Guy de Maupassant
Ein Menschenleben
Guy de Maupassant

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III

Am folgenden Sonntag gingen die Baronin und Johanna zur Messe aus zartfühlender Rücksicht gegen ihren Pfarrer.

Nach dem Gottesdienst erwarteten sie ihn, um ihn für Donnerstag zum Frühstück zu laden. Er trat mit einem großen, jungen, eleganten Herrn, der ihm freundschaftlich den Arm gab, aus der Sakristei.

Sobald er die beiden Damen sah, machte er eine Bewegung frohen Erstaunens und rief:

– Nein, wie sich das trifft! Frau Baronin und Fräulein Johanna erlauben Sie mir, Ihnen Ihren Nachbarn vorzustellen, Vicomte Lamare.

Der Vicomte verbeugte sich, sagte, es wäre bereits längst sein Wunsch gewesen, die Damen kennen zu lernen, und fing an sich zu unterhalten wie ein gebildeter Mann, der weiß was sich gehört. Er hatte eines jener glücklichen Gesichter, die alle Frauen in Entzücken versetzen und allen Männern fatal sind.

Sein schwarzes, wohlfrisiertes Haar umrahmte die glatte, gebräunte Stirn, und zwei starke Augenbrauen, so regelmäßig, als wären sie künstlich gezogen, gaben seinen dunklen Augen, deren Weiß einen leichten blauen Schimmer hatte, etwas Tiefes und Zartes.

Dichte, lange Wimpern verliehen seinem Blick jene Beredtsamkeit der Leidenschaft, die sowohl im Salon schönen, hochmütigen Damen gefällt, wie das gewöhnliche Mädchen auf der Straße, mit dem Henkelkorb am Arm, dem Manne nachblicken lässt.

Der schmachtende Reiz dieses Auges ließ Gedankentiefe vermuten und gab jedem seiner Worte eine gewisse Wichtigkeit.

Sein dichter, glänzender, feiner Bart verbarg ein etwas zu starkes Gebiss.

Nach vielen gegenseitigen Artigkeiten trennte man sich. Zwei Tage später machte der Vicomte seinen Antrittsbesuch.

Als er kam, probierte man gerade eine Gartenbank, die diesen Morgen erst, dem Fenster des Salons gegenüber, unter der großen Platane aufgestellt worden war. Der Baron wollte eine andere als Gegenstück unter die Linde setzen lassen. Aber Mutting, das die Symmetrie nicht mochte, war dagegen. Der Vicomte wurde um seine Ansicht gefragt und stimmte der Baronin bei.

Dann sprach er von der Gegend, die er sehr malerisch fand, denn er habe auf seinen einsamen Spaziergängen viele reizende Aussichtspunkte entdeckt. Ab und zu begegneten seine Augen denen Johannas, und bei diesem plötzlichen Blick, der sich schnell abwandte und in dem zärtliche Bewunderung und erwachende Sympathie lag, ward ihr ganz sonderbar.

Der Vater Lamares, der das Jahr vorher gestorben, hatte einen intimen Freund des Herrn von Cultaux, dessen Tochter Mutting war, gut gekannt, und die Entdeckung dieser Bekanntschaft führte eine Unterhaltung über Famlienverbindungen, Daten und Verwandtschaften ohne Ende herbei. Die Baronin leistete Gewaltiges in allerlei Erinnerungen, verfolgte Familien in aufsteigender und absteigender Linie, indem sie, ohne jemals den Faden zu verlieren, die komplizierten Irrgänge der Familiengeschichten verfolgte.

– Sagen Sie mir, Vicomte, haben Sie von den Saunoy des Varfleur gehört? Der älteste Sohn Gontran hatte ein Fräulein von Coursil, Coursil-Courville geheiratet und der jüngere eine meiner Cousinen, Fräulein von La Roche-Aubert, die mit den Crisanges verschwägert war. Übrigens, Herr von Crisanges war der Intimus meines Vaters und hat sicher auch Ihren Vater gekannt.

– Jawohl, gnädige Frau! Nicht wahr, das ist doch der Herr von Crisanges, der auswanderte und dessen Sohn bankrott machte?

– Derselbe! Er hatte meine Tante, nach dem Tode ihres Mannes, des Grafen Eretry, um ihre Hand gebeten, aber sie wollte ihn nicht, weil er schnupfte. Bei der Gelegenheit übrigens, wissen Sie, was aus den Viloise geworden ist? Sie haben so etwa um 1813 wegen Vermögensverlusten die Touraine verlassen um sich in der Auvergne niederzulassen, und ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört.

