung eines Mannes, der allein die Fäden in der Hand hält.

Sein »mein« klang in seinem Munde wie Metall. Wenn er sagte: »meine Frau« fühlte man genau, daß der Marquis durchaus kein Anrecht mehr auf seine Tochter hatte, denn Andermatt hatte sie geheiratet, geheiratet und gekauft, was bei ihm etwa dasselbe bedeutete.

Als die Unterhaltung am lebhaftesten war, trat Gontran ein, setzte sich in einen Fauteuil, ein Lächeln auf den Lippen. Er sagte nichts, er hörte zu, es machte ihm einen riesigen Spaß. Als der Bankier schwieg, weil er keinen Atem mehr hatte, brüllte sein Schwager, indem er die Hand hob:

– Ich verlange das Wort! Jetzt schlage ich meinen Kandidaten vor, Doktor Honorat, den einzigen, der von dem Brunnen von Enval wirklich etwas versteht, er läßt ihn trinken, aber um keine Schätze der Welt würde er selbst einen Tropfen über die Lippen bringen. Darf ich ihn holen?

Das war die einzig mögliche Lösung, und man bat Gontran, ihn sofort kommen zu lassen. Der Marquis, der Befürchtungen hatte bei der Idee, seine Kur etwa ändern zu sollen, wollte augenblicklich die Ansicht dieses neuen Arztes hören, und Andermatt wünschte nicht weniger lebhaft, ihn Christianes wegen zu konsultieren.

Sie hatte durch die Thür hindurch zugehört, wie sie sprachen, aber sie begriff nicht, wovon sie redeten. Sobald ihr Mann gegangen, hatte sie das Bett verlassen, wie einen Ort, in dem sie nicht in Sicherheit war. Schnell zog sie sich an, ohne Mädchen, und all die Ereignisse schwammen ihr im Kopf herum, die ganze Welt erschien verändert um sie, alles war anders wie am Tage vorher, sogar die Menschen.

Andermatts Stimme tönte wieder laut:

– Ah, mein lieber Brétigny, wie geht es Ihnen?

Er sagte schon nicht mehr Herr. Eine andere Stimme antwortete:

– O sehr gut, mein lieber Andermatt. Sie sind heute früh angekommen?

Christiane, die gerade ihr Haar aufsteckte, hielt inne, atemlos, die Arme erhoben, sie meinte durch die Wand hindurch zu sehen, wie sie sich die Hände schüttelten, sie setzte sich, sie konnte nicht mehr stehen, und ihr Haar löste sich und rollte herab auf ihre Schultern.

Jetzt sprach Paul, und sie zitterte bei jedem Wort, das aus seinem Munde kam, vom Kopf bis zu den Füßen; jedes Wort, dessen Sinn sie nicht faßte, fiel in ihre Seele und klang in ihrem Herzen nach. Plötzlich sagte sie fast laut vor sich hin:

– Ich liebe ihn, ich liebe ihn!

Als ob sie etwas Neues festgestellt hätte, etwas ganz Überraschendes. Eine plötzliche Energie packte sie, in einer Sekunde wußte sie, was sie zu thun hatte, und sie begann sich weiter zu frisieren, indem sie murmelte:

– Ich habe einen Liebhaber, na, das ist alles! Ich habe einen Liebhaber!

Und um seiner noch sicherer zu werden und alle Angst von sich abzuwälzen, entschloß sie sich plötzlich, ihn wahnsinnig zu lieben, ihm ihr Leben, ihr Glück, alles zu opfern, wie es unglückliche Herzen thun, die sich reinwaschen durch Aufopferung und Hingebung. Und hinter der Wand, die sie trennte, warf sie ihm Kußhände zu, sie war sein, sie gehörte ihm ohne Hinterhalt, wie man sich einem Gotte weiht. Das so kokette und kluge Kind in ihr war plötzlich gewichen, die Frau war geboren, bereit für die Leidenschaft, die entschlossene, ernste Frau, die sich bis dahin nur durch die verhaltene Energie in ihren blauen Augen angekündigt, die ihrem blonden Gesicht einen reizenden, fast kecken Ausdruck gegeben.

