Guy de Maupassant
Ein Menschenleben
Guy de Maupassant

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIII

Zwei Stunden später hielt der Wagen vor einem kleinen Ziegelhaus, das mitten in einem von Birnbäumen bestandenen Obstgarten lag, dicht an der Chaussee.

Vier Lauben, aus Lattenwerk mit Jelänger-Jelieber überwachsen, bildeten die vier Ecken des Gartens, der aus kleinen Gemüsebeeten bestand, die durch schmale, von Obstbäumen eingefaßte Wege von einander getrennt waren.

Eine hohe, lebende Hecke lief rings um die Besitzung, die ein Acker vom nächsten Bauernhaus trennte. Hundert Schritte weiter an der Straße lag eine Schmiede, sonst waren die nächsten Wohnhäuser einen Kilometer entfernt. Rund herum konnte man die ganze Ebene von Caux übersehen, übersäet mit Bauernhöfen, die jeder von vier doppelten Reihen von Bäumen umgeben.

Sobald Johanna angekommen war, wollte sie sich ausruhen, aber Rosalie erlaubte es ihr nicht, in der Befürchtung sie möchte sich trüben Gedanken hingeben. Der Tischler von Goderville war zur ersten Einrichtung gekommen und man begann sofort die bereits hergeschafften Möbel an Ort und Stelle zu tragen, während man auf den letzten Wagen noch wartete, der bald eintreffen mußte.

Es war eine große Arbeit, die lange Überlegung und langes Hin- und Herreden erforderte.

Nach einer Stunde erschien endlich der Wagen am Thor und mußte in strömendem Regen ausgeladen werden. Als es Abend ward, sah es fürchterlich im Hause aus, da man die Möbel und abgeladenen Gegenstände wo gerade Platz war aus der Hand gestellt hatte. Sobald Johanna im Bett lag, schlief sie erschöpft ein.

Die folgenden Tage hatte sie keine Zeit, weich zu werden, denn es gab viel zu thun. Sie fand sogar ein gewisses Vergnügen daran, ihr neues Haus hübsch einzurichten, immer in Gedanken daran, daß ihr Sohn doch einmal herkommen würde. Die Gobelins aus ihrem ehemaligen Schlafzimmer wurden im Eßzimmer aufgespannt, das zugleich als Salon diente. Sie gab sich besondere Mühe, eines der beiden im ersten Stock liegenden Zimmer, das sie in Gedanken »Pullchens Stube« nannte, gemütlich zu machen.

Das zweite behielt sie für sich. Rosalie wohnte darüber im Dachgeschoß.

Das kleine, sorgsam wohnlich gemachte Haus war sehr nett, und in der ersten Zeit gefiel es Johanna darin, obgleich ihr etwas fehlte, sie war sich nur nicht klar was.

Eines Tages brachte ihr der Bureauchef des Notars von Fécamp dreitausendsechshundert Franken als Preis für die in Les Peuples gelassenen Möbel, die von einem Tapezierer taxiert worden waren.

Als sie das Geld bekam, freute sie sich innig, und sobald der Mann fort war, setzte sie schnell den Hut auf, da sie Paul diese Summe, auf die sie gar nicht gerechnet, schicken wollte.

Aber wie sie die Chaussee nach Goderville hinabeilte, begegnete ihr Rosalie, die vom Markt kam. Die Dienerin schöpfte Verdacht, obwohl sie zuerst nicht wußte warum, aber als sie entdeckte, um was es sich handelte, – denn Johanna konnte ihr nichts mehr verbergen, – setzte sie ihren Korb zu Boden, um nach Herzenslust sich auszuschimpfen. Die Hände in die Seite gestemmt, schrie sie sie an, dann packte sie ihre Herrin beim Arm, nahm ihren Korb und begann sie nach Hause zu schaffen.

Sobald sie heimgekehrt waren, verlangte das Mädchen das Geld. Johanna gab es, behielt aber sechshundert Franken; doch die mißtrauische Dienerin kam bald dahinter und ließ sich alles ausliefern. Endlich aber erlaubte Rosalie, daß dieser Überschuß dem jungen Mann geschickt würde.