– Gnädige Frau, ich glaube, dass der alte Marquis bei einem Sturz vom Pferde verunglückt und bald darauf gestorben ist. Er hinterließ eine Tochter, die einen Engländer und eine andere, die einen gewissen Bassolle geheiratet hat, einen, wie man behauptete, sehr reichen Kaufmann, von dem sie verführt worden war.

Und allerlei Namen, die sie gehört und die ihr von Jugend an geläufig waren, die sie aus den Unterhaltungen alter Verwandten kannte, kehrten wieder, und die Ehen unter diesen Familien nahmen in ihrem Geist die Wichtigkeit von Staats-Ereignissen an. Sie sprachen von Leuten, die sie nie gesehen hatten, als kennten sie sie genau, und diese Leute wieder in andern Gegenden sprachen auf dieselbe Weise von ihnen, so fühlten sie sich von weitem bekannt, beinahe befreundet, beinahe verwandt allein durch die Thatsache, dass sie derselben Klasse, derselben Kaste angehörten und gleichwertiges Blut in ihren Adern lief.

Der Baron, der etwas wild aufgewachsen war und eine Erziehung genossen hatte, die mit den Vorurteilen und Ansichten der Leute seiner Kreise nicht zusammen stimmte, kannte die Familien der Nachbarschaft kaum. Er fragte den Vicomte nach ihnen.

Herr von Lamare antwortete:

»O hier in der Gegend gibt es nicht viel Adel!« im selben Ton als hätte er gesagt: ›Es gibt hier nicht viele Karnickel‹; und er erwähnte Einzelheiten. In der Nähe befanden sich nur drei Familien, Marquis von Coutelier, so eine Art Senior der normannischen Aristokratie, Vicomte und Vicomtesse von Briseville, Leute von sehr guter Familie, die jedoch sehr zurückgezogen lebten. Endlich Graf Fourville, eine Art Eisenfresser, von dem es hieß, er quäle seine Frau zu Tode, und der in seinem teichumgebenen Schlosse La Brillette ein Jägerleben führte.

Hier und da hatten ein paar Emporkömmlinge, die unter einander verkehrten, sich angekauft. Der Vicomte kannte sie nicht.

Er nahm Abschied, und sein letzter Blick galt Johanna, als ob er ihr damit ein besonderes, herzliches und zartes Lebewohl gesagt hätte.

Die Baronin fand ihn reizend und vor allen Dingen sehr comme il faut. Papachen sagte:

– Ja, er ist ein wohlerzogener junger Mann.

Man lud ihn die folgende Woche zum Essen ein, und von da an kam er regelmäßig. Meistens erschien er um vier Uhr nachmittags, traf Mutting in »ihrer Allee« und bot ihr den Arm, um mit ihr ihre »Übung« abzuhalten. Wenn Johanna nicht spazieren gegangen war, unterstützte sie ihre Mutter von der anderen Seite, und alle drei schritten langsam in gerader Linie den langen Weg unausgesetzt auf und ab. Er sprach kaum mit dem jungen Mädchen; aber sein Blick, weich wie schwarzer Sammet, traf oft das Auge Johannas, das aussah, als wäre es aus blauem Achat.

Öfters gingen sie beide mit dem Baron nach Yport.

Als sie eines Abends am Strande waren, trat der alte Lastique auf sie zu und sagte, die Pfeife im Munde, ohne die man ihn sich schwerer vorstellen konnte, als ohne Nase:

– Herr Baron, bei so 'ner steifen Briese könnten wir morgen nach Etretat fahren und kämen auch bequem wieder zurück.

Johanna legte flehend die Hände zusammen und sagte:

– O Papa, bitte, bitte.

Der Baron wandte sich zum Vicomte:

– Kommen Sie mit, Vicomte? Wir könnten dort frühstücken.

Und die Partie wurde sofort beschlossen.

Sobald der Tag anbrach, war Johanna auf, sie erwartete ihren Vater, der sich langsam anzog. Dann gingen sie in den tauigen Morgen hinein, zuerst über das flache Land, dann durch den Wald, der vom Gesang der Vögel widerhallte.

Der Vicomte und der alte Lastique saßen auf einem Gangspill.

Zwei andere Seeleute halfen bei der Abfahrt. Die Männer stemmten ihre Schultern gegen den Schiffsrand, lehnten sich gegen mit aller Kraft, und nur mühsam brachten sie auf dem flachen Kies das Boot vorwärts. Lastique schob unter den Kiel eingefettete hölzerne Walzen, dann nahm er seinen Platz wieder ein und rief, lang gedehnt, immerfort:

»Ohoi, ohoi Hop,« was das gemeinsame Vorwärtsschieben regeln sollte, aber als sie an den Abhang kamen, entglitt ihnen das Boot und rutschte auf den glatten Steinen mit mächtigem Getöse, wie wenn Leinwand zerrissen wird, hinab. Im Schaum der kleinen Wogen blieb es plötzlich halten, und alle nahmen darin Platz, dann machten es die beiden Matrosen, die an Land geblieben waren, ganz flott.

