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Sechzehntes Kapitel.

»Fort, fort, junger Mann! Macht Euch aus dem Staub; hier ist ein Kloster, dort ist 'ne Kirche; hierhin, dorthin!«

So ward unsrem Renzo von allen Seiten her zugeschrien. Was das Entwischen betraf, so bedurfte es wohl der Ermahnung weiter nicht. Sobald nur eine Hoffnung, aus diesen Klauen zu entkommen, in seinem Geiste aufgeblitzt war, hatte er seine Rechnung zu machen begonnen und war willens, wenn ihm die Flucht geglückt wäre, ohne Stillstand fortzuwandern, bis er nicht bloß aus der Stadt, sondern außerhalb des Herzogtums sich befände. – Denn, dachte er, meinen Namen, welcher Teufel ihn auch den Schelmen zugeblasen hat, den haben sie einmal in ihren Büchern, und mit Namen und Zunamen fallen sie über mich her, wann sie wollen. – In einen heiligen Zufluchtsort würde er sich nur im äußersten Falle geworfen haben. – Denn wenn ich ein Vogel im Walde sein kann, war seine Gesinnung, so habe ich nicht Lust, im Käfig zu sitzen. – Es war daher sein Plan, als Ziel und Zuflucht jenen Ort im Gebiete von Bergamo zu wählen, woselbst sein Vetter Bortolo wohnte und ihn, wie der Leser sich erinnert, gleichfalls angesiedelt zu sehen wünschte. Es kam aber darauf an, die Straße zu finden. Plötzlich sich in der unbekannten Gegend einer unbekannten Stadt befindend, wußte Renzo nicht einmal, zu welchem Tore man hinauszugehen habe, um nach Bergamo zu kommen, und wenn er es auch gewußt hätte, so kannte er selbst den Weg zum Tore nicht. Er stand einen Augenblick überlegend da, ob er seine Befreier um Nachweis bitten sollte; doch schon während der kurzen Zeit, die ihm geblieben, um über seine neue Lage nachzudenken, waren ihm über den höflichen Schwertfeger, den Vater von vier Kindern, seltsame Gedanken durch den Kopf gefahren; er wollte also seine Entschlüsse einem großen Haufen, in welchem ein zweiter von demselben Gelichter stecken konnte, nicht aufs Geratewohl preisgeben. Deshalb beschloß er, sich schnell von dort zu entfernen; nach dem Wege konnte er hernach an einer Stelle fragen, wo keiner wußte, wer er war oder weshalb er danach fragte. Darauf sprach er kurz zu seinen Befreiern: »Dank, Dank, Kinder, Gottes Segen mit euch!«, schritt durch den leeren Zwischenraum, welchen man ihm augenblicklich geöffnet hatte, nahm die Füße in die Hand und machte sich fort. So ging's in ein Gäßchen hinein und dann durch eine kleine Straße; ohne zu wissen wohin, lief er eine ganze Strecke fort.

Er gelangte auch glücklich aus Mailand heraus und machte sich, hier und dort mit aller Vorsicht fragend, nach der Grenze des mailändischen Staates auf den Weg. Die Furcht im Rücken, wanderte er den ganzen Tag hindurch und kam abends in Gorgonzola an, das auf der Straße nach Bergamo liegt, hart an der Grenze, aber immer noch im Mailändischen, welches der Lauf der Adda von dem venezianischen Gebiete scheidet. Schon unterwegs war's sein Entschluß, hier einen Stillstand zu machen und eine ausführlichere Mahlzeit zu sich zu nehmen. Der ermüdete Körper hätte sich gar gern auch ein Bette gefallen lassen; ehe er aber sich diese Befriedigung gewährte, wäre unser Wanderer lieber erschöpft auf der Landstraße niedergefallen. Indessen wollte er sich im Wirtshause über die Entfernung der Adda erkundigen, wollte sich sagen lassen, wie man über den Fluß hinübergelangte, und dann, gleich nach der Mahlzeit, sich auf den angegebenen Weg machen. Für den Augenblick dünkte es ihn das wichtigste, das jenseitige Ufer und damit fremdes Gebiet und Sicherheit zu erreichen. Wenn sich das an dem nämlichen Tage nicht mehr durchsetzen ließ, so war's sein Vorsatz weiterzuwandern, solange Nacht und Atem ihm gestatteten, und dann auf irgendeinem einsamen Anger, wo es Gott gefiele, die nächste Morgenröte zu erwarten.

