Guy de Maupassant
Ein Menschenleben
Guy de Maupassant

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VI

Vor dem weißgestrichenen Eingangsthor, das in zwei Ziegelpfeilern hing, erwarteten die Familie und die Dienstboten das junge Paar. Die Post hielt, und lange dauerten die Umarmungen. Mutting weinte, Johanna war bewegt und wischte sich die Thränen, der Vater lief nervös auf und ab.

Dann wurde, während man das Gepäck ablud, am Kaminfeuer die Reise erzählt. Die Worte flossen nur so von Johannas Lippen, alles wurde berichtet in einer halben Stunde, bis auf ein paar Kleinigkeiten, die man bei dem schnellen Erzählen vergessen.

Dann packte die junge Frau aus, Rosalie, die auch ganz gerührt war, half. Als alles fertig war, Wäsche, Kleider und sonstige Gegenstände in die Fächer verteilt, verließ das Mädchen ihre Herrin, und Johanna, die müde geworden, setzte sich. Sie fragte sich, was sie jetzt anfangen sollte, und suchte eine geistige Beschäftigung und eine Thätigkeit für ihre Hände. Sie hatte keine Lust, in den Salon hinunter zu gehen zu ihrer Mutter, die schlief. Sie wollte spazieren gehen, aber alles war so öde, so traurig, daß sie ganz melancholisch ward, als sie nun aus dem Fenster blickte.

Da kam sie zur Erkenntnis, daß sie eigentlich nichts mehr zu thun hatte, überhaupt nie wieder etwas zu thun haben würde. Die ganze Jugendzeit im Kloster hatte sie geträumt von der Zukunft. Diese fortwährende Beschäftigung mit der Zukunft hatte damals alle ihre Stunden ausgefüllt. Bald nach ihrem Austritt aus den düstern Mauern, wo ihre Träume emporgeschossen waren, wurde dann plötzlich ihre Liebessehnsucht erfüllt. Den ersehnten Mann hatte sie gefunden, ihn geliebt und nach ein paar Wochen geheiratet, und er hatte sie in seinen Armen entführt, ehe sie noch recht zur Besinnung gekommen war.

Aber nun war die süße Wirklichkeit der ersten Tage zur alltäglichen Prosa des Lebens geworden, die allen unbestimmten Hoffnungen, jeder reizenden Unruhe vor dem, was da kommen sollte, die Thür verschloß. Die Wartezeit war zu Ende.

Nun hatte sie nichts mehr zu thun, weder heute noch morgen, noch jemals wieder, das fühlte sie unbestimmt in einer gewissen Enttäuschung, einem Verblassen ihrer Träume.

Sie stand auf und drückte die Stirn an die kalte Scheibe; nachdem sie einige Zeit zum dunklen Himmel aufgesehen, an dem schwere Wolken hingen, entschloß sie sich, auszugehen.

War das noch dieselbe Gegend, dasselbe Gras, dieselben Bäume, wie damals im Monat Mai? Wo war sie denn hin die heitere Sonnenpracht der Blätter, die Poesie des schönen, grünen Rasens, auf dem der Löwenzahn flammte und die Klatschrosen blühten? Wo die Maßliebchen lächelten, wo die goldigen Schmetterlinge wie an langen, unsichtbaren Fäden umhergaukelten. Und diese ganze, berückende Luft, das Leben, die Düfte, die Fruchtbarkeit überall? Alles dahin.

Die Wege zeigten sich von dem ewigen Herbstregen genäßt, mit welkem Laub bedeckt unter den kahlen zitternden Pappeln. Die Äste bebten im Wind, und der zerrte und riß an den paar übrig gebliebenen Blättern, die auch fallen mußten.

Und ununterbrochen lösten sich diese letzten, jetzt gelben Blätter, wie breite Goldstücke von den Bäumen ab, wehten fort, flatterten umher und sanken zu Boden.

Sie ging bis ans Wäldchen, das traurig aussah, wie ein Sterbe-Zimmer. Die grüne Mauer, die die kleinen reizenden Wege trennte und recht lauschig machte, war kahl; die struppigen Sträucher, wie ein Spitzengeflecht von feinem Holz, stießen die entlaubten Zweige aneinander, und das Niedersinken der raschelnden, trockenen Blätter, die der Wind umherwirbelte und hier und da in Haufen zusammentrieb, war wie der schmerzliche Seufzer eines Sterbenden.

Kleine Vögelchen hüpften mit leisem Gezwitscher, Unterschlupf suchend, umher.

Nur die Platane und die Linde hatten unter dem Schutz der Ulmenreihe, die als Vorhut gegen den Seewind stand, ihr Sommerkleid behalten. Die eine war wie in roten Sammet gekleidet, die andere wie in orangenfarbige Seide, so hatte sie, je nach ihrer Art, der erste Frost gefärbt.

Mit langsamen Schritten ging Johanna Muttings Allee längs des Hofes der Couillard entlang. Etwas lastete auf ihr, bedrückte sie, wie das Vorgefühl der Langenweile ihres einförmigen Lebens, das nun begann.

Dann setzte sie sich an den Grabenrand, wo Julius ihr zum ersten Male von seiner Liebe gesprochen, und dort blieb sie träumend, fast ohne Nachdenken, schläfrig bis ins Herz hinein, sitzen, sie hätte sich hinlegen mögen und einschlafen, nur um der Traurigkeit dieses Tages zu entgehen.