Eine leichte, unausgesetzt wehende Brise, die von der See kam, kräuselte die Oberfläche des Wassers. Das Segel wurde aufgezogen, füllte sich allmählich mit Wind, und das Boot glitt langsam davon, kaum vom Meere bewegt.

Zuerst ging es in die See hinaus. Am Horizont schien der Ozean mit dem Himmel zusammenzustoßen. Auf der Landseite warf die hohe Klippenreihe einen mächtigen Schatten zu ihren Füßen. Hier und da schimmerten Rasenflächen, auf denen die Sonne lag. Dort drüben hinter ihnen kamen braune Segel vom weißen Hafendamm herüber, von Fécamp, und dort im Vordergrund erhob sich ein Fels von seltsamer Gestalt, gerundet und in der Mitte geborsten, der etwa aussah wie der Kopf eines riesigen Elefanten, der den Rüssel in die Fluten streckt. Es war das kleine Thor von Etretat.

Johanna hielt sich mit der einen Hand am Schiffsrand, sie war durch das Schaukeln der Wogen etwas erregt und blickte in die Weite. Es schien ihr, als gäbe es nur drei Dinge in der Schöpfung, die wirklich schön waren, Licht, Luft und Wasser.

Niemand sprach. Der alte Lastique hielt Ruderpinne und Schoote, trank von Zeit zu Zeit, aus einer Flasche unter seinem Sitz, einen Schluck und rauchte ununterbrochen seine Stummelpfeife, die niemals auszugehen schien. Immer stieg daraus ein feiner, dünner Rauch, während genau dieselbe Rauchwolke seinem Mundwinkel entströmte, und doch sah man niemals, daß der Matrose seinen irdenen Ofen, der schwärzer war als Ebenholz, je wieder angezündet oder mit frischem Tabak gefüllt hätte. Ab und zu nahm er die Pfeife in eine Hand, zog sie aus dem Mund und spie aus demselben Mundwinkel, dem sonst die Rauchwolke entquoll, einen langen, braunen Saucenstrahl ins Meer.

Der Baron, der vorn saß, überwachte das Segel an Stelle eines Matrosen. Johanna und der Vicomte saßen Seite an Seite, alle beide etwas verwirrt. Eine unbekannte Gewalt ließ immer wieder ihre Augen sich begegnen, indem sie zu gleicher Zeit aufblickten, wie magnetisch angezogen; denn zwischen ihnen schwebte schon jene weiche Zärtlichkeit, die so schnell zwischen jungen Leuten erwacht, wenn der junge Mann nicht häßlich und das junge Mädchen hübsch ist. Sie fühlten sich glücklich nebeneinander, vielleicht, weil sie aneinander dachten.

Die Sonne stieg empor, als hätte sie von der Höhe herab das weit unter ihr gebreitete Meer betrachten wollen, aber sie war kokett und hüllte sich in leichten Nebel, der ihre Strahlen dämpfte. Es war ein goldiger, niedrig hinziehender, durchsichtiger Nebel, der nichts verbarg, aber die Ferne weicher machte.

Das Gestirn schoß seine Pfeile herab, sodaß der glänzende Schleier schmolz, und als die Sonne alle Kraft entwickelte, verzog sich der Dampf und verschwand. Und das Meer, das ewige, war wie ein Spiegel und glitzerte im Licht.

Johanna fühlte sich ganz bewegt:

– Ach ist das schön!

Und der Vicomte antwortete:

– Ja, das ist schön!

Die Wunder dieses herrlichen Morgens fanden ein Echo in ihren Herzen. Plötzlich gewahrte man die großen Felswölbungen von Etretat, die aussahen, als marschierten die Klippen mit zwei mächtigen Beinen ins Meer, so hoch, daß die Schiffe darunter hindurchfahren konnten. Vor dem ersten Bogen starrte eine weiße, spitze Felsnadel empor.

Man landete, und während der Baron, der zuerst herausgesprungen war, das Boot durch ein Tau am Ufer festhielt, nahm der Vicomte Johanna auf den Arm, um sie ans Land zu tragen, ohne daß sie sich die Füße naß machte. Dann stiegen sie die steile Küste Seite an Seite hinan, und in beiden zitterte die kurze Berührung noch nach, und sie hörten, wie der alte Lastique zum Baron sagte:

– Die beiden geben ein ganz gutes Paar.