Sie hörte die Thür öffnen und drehte sich nicht herum, sie erriet, ohne es zu sehen, daß ihr Mann kam, als ob ein neuer Sinn, wie ein Instinkt, in ihr plötzlich erschlossen wäre. Er fragte:

– Bist Du bald fertig? Wir wollen nachher den Krüppel baden sehen, wir müssen doch mal feststellen, ob er wirklich besser gehn kann.

Sie antwortete ganz ruhig:

– Ja, mein lieber Will, in fünf Minuten.

Aber Gontran, der in den Salon zurückgekehrt war, rief Andermatt.

– Denke Dir nur, – sagte er, – ich habe im Park den Ochsen, den Honorat getroffen, aber er weigert sich, gleichfalls aus Furcht vor den andern, euch zu behandeln. Er spricht von Rücksichten und dergleichen, kurz er ist ein Rindvieh wie seine beiden Kollegen, ich hätte nicht geglaubt, daß er ein solches Kamel wäre.

Der Marquis war ganz niedergeschmettert. Der Gedanke, die Kur ohne Arzt zu gebrauchen, fünf Minuten etwa länger zu baden, ein Glas weniger zu trinken, als er gemußt hätte, jagte ihm einen fürchterlichen Schrecken ein, denn er meinte, alle Dosen, alle Mischungen und alle verschiedenen Arten der Behandlung wären geordnet durch ein Gesetz der Natur, die sich der Kranken besonders erinnert, als sie die Mineralwasser hatte fließen lassen und deren geheimste Geheimnisse nur die Ärzte kannten, wie die Weisen oder begnadete Priester. Er rief:

– Da kann man ruhig sterben hier, krepieren wie ein Hund, ohne daß einer der Herren einen Finger rührt.

Und nun packte ihn die Wut, die egoistische Wut des Mannes, dessen Gesundheit bedroht ist:

– Haben sie überhaupt ein Recht dazu? Die Kerls müssen doch ihre Steuern zahlen wie jeder Krämer, man muß sie doch zwingen können, die Leute zu behandeln, so wie die Eisenbahnen Reisende aufnehmen müssen. Ich werde der Presse mal die ganze Geschichte mitteilen!

Er rannte lebhaft hin und her und sagte, indem er sich zu seinem Sohn wandte:

– Weißt Du was, man müßte einen aus Royat und Clermont kommen lassen, so kanns doch nicht bleiben.

Gontran antwortete lachend:

– O die in Clermont und Royat kennen die Brunnen in Enval nicht genau, denn die dortigen haben nicht genau dieselben Wirkungen auf die Verdauung und die Blutzirkulation. Und Du kannst gewiß sein, die kommen auch nicht, nur um nicht ihre Kollegen zu kränken.

Der Marquis stammelte ganz erschrocken:

– Ja aber was soll denn dann aus uns werden?

Andermatt nahm seinen Hut:

– Laßt mich nur machen. Ich gebe euch die Versicherung, heute abend haben wir sie alle drei, hört ihr: alle drei liegen sie vor uns auf den Knieen. Nun aber wollen wir mal zu dem Krüppel gehen.

Er rief:

– Bist Du fertig, Christiane?

Sie erschien in der Thür, sehr bleich, mit entschlossener Miene und nachdem sie ihren Vater und Bruder geküßt, wandte sie sich zu Paul und streckte ihm die Hand entgegen, er nahm sie und schlug die Augen zu Boden. Als der Marquis, Andermatt und Gontran scherzend und schwatzend, ohne sich um die beiden zu kümmern, davongingen, sagte sie mit fester Stimme, indem sie den jungen Mann zärtlich und entschlossen ansah:

– Ich gehöre Ihnen, Körper und Seele. Sie können mit mir machen was Sie wollen!

Dann ging sie hinaus, ohne ihm Zeit zu einer Antwort zu lassen.