Plötzlich sah sie eine Möve durch den Himmel schießen, die ein Windstoß daher trug, und sie dachte an den Adler, den sie da unten in Korsika im finstern Thale Ota gesehen. Es traf sie wie die plötzliche Erinnerung an etwas Schönes, das nun vorbei war.

Und sie träumte von der lachenden Insel mit ihren Waldesdüften, ihrer Sonne, die die Orangen reifen, die Cedernbäume blühen läßt, von ihren Bergen mit den rötlichen Gipfeln, den blauen Meerbusen und den düsteren Schluchten, in denen der Wildbach tost.

Da lastete die feuchte ernste Landschaft, die sie umgab, mit dem traurigen Blätterfall und den windgetriebenen grauen Wolken mit solcher Verzweiflung auf ihr, daß sie ins Haus ging, um nicht zu weinen.

Mutting schlummerte vor dem Kamin. Sie war die Eintönigkeit der Tage gewöhnt und empfand sie nicht mehr. Der Vater und Julius waren spazieren gegangen und sprachen von ihren Geschäften. Und die Nacht brach herein und breitete ihr trauriges Dunkel über den ganzen Salon, den nur das Feuer im Kamin erhellte.

Draußen konnte man durch die Fenster noch beim letzten Schein der Dämmerung die schmutzige Dezember-Landschaft erkennen und den grauen Himmel, der auch aussah, als wäre er in Schmutz getaucht.

Bald kehrte der Baron zurück, von Julius gefolgt; sobald er in das dunkle Gemach trat, verlangte er Licht und rief:

– Schnell, Licht! Es ist so traurig hier.

Und er setzte sich vor den Kamin. Während seine nassen Stiefel am Feuer dampften und von seinen Sohlen der durch die Hitze getrocknete Schmutz abfiel, rieb er sich fröhlich die Hände:

– Ich glaube, es wird frieren. Im Norden wird es hell. Heute ist Vollmond, das giebt einen tüchtigen Frost die Nacht.

Dann wandte sich der Baron zu seiner Tochter:

– Nun, Kleine, freust Du Dich denn, wieder in der Heimat zu sein, in Deinem Hause, bei den Eltern?

Diese einfache Frage brachte Johanna ganz aus der Fassung, sie warf sich ihrem Vater um den Hals, Thränen in den Augen, und küßte ihn nervös, als bäte sie um Verzeihung, denn trotz aller angestrengten Bemühungen, fröhlich zu sein, fühlte sie sich traurig, zum Weinen traurig. Und dabei dachte sie an die Freude, die sie sich ausgemalt, wenn sie die Eltern wiedersehen würde, und sie war selbst erstaunt über die Kälte, die ihre Zärtlichkeit lähmte. So wird man oft, wenn man aus der Ferne viel an geliebte Menschen gedacht hat, die man nicht mehr gewöhnt ist stündlich zu sehen, bei der Rückkehr etwas empfinden, wie ein plötzliches Aufhören der Neigung, bis die Bande enger Gemeinsamkeit wieder geknüpft sind.

Das Essen dauerte lange, es wurde kaum gesprochen. Julius schien seine Frau ganz vergessen zu haben.

Dann im Salon nickte sie am Feuer beinahe ein, Mutting gegenüber, die gänzlich schlief, und als sie einen Augenblick durch die Stimme der beiden Männer aufgestört wurde, die mit einander disputierten, fragte sie sich, indem sie versuchte sich aufzurütteln, ob auch sie schon in den traurigen Totenschlaf des täglichen Einerlei gefallen sei.

Das Feuer im Kamin, das während des Tages langsam rot glühte, brannte jetzt hell auf, es warf einen jähen Schein auf die verblichenen Überzüge der Stühle, auf Fuchs und Storch, auf den trübseligen Reiher, die Cicade und die Ameise. Der Baron näherte sich lächelnd und streckte die Finger gegen das Feuer aus:

– Ach, wie das heute knistert und brennt! Es friert, Kind, es friert!

Dann legte er seine Hand auf Johannas Schulter und deutete auf das Feuer:

– Siehst Du, Kleine, das ist doch das schönste auf der Welt, der Herd, der häusliche Herd mit den Seinen darum, das wiegt nichts auf der Welt auf. Aber wollen wir nicht zu Bett gehen? Es ist spät.

Als sie in ihr Zimmer hinaufgegangen war, fragte sich die junge Frau, wie es nur möglich wäre, daß ihre zweite Rückkehr zu den Stätten, die sie so geliebt zu haben glaubte, so verschieden von der ersten sein konnte. Warum fühlte sie sich wie zerschlagen? Warum erschien ihr dieses Haus, die geliebte Heimat, alles was bisher ihr Herz hatte höher schlagen lassen, heute so unsäglich traurig?

Da fiel ihr Auge plötzlich auf die Uhr; die kleine Biene flog immer noch von rechts nach links und von links nach rechts mit unausgesetzter schneller Bewegung über die Blumen hin. Da plötzlich packte Johanna die Rührung, sie fühlte sich den Thränen nahe vor diesem kleinen Uhrwerk, das zu leben schien, das ihr die Stunden anzeigte und das klopfte wie ein Herz.

Als sie Vater und Mutter wieder gesehen, war sie nicht so bewegt gewesen. Das Herz hat Abgründe, die niemand erforscht. Zum ersten Mal, seit sie verheiratet war, schlief sie allein. Julius hatte unter dem Vorwand müde zu sein, ein anderes Zimmer genommen. Übrigens waren sie übereingekommen, daß jeder eins für sich haben sollte.