In einem kleinen Wirtshaus am Strande wurde gefrühstückt. Es war reizend. Der Ozean verschlang Stimme und Gedanken, sodaß sie unterwegs geschwiegen hatten. Bei Tisch fingen sie nun an zu sprechen und schwatzten wie die Kinder in den Ferien.

Die einfachsten Dinge machten ihnen den ungeheuersten Spaß. Der alte Lastique steckte sorgfältig, als er sich zu Tisch setzte, die noch immer rauchende und dampfende Pfeife in seine Wollmütze. Und man lachte. Eine Fliege, die seine rote Nase wahrscheinlich angelockt, ließ sich ein paarmal darauf nieder, und als er sie mit einer Handbewegung, die zu langsam war, um sie fangen zu können, weggejagt, setzte sie sich auf die Mousselingardine, die schon viele ihrer Schwestern beschmutzt, und schien gierig die rote Nase des Matrosen zu begucken, denn sofort flog sie wieder auf, um sich darauf von neuem niederzulassen.

Bei jedem Herannahen des Insekts lachten sie wie toll, und als der Alte, den die ewige Krabbelei ärgerte, brummte: »Die ist aber verflucht zäh!« lachten Johanna und der Vicomte beinahe Thränen, wanden sich nur so und preßten die Serviette vor den Mund um nicht laut zu kreischen.

Sobald sie den Kaffee getrunken hatte, sagte Johanna:

– Wir wollen doch ein wenig spazieren gehen!

Der Vicomte stand auf, aber der Baron wollte lieber noch ein bißchen am Strande in der Sonne nicken:

– Geht nur Kinder, ihr findet mich in einer Stunde hier wieder.

Sie gingen geradwegs zwischen den paar Häusern am Strande hindurch. Nachdem sie an einem kleinen Schlößchen vorüber gekommen, das wie ein großer Pachthof aussah, befanden sie sich in einem offenen Thale, das sich vor ihnen erstreckte.

Die Bewegung der See hatte sie ermattet und ihr gewöhnliches Gleichgewicht gestört, die frische Salzluft hatte sie hungrig gemacht, das Frühstück sie dann wieder heiter gestimmt und die Heiterkeit sie ganz schwach gemacht. Jetzt waren sie zu allem aufgelegt und hatten Lust, wie toll durch die Felder zu laufen. Johanna summte es in den Ohren von all den ungewohnten Eindrücken.

Glühend fielen die Sonnenstrahlen auf sie herab. Zu beiden Seiten der Straße bogen sich die reifen Saaten unter der Hitze. Die Grashüpfer, zahlreich wie Grashalme, zirpten, sodaß man im Getreide, in den Binsen und an der Küste ihren betäubenden, schrillen Schrei hörte.

Unter dem glühenden Himmel, der von einem spiegelblanken Blau war und zugleich gelb, als ob er plötzlich rotglühend werden wollte wie Metall, das zu nah am hellen Feuer ist, zeigte sich kein Wölkchen.

Sie hatten, ein Stück entfernt rechts, ein Gehölz entdeckt. Dorthin gingen sie.

Grabeneingesäumt führte ein schmaler Weg hinan unter den großen Bäumen, deren Gezweig die Sonne nicht durchdrang. Als sie eintraten, schlug ihnen eine Art modriger Frische entgegen, jene Feuchtigkeit, bei der einem ein Schauer über die Haut läuft und in die Lungen dringt. Hier wuchs, da Luft und Licht nicht eindrangen, kein Gras, aber Moos bedeckte den Boden.

Sie gingen weiter. – Da könnten wir uns ein wenig hinsetzen, sagte sie.

Zwei abgestorbene alte Bäume standen dort und durch das dadurch im Blätterdach entstandene Loch fiel das Licht herein, wärmte den Boden und hatte Rasen grünen lassen. Löwenzahn und Lianen, kleine, weiße Blümchen, fein und zart wie ein Hauch, waren erblüht und Fingerhut röhrenartig in die Höhe geschossen.

Schmetterlinge, Bienen, dicke Hummeln, große Mücken, die wie Fliegenskelette aussahen; tausend Insekten, Marienkäferchen, rot und gefleckt, Käfer im grünen Kleid, andere schwarz mit großen Fühlhörnern bewehrt, bevölkerten diesen warmen, lichtdurchfluteten Platz, der sich im kühlen Dunkel des schweren Blätterwerks aufgethan.