Nach ein Paar Tagen dankte er:

»Du hast mir einen großen Dienst geleistet, liebe Mama, denn wir waren im tiefsten Elend.«

Johanna konnte sich nicht in Batteville eingewöhnen, immer schien es ihr, als atme sie nicht mehr wie früher, als wäre sie noch verlassener, noch mehr allein, verloren im Leben. Sie ging spazieren nach dem Weiler Berneuil, kam über Les Trois-Mares zurück und nachdem sie heimgekehrt, stand sie wieder auf, vom Wunsche getrieben, abermals fortzugehen, als hätte sie vergessen, sich gerade dorthin zu begeben, wohin sie gewollt.

Und täglich begann das von neuem, obgleich sie den Grund dieser seltsamen Unruhe nicht begriff. Eines Abends kam ihr unwillkürlich ein Wort auf die Lippen, das ihr Klarheit brachte. Als sie sich zum Essen setzten, sagte sie:

– Ich möchte das Meer einmal sehen.

Was ihr so sehr fehlte, war das Meer, ihr gewaltiger Nachbar seit fünfundzwanzig Jahren, das Meer mit der Salzluft, seiner Wut und Empörung, seiner grollenden Stimme, seinen mächtigen Stürmen, das Meer, das sie in Les Peuples jeden Morgen von ihrem Fenster aus gesehen, das sie Tag und Nacht eingeatmet, das sie in ihrer Nähe gefühlt, das sie liebte wie ein menschliches Wesen, ohne es selbst zu wissen.

Massacre war immer in großer Erregung. Er hatte sich, schon am Abend ihrer Ankunft, unter das Topfbrett in der Küche gelegt, und es war nun unmöglich, ihn von dort fort zu bringen.

Beinahe unbeweglich lag er da den ganzen Tag, kaum ab und zu mit dumpfem Knurren sich umwendend. Aber sobald die Nacht kam, stand er auf und schleppte sich bis zur Gartenthür, sich an den Wänden entlang schiebend. Nachdem er dann draußen die paar Minuten zugebracht, die er brauchte, kam er wieder herein, legte sich an den noch warmen Herd, und sobald seine beiden Herrinnen zu Bett gegangen waren, fing er an zu heulen.

So heulte er die ganze Nacht hindurch, mit Mark und Bein erschütternder Klage; manchmal schwieg er eine Stunde, dann ging es desto verzweifelter weiter. Da ward er vor dem Hause in einer Tonne angebunden, und nun heulte er unter dem Fenster.

Nun nahmen sie ihn, da er krank war und doch bald sterben würde, wieder in die Küche.

Johanna, die das alte Tier immerfort stöhnen und unausgesetzt kratzen hörte, indem es sich im neuen Hause zurecht zu finden suchte, da es wohl begriff, daß es nicht mehr daheim war, konnte nachts kein Auge mehr zuthun.

Nichts vermochte das Tier zu beruhigen. Den Tag über lag es ruhig, als ob seine erloschenen Augen, das Bewußtsein seiner Hilflosigkeit, ihn daran hinderten, sich zu bewegen, wie alle Wesen, die leben und sich rühren. Sobald es aber Nacht ward, fing er an, ununterbrochen hin und her zu wandern, als wagte er nur noch zu leben und sich zu bewegen in der Dunkelheit, die alle blind macht.

Eines Morgens fand man ihn tot, das war für Herrin und Dienerin eine große Erleichterung.

Der Winter rückte vor, und Johanna beschlich eine unwiderstehliche Verzweiflung, nicht nur über jene bittern Schmerzen, die die Seele zu peinigen scheinen, sondern eine tiefe, lähmende Traurigkeit.

Keine Zerstreuung rüttelte sie auf, niemand kümmerte sich um sie. Die Chaussee vor ihrer Thür erstreckte sich nach rechts wie nach links leblos dahin. Ab und zu kam im Trab ein Wagen vorüber, von einem Mann gelenkt mit rotem Gesicht, dessen Bluse der Wind blähte, sodaß sie aussah wie ein blauer Ballon, dann wieder ein Lastwagen, oder man sah von weitem zwei Bauersleute kommen, Mann und Frau, zuerst ganz klein in der Ferne, dann wachsend, um endlich, wenn sie am Hause vorübergekommen, wieder an Größe abzunehmen, und drüben am Ende des weißen Bandes, das sich hinauf, hinab, den weichen Bodenwellen folgend dahinstreckte, so klein zu werden wie zwei Insekten.