Sie brauchte lange Zeit um einzuschlafen, verwundert, nicht einen andern Körper neben sich zu fühlen, nicht mehr gewohnt an die einsame Ruhe.

Auch störte sie der Nordwind, der gegen das Dach blies. Am Morgen wurde sie einen hellen Schein gewahr, der ihr Bett wie mit Blut übergoß. Die ganz bereiften Fensterscheiben waren rot, als ob der Himmel in Flammen stünde. Sie hüllte sich in ihren Frisiermantel, lief ans Fenster und öffnete.

Eisige gesunde Kälte strömte ins Zimmer und traf scharf ihre Haut, daß ihr die Augen naß wurden; und mitten auf purpurnem Himmel erschien dick, rotglühend hinter den Bäumen die Sonne, wie das Gesicht eines Trunkenbolds. Die Erde, jetzt bereift, war hart und trocken, klang unter den Tritten der Hofleute, und während dieser einzigen Nacht hatten alle Äste der Pappel, die noch Blätter getragen, ihren Schmuck verloren, und hinter der Haide sah man die weite, grüne Fläche des Meeres, mit lauter weißen Wellenköpfchen.

Die Platane und Linde entlaubten sich schnell unter den Windstößen. Jedesmal, wenn die eisige Boe daher kam, flatterten ganze Schwärme von losen Blättern, die der Frost zum Fallen gebracht hatte, auf, wie ein Schwarm Vögel.

Johanna kleidete sich an und besuchte, um etwas vorzunehmen, die Pächtersleute.

Martins hoben bei ihrem Anblick erfreut und erstaunt die Arme, und die Frau küßte sie auf die Wangen, dann mußte sie ein Glas Kirsch annehmen. Nun ging sie zum andern Meierhof. Couillards hoben gleichfalls die Arme, die Frau schmatzte sie auf die Ohren, und sie mußte ein Glas Johannisbeerschnaps trinken.

Dann kehrte sie zum Frühstück heim.

Und der Tag verstrich wie der Tag vorher, nur daß es statt zu regnen kalt war, und die andern Tage der Woche waren wie diese beiden, und alle Tage dieses Monats glichen der ersten Woche.

Und allmählich verblaßte ihre Sehnsucht nach den fernen Gegenden, und die Gewohnheit legte auf ihr Dasein eine Schicht von Ergebung, wie gewisse Mineralwässer auf die Gegenstände eine Schicht von Kalk absetzen, und in ihrem Herzen erwachte von neuem ein gewisses Interesse für die unbedeutenden kleinen Dinge des täglichen Lebens und sie kümmerte sich wieder um die einfachen, regelmäßigen Beschäftigungen.

Es entwickelte sich in ihr eine Art nachdenklicher Melancholie, ein unbestimmter Ekel am Leben. Was fehlte ihr? Was wünschte sie? Sie wußte es selbst nicht. Sie hatte keine Sehnsucht nach dem Leben der Welt, keinen Durst nach Vergnügungen, ja nicht einmal Lust auf die Zerstreuungen, die sich ihr boten; was waren das auch für welche!

Vor ihren Augen verlor alles langsam die Farbe, genau so wie die alten Stühle im Salon verblichen waren; alles verwischte sich und nahm eine dunkle Trübheit an.

Ihre Beziehungen zu Julius hatten sich vollständig geändert. Er schien seit der Rückkehr von der Hochzeitsreise ein ganz anderer zu sein, wie ein Schauspieler, der seine Rolle ausgespielt hat und nun sein Alltagsgesicht wieder annimmt. Er kümmerte sich kaum um sie, sprach kaum mit ihr. Alle Anzeichen der Liebe waren plötzlich verschwunden, und selten kam er in ihr Zimmer. Er hatte die Verwaltung des Vermögens, die Leitung des Hauses übernommen, durchstöberte die Ställe, elendete die Bauern, setzte die Ausgaben herab, und da er selbst die Manieren eines Landjunkers angenommen, hatte er den Schliff und die Eleganz, die er als Bräutigam gehabt, verloren.

Seinen alten Jagdanzug aus Sammet mit Metallknöpfen, den er unter seiner Junggesellengarderobe wieder gefunden, zog er gar nicht mehr aus, obgleich er mit Flecken übersäet war, und wie die Leute, die es nicht mehr nötig haben, zu gefallen, rasierte er sich nicht mehr, sodaß er mit dem langgewordnen, schlecht gepflegten Bart unglaublich häßlich aussah. Er pflegte seine Nägel nicht mehr, und nach jeder Mahlzeit trank er vier oder fünf Glas Cognac.

Johanna versuchte, ihm ein paar Mal ganz milde Vorwürfe zu machen, aber er hatte so grob geantwortet: »Laß mich in Ruhe, verstehst Du!« daß sie nicht mehr wagte, derartiges zu sagen.

Sie hatte sich an diese Veränderung so sehr gewöhnt, daß sie sich selbst darüber wunderte. Er war ihr fremd geworden, ein Fremder, dessen Seele und Herz ihr verschlossen blieben. Sie dachte oft daran und fragte sich, wie es nur käme, daß, nachdem sie sich so begegnet, geliebt und in einem Sturm von Zärtlichkeit geheiratet hatten, sie so plötzlich einander kalt gegenüber ständen, als hätten sie nie Seite an Seite geruht.

Und wie litt sie durch seine Gleichgiltigkeit! War so das Leben? Hatten sie sich getäuscht? Gab es für sie nichts mehr zu hoffen in der Zukunft?