Sie setzten sich, den Oberköper im Schatten, die Füße in der Sonne, und betrachteten all das wimmelnde kleine Leben, das ein Sonnenstrahl erweckt.

Johanna wurde ganz weich und sagte:

– Ach wie ist es hier schön, auf dem Lande ist es doch zu schön! Manchmal möchte ich eine Fliege oder ein Schmetterling sein, um mich in den Blumen zu verstecken.

Sie sprach über sich selbst, ihre Gewohnheiten und ihren Geschmack in jenem leisen, eignen Ton, in dem man sich Geständnisse macht.

Er meinte, er sei schon vom Welttreiben angeekelt und hätte dieses inhaltslose Leben satt, es war immer dasselbe, nichts Wahres, nichts Echtes gab es da.

Die Welt! Sie hätte sie gern kennen gelernt, aber sie war von vornherein überzeugt, daß sie den Vergleich mit dem Landleben nicht aushalten könnte.

Und je mehr sich ihre Herzen näherten, desto förmlicher nannten sie sich »Vicomte« und »gnädiges Fräulein«, und desto mehr lächelten sich ihre Blicke zu und tauchten in einander. Und es war ihnen, als zöge neue Güte in sie hinein, größere Zärtlichkeit, das Interesse an tausend Dingen, an die sie nie gedacht hatten.

Sie kehrten zurück, aber der Baron hatte einen Spaziergang gemacht zum Jungfernzimmer, einer Grotte, die am Kamm der Klippen lag, und sie erwarteten ihn im Wirtshaus.

Er kam erst um fünf Uhr abends zurück.

Man stieg wieder ins Boot und fuhr, den Wind im Rücken, ohne irgendwelches Schaukeln, ohne daß es schien, als käme man vorwärts, zurück. Die Brise wehte in langsamen, lauen Stößen, die eine Sekunde das Segel blähten und es dann wieder schlaff am Mast herunterhängen ließen. Die blaue Flut schien tot da zu liegen, die Sonne, müde von all der Glut, hatte ihren Bogen am Himmel beschrieben und näherte sich langsam dem Rande.

Die Stille auf dem Meer nahm sie wieder gefangen, daß sie schwiegen. Endlich sagte Johanna:

– Ach ich möchte gern reisen.

Der Vicomte gab zurück:

– Aber allein reisen ist langweilig, man muß mindestens zu zweien sein, um sich seine Eindrücke mitzuteilen.

Johanna dachte nach:

– Das ist wahr! Aber ich gehe doch gern allein spazieren, es ist so schön, allein zu träumen.

– Man kann auch zu zweien träumen.

Sie schlug die Augen nieder, war das eine Anspielung? Vielleicht! Sie betrachtete den Horizont, als wollte sie noch weiter hinausblicken, dann sagte sie langsam:

– Ich möchte nach Italien oder Griechenland, ach Griechenland! Oder nach Korsika! Das muß so wild sein und so schön.

Er war mehr für die Schweiz, wegen der Sennhütten und Seen.

Sie sagte:

– Nein! Ich möchte lieber ganz unberührte Länder sehen, wie Korsika, oder sehr alte Länder, an denen lauter Erinnerungen hängen, wie Griechenland. Es muß doch schön sein, dort alles wieder zu finden von diesen Völkern, deren Geschichte wir von Kindheit an kennen, die Stätten zu sehen, wo alle die großen Thaten geschehen sind.

Der Baron, der weniger exaltiert war, erklärte:

– Mich zieht England sehr an, das ist ein sehr lehrreiches Land.

Da suchten sie die ganze Welt ab, besprachen die Annehmlichkeiten jedes Landes von den Polen bis zum Äquator, begeisterten sich über erträumte Landschaften und seltsame Sitten gewisser Völker, wie der Lappen oder der Chinesen. Aber sie schlossen damit, das schönste Land der Welt sei Frankreich mit seinem gemäßigten Klima, kühl im Sommer und mild im Winter, mit seinen blühenden Feldern, grünenden Wäldern, seinen großen, ruhig hinströmenden Flüssen und seinem Kunstgeschmack, der sich seit der Blütezeit Athens nirgends so entwickelt.

Dann schwiegen sie. Die Sonne, die schon tief stand, schien zu bluten, und ein breiter Lichtkegel, ein blendender Streifen, lief über das Wasser, von den Grenzen des Ozeans bis zum Kielwasser des Bootes.