Als sie sich der Wohnung des alten Oriol näherten, gewahrten sie wie einen riesigen Champignon den Hut des alten Clovis, der im Sonnenschein schlummerte in dem warmen Wasser, tief in seinem Loch. Er brachte jetzt den ganzen Tag darin zu, er war das glühende Bad gewohnt.

Andermatt weckte ihn auf:

– Nun mein Alter geht's besser?

Als er seinen Geldgeber erkannte, grinste der Kerl vor Vergnügen:

– Nu, es geht schon, es geht.

– Können Sie schon gehen?

– Wie'n Karnickel, gnädger Herr, wie'n Karnickel! Nächsten Ersten loofe ich wie'n Wiesel!

Andermatts Herz klopfte, er fragte:

– Können Sie wirklich gehen?

Der alte Clovis scherzte nicht mehr:

– Nich gerade sehr, nich gerade sehr, aber 's geht schon!

Da wollte der Bankier sofort sehen, wie der Landstreicher ging. Er lief um das Loch herum, ganz erregt und gab Befehle:

– Gontran nimm ihn mal beim rechten Arm, Brétigny Sie links, ich werde ihn in der Mitte packen, so und nun eins, zwei, drei! Lieber Papa, zieh Du mal das Bein heraus, nein das andere, das ist besser, aber schnell, bitte, ich kann nicht mehr halten. Eins, zwei, drei da ist er! Uff!

Sie hatten den Kerl auf die Erde gesetzt, der sich furchtbar anstellte, ohne ihnen irgendwie behilflich zu sein, dann hob man ihn hoch, stellte ihn auf die Beine, gab ihm seine Krücken, deren er sich wie Stöcke bediente und er begann zu gehen. Er bewegte sich wie eine Schnecke und ließ hinter sich eine lange Wasserstraße auf dem weißen Staub der Chaussee.

Andermatt war ganz begeistert, klatschte in die Hände und rief wie in einem Theater, wenn man die Schauspieler herausruft:

– Bravo! Bravo! Ausgezeichnet, bravo!

Als dann der Alte nicht mehr zu können schien, stürzte er hinzu, um ihn zu halten, nahm ihn in die Arme, obgleich seine Lumpen nur so trieften und sagte:

– Na nun ist's genug, machen Sie sich nicht müde, nun kommen Sie wieder ins Bad.

Und der alte Clovis wurde von den Männern, die ihn bei allen vier Gliedern gepackt hatten und ihn sorgsam trugen, wie einen köstlichen, zerbrechlichen Gegenstand, wieder in das Loch gesteckt.

Dann erklärte der Gelähmte überzeugt:

– Das Wasser is ganz gut, scheenes Wasser, so eens giebts nich wieder, das is mal was wert, so ä Wasser!

Andermatt wandte sich plötzlich zu seinem Schwiegervater:

– Erwartet mich nicht zum Frühstück, ich werde zu Oriols gehen und ich weiß nicht, wann ich fertig werde, sowas muß man nicht hinziehen.

Damit ging er eilig davon. Die andern setzten sich unter die Weiden an der Landstraße, dem Loch des alten Clovis gegenüber. Christiane hatte neben Paul Platz genommen und blickte auf den Hügel, von dem aus sie den Fels hatten sprengen sehen. Dort oben hatten sie vor kaum vier Wochen gestanden, dort hatten sie auf dem rotbraunen Gras vor einem Monat, nur einem Monat gesessen. Sie erinnerte sich der Scene, der tricolorefarbenen Sonnenschirme, des Küchenpersonals, alles dessen, was jeder gesagt und des Hundes, des armen Hundes, der bei der Explosion zerfetzt worden und dann jenes jungen Mannes, den sie noch nicht kannte, der nur auf ein Wort von ihr hingestürzt, um das Tier zu retten.