 

Als das Gras wieder wuchs, kam jeden Morgen am Zaun ein kleines Mädchen im kurzen Röckchen vorüber, und trieb zwei magere Kühe, die an der Chaussee längs des Grabens grasten. Abends kam sie mit derselben verschlafenen Miene zurück, indem sie alle zehn Minuten hinter ihren Tieren einen Schritt vorwärts that.

Johanna träumte jede Nacht, daß sie noch in Les Peuples wohnte.

Dort war sie im Traum wie früher mit Papachen und Mutting, manchmal war auch Tante Lieschen dabei. Sie nahm all die vergessenen nun abgebrochenen Beschäftigungen wieder auf, es war ihr, als stützte sie ihre Mutter, die ihren Spaziergang in ihrer Allee machte, und bei jedem Erwachen mußte sie weinen.

Sie dachte immer an Paul und fragte sich, was er wohl triebe, wie er jetzt wohl aussähe, ob er an sie dächte, und zwischen den Bauerhöfen spazieren gehend, bewegte sie alle diese Gedanken im Kopf, die sie so quälten.

Vor allem aber litt sie an einer unstillbaren Eifersucht gegen diese unbekannte Frau, die ihr den Sohn geraubt. Nur dieser Haß hielt sie noch zurück, hinderte sie zu handeln, ihn aufzusuchen, sich ihn zu holen. Sie glaubte, seine Geliebte auf der Schwelle ihres Hauses stehen zu sehen und ihre Frage zu hören: »Was wollen Sie hier, Madam?« Ihr Mutterstolz empörte sich gegen die Möglichkeit einer solchen Begegnung, und der Stolz der Frau, die immer rein geblieben war, keine Schwächen gezeigt und sich keines Fehles schuldig gemacht hatte, versetzte sie in immer größere Verzweiflung über all diese Niedrigkeiten der Menschen um sie herum, die alle Schmutz und Gemeinheit der sinnlichen Liebe, welche die Herzen selbst feige macht, in Bann hält. Die ganze Menschheit schien ihr unrein, wenn sie an alle schmutzigen Geheimnisse der Sinne dachte, an die Zärtlichkeiten, die erniedrigen, an alle Geheimnisse, die sie bei diesem ewigen Umschlingen verrieten.

Frühling und Sommer ging vorüber, aber als der Herbst wiederkam mit seinen langen Regengüssen, dem grauen Himmel und den dunklen Wolken, ergriff sie ein solcher Ekel über ihr Dasein, daß sie beschloß, einen großen Versuch zu unternehmen, um ihr Pullchen wiederzugewinnen.

Jetzt mußte doch die Leidenschaft des jungen Mannes nachgelassen haben. Sie schrieb ihm einen tiefbetrübten Brief:

»Mein liebes Kind! Ich flehe Dich an, kehre zurück, um alles in der Welt. Denke doch daran, daß ich alt und krank und das ganze lange Jahr hindurch mit einer Dienerin allein bin. Ich wohne jetzt in einem kleinen Häuschen an der Landstraße, es ist sehr traurig hier, wenn Du aber bei mir wärest, würde alles anders sein. Ich habe nur Dich auf der Welt und habe Dich seit sieben Jahren nicht gesehen. Du kannst gar nicht ahnen, wie unglücklich ich gewesen bin und wie Du mein ganzes Glück warst. Du warst mein Leben, mein Traum, meine einzige Hoffnung, meine einzige Liebe, und Du fehlst mir, Du hast mich verlassen.

Ach komme doch wieder, mein kleines Pullchen, komm in meine Arme, die Dir verzweifelt entgegenstreckt

Deine alte Mutter.«

Er antwortete ein paar Tage darauf:

»Meine liebe Mama! Ich möchte Dich ja so gern sehen, aber ich habe keinen Pfennig Geld. Übrigens wollte ich Dich aufsuchen, um mit Dir über etwas zu sprechen, das mich in den Stand setzen würde, Dir Deine Wünsche zu erfüllen.