Er hatte in Gorgonzola gerade einige Schritte getan, so fiel ihm das Schild eines Gasthauses ins Auge. Er trat hinein und forderte vom Wirt, der ihm entgegenkam, eine Abendmahlzeit und ein Nößel Wein. – »Ich bitt' Euch um Eile,« fügte er hinzu, »ich muß mich den Augenblick wieder auf den Weg machen.«

Der Wirt versprach es, und Renzo saß währenddessen dort, wo Verzagte gewöhnlich zu sitzen pflegen, am Ende des Tisches, dicht an der Türe.

Im Zimmer befanden sich einige müßige Leute aus dem Dorfe. Sie hatten über die großen Neuigkeiten aus Mailand vom vorigen Tage gesprochen, gestritten und ihre Bemerkungen zum besten gegeben; es lag ihnen am Herzen, zu wissen, wie es mit der Sache wohl auch an diesem Tage gegangen sein möchte; die Begierde war um so größer, je lebhafter die ersten Nachrichten die Neugier geweckt und gereizt hatten; eine Empörung, die weder unterdrückt noch siegreich, durch die Nacht mehr ausgesetzt als beendigt worden; eine verstümmelte Geschichte, eher das Ende eines Aufzuges als eines Schauspiels. Einer unter diesen Leuten trat aus der Gesellschaft hervor, machte sich an unsern Flüchtling und fragte ihn, ob er von Mailand käme.

»Ich?« sagte Renzo überrascht, um Zeit zur Antwort zu gewinnen.

»Ja, Ihr, wenn's erlaubt ist, zu fragen.«

Renzo schüttelte den Kopf, zuckte mit den Lippen und ließ einige undeutliche Worte hören. – »Mailand,« sagte er, »soviel ich höre, so ungefähr zu sagen ... das ist kein Ort, wo einer gegenwärtig hingehen sollte, wofern ihn nicht die größte Not dazu zwingt.«

»Dauert also auch heute der Lärm noch fort?« fragte der Neugierige und ward immer zudringlicher.

»Man müßte dort sein, um es zu wissen,« sagte Renzo.

»Aber Ihr, kommt Ihr denn nicht von Mailand?«

»Ich komme von Liscate,« antwortete der Jüngling, der indessen seine Antwort überlegt hatte, gerade heraus. Er sagte keine Lüge; er war durch das Dorf gekommen, und ein Reisender, welcher ihm den Weg nach Gorgonzola angab, hatte ihm den Namen gesagt.

»O!« rief der gute Mann, als wenn er sagen wollte: 's wär' gescheiter, du kämst von Mailand; aber Geduld. – »Und in Liscate wußte man nichts aus Mailand?« fügte er hinzu.

»'s ist sehr leicht möglich, daß einer da was wußte,« antwortete unser Jüngling aus dem Gebirge; »ich aber hab' nichts gehört.« – Er hatte in diese Worte einen gewissen Ausdruck gelegt, als wollte er damit andeuten: Nun hab' ich's satt. Der Neugierige ging zu seiner Gesellschaft zurück; einen Augenblick später kam der Wirt und tischte auf.

»Wie weit ist's denn wohl von hier bis zur Adda?« fragte Renzo mit halber Stimme. Dabei nahm er eine schläfrige Gleichgültigkeit an.

»Bis zur Adda, um hinüberzukommen?« fragte der Wirt.

»Ja, ja, das mein' ich ... zur Adda.«

»Wollt Ihr über die Brücke von Cassano, oder meint Ihr die Fähre von Canonica?« fragte jener.

»Wo es ist, gleichviel. Ich frag' so ... aus Neugier.«

»Eh, ich sag's nicht umsonst. Das sind so die Stellen, wo die ordentlichen Leute hinübergehen, die Rechnung von sich ablegen können.«

»Gut. Wie weit ist's also?«

»Wohlerwogen wird's nach dem einen wie nach dem andern Punkt sechs Miglien sein.«

»Sechs Miglien! Das wußt' ich nicht,« sagte Renzo. Er nahm eine auffallende Miene des Überdrusses an, daß sie ihm fast unnatürlich stand, und fragte weiter: »Und wenn's einem nun drum zu tun wäre, einen Richtweg zu nehmen, kommt er da wohl durch andere Ortschaften durch?«

»'s finden sich sicherlich welche,« antwortete der Wirt und sah ihm mit dem Blick boshafter Neugier scharf ins Gesicht. Und der Blick war scharf genug, um die übrigen Fragen, welche der Jüngling in Bereitschaft hatte, ihm auf der Zunge zurückzudrängen. Er zog die Schüssel an sich heran, betrachtete den Nößel, welchen der Wirt auf den Tisch gestellt hatte, und fragte, ob der Wein auch unverfälscht wäre.

»Wie Gold,« versicherte der Wirt. »Fragt alle Leute im Dorfe und in der Gegend herum, so könnt Ihr's hören. Und dann werdet Ihr ihn ja selber kosten.« – Mit diesen Worten trat er zur Gesellschaft hin.