Der letzte Windhauch ließ nach, alle Wellen ebneten sich, und das unbewegliche Segel ward purpurn. Unendliche Ruhe schien die Weite umfangen zu haben, ein tiefes Schweigen angesichts der Vermählung der beiden Elemente, während das Meer unter dem Himmel seinen glänzenden flüssigen Leib krümmte und die feurige Geliebte erwartete, die zu ihm niederstieg. Sie sank jetzt schon schneller herab in purpurner Glut, als ersehnte sie die Umarmung, jetzt trafen sie einander, und allmählich verschlang sie das Meer.

Da wehte ein frischer Hauch aus der Ferne, die unbewegliche Wasserfläche kräuselte ein Zittern, als ob das untergegangene Gestirn noch einen Seufzer der Erleichterung über die Welt gehaucht.

Die Dämmerung war kurz, es kam eine Nacht mit tausend Sternen. Der alte Lastique nahm seine Riemen auf, und nun sahen sie, daß das Meer phosphoreszierte. Johanna und der Vicomte betrachteten Seite an Seite das hin- und herflutende Feuer, das das Boot hinter sich ließ. Sie dachten fast nicht mehr nach und blickten nur hinaus, in köstlichem Wohlgefühl die Kühle des Abends einatmend. Johanna hatte die eine Hand auf die Bank gestützt, da legte sich wie zufällig ein Finger ihres Nachbars an sie. Überrascht, glücklich und verwirrt über diese leichte Berührung, bewegte sie sich nicht.

Als sie abends wieder in ihrem Zimmer war, fühlte sie sich seltsam bewegt und so weich gestimmt, daß sie immerfort Lust hatte zu weinen. Sie betrachtete ihre Kaminuhr, und ihr war es, als ticke die kleine Biene wie ein Herz, wie ein befreundetes Herz; das Zeuge sein würde ihres Lebens, das mit lebhaftem, regelmäßigen Tik-Tak Leid und Lust begleiten würde, und sie hielt die kleine Fliege an, um einen Kuß auf ihre Flügel zu drücken. Sie hätte irgend etwas küssen mögen, alles! Sie erinnerte sich, daß sie in einem Fach eine alte Puppe aus früherer Zeit versteckt hatte, die suchte sie hervor und sah sie mit der Freude wieder, mit der man liebe Freunde wieder sieht; sie drückte sie an die Brust, bedeckte die gemalten Wangen und den Flachskopf des Spielzeugs mit Küssen, und indem sie die Puppe im Arme behielt, dachte sie nach.

War das wohl er, der ihr durch tausend geheime Stimmen versprochen, den ein gütiges Geschick ihr so in den Weg geführt? War er das für sie erschaffene Wesen, dem sie ihr Leben opfern sollte? Waren sie die beiden für einander bestimmten Geschöpfe, deren Zärtlichkeit sich einen sollte, sich mischen sollte untrennbar und die »Liebe« erzeugen?

Sie hatte noch nichts von jener großen Erschütterung des ganzen Wesens, von jenem tollen Glück, jenem Zittern in allen Tiefen, das, wie sie meinte die Leidenschaft war, verspürt, und doch war es ihr, als finge sie an ihn zu lieben. Denn manchmal wurde sie ganz matt, wenn sie an ihn dachte, und sie dachte unausgesetzt an ihn. Seine Gegenwart erfüllte und erregte ihr Herz, sie errötete und erbleichte, wenn ein Blick von ihm sie traf, und sie zuckte zusammen, wenn sie nur seine Stimme hörte. Diese Nacht fand sie kaum noch Schlaf.

Da kam über sie von Tag zu Tag mehr der verwirrende Wunsch, zu lieben. Sie erforschte sich unausgesetzt, befragte die Maßliebchen, die Wolken und das Schicksal in Gestalt eines Geldstücks, Kopf oder Wappen?

Da sagte eines Tages ihr Vater zu ihr:

– Mach Dich schön morgen früh. Sie fragte:

– Warum Papa?

Er antwortete:

– Das ist ein Geheimnis.

Als sie am Morgen, wie aus dem Ei geschält, in hellem Kleide herunter kam, fand sie auf dem Tisch im Salon eine Menge Bonbonnièren und auf einem Stuhl einen riesigen Blumenstrauß.

Ein Wagen fuhr in den Hof, auf dem zu lesen stand: »Lerat, Traiteur in Fécamp. Hochzeitsdiners.«

Und Ludwine zog, indem sie eine Klappe hinten am Wagen öffnete, mit Hilfe des Küchenjungen eine Menge flacher Körbe, die gut rochen, heraus.