Und heute war er ihr Liebhaber! Ihr Liebhaber, sie hatte also einen Liebhaber! Sie war seine Geliebte. Seine Geliebte! Im Innern ihrer Seele wiederholte sie sich das Wort: seine Geliebte! Welch' seltsames Wort! Dieser Mann, der neben ihr saß, dessen Hand sie sah, wie sie nacheinander einzelne Grashalme neben ihrem Kleid abriß, das er dabei zu berühren suchte, dieser Mann war nun an ihr Fleisch und an ihr Herz gekettet, durch jene uneingestandene, schmachvolle, geheimnisvolle Fessel, durch die die Natur Mann und Frau zusammen geknüpft hat.

Mit ihrer inneren Stimme, dieser stummen Stimme, die so laut im Schweigen der verwirrten Seelen zu sprechen scheint, sagte sie sich unausgesetzt:

– Ich bin seine Geliebte! Seine Geliebte! Seine Geliebte!

Sie sah ihn jäh an, ihre Augen begegneten sich, und sie fühlte sich durch den Blick, mit dem er sie anschaute, so bewegt, daß sie zitterte vom Kopf bis zu den Füßen. Sie hatte Lust jetzt, eine wahnsinnige, unwiderstehliche Lust, diese Hand zu nehmen, die da im Grase spielte und sie stark zu drücken, um ihm damit alles, alles zu sagen, was man mit einer Umarmung sagen kann.

Sie ließ ihre Hand langsam am Kleide bis auf den Rasen niedergleiten und dort ließ sie sie lange unbeweglich halb geöffnet ruhen. Da sah sie die andere sich nähern, ganz langsam wie ein verliebtes Tier, das die Gefährtin sucht, sie kam ihr ganz nahe, ganz nahe, und die kleinen Finger ihrer Hände berührten sich. Sie trafen sich bloß leise an den Fingerspitzen, kaum merklich, irrten auseinander und fügten sich wieder zusammen wie ein Paar Lippen, die sich küssen.

Aber diese linde Berührung, diese winzige Zärtlichkeit durchzuckte sie so heftig, daß sie meinte, ihr vergingen die Sinne wie wenn er sie wieder in seine Arme gepreßt hätte. Und sie begriff plötzlich, wie man jemandem angehören, wie man nichts mehr ist unter dem Bann einer Liebe, die in einem lebt, wie ein Wesen uns packt, Leib und Seele, Fleisch, Gedanken, Willen, Blut, Nerven, alles, alles was in uns ist, wie ein großer Raubvogel mit weit geöffneten Fängen, der auf ein kleines Tier niederstößt.

Der Marquis und Gontran sprachen von dem zukünftigen Badeort, auch sie hatte Wills Enthusiasmus gepackt. Sie lobten die Klugheit seiner Gedanken, seine Art zu spekulieren, die Keckheit an allem, was er unternahm, und die Zuverlässigkeit seines Charakters. Schwiegervater und Schwager waren angesichts des kommenden Erfolges, den sie ganz sicher wähnten, sehr angeregt und freuten sich über diese Verbindung. Christiane und Paul schienen nichts davon zu hören, ganz mit einander beschäftigt. Der Marquis sagte zu seiner Tochter:

– Nun, Kleine, Du kannst sehr wohl einmal eine der reichsten Frauen von Frankreich werden, und man wird von Dir sprechen, wie von den Rothschilds. Will ist wirklich ein ausgezeichneter Mensch, eine enorme Intelligenz.

Aber eine plötzliche seltsame Eifersucht überkam da Paul, und er sagte:

– Die Intelligenz von den Geschäftsleuten kenne ich, sie haben nur eins im Kopfe: Geld! Alle Gedanken, die wir an die schönen Dingen dieser Welt verschwenden, alles was wir für unsere Launen thun, alle Stunden, die wir unserer Zerstreuung opfern, alle Kraft und Macht, die uns die Liebe raubt, die köstliche Liebe, die gebrauchen sie, um Geld zu suchen, um an Geld zu denken und Geld zusammenzuraffen.