Verdammte Wirte, hätte Renzo gern laut gesagt, je mehr ich deren kennen lerne, desto nichtswürdiger finde ich sie. – Indessen ließ er sich's tüchtig schmecken, hielt aber beständig, ohne danach auszusehen, das Ohr hin, um sich von seiner Lage zu überzeugen und zu erfahren, wie über die große Begebenheit, an welcher er selbst nicht unbedeutenden Teil genommen, die Leute hier dachten; zugleich wollte er auskundschaften, ob unter den Sprechern da sich vielleicht ein rechtschaffener Mann befände, welchen ein armer junger Mensch, ohne Furcht, in die Enge getrieben oder zum Schwatzen über sich selbst gezwungen zu werden, vertrauensvoll nach dem Wege fragen dürfte.

»Aber,« begann der eine, »diesmal scheint's doch gerade, als wenn die Mailänder einmal was Gutes hätten anstellen wollen. Genug, morgen spätestens werden wir etwas zu hören bekommen.«

»'s tut mir in der Seele leid, daß ich nicht diesen Morgen nach Mailand gegangen bin,« sagte ein andrer.

»Wenn du morgen gehst, gehe ich mit,« sprach ein dritter, ebenso ein vierter und ein fünfter.

In dem Augenblick ließ sich der Hufschlag eines nahenden Pferdes hören. Alle laufen nach der Türe, und kaum haben sie den Daherkommenden erkannt, eilen sie ihm sämtlich entgegen. Es war ein Kaufmann aus Mailand, welcher jährlich einigemal in Geschäften die Reise nach Bergamo machte und die Nacht in diesem Wirtshause zuzubringen pflegte; da er nun fast immer dieselbe Gesellschaft darin antraf, war er der Bekannte eines jeden geworden. So drängten sie sich denn um ihn her: der eine faßte die Zügel, der andre den Steigbügel. – »Willkommen!«

»Gott zum Gruß!« rief der Kaufmann ihnen als Antwort zu.

»Ist die Reise gut gegangen?«

»Vortrefflich. Und ihr hier, wie geht's euch?«

»Gut, gut. Was Neues aus Mailand?«

»Eh, da sind gleich die Neuigkeitskrämer bei der Hand!« sagte der Kaufmann, stieg ab und ließ sein Pferd in den Händen des Hausknechts. – »Und übrigens,« fuhr er fort, indem er mit der Gesellschaft zur Türe hineintrat, »und übrigens wißt ihr's um diese Stunde vielleicht schon besser als ich.«

»Nein, im Ernst, wir wissen ganz und gar nichts,« sagte mehr als einer und legte die Hand auf die Brust.

»Wie täte das zugehen?« fragte der Kaufmann. »Ihr sollt also gar schöne oder gar häßliche Geschichten zu hören bekommen. He, Wirt, steht mein gewöhnliches Bette leer für mich da? – Gut, einen Becher Wein und mein gewöhnliches Abendessen; geschwind, ich will mich beizeiten niederlegen und morgen in aller Frühe mich wieder auf die Beine machen, um gegen Mittag in Bergamo hineinreiten zu können. Und ihr, Leutchen,« fuhr er fort, indem er sich ans andre Ende des Tisches setzte und von Renzo mit schweigender Aufmerksamkeit beobachtet ward, »von allen verteufelten Geschichten, die gestern vorgefallen, wißt ihr nichts?«

»Von gestern haben wir wohl sprechen hören.«

»Da seht ihr nun, ob ihr die Neuigkeiten wißt,« entgegnete der Kaufmann. »Ich hab's gleich sagen wollen, ihr steht hier immer auf Wache und mustert einen jeden, der durchkommt ...«

»Aber heute! Wie ist's denn heute gegangen?«

»Ah, heute; von heute wißt ihr nichts?«

»Nicht das Geringste,« war die Antwort; »'s ist noch niemand durchgekommen.«

»Laßt mich also die Lippen erst ein wenig anfeuchten, und dann wollen wir ein Wörtchen von heute sprechen. Ihr sollt zu hören kriegen.« – Darauf füllte er den Becher, nahm ihn in die rechte Hand, hob mit den beiden Fingern der andern den Schnauzbart in die Höhe, strich mit der Fläche den Bart am Kinn nieder, trank und nahm wieder das Wort: »Heute, liebe Freunde, hat wenig gefehlt, so wär' der Tag ebenso stürmisch wie gestern oder noch schlimmer abgelaufen. Und es kommt mir gar nicht wahrscheinlich vor, daß ich hier sitze und euch davon erzähle; denn ich hatte alle Gedanken an die Reise schon beiseite gesetzt, wollte zu Hause bleiben und auf meinen armen Kram achthaben.«

»Was hat's denn gegeben?« fragte einer der Zuhörer.