Wenn Julius schön geblieben wäre, etwas auf sich gehalten hätte, noch elegant und verführerisch gewesen, hätte sie dann vielleicht noch mehr gelitten?

 

Sie waren übereingekommen, daß das junge Paar nach Neujahr allein bleiben, und Papa und Mutting auf ein paar Monate wieder ihr Haus in Rouen beziehen sollten. Die jungen Leute sollten diesen Winter Les Peuples nicht verlassen, um sich ganz einzurichten, einzugewöhnen und heimisch zu werden, hier, wo sie ihr Leben verbringen sollten. Übrigens hatten sie ein paar Nachbarn, denen Julius seine Frau hätte vorstellen können, nämlich die Briseville, die Coutelier und die Fourville.

Aber die jungen Leute konnten ihre Besuche noch nicht beginnen, weil es bis jetzt noch nicht möglich gewesen war, einen Maler zu bekommen, um das Wappen auf dem Wagen umzuändern.

Der alte Baron hatte nämlich seinem Schwiegersohne den alten Familienwagen überlassen, und Julius hätte um keinen Preis der Welt sich auf den Schlössern der Nachbarschaft gezeigt, wenn das Wappen der Lamares nicht mit dem der Le Perthuis des Vauds vereinigt worden wäre.

Es gab aber in der ganzen Gegend nur einen einzigen Mann, dessen Spezialität es war, Wappen zu malen. Ein Maler, Bataille mit Namen, der der Reihe nach auf allen normannischen Besitzungen herumzog, um den kostbaren Schmuck auf den Wagenthüren aller Gefährte anzubringen.

Endlich sah man an einem Dezember-Morgen, als sie mit dem Frühstück beinahe fertig waren, einen Menschen das Thor öffnen und den Gartenweg heraufkommen. Er trug einen Kasten auf dem Rücken. Es war Bataille. Man ließ ihn ins Eßzimmer kommen und setzte ihm wie einem Herrn zu essen vor, denn durch seine Spezialität, seine immerwährende Berührung mit dem ganzen Adel der Gegend, seine Kenntnis der Wappen, der Fachausdrücke und der Embleme, war aus ihm eine Art wandelndes Wappen geworden, dem die Edelleute die Hand drückten.

Sofort ließen sie Bleistift und Papier bringen, und der Baron und Julius zeichneten, während er aß, das Alliance-Wappen auf. Die Baronin, die Feuer und Flamme war, sobald es sich um derartige Dinge handelte, gab ihre Ansicht zum Besten und sogar Johanna nahm Teil an der Diskussion, als ob plötzlich in ihr ein geheimnisvolles Interesse erwacht wäre.

Bataille gab, während er frühstückte, seinen Senf dazu. Ab und zu nahm er den Bleistift in die Hand, machte einen Entwurf, führte Beispiele an besprach alle herrschaftlichen Wagen der ganzen Gegend, wobei er in seiner Art, in seiner ganzen Geistesrichtung, sogar in seiner Stimme wie einen Hauch von Adel mitzubringen schien.

Er war ein kleiner Mann mit kurzem, grauen Haar, farbenbeklecksten Händen und roch nach Terpentin. Man sagte, er hätte früher einmal irgend eine dumme, nicht ganz reinliche Geschichte gemacht, aber die allgemeine Achtung der ganzen Aristokratie hatte diesen Fleck längst weggelöscht.

Sobald er fertig gefrühstückt hatte, führte man ihn in die Remise und nahm die Wachsleinwand ab, die den Wagen bedeckte. Bataille betrachtete ihn, dann äußerte er sich sehr ernst über die Größenverhältnisse, die er seiner Zeichnung zu geben hatte, und nach neuem Ideenaustausch machte er sich an die Arbeit.

Trotz der Kälte ließ die Baronin einen Stuhl bringen, um ihm bei seiner Arbeit zuzusehen. Dann verlangte sie eine Wärmflasche für die Füße, weil sie fror. Danach fing sie gemütlich an mit dem Mann zu schwatzen, befragte ihn über allerhand Heiraten, neue Verbindungen, die sie nicht kannte, über Todesfälle, Geburten, indem sie durch diese Erkundigungen ihre genealogischen Kenntnisse auffrischte und vermehrte.

Julius war bei seiner Schwiegermutter geblieben, rittlings auf einem Stuhle sitzend. Er rauchte seine Pfeife, spuckte auf den Boden, hörte zu und folgte mit den Blicken der Farbengebung von Batailles Pinsel.

Bald blieb auch der alte Simon, der mit der Hacke auf dem Rücken in den Gemüsegarten ging, stehen, um der Arbeit zuzusehen, und da die Ankunft des Malers Bataille in den Pachthöfen bekannt geworden, so sammelte sich bald ein Kreis von Zuschauern. Sie standen zu beiden Seiten der Baronin und riefen immer begeistert aus:

– O das ist aber 'ne große Kunst, so fein zu malen.

Die Wappen auf den beiden Wagenschlägen wurden erst am andern Tage um elf Uhr fertig.

Sofort waren alle da, und man zog den Wagen ins Freie, um die Arbeit besser beurteilen zu können. Es war ausgezeichnet. Man beglückwünschte Bataille, der mit seinem Kasten auf dem Rücken davonging, und der Baron und Mutting, Johanna und Julius kamen überein, daß der Maler ein sehr talentvoller Mann sei, der ganz ohne Zweifel, wenn die Umstände ihm nur günstig gewesen wären, ein großer Künstler geworden wäre.