Der Vicomte von Lamare erschien. Seine Hose war gestrafft und unter winzigen reizenden Lackstiefeln, die die Kleinheit seines Fußes zeigten, mit Stegen versehen. Sein langer Gehrock saß eng in der Taille, und aus der Brustöffnung schaute das Spitzenhemd heraus. Eine prachtvolle Kravatte war mehrmals um den Hals geschlungen und zwang ihn, seinen schönen Kopf, auf dem ernste Vornehmheit zu lesen stand, hoch zu halten. Er sah anders aus, als gewöhnlich, er machte jenen fremden Eindruck, den ein besonderer Anzug plötzlich auch den bestgekannten Gesichtern verleiht. Johanna war ganz erstaunt und blickte ihn an, als hätte sie ihn noch nie gesehen; sie fand, daß er riesig aristokratisch aussah! Jeder Zoll ein Edelmann!

Er verbeugte sich lächelnd:

– Nun, Gevatterin, sind Sie bereit?

Sie antwortete:

– Ja! Was denn? Was ist denn los?

– Das wirst Du nachher erfahren, sagte der Baron.

Der angespannte Wagen fuhr vor. Frau Adelaide kam im größten Staat von ihrem Zimmer herab, am Arm Rosaliens, die den eleganten Vicomte so bewundernd ansah, daß Papachen flüsterte:

– Hören Sie mal, Vicomte, ich glaube, Sie haben an unsrem Mädchen eine Eroberung gemacht!

Er ward rot bis an die Ohren, that, als hätte er nichts gehört, und nahm den großen Blumenstrauß, den er Johanna überreichte. Mit noch größerem Staunen nahm sie ihn entgegen, und alle vier stiegen ein. Und die Köchin Ludwine, die der Baronin zur Erfrischung eine Tasse kalter Bouillon gebracht, sagte:

– Gnädige Frau, man könnte wirklich glauben, es ist Hochzeit!

Am Eingang von Yport stiegen sie aus, und als sie in das Dorf kamen, traten die Matrosen in ihren neuen Anzügen aus den Häusern, grüßten, drückten dem Baron die Hand und folgten hinter ihnen wie bei einer Prozession.

Der Vicomte hatte Johanna den Arm gereicht und ging mit ihr voraus. Als sie an die Kirche kamen, blieben sie halten, und das große, silberne Kreuz erschien, von einem Chorknaben gehalten, dem ein anderer in rot und weißem Gewand folgte, der den Weihwasserkessel trug mit dem Wedel darin. Dann kamen drei alte Chorsänger, deren einer hinkte, darauf das Serpent, endlich der Pfarrer, dessen goldne Stola sich über seinem dicken Leib spannte. Er begrüßte sie durch – Lächeln und Kopfnicken.

Dann folgte er mit halbgeschlossenen Augen, die Mütze in die Stirne gerückt, ein Gebet murmelnd, seinen Generalstab im Chorhemd und ging dem Meer zu.

Am Ufer wartete eine große Menschenmenge an einem neuen Guirlanden-geschmückten Boot. Mast, Segel, Takelage waren mit langen Wimpeln geziert, die im Winde flatterten, und hinten stand in goldenen Buchstaben der Name: »Johanna«.

Der alte Lastique, der Führer des Bootes, das auf Kosten des Barons gebaut worden, ging voraus. Wie auf Kommando zogen alle Männer die Kopfbedeckung, und eine ganze Reihe Beterinnen in langen, schwarzen faltigen Kapuzenmänteln, die in langem Faltenwurf über die Schultern fielen, knieten im Kreise nieder, als sie das Kreuz erblickten.

Der Pfarrer trat mit den beiden Chorknaben an das eine Ende des Bootes, während am andern Ende die drei alten Chorsänger, schmierig aussehend, in ihren weißen Gewändern, unrasiert, ernst auf die Noten niederblickend, laut in den hellen Morgen hinein gröhlten.

Das Serpent brummte immer allein weiter, wenn sie Atem holten, und wenn der Bläser die Backen mit Luft füllte, verschwanden seine kleinen, grauen Augen; sogar die Haut des Halses schien sich vom Fleisch loszulösen, so blies er sich auf.

Die unbewegliche, durchsichtige Flut schien in Andacht der Taufe ihres Bootes beizuwohnen, sie trieb nur mit leisem Rauschen, als führe man mit einer Harke über den Strand, kleine, fingerhohe Wellen ans Land.

Und große, weiße Möven schossen mit ausgebreiteten Schwingen daher, beschrieben Bogen am blauen Himmel, schwebten davon und kamen wieder daher geflogen, als wollten sie sehen, was da vor sich ging.

Aber nach einem Amen, das fünf Minuten lang gehalten worden war, hörte der Gesang auf, und der Priester stieß mit fetter Stimme ein paar lateinische Worte hervor, deren Endsilben man nur vernahm.