Die Selbstlosigkeit und Liebe derjenigen, die in den bösen Tagen, die ich durchkämpfen mußte, meine Gefährtin gewesen ist, bleibt immer dieselbe; ich darf nicht länger zögern, ihre Liebe und treue Zuneigung öffentlich anzuerkennen. Übrigens ist sie sehr gut erzogen, das wirst Du sehen, ist sehr gebildet und liest sehr viel. Kurz, Du kannst Dir nicht denken, was sie mir immer gewesen ist. Ich wäre ein Lump, wenn ich mich ihr nicht dankbar erzeigte. Ich bitte Dich also um die Erlaubnis, sie heiraten zu dürfen. Wenn Du mir alle meine dummen Streiche verzeihst, könnten wir zusammen in Deinem neuen Hause wohnen. Wenn Du sie kenntest, würdest Du sofort Deine Zustimmung geben. Ich versichere Dich, sie ist ein wundervolles Geschöpf und sehr vornehm. Du würdest sie lieb gewinnen, das weiß ich gewiß. Ich aber könnte ohne sie nicht leben. Ich bitte um Deine Antwort, meine liebe Mama, und wir umarmen Dich von Herzen.

Dein Sohn Paul von Lamare.«

Johanna war wie vernichtet. Sie blieb unbeweglich sitzen, den Brief auf den Knieen. Sie ahnte die List dieser Dirne, die immer ihren Sohn zurückgehalten hatte, die ihm nicht ein einziges Mal erlaubt zu kommen, gewiß, daß ihre Stunde einmal schlagen würde, die Stunde, wo die verzweifelte alte Mutter, dem Wunsche ihren Sohn zu umarmen, nicht mehr wiederstehen können, schwach werden und in alles einwilligen würde.

Und der tiefe Schmerz darüber, daß Paul dieses Geschöpf ihr beharrlich vorzog, zerriß ihr das Herz. Sie sagte sich:

– Er liebt mich nicht! Er liebt mich nicht!

Rosalie trat ein. Johanna stammelte:

– Jetzt will er sie heiraten.

Das Mädchen schrak zusammen:

– Nein, Frau Gräfin, das werden Sie nicht erlauben, Herr Paul darf dieses Weibsbild nicht heiraten.

Johanna antwortete schwach, aber ganz empört:

– Nein, das soll nie geschehen. Und da er nicht kommen will, werde ich zu ihm gehen. Wir wollen sehen, wer von uns beiden ihn gewinnen wird.

Sie schrieb sofort an Paul, ihm ihre Aukunft anzuzeigen und um ihn anderwärts zu sehen, als in der Wohnung, wo dieses Frauenzimmer hauste.

Dann traf sie, in Erwartung seiner Antwort, ihre Vorbereitungen. Rosalie begann in einen alten Koffer die Siebensachen ihrer Herrin einzupacken, aber als sie ein Kleid, ein altes bäurisches Kleid zusammenlegte, sagte sie:

– Aber Sie haben ja nichts anzuziehen, so lasse ich Sie nicht fort, so müssen Sie sich schämen, und die Damen in Paris würden Sie für ein Dienstmädchen halten.

Johanna ließ sie gewähren, und die Frauen gingen zusammen nach Goderville und suchten einen grünkarrierten Stoff aus, der einer Schneiderin im Ort anvertraut wurde. Dann gingen sie zum Notar, Herrn Roussel, der alljährlich einmal auf vierzehn Tage nach der Hauptstadt fuhr, und baten ihn um allerlei Auskünfte, denn Johanna hatte seit achtundzwanzig Jahren Paris nicht gesehen.

Er gab ihr eine Menge guter Ratschläge, wie sie sich vor dem Überfahrenwerden und vor Taschendieben hüten sollte, riet ihr, ihr Geld in die Kleider einzunähen und nur das Unentbehrlichste im Portemonnaie zu behalten. Dann sprach er lange über Restaurants mit mäßigen Preisen und nannte zwei oder drei, wo Damen allein hingehen konnten. Endlich riet er ihr, im Hotel Normandie abzusteigen, das unmittelbar am Bahnhof lag und wo sie sich auf ihn beziehen konnte, da er dort zu wohnen pflegte.