Der wirklich intelligente Mann lebt vor allem für die großen Ideale, die Künste, die Liebe, die Wissenschaft, Reisen, Bücher, und wenn sein Sinn nach Geld steht, so ist es, weil das die wahre Freude des Geistes und auch wohl das Glück der Herzen erleichtert. Aber die, die nichts im Kopf und nichts in ihrem Herzen haben, als Schacher- Geschäfte, sie haben mit bedeutenden Männern nur eine gewisse Ähnlichkeit, wie etwa ein Bilderhändler etwas von einem Maler, wie der Verleger etwas von einem Schriftsteller, wie der Theater-Direktor etwas von einem Bühnendichter hat.

Er schwieg plötzlich, er fühlte, er hatte sich hinreißen lassen und fügte mit ruhiger Stimme hinzu:

– Ich sage das nicht gerade von Andermatt, der ein reizender Mann ist, ich habe ihn sehr gern, denn er ist allen andern hundertfach überlegen.

Christiane hatte ihre Hand zurückgezogen. Paul hörte wieder auf zu sprechen. Gontran fing an zu lachen und sagte in seiner boshaften Art, mit der er alles sagen durfte, wenn er aufgelegt war:

– Nun jedenfalls, lieber Freund, haben diese Leute einen seltenen Vorzug: sie heiraten unsere Schwestern und haben reiche Töchter, die wir heimführen!

Der Marquis erhob sich verletzt:

– Gontran, Du bist manchmal unglaublich!

Da sagte Paul und wandte sich an Christiane:

– Könnten diese Leute wohl sterben für eine Frau, oder selbst Ihr ganzes Vermögen ihr opfern, ihr ganzes, ohne irgend etwas zurückzubehalten?

Das hieß offen und klar: Alles was ich besitze, gehört Dir und wäre es mein Leben! Sie war gerührt davon und gebrauchte die List, nach seiner Hand zu greifen, indem sie rief:

– Stehen Sie auf und helfen Sie mir! Ich bin so müde vom Sitzen, daß ich mich nicht bewegen kann.

Er nahm ihre Hände, zog sie empor, daß sie am Rand der Chaussee dicht neben ihm stand. Sie sah, wie sein Mund stammelte:

– Ich liebe Dich!

Aber sie wandte sich schnell ab, um ihm nicht auch die drei Worte zu antworten, die ihr unwillkürlich auf die Lippen kamen.

Sie kehrten ins Hotel zurück. Die Badezeit war vorüber, die Frühstücksstunde nahte, aber Andermatt kam nicht. Nachdem die Gesellschaft noch etwas im Park spazieren gegangen war, entschloß man sich, ohne ihn zu Tisch zu gehen.

Das Frühstück, obgleich es lange genug dauerte, ging zu Ende, ohne daß der Bankier erschienen wäre. Nun kehrte man wieder in den Park zurück, um sich unter die Bäume zu setzen. Eine Stunde verging nach der andern, die Sonne sank unter dem Blätterdach den Bergen zu, der Tag verstrich, Will erschien nicht.

Plötzlich gewahrte man ihn; er kam schnell gegangen, den Hut in der Hand, indem er sich die Stirn wischte. Die Kravatte war ihm verrutscht, die Weste offen, als käme er von einer Reise, als hätte er einen furchtbaren, langen Kampf bestanden. Sobald er seinen Schwiegervater sah, rief er:

– Sieg! Es ist fertig! Aber das war ein Tag! Donnerwetter, der alte Fuchs war nicht herumzukriegen!

Und sofort erklärte er alles, was er ausgerichtet und wieviel Mühe es ihn gekostet. Der alte Oriol war zuerst so unvernünftig, daß Andermatt die Unterhandlung abgebrochen und sich entfernt hatte. Dann aber hatte man ihn zurückgerufen. Der Bauer behauptete, er könne seine Liegenschaften nicht verkaufen, aber er würde mit ihnen in die Gesellschaft eintreten, mit dem Recht, sie, im Falle die Sache nicht glückte, zurückzunehmen; im Falle des Erfolges aber verlangte er die Hälfte des Gewinns.