Aus Sparsamkeits-Rücksichten hatte Julius Neuerungen eingeführt, die ein paar Änderungen nötig machte. Der alte Kutscher war Gärtner geworden, denn der Vicomte wollte selbst fahren und hatte die Wagenpferde verkauft, um sie nicht mehr füttern zu müssen. Da er aber jemand haben mußte, um die Tiere zu halten, wenn die Herrschaft ausgestiegen war, so hatte er einen kleinen Kuhjungen, Marius geheißen, als Diener frisiert. Dann fügte er, um sich Pferde zu verschaffen, in den Pachtkontrakt der Couillards und der Martins eine besondere Klausel ein, die bestimmte, daß die beiden Pächter, jeder einmal im Monat, an einem festgesetzten Tage ein Pferd zu stellen hätten, wofür sie die bisherige freie Geflügellieferung nicht mehr zu leisten brauchten.

Die Couillards hatten also eine große Falbe gestellt und Martins einen kleinen zottigen Schimmel. Die beiden Tiere wurden zusammen gespannt, und Marius, der in einer abgelegten Livree des alten Simon fast ertrank, fuhr mit dem Wagen vor dem Schlosse vor.

Julius hatte sich zu der Gelegenheit besser angezogen und sich ein wenig seiner früheren Eleganz erinnert; er sah aber trotzdem mit seinem großen Backenbart etwas gewöhnlich aus.

Er betrachtete die Anspannung, den Wagen und den kleinen Diener und fand alles ganz zufriedenstellend, denn das neugemalte Wappen ganz allein hatte für ihn Wichtigkeit.

Die Baronin, die am Arm ihres Mannesherunter gekommen war, stieg mühsam ein und setzte sich, indem sie ein paar Kissen in den Rücken bekam. Nun erschien auch Johanna. Zuerst lachte sie über die Zusammenstellung der Pferde und sagte: der Schimmel wäre der Enkel der Falbe. Als sie aber dann Marius gewahrte, das Gesicht vergraben in dem kokardengeschmückten Cylinder, dessen gänzliches Herabgleiten nur durch die Nase verhindert wurde, gewahrte, wie seine Hände in den Ärmeln ganz verschwanden und seine Beine in den ihn wie ein Frauenrock umfließenden Rockschößen, sodaß nur die Füße, in mächtigen Stiefeln steckend, ganz eigentümlich unten heraus guckten, gewahrte, daß er den Kopf zurück biegen mußte, um etwas zu sehen, und das Knie heben, um einen Schritt zu machen, als wollte er einen Fluß überschreiten, gewahrte, wie er herumstolperte wie ein Blinder, um den Befehlen nachzukommen, da er ganz verschwand und unterging in der Weite seines Anzugs, packte sie ein unwiderstehliches Lachen, das gar kein Ende nehmen wollte.

Der Baron drehte sich um, betrachtete den lächerlichen kleinen Mann und rief seiner Frau zu, indem er vor Heiterkeit kaum mehr sprechen konnte:

– Sieh nur mal den Marius, der ist ja zum Schießen.

Die Baronin, die sich aus dem Wagenfenster gebeugt hatte, wurde von einem solchen Lachkrampf befallen, daß der ganze Wagen schutterte.

Aber Julius war totenbleich geworden und fragte:

– Warum lacht ihr denn so? Ihr seid wohl verrückt?

Johanna lachte wie im Krampf, sie konnte sich nicht beruhigen und mußte sich auf eine Stufe der Treppe setzen, der Baron that desgleichen, und in dem Wagen zeigte ein fortwährendes, krampfhaftes Niesen, ein ununterbrochenes Keuchen an, daß die Baronin erstickte. Und nun fing auch plötzlich Marius' Rock an zu zittern. Er hatte wahrscheinlich begriffen, um was es sich handelte, denn er lachte nun selbst mit aller Gewalt drinnen in seinem Hut.

Da stürzte sich Julius wütend auf ihn, mit einer Ohrfeige trennte er den Kopf des Bengels von dem Riesenhut, der auf den Rasen flog, dann stammelte er, indem er sich zu seinem Schwiegervater umwandte, mit vor Zorn bebender Stimme:

– Ich denke, Du hast keine Veranlassung zu lachen, das wäre alles nicht nötig, wenn Du nicht Dein Geld versumpft und alles aufgefressen hättest. Wer ist denn schuld, wenn Du ruiniert bist?

Die allgemeine Heiterkeit erstarrte auf dem Fleck und keiner sagte mehr ein Wort.

Johanna war dem Weinen nahe und ließ sich lautlos neben ihrer Mutter nieder. Der Baron war erstaunt verstummt und nahm den Damen gegenüber Platz, und Julius setzte sich auf den Bock, nachdem er den heulenden Bengel, dessen Backe anschwoll, zu sich herauf gehißt.

Der Weg war traurig und erschien ihnen lang. Im Wagen schwiegen sie, sie waren still und verlegen alle drei, und wollten sich nicht eingestehen, was ihre Seelen beschäftigte. Sie wußten, daß sie von nichts anderem sprechen konnten, so quälte sie dieser schmerzliche Gedanke, und so zogen sie es denn vor, traurig zu schweigen und an dieses peinliche Thema nicht zu rühren.