Seit sechs Jahren ging diese Eisenbahn, von der alle Welt sprach, zwischen Paris und Havre. Aber Johanna, die immer in ihrem Kummer dahin lebte, hatte solch einen Dampfwagen, der alle Verkehrsverhältnisse im Land auf den Kopf stellte, noch nicht gesehen.

Paul antwortete nicht. Sie wartete acht Tage, dann vierzehn Tage, ging jeden Tag auf der Landstraße dem Briefträger entgegen und fragte ihn mit zitternder Stimme:

– Haben Sie nichts für mich, Vater Mandalain?

Und der Mann antwortete mit seiner durch die Unbilden der Witterung immer heiseren Stimme:

– Nee, mei gutes Frauchen, heite hab 'ch nischt for Sie.

Wahrscheinlich verhinderte jene Person Paul, zu antworten.

Da entschloß sich Johanna, sofort abzureisen. Sie wollte Rosalie mitnehmen, aber die weigerte sich, um die Kosten der Reise nicht zu erhöhen, und ihre Herrin durfte nicht mehr als dreihundert Franken mitnehmen:

– Wenn Sie was brauchen, können Sie mir schreiben, und ich gehe zum Notar, daß er es Ihnen schickt; denn wenn ich Ihnen mehr mitgebe, schluckt es bloß Herr Paul.

An einem Dezembermorgen bestieg sie Denis Lecoq's Wagen, der sie abholte, um sie zum Bahnhof zu fahren. Rosalie begleitete sie bis hin.

Sie erkundigten sich erst, was die Billets kosteten. Als dann alles in Ordnung war, sie den Koffer aufgegeben hatten, warteten sie an den Eisenbahnschienen, die am Boden lagen, und suchten sich klar zu machen, wie das Ding wohl eigentlich ginge, und sie waren so mit diesem Wunder beschäftigt, daß sie an den traurigen Grund der Reise nicht mehr dachten.

Endlich klang in der Ferne ein Pfiff, sodaß sie den Kopf wandten, aber sie sahen nur die schwarze Maschine, die immer größer ward. Mit fürchterlichem Lärm kam sie daher und brauste an ihnen vorüber, eine lange Reihe kleiner, rollender Häuser hinter sich herziehend.

Der Schaffner öffnete eine Thür, Johanna küßte weinend Rosalie und stieg in eines der Abteile. Rosalie rief bewegt:

– Adieu, Frau Gräfin, glückliche Reise, auf Wiedersehen!

– Adieu Rosalie!

Es pfiff wieder, und die lange Wagenkette setzte sich in Bewegung, langsam, dann schneller, endlich mit rasender Geschwindigkeit.

In dem Abteil, in das Johanna gestiegen war, saßen zwei Herren, die schliefen.

Sie sah Bäume, Häuser, Dörfer vorüberschießen, ganz erschrocken über diese Geschwindigkeit, und fühlte sich in einer neuen Welt, die nicht mehr die ihre war, die Welt ihrer ruhigen Jugend, ihres eintönigen Daseins.

Der Zug lief in Paris ein, als es Abend war. Ein Gepäckträger nahm Johannas Koffer, und sie folgte ihm erschrocken, hin und her gestoßen, nicht gewöhnt sich in solcher Menschenmenge zu bewegen. Sie lief eilig hinter dem Manne her, da sie fürchtete, ihn zu verlieren.

Als sie im Hotel war, sagte sie sofort:

– Herr Roussel hat mich hierher empfohlen!

Die Besitzerin, eine dicke, ernst drein schauende Frau, saß in ihrem Bureau und fragte:

– Herr Roussel? Wer ist das?

Johanna antwortete ganz erschrocken:

– Aber der Notar von Goderville, der jedes Jahr bei Ihnen wohnt.

Die Dicke antwortete:

– Kann schon sein! Kenne ihn nicht. Wünschen Sie ein Zimmer?