Der Bankier hatte ihm mit Zahlen und Zeichnungen die Lage des Grund und Bodens dargestellt und bewiesen, daß die Felder augenblicklich alle zusammen nicht mehr als achtzigtausend Francs wert wären, während die Auslagen der Gesellschaft sich sofort auf eine Million belaufen würden.

Aber der Auvergnat hatte geantwortet, daß er von dem Riesen-Mehrwert, den durch die Gründung des Bades sein Grund und Boden erhielte, profitieren wolle und nicht den früheren Wert, sondern den unter diesen Umständen eingetretenen einsetzen müsse.

Da hatte ihm Andermatt vorgestellt, daß das Risiko im Verhältnis zum möglichen Gewinn zu stehen habe und ihn durch die Furcht vor einem möglichen großen Verluste ins Bockshorn gejagt. Dabei war es denn geblieben. Der alte Oriol übergab der Gesellschaft all seinen Grund und Boden am Bach, das heißt all die Grundstücke, wo es möglich zu sein schien, Mineralwasser zu finden, dann den Gipfel des Hügels, um dort ein Kasino und ein Hotel zu bauen und ein Paar Weinberge auf dem Abhang, die in Parzellen geteilt und den bekanntesten Ärzten von Paris angeboten werden sollten. Hierfür würde der Bauer zweihundertfünfzigtausend Francs, etwa den viermaligen thatsächlichen augenblicklichen Wert erhalten und zu einem Viertel an den Einnahmen der Gesellschaft teilnehmen.

Und da er zehnmal mehr Grund und Boden noch zurückbehielt, als er der Gesellschaft gab, rings um das zu errichtende Bad, konnte er gewiß sein, daß, falls die Sache glückte, er ein Riesen-Vermögen machen würde, wenn er geschickt seine Grundstücke verkaufte, die, wie er übrigens sagte, die Mitgift seiner Töchter ausmachten.

Sobald diese Bedingungen festgesetzt waren, hatte Will Oriol Vater und Sohn zum Notar schleppen und ein Verkaufsversprechen aufsetzen müssen, das rückgängig zu machen war, für den Fall, daß man das nötige Wasser nicht fände. Und die Festsetzung des Wortlautes, das Schachern um jeden einzelnen Punkt, die fortwährende Wiederholung derselben Gründe, das ewige Wiederkäuen aller der Abmachungen hatte den ganzen Nachmittag in Anspruch genommen. Nun war es zu Ende, der Bankier hatte das Bad, und er sagte, indem ihn ein wenig das Bedauern quälte:

– Ich muß mich also mit dem Bade begnügen, und kann keine Terrain-Spekulationen machen; oh, der alte Kerl ist gerissen!

Dann fügte er hinzu:

– Ach was, ich werde die frühere Gesellschaft aufkaufen und damit kann ich spekulieren. Jedenfalls muß ich heute abend noch nach Paris.

Der Marquis war baff und rief:

– Was, heute abend?

– Ja gewiß, lieber Papa, um den definitiven Abschluß vorzubereiten, während Herr Aubry-Pasteur die Bohrungen vornimmt; ich muß auch alles fertig stellen, um in vierzehn Tagen schon mit der Arbeit zu beginnen, ich habe keine Stunde zu verlieren.

Bei der Gelegenheit möchte ich Dir gleich mitteilen, daß Du im Aufsichtsrat sitzest, in dem ich eine starke Majorität brauche. Ich verehre Dir zehn Aktien und Dir, Gontran, auch zehn.

Gontran begann zu lachen:

– Danke sehr, mein Lieber, ich verkaufe sie Dir wieder, Du bist mir also fünftausend Francs schuldig.

Aber Andermatt scherzte nicht mehr bei so ernsten Geschäften und sagte trocken:

– Wenn Du die Sache nicht ernst auffaßt, werde ich einen andern nehmen.

Da hörte Gontran auf zu lachen:

– Nein, nein, mein Alter, nein, nein, Du weißt ja daß ich alles thue, was Du willst.

Der Bankier wandte sich zu Paul:

– Mein lieber Herr Brétigny wollen Sie mir einen Freundschaftsdienst leisten und auch zehn Aktien mit dem Titel Administrator annehmen?