Im ungleichen Trab der beiden Tiere rollte der Wagen an den Höfen und Häusern vorüber, sodaß mit eiligen Schritten erschrocken die schwarzen Hühner ausrissen, in die Hecken untertauchten und verschwanden. Diesen lief heulend ein Hofhund nach, der dann wieder mit gesträubtem Haar seine Hütte aufsuchte – um noch eine ganze Zeit dem Wagen nachzubellen. Ein junger Kerl in schmierigen Holzschuhen mit langen, baumlichen Beinen, die Hände in den Taschen, die blaue Bluse am Rücken durch den Wind aufgeweht, trat zur Seite, um den Wagen vorüber zu lassen, und zog linkisch die Mütze, daß man seine an den Kopf geklebten Haare sah.

Und zwischen jedem Meierhofe dehnte sich die Ebene aus, und andere Höfe sah man in der Ferne hier und da.

Endlich bogen sie in eine große Tannenallee ein, die auf die Landstraße mündete. In den tiefen, schmutzigen Wagengleisen neigte sich der Wagen nach der Seite, sodaß Mutting schrie. Am Ende der Allee befand sich ein weißgestrichener Schlagbaum. Er war niedergelassen. Marius lief voraus, um zu öffnen, und sie mußten nun um einen großen Rasenplatz herumfahren, um auf einem runden Kiesweg vor ein hohes, geräumiges, trauriges Gebäude zu gelangen, dessen Läden geschlossen waren.

Die Mittelthür öffnete sich, und ein alter, gelähmter Diener trat ganz erstaunt heraus, in schwarz und rot gestreifter Weste, die seine Arbeitsschürze zum Teil zudeckte. Schwerfällig, mit kleinen Schritten stieg er die Treppe herab.

Er ließ sich die Namen der Besucher sagen und führte sie in einen geräumigen Salon, dessen immer geschlossene Läden er mühsam öffnete. Die Möbel waren mit Kappen bedeckt, die Uhr und die Leuchter von weißen Überzügen eingehüllt, und eine modrige Luft, wie aus alter Zeit, eisig, feucht, die das Herz mit Traurigkeit zu erfüllen schien, atmete man ein.

Sie setzten sich und warteten. Eilige Schritte im Korridor über ihnen, zeigten ungewöhnliche Hastigkeit an. Die überraschten Schloßbewohner kleideten sich wohl schnell an, aber es dauerte lange. Jemand lief die Treppe hinauf, dann wieder hinab.

Die Baronin nieste wegen der durchdringenden Kälte mehrmals hintereinander. Julius ging auf und ab. Johanna blieb traurig neben ihrer Mutter sitzen, und der Baron stand mit gesenkter Stirn an die Marmorsäule des Kamins gelehnt.

Eine der großen Thüren öffnete sich, und Vicomte und Vicomtesse von Briseville erschienen.

Es waren zwei kleine, magere, tänzelnde Leute in einem schwer bestimmbaren Alter, förmlich und sehr verlegen. Die Frau hatte ein geblümtes Seidenkleid an und trug ein Mützchen mit Bändern. Sie sprach sehr schnell, mit etwas gereizter Stimme.

Ihr Mann war in einen prachtvollen englischen Überrock gehüllt und grüßte, die Kniee beugend. Seine Nase, seine Augen, seine unregelmäßigen Zähne, sein Haar, das aussah als wäre es mit Wachs getränkt, und sein schönes Staatsgewand glänzten, wie Dinge glänzen, die man sorgsam in Acht nimmt.

Nach den ersten Begrüßungen und freundnachbarlichen Höflichkeitsphrasen wußte niemand mehr etwas Rechtes zu sagen. Man beglückwünschte sich gegenseitig, ohne zu wissen wozu, und hoffte, man würde die angenehmen Beziehungen pflegen. Wenn man das ganze Jahr auf dem Lande wohnte, war es doch möglich, sich zu besuchen.

Dabei ging die eisige Temperatur bis auf die Knochen und machte heiser. Die Baronin hustete jetzt, ohne dabei mit Niesen aufgehört zu haben. Da gab der Baron das Zeichen zum Aufbruch. Brisevilles baten aber schnell:

– Bleiben Sie doch noch ein bißchen.

Doch trotz der Winke Julius', der den Besuch zu kurz fand, hatte sich Johanna schon erhoben.

Man wollte dem Diener klingeln, um den Wagen zu bestellen, aber die Klingel ging nicht, und der Hausherr eilte davon, kehrte zurück und sagte, man hätte die Pferde schon in den Stall gebracht.

Sie mußten warten. Jeder suchte irgend eine Redensart, um etwas zu sagen. Man sprach vom regnerischen Winter, Johanna fragte, indem sie ein Schauer überlief, was wohl ihre beiden Wirte das ganze Jahr hier allein trieben.

Aber die Brisevilles waren erstaunt über die Frage, denn sie beschäftigten sich unausgesetzt. Sie schrieben viel an ihre adligen Verwandten, die über ganz Frankreich gesäet waren, und verbrachten ihre Tage mit tausend Kleinigkeiten, waren förmlich gegeneinander wie gegen Fremde und sprachen in der wichtigsten Weise über die unbedeutendsten Dinge.

Und unter der hohen gebräunten Decke des großen, unbewohnten Salons, in dem alles verhängt war, schienen Johanna der Mann und die Frau so klein, so rein, so tadellos.

Endlich fuhr der Wagen mit den beiden ungleichen Gäulen vor. Aber Marius war verschwunden. Er hatte gemeint, bis zum Abend frei zu sein und hatte wahrscheinlich eine kleine Unternehmung in die Nachbarschaft riskiert. Julius war wütend und bat, man möchte ihn zu Fuß nachschicken, und nach vielen gegenseitigen Begrüßungen und Lebewohls fuhr man wieder nach Les Peuples.