– Jawohl!

Und der Kellner, der ihr das Handgepäck abgenommen hatte, ging vor ihr die Treppe hinauf.

Sie fühlte sich bedrückt, setzte sich an einen kleinen Tisch und bat, man möchte ihr eine Suppe und ein halbes Huhn zu essen bringen. Seit dem Morgen hatte sie nichts genossen.

Traurig saß sie bei dem Schein ihres Lichts und dachte an tausend Dinge. Sie erinnerte sich, wie sie durch diese selbe Stadt auf der Rückkehr von der Hochzeitsreise gekommen und wie bei Gelegenheit ihres Aufenthaltes in Paris die ersten Anzeichen von Julius' Charakter deutlich geworden. Doch damals war sie jung, tapfer und voll Vertrauen. Aber jetzt fühlte sie sich alt, befangen, selbst ängstlich, schwach und durch eine Kleinigkeit schon in Unruhe versetzt. Als sie mit Essen fertig war, setzte sie sich ans Fenster und blickte auf die menschenbelebte Straße hinab. Sie hatte Lust auszugehen, aber sie wagte es nicht, sie meinte, sie würde sich unrettbar verirren, so legte sie sich dann zu Bett und blies das Licht aus.

Aber der Lärm, das Gefühl in einer unbekannten Stadt zu sein und die Aufregung der Reise hielt sie wach. Die Stunden verstrichen, draußen auf der Straße ward es allmählich stiller, aber sie konnte nicht einschlafen, diese Halbruhe der Großstadt störte sie. Sie war an den tiefen Schlummer des Landes gewöhnt, der alles umfängt, Menschen, Tiere, wie die Natur, und jetzt fühlte sie um sich herum eine nervöse Unruhe. Sie hörte Stimmen, die sie nur undeutlich vernahm, als kämen sie aus den Mauern des Hotels.

Ab und zu krachte ein Möbel, eine Thür schloß sich, eine Glocke klang.

Plötzlich schrie gegen zwei Uhr morgens, als sie gerade anfing einzuschlafen, im Nebenzimmer eine Frau. Johanna fuhr hoch im Bett auf, da war es ihr, als hörte sie einen Mann lachen.

Dann dachte sie, je näher der Tag rückte, immer mehr an Paul, und sie zog sich an, sobald es anfing hell zu werden.

Er wohnte im Innern der Stadt, Rue du Sauvage.

Sie wollte zu Fuß hingehen, um sparsam zu sein, wie ihr Rosalie empfohlen. Es war kalt, die Kälte prickelte ihr im Gesicht, die Leute liefen eilig auf der Straße hin, und sie ging so schnell als möglich, indem sie einer Straße folgte, die ihr bezeichnet worden und an deren Ende sie sich rechts wenden sollte und darauf links. Wenn sie dann an einen Platz käme, sollte sie wieder fragen. Aber sie fand den Platz nicht und erkundigte sich bei einem Bäcker, der ihr ganz etwas anderes sagte. Sie ging wieder weiter, verlief sich, irrte umher, folgte andern Ratschlägen und verirrte sich gänzlich.

Jetzt ging sie verzweifelt aufs Geratewohl, und sie wollte eben eine Droschke anrufen, als sie plötzlich die Seine vor sich sah. Da ging sie die Quais hinab.

Nach etwa einer Stunde kam sie zur Rue du Sauvage, einer Art halbdunklen Gäßchens. Vor der Thür, die die Nummer trug, blieb sie stehen, so bewegt, daß sie nicht einen Schritt mehr thun konnte. In diesem Hause wohnte Pullchen.

Sie fühlte Kniee und Hände zittern. Endlich trat sie ein, folgte einem Gang, erblickte das Zimmer des Portiers, und fragte, indem sie ihm ein Geldstück in die Hand drückte:

– Bitte, sagen Sie doch Herrn Paul von Lamare, daß ihn unten eine alte Dame, eine Freundin seiner Mutter erwartet.

Der Portier antwortete:

– Der wohnt nicht mehr hier.

Es überlief sie kalt, sie stammelte:

– Ach, . . . wo wohnt er denn jetzt?