Paul verbeugte sich und antwortete:

– Wenn Sie erlauben, werde ich Ihren liebenswürdigen Vorschlag nicht annehmen, aber ich halte Ihr Geschäft für ausgezeichnet und stelle Ihnen hunderttausend Francs dafür zur Verfügung, also ich bin in Ihrer Schuld.

William war sehr erfreut und streckte ihm die Hände entgegen. Dieses Vertrauen hatte ihn ganz gewonnen. Augenblicklich empfand er ein unwiderstehliches Bedürfnis, alle Leute zu umarmen, die ihm Geld für seine Unternehmungen gaben.

Christiane aber errötete bis zu den Schläfen, sie war empört, abgekühlt, ihr schien, als hätte man sie eben verkauft und gekauft. Hätte Paul wohl, wenn er sie nicht liebte, hunderttausend Francs ihrem Manne angeboten? Nein, gewiß nicht! Wenigstens hätte er die ganze Sache nicht in ihrer Gegenwart verhandeln dürfen.

Es wurde zum Essen geklingelt, sie gingen ins Hotel und sobald man bei Tisch saß, fragte die Mutter Paille Andermatt:

– Sie werden also ein anderes Bad gründen?

Die Nachricht hatte schon die ganze Gegend durchlaufen, alle Welt wußte es, und es brachte die Badegäste in Aufregung.

William antwortete:

– Mein Gott ja, das jetzige Bad ist wirklich ganz unzulänglich.

Und er wandte sich zu Aubry-Pasteur:

– Entschuldigen Sie, wenn ich bei Tisch über etwas rede, was ich mit Ihnen eigentlich nachher besprechen wollte, aber ich muß heute abend nach Paris und habe gar keine Zeit: würden Sie eventuell die Liebenswürdigkeit haben, die Leitung der Bohrarbeiten zu übernehmen, um die genügende Menge Wasser zu finden?

Der geschmeichelte Ingenieur nahm an, und bei allgemeinem Stillschweigen wurden alle Haupt-Punkte dieser Bohrungen, die sofort beginnen sollten, festgestellt. Alles wurde besprochen in wenigen Minuten, mit der Kürze und Entschlossenheit, die Andermatt bei allen Geschäften zeigte.

Dann redete man über den Gelähmten, man hatte ihn nachmittags durch den Park gehen sehen mit einem Stock, während er am Morgen dieses Tages noch zwei gebraucht.

Der Bankier sagte:

– Es ist ein wirkliches Wunder, seine Heilung geht mit Riesenschritten vorwärts.

Paul antwortete, um dem Gatten eine Freude zu machen:

– Nein, der alte Clovis selbst geht mit Riesenschritten.

Ein beifälliges Gemurmel machte sich am Tisch bemerkbar, alle Augen richteten sich auf Will, alle gratulierten ihm; die Kellner hatten angefangen ihm zuerst zu servieren, mit respektvoller Hochachtung, die von ihren Gesichtern und aus ihrer Haltung sofort verschwand, sobald sie die Speisen seinem Nachbar anboten.

Einer brachte ihm eine Karte auf einem Teller. Er nahm sie und las halblaut:

»Doktor Latonne aus Paris würde sich freuen, wenn Herr Andermatt ihm vor seiner Abreise nach Paris Gelegenheit geben wollte, ihn einen Augenblick zu sprechen.«

– Antworten Sie, ich hätte keine Zeit, aber ich würde in acht bis zehn Tagen wiederkommen.

In demselben Augenblick brachte man Christiane einen großen Blumenstrauß von Doktor Honorat.

Gontran lachte:

– Na, der alte Bonnefille landet als schlechter Dritter.

Das Essen neigte sich dem Ende zu; man meldete Andermatt, daß sein Wagen warte, und er ging in sein Zimmer, um seine Reisetasche zu holen. Als er herunterkam, fand er die Hälfte der Dorf-Bewohner vor der Thür versammelt. Petrus Martel drückte ihm mit der Familiarität eines Mimen die Hand und flüsterte ihm ins Ohr:

– Ich habe Ihnen einen Plan zu unterbreiten, etwas Großartiges für Ihr Unternehmen.