Sobald sie im Wagen saßen, fingen Johanna und ihr Vater, trotz des Druckes, der noch immer wegen Julius' Rohheit auf ihnen lastete, an zu lachen, indem sie der Brisevilles Bewegungen und Art zu sprechen nachmachten. Der Baron ahmte dem Manne nach, Johanna der Frau; aber die Baronin fühlte sich etwas im Respekt gekränkt und sagte:

– Es ist sehr unrecht, euch so lustig zu machen, die Leute sind sehr comme il faut und von ausgezeichneter Familie.

Sie schwiegen eine Weile, um Mutting nicht zu kränken, aber trotz allem begannen Papa und Johanna ab und zu wieder, indem sie sich anblickten. Er machte eine förmliche Verbeugung und sagte in feierlichem Ton:

– Ihr Schloß Les Peuples muß sehr kalt sein, gnädige Frau, mit diesem gewaltigen Seewind, der dort immer bläst.

Sie nahm eine gekränkte Miene an und murrte, indem sie mit dem Kopfe nickte, wie eine Ente, die sich badet:

– O, wissen Sie, ich habe das ganze Jahr hier zu thun. Wir haben so viel Verwandte, denen man zu schreiben hat, und Herr von Briseville überläßt mir alles. Er treibt mit dem Abbé Pelle wissenschaftliche Studien. Sie schreiben zusammen die religiöse Geschichte der Normandie.

Nun lächelte die Baronin etwas geärgert, aber wohlwollend, und sagte:

– Es ist nicht recht, sich über Leute unseres Standes lustig zu machen.

Aber plötzlich blieb der Wagen halten. Julius brüllte etwas. Er rief jemand hinter sich. Da erblickten Johanna und die Baronin, die sich aus dem Wagen gebeugt, ein sonderbares Wesen, das auf sie zuzurollen schien. Die Beine in die fliegenden Schöße seiner Livrée verwickelt, blind gemacht durch den Hut, der unausgesetzt hin und herschwankte, die Ärmel wie ein paar Windmühlenflügel drehend, in die dicksten Pfützen platschend die er ohne Überlegung durchschritt, über jeden Stein im Wege stolpernd und sich über und über mit Dreck bespritzend, lief Marius, so schnell ihn seine Füße trugen, dem Wagen nach. Sobald er sie eingeholt hatte, beugte sich Julius herab, packte ihn am Kragen, zog ihn zu sich herauf, ließ die Zügel los und begann den Hut, der ihm bis auf die Schultern herabgetrieben ward, mit Faustschlägen zu traktieren, daß es wie Trommeln klang.

Der Bengel brüllte, suchte auszureißen, vom Bock zu springen, während sein Herr, indem er ihn mit der einen Hand hielt, mit der andern immer weiter schlug. Johanna stammelte halb verzweifelt:

– Papa, ach Papa! Und die Baronin preßte ganz empört den Arm ihres Gatten:

– Aber so hindere ihn doch! Hindere ihn doch!

Da ließ plötzlich der Baron vorn eine Scheibe des Wagenfensters herunter, packte seinen Schwiegersohn am Ärmel und brüllte ihn an:

– Hast Du das Kind bald genug gehaun?

Julius blickte sich erschrocken um und rief:

– Siehst Du denn nicht, wie der Bengel seine Livrée zugerichtet hat?

Aber der Baron antwortete, indem er den Kopf zwischen die beiden steckte:

– Das ist ganz gleich, so roh ist man nicht.

Julius ward wieder böse:

– Bitte laß mich in Ruhe, das geht Dich nichts an! Er hob von neuem zum Schlage die Hand, aber sein Schwiegervater packte sie schnell und zog sie mit solcher Kraft herab, daß sie gegen das Holz des Bockes stieß, und dabei schrie er heftig:

– Wenn Du jetzt nicht sofort aufhörst, steige ich sofort aus! Ich will Dich schon zwingen, daß Du es sein läßt . . . .

Der Vicomte beruhigte sich plötzlich . . . . zuckte mit den Achseln und hieb auf die Tiere ein, daß sie im langen Trabe davonrasten.

Die beiden Frauen waren bleich geworden, bewegten sich nicht, und man hörte deutlich das laute Klopfen des Herzens der Baronin.

Bei Tisch war Julius netter als gewöhnlich, als ob nichts geschehen wäre. Johanna, ihr Vater und Frau Adelaide, die schnell vergaßen in ihrem heitern Wohlwollen, waren ganz gewonnen, weil er liebenswürdig war, und gaben sich ihrer Fröhlichkeit hin mit dem Wohlbehagen des Gesunden.

Als Johanna wieder von den Brisevilles sprach, fing sogar ihr Mann an zu scherzen, aber er fügte doch sehr bald hinzu:

– Sie mögen sein wie sie wollen, jedenfalls sind sie sehr vornehm.

Andere Besuche wurden nicht gemacht, jeder fürchtete, daß der Fall Marius sich wiederholen möchte. Sie beschlossen nur, den Nachbarn zum Jahreswechsel Karten zu schicken und die Besuche bis auf die ersten schönen Tage des folgenden Frühlings zu verschieben.

Weihnachten kam. Zu Tisch erschienen der Pfarrer, der Ortsvorstand und seine Frau, zum Neujahrstag wurden sie wieder eingeladen.

Das waren die einzigen Zerstreuungen, die das monotone Einerlei der Tage unterbrachen.

Papa und Mutting hatten die Absicht, am 9. Januar Les Peuples zu verlassen. Johanna wollte sie zurückhalten, aber Julius gab sich weiter keine Mühe, und wegen der Unliebenswürdigkeit seines Schwiegersohnes ließ der Baron eine Extrapost aus Rouen kommen.