– Das weiß ich nicht!

Alles drehte sich um sie, sodaß sie meinte, sie würde hinschlagen, und ein paar Augenblicke konnte sie nicht sprechen. Endlich bezwang sie sich und fragte:

– Seit wann ist er denn fort?

Der Mann gab genaue Auskunft.

– Etwa seit vierzehn Tagen. Sie sind so eines Abends fort und nicht wiedergekommen, sie hatten im ganzen Viertel hier Schulden. Na, da begreifen Sie wohl, daß sie nicht gerade ihre Adresse hinterlassen haben.

Johanna sah vor sich etwas wie Flammen aufflackern, als hätte man vor ihren Augen ein Gewehr abgefeuert. Aber eine fixe Idee hielt sie aufrecht, sodaß sie stehen blieb, anscheinend ganz ruhig und vernünftig.

Sie wollte alles wissen, sie wollte Pullchen finden.

– Da hat er also nichts gesagt, als er fortging?

– Nein nichts, sie sind gerückt, um nicht zu zahlen.

– Aber er wird wohl jemand schicken, um seine Briefe zu holen?

– Ich würde sie nicht geben, und dann bekam er nicht zehn Stück das ganze Jahr, aber zwei Tage ehe sie verdufteten, habe ich ihm noch einen 'raufgetragen.

Das war wahrscheinlich ihr Brief. Sie sagte plötzlich:

– Hören Sie mal, ich bin seine Mutter und bin gekommen, um ihn zu holen! Hier haben Sie zehn Franken wenn Sie irgend etwas hören oder über ihn erfahren können, sagen Sie es mir. Hotel Normandie, Rue du Havre, es soll Ihr Schade nicht sein.

Er antwortete:

– Das will ich schon besorgen!

Und sie ging davon. Und wieder irrte sie umher, ohne sich darum zu kümmern, wo sie sich eigentlich befand. Sie lief, als hätte sie eine dringende Besorgung zu machen, an den Häusern hin, ab und zu stießen sie Leute an, die ein Packet trugen. Sie überschritt die Straßen, ohne auf die Wagen zu achten, und die Kutscher schimpften. Wenn sie an das Trottoir kam, stolperte sie, weil sie auf den Weg nicht sah, denn verzweifelt lief sie, und lief was sie nur konnte.

Plötzlich befand sie sich in einem Garten und fühlte sich so müde, daß sie auf eine Bank sank. Dort blieb sie wahrscheinlich lange sitzen und weinte ohne es selbst zu merken, denn die Vorübergehenden blieben stehen und blickten sie an. Da fühlte sie, daß sie fror, und stand auf, um wieder fortzugehen. Ihre Füße trugen sie kaum, so müde und matt war sie. Sie wollte in irgend ein Restaurant gehen, um Bouillon zu trinken, aber sie wagte sich nicht hinein, aus einer Art Scham, daß man ihr ihren Kummer zu sehr ansehen könnte.

Einen Augenblick blieb sie stehen, blickte hinein, gewahrte alle die Leute, die dort saßen, und entfloh wieder verlegen, indem sie zu sich sprach:

– Ich gehe ins nächste.

Endlich kaufte sie bei einen Bäcker ein Hörnchen und aß es unterwegs. Sie hatte großen Durst, aber sie wußte nicht, wo sie trinken sollte und so überwand sie es.

Sie ging durch einen Bogen und stand plötzlich wieder in einem Garten, der von Säulengängen umgeben war, und erkannte nun das Palais Royal.

Da sie durch die Sonne und vom Gehen wieder etwas warm geworden war, setzte sie sich dort noch ein oder zwei Stunden hin. Eine Menge Menschen flutete hin und her, elegante Leute, die schwatzten, lächelten, grüßten, jene glückliche Menge, deren Frauen schön, deren Männer reich sind, und die nur in Glück und Freude lebt.

Johanna war erschrocken, mitten unter dieses elegante Getriebe geraten zu sein und entfloh. Doch plötzlich kam ihr der Gedanke, sie könnte vielleicht Paul hier begegnen, und nun irrte sie umher, sah allen Leuten ins Gesicht, lief auf und ab, von einem Ende des Gartens zum andern mit ihrem bescheidenen schnellen Schritt.