Dann ging er um das Boot herum, indem er es mit Weihwasser besprengte. Endlich begann er das Oremus zu murmeln, indem er nun an der Breitseite, Paten und Patin, die einander an den Händen hielten, gegenüber, stehen blieb.

Der junge Mann behielt sein ernstes Aussehen, aber Johanna überkam eine plötzliche Rührung: sie verlor ganz die Haltung und fing so an zu zittern, daß ihre Zähne klapperten. Der Traum, der sie seit einiger Zeit verfolgte, hatte plötzlich, wie in einer Hallucination feste Gestalt gewonnen. Von Hochzeit war gesprochen worden, dort stand ein Priester mit segnender Gebärde, die Leute im Chorrock sangen Gebete. War es nicht wie ihre Trauung?

Zuckte es ihr nicht in den Fingern? Waren die Gefühle ihres Herzens nicht durch ihre Adern gelaufen, und bis zum Herzen ihres Nachbars gedrungen?

Spürte er etwas? Ahnte er etwas? War auch über ihn etwas, wie ein Rausch von Liebe gekommen? Oder wußte er nur aus Erfahrung, daß ihm kein Weib widerstand?

Plötzlich bemerkte sie, daß er ihre Hand drückte, zuerst langsam, dann stärker, immer stärker, als wollte er sie zermalmen, und ohne daß seine Züge sich dabei veränderten, ohne daß jemand etwas davon merkte, sagte er, ja er sagte es wahrhaftig ganz deutlich:

– Ach, Johanna, wenn Sie wollten, könnte das unsre Verlobung sein.

Sie senkte den Kopf mit langsamer Bewegung, die vielleicht ›ja‹ bedeutete, und vom Priester her, der noch immer das Boot mit Weihwasser besprengte, spritzten ein paar Tropfen auf ihre Finger.

Es war zu Ende, die Frauen standen auf, und in unordentlichem Durcheinander strömte die Menge zurück. Das Kreuz, das der Chorknabe trug, hatte seine Würde verloren; es zog jetzt schnell dahin, rechts und links hin- und herschwankend, oder so weit vornübergebeugt, als wollte es beinahe zu Boden fallen.

Der Priester, der nicht mehr betete, lief hinterdrein. Die Chorsänger, der Serpentbläser waren in einer Seitengasse verschwunden, um sich schneller zurück zu ziehen, und die Seeleute gingen eilig in Trupps zusammen.

Derselbe Gedanke, der Gedanke an das Essen, beschleunigte ihren Schritt, daß ihnen das Wasser im Munde zusammen lief und ihnen der Magen knurrte.

Ein gutes Frühstück erwartete sie im Schloß »Les Peuples«.

Unter dem Apfelbaum war ein großer Tisch aufgestellt, an dem sechzig Personen, Fischer und Bauern, Platz nahmen. Die Baronin saß in der Mitte, rechts und links die beiden Pfarrer, der von Yport und der von Les Peuples. Ihr gegenüber hatte der Baron Platz genommen, zwischen dem Ortsvorstand und dessen Frau, einer magern, schon bejahrten Bäuerin, die nach allen Seiten den Leuten zunickte.

Sie hatte ein schmales Gesicht, das von ihrer großen, normannischen Mütze eingerahmt ward, wie der Kopf eines Huhnes von weißen Federn, und runde, erstaunt umherblickende Augen. Sie aß hastig in kleinen Bissen, als ob sie mit der Nase ihr Essen vom Teller aufpickte.

Johanna saß an der Seite des Paten in glückliche Träume versunken. Sie sah nichts um sich herum, sie wußte von nichts. Das Glück machte sie stumm.

Dann fragte sie ihn:

– Wie heißen Sie mit Vornamen?

Er sagte:

– Julius! Wußten Sie es nicht?

Aber sie antwortete nicht und dachte nur heimlich:

»Wie oft werde ich noch diesen Namen sagen!«

Sobald die Mahlzeit beendet war, ließ man die Seeleute auf dem Hof allein und begab sich auf die andere Seite des Schlosses. Die Baronin machte ihre Übung auf den Arm des Barons gestützt, von den beiden Priestern begleitet. Johanna und Julius gingen in den Park hinaus und verloren sich in den kleinen Wegen; plötzlich nahm er ihre Hand:

– Wollen Sie meine Frau werden?

Sie hielt den Kopf gesenkt, aber als er stammelte:

– Bitte, bitte, antworten Sie – schlug sie ganz langsam zu ihm die Augen auf, und er las die Antwort in ihren Blicken.

 


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