Am Abend vor ihrer Abreise, nachdem alles gepackt, entschlossen sich Johanna und ihr Vater, da es ein heller Frosttag war, nach Yport zu gehen, wo sie seit ihrer Rückkehr aus Korsika nicht wieder gewesen waren.

Sie kamen durch den Wald, durch den sie am Tage ihrer Hochzeit gegangen war, an der Seite des Mannes, dessen Gefährtin auf ewig sie werden sollte, durch den Wald, wo sie ihre erste Liebkosung empfangen, den ersten Schauer der Liebe gefühlt und jene sinnliche Liebe geahnt, die sie erst im wilden Waldthale Ota hatte empfinden sollen, an der Quelle, wo sie getrunken und ihre Küsse mit dem Wasser vermischt hatten.

Nirgends war mehr Laub an den Bäumen, kein sprießendes Gras, man hörte nur das Knacken der Äste und den dürren Klang, den die kahlen Gebüsche im Winter von sich geben.

Sie kamen in das kleine Dorf. Die Straßen waren leer und schweigsam, es duftete nach Meer, Seetang und Fischen. Die großen Netze hingen noch immer vor den Thüren zum Trocknen oder lagen ausgebreitet am Strande. Das graue, kalte Meer mit seinen ewigen, tobenden Schaumwellen begann in die Ebbe zu treten; nach Fécamp zu erschienen am Rande der Klippen die grünlichen Felsen, und längs des Strandes sahen die großen Boote, die auf der Seite lagen, aus wie mächtige tote Walfische.

Und die Fischer kamen in Gruppen ans Ufer, schwer einherschreitend in ihren mächtigen Seemannsstiefeln, ein Tuch um den Hals, die Schnapsflasche in der einen Hand und in der andern die Laterne ihres Schiffes. Lange gingen sie um die schiefliegenden Boote herum. Mit normannischer Bedächtigkeit verstauten sie ihre Netze, einen großen Laib Brot, einen Topf mit Butter, Schnapsflasche und Glas an Bord. Dann schoben sie das aufgerichtete Boot gegen das Wasser, das mit großem Lärm auf dem Strande hinrutschte, in die Brandung schoß, sich auf den Wellen schaukelte, ein Paar Augenblicke hin und her schwankte, dann seine mächtigen braunen Flügel entfaltete und mit seinem kleinen Licht an der Mastspitze in der Nacht verschwand.

Und die großen Seemannsfrauen, deren grobe Glieder unter den dünnen Kleidern sich abzeichneten, die bis zur Abfahrt des letzten Fischers gewartet hatten, kehrten in das schlafende Dorf zurück, mit ihrem Gekreisch die Stille der Straße störend.

Der Baron und Johanna sahen unbeweglich zu, wie im Dunkel die Männer verschwanden, die so wie heute jede Nacht hinausfuhren, ihr Leben zu wagen, um nicht Hungers zu sterben, und dabei doch in so dürftigen Verhältnissen waren, daß bei ihnen niemals Fleisch auf den Tisch kam.

Der Baron ward ganz begeistert angesichts des Ozeans:

– Er ist furchtbar und doch schön! Wie wundervoll ist dies Meer, wenn es dunkel wird, dies Meer auf dem so viele Menschenleben stündlich in Gefahr schweben! Nicht wahr, Hannchen?

Sie antwortete mit eisigem Lächeln:

– Aber mit dem Mittelmeer nicht zu vergleichen.

Doch ihr Vater war empört:

– Das Mittelmeer ist das reine Öl, Zuckerwasser, blaues Wasser im Waschtrog! Sieh nur mal, wie das grausig ist mit den großen Schaumköpfen und denke nur, alle diese Männer, die da hinausgefahren und schon verschwunden sind.

Johanna gab es mit einem Seufzer zu:

– Ja, wenn Du willst.

Aber das Wort: Mittelmeer, das ihr auf die Lippen gekommen war, hatte wieder ihr Herz gepackt und ihre Gedanken nach den fernen Gegenden zurückgeführt, wo ihre Träume schliefen.

Vater und Tochter gingen nun, statt durch den Wald zurückzukehren, auf die Straße und stiegen langsam die Höhe hinan. Sie sprachen kaum, sie waren traurig über die baldige Trennung.

Ab und zu wehte ihnen, wenn sie an den Grenzgräben der Bauernhöfe vorüberkamen, der Geruch gestampfter Äpfel, jener Duft frischen Apfelweins entgegen, der zu dieser Jahreszeit über dem ganzen normannischen Lande zu liegen scheint; oder Stallgeruch traf sie, jener warme, angenehme Duft, den der Kuhdünger ausströmt. In jedem Hof bezeichnete ein erleuchtetes Fenster das Wohnzimmer, und Johanna war es, als weitete sich ihre Seele, als verstünde sie das Unsichtbare. Diese kleinen, über die Felder hin verstreuten Lichtflecke flößten ihr plötzlich wieder das lebhafte Gefühl ein, daß alle Wesen auf dieser Erde doch allein stehen, alle einander fremd sind, keiner das Glück findet, das er ersehnt.

Da sagte sie mit trauriger Stimme:

– Das Leben ist nicht immer heiter!

Der Baron seufzte:

– Ja, Kleine, wir können es nicht ändern.

Und als am nächsten Tage Papa und Mutting abgereist waren, blieben Johanna und Julius allein.

 


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