Viele drehten sich um, sie zu betrachten, andere lachten und machten sich auf sie aufmerksam. Sie merkte es und lief davon, denn sie dachte, man lache über ihr Äußeres, ihr grün gewürfeltes Kleid, das Rosalie ausgesucht und die Schneiderin von Goderville nach deren Angabe angefertigt.

Sie wagte nicht einmal mehr, die Leute nach dem Weg zu fragen. Endlich raffte sie sich doch auf, that es und fand schließlich ihr Hotel wieder.

Den Rest des Tages verbrachte sie auf einem Stuhl am Fußende ihres Bettes ohne sich zu regen. Dann aß sie wie Tags zuvor etwas Suppe und etwas Fleisch, darauf ging, sie zu Bett, alles mechanisch, aus Gewohnheit.

Am folgenden Morgen begab sie sich auf die Polizeipräfektur, damit man ihr Kind ihr wiederbrächte. Man konnte ihr nichts versprechen, aber die Beamten wollten ihr Möglichstes thun.

Da irrte sie in den Straßen umher, immer in der Hoffnung, ihm zu begegnen, und mitten in dieser hin und her flutenden Menge fühlte sie sich einsamer und verlorener, als auf dem öden, verlassenen Lande. Als sie abends ins Hotel zurückkehrte, sagte man ihr, es hätte jemand von Herrn Paul nach ihr gefragt und der Betreffende würde morgen wiederkommen.

Ein Blutstrom schoß ihr zum Herzen, und sie schloß die Nacht kein Auge.

Wenn er es nun war? Ja, er war es gewiß, wenn sie auch nach dem Äußern, das man ihr beschrieb, ihn nicht wiedererkannt hätte.

Gegen neun Uhr klopfte es, sie rief: »herein«, bereit ihm mit offnen Armen entgegen zu eilen. Ein Unbekannter stand vor ihr, und während er um Entschuldigung bat wegen der Störung und auseinandersetzte, was er wollte, nämlich, daß ihm Paul Geld schulde, begann sie zu weinen, obwohl sie es nicht zeigen wollte, und wischte jedesmal, wenn eine Thräne ihr ins Auge trat, sie mit der Fingerspitze fort.

Der Mann hatte durch den Portier des Hauses Rue du Sauvage gehört, daß sie gekommen, und da der junge Mann nicht aufzutreiben war, so wandte er sich an die Mutter. Er hielt ihr ein Papier entgegen, das sie nahm ohne sich etwas dabei zu denken. Sie las dort: neunzig Franken, zog den Beutel und zahlte. An diesem Tage ging sie nicht aus. Am folgenden Tage erschienen andere Gläubiger, sie gab, was sie hatte und behielt nur einige zwanzig Franken, dann schrieb sie Rosalie, wie die Sache stehe.

Sie verbrachte ihre Zeit damit herumzuirren, die Antwort ihrer Dienerin erwartend, denn sie wußte nicht, was sie anfangen sollte, wie die unendlichen, traurigen Stunden totschlagen, da sie niemand besaß, der ihr zugeredet hätte, da niemand ihr Elend kannte. Auf's Geratewohl lief sie umher, immer von der Sehnsucht gequält, zurückzukehren in ihr kleines Haus an der einsamen Landstraße.

Ein paar Tage vorher konnte sie dort nicht mehr leben, so traurig war sie, und nun fühlte sie wieder, daß sie im Gegenteil nur dort leben konnte, wo ihr trauriges Leben wurzelte.

Endlich fand sie eines Abends einen Brief vor und zweihundert Franken. Rosalie schrieb ihr:

»Frau Johanna! Kommen Sie schnell zurück, denn ich schicke Ihnen nichts mehr. Ich werde, wenn wir Nachricht bekommen, selbst Herrn Paul suchen. Besten Gruß! Ihre Dienerin Rosalie.«

Und eines Morgens, als es schneite und sehr kalt war, fuhr Johanna nach Batteville zurück.

 


 << zurück weiter >>