Da erschien plötzlich Doktor Bonnefille, eilig wie immer, kam ganz nahe an Will vorbei, zog sehr tief seinen Hut, wie er es beim Marquis immer that, und sagte:

– Glückliche Reise, Herr Baron!

– Ach wie rührend! – meinte Gontran.

Andermatt triumphierte, er strahlte vor Glück und Ehrgeiz, drückte allen Leuten die Hände, dankte und rief:

– Auf Wiedersehen!

Und er dachte so sehr an andere Sachen, daß er beinahe vergessen hätte seine Frau zu umarmen. Diese Gleichgiltigkeit war ihr eine Erleichterung, und als sie den Wagen auf der dunkelnden Straße davonrollen sah, im langen Trabe, von den beiden Pferden gezogen, schien es ihr, als hätte sie für den Rest ihres Lebens von niemandem mehr etwas zu befürchten.

Sie verbrachte den ganzen Abend vor dem Hotel sitzend zwischen ihrem Vater und Paul Brétigny. Gontran war ins Kasino gegangen, wie er es täglich that. Sie wollte weder spazieren gehen noch sprechen und blieb unbeweglich sitzen, die Hände über den Knieen gefaltet, die Blicke in die Dunkelheit hinaus gewendet, müde und ein wenig unruhig, aber doch glücklich. Sie dachte kaum, sie träumte nicht einmal. Ab und zu kämpfte sie gegen unbestimmte Gewissensbisse, die sie aber wieder zurückstieß, indem sie sich immer sagte: »Ich liebe ihn! Ich liebe ihn! Ich liebe ihn!«

Zeitig suchte sie ihr Zimmer auf, um allein zu sein, und zu träumen. Sie saß in einem Lehnstuhl, von ihrem weiten Frisiermantel umhüllt und betrachtete durch das offene Fenster die Sterne, und in dem Rahmen dieses Fensters erschien ihr alle Augenblicke das Bild dessen, der sie in Fesseln geschlagen. Sie sah ihn gut, weich, heftig, so stark und doch so schwach vor ihr. Dieser Mann hatte sie gefangen, das fühlte sie, gefangen für immer.

Sie war nicht mehr allein, sie waren jetzt zwei, deren zwei Herzen nur noch eins bildeten, deren zwei Seelen nur noch eine Seele waren. Wo war er? Sie wußte es nicht, aber eins wußte sie, daß er von ihr träumte, wie sie an ihn dachte.

Bei jedem Klopfen ihres Herzens war es ihr, als hörte sie ein anderes pochen, das ihr antwortete. Sie fühlte um sich einen Wunsch irren, der sie streifte wie der Fittig eines Vogels. Sie fühlte ihn eindringen durch dieses offene Fenster, diesen Wunsch, der von ihm kam, diesen glühenden Wunsch, der sie aufsuchte, der zu ihr flehte in der Stille der Nacht.

Wie süß, wie schön, geliebt zu sein, welches Glück, an jemand zu denken mit Thränen in den Augen, weinen zu können, vor Zärtlichkeit und in dem Bedürfnis, die Arme zu öffnen, selbst ohne ihn zu sehen, ihn zu rufen, die Arme entgegenzustrecken seinem vor ihr aufsteigenden Bild, seinem Kuß, den er ihr unausgesetzt zuwarf von weit oder von nah, im Fieber seiner Sehnsucht.

Und sie streckte die beiden weißen Arme aus den Ärmeln des Frisiermantels zu den Sternen empor. Plötzlich stieß sie einen Schrei aus, ein großer schwarzer Schatten war über ihren Balkon gestrichen und durch das Fenster eingestiegen.

Erschrocken richtete sie sich auf – – er war es. Und ohne selbst zu überlegen, daß man sie vielleicht sehen konnte, warf sie sich an seine Brust.

 


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