»Was es gegeben hat? Ihr werdet's hören!« Indem er darauf das Fleisch, das ihm vorgesetzt worden war, schnitt und sich's schmecken ließ, fuhr er in seiner Erzählung fort. Die Gesellschaft, zur Rechten und Linken des Tisches auf den Beinen, hörte ihm mit offenem Munde zu; Renzo, welcher am andern Ende eben den letzten Bissen zu sich nahm, schien am wenigsten teilzunehmen und saß doch in der gespanntesten Aufmerksamkeit da.

»Die Schurken, die gestern so einen entsetzlichen Lärm gemacht hatten, fanden sich heute früh auf ihren verabredeten Posten ein; sie verstanden sich untereinander, 's war alles vorbereitet. Und so kamen sie denn zusammen und fingen dieselbe saubere Geschichte wieder an, zogen von Straße zu Straße und machten ein lautes Geschrei, um Volk zusammenzurufen. Ihr wißt, 's ist gerade, mit Verlaub zu sagen, als wenn das Haus ausgefegt wird; der zusammengekehrte Müllhaufe wird immer größer, je weiter der Besen vorrückt. Wie sie nun glaubten, es seien Leute genug da, machten sie sich auf den Weg nach dem Hause des Herrn Speichervogts; als wenn's an den Unmenschlichkeiten, die sie gestern mit ihm vorgenommen, noch nicht genug wäre, mit 'nem Herrn von solchem Range! Die Schurken die! Und was sie für Nichtswürdigkeiten gegen ihn ausstießen! Lauter Erfindungen; ein rechtschaffener, pünktlicher Herr! Ich kann's sagen, bin sein alles in allem und verkauf' ihm das Tuch zur Livree für seine ganze Dienerschaft. Sie strömten also nach dem Hause, in der hübschen Absicht, eine Plünderung vorzunehmen; aber ...« Hier hob der Redner die linke Hand in die Höhe und setzte die Spitze des Daumens an die Nasenspitze.

»Aber?« riefen beinahe sämtliche Zuhörer.

»Aber,« fuhr der Kaufmann fort, »sie fanden die Straße mit Balken und Karren verrammelt und hinter der Wagenburg eine hübsche Reihe von Soldaten; hatten die Flintenhähne gespannt und die Kolben dicht an den Schnauzbart angelegt. Wie sie sich mit dem Gruß empfangen sahen ... Was hättet ihr in dem Fall getan?«

»Zurückgegangen.«

»Sehr vernünftig, und so machten sie's auch. Seht aber einmal, ob's nicht der leibhaftige Teufel war, der sie regierte. Sie stehen auf dem Cordusio, sie sehen die Bäckerei vor sich, die sie schon gestern hatten auskramen wollen – und was geschah eben in dem Laden? Man teilte den Kunden das Brot aus; 's standen Edelleute da, der wahre Kern des Adels, und hatten acht, daß alles in guter Ordnung zuginge – und die Kerle ... sie hatten den Teufel im Leibe, sag' ich euch, und dann mußt' es ihnen einer ins Ohr flüstern – in den Laden hinein, wie wütende Stiere; nimm du, ich nehm' auch; in einem Augenblick Edelleute, Bäcker, Kunden, Brote, Kasse, Bänke, Backtröge, Kisten, Säcke, Mehlbeutel, Kleie, Mehl, Teig, alles von unterst zu oberst!«

»Und die Soldaten?«

»Die Soldaten, die hatten das Haus des Speichervogts zu bewachen; 's kann einer nicht singen und zu gleicher Zeit das Kreuz tragen. In einem Augenblick, sag' ich euch; sie raffen und raffen zusammen; was sich nur packen läßt, wird fortgeschleppt. Und darauf rückt der schöne Zug von gestern wieder ins Feld, um die Trümmer auf den Platz zu tragen und sein Freudenfeuer wieder anzuzünden. Und die Halunken fingen schon an, Sachen herauszuschleppen; und einer unter ihnen, ein Haupthalunke, was meint ihr wohl, mit was für 'nem saubern Vorschlag er sich hören ließ?«

»Mit was für einem?«

»Mit was für einem? Aus allem, was in der Bude zu finden, einen Haufen zu machen, Feuer darunter zu legen und so den Haufen mitsamt dem Hause anzustecken. Gesagt, getan ...«

»Haben sie's angesteckt?«

»Geduld. Nebenbei stand ein rechtschaffener Mann, dem gab der Himmel einen prächtigen Gedanken ein. Er lief hinauf in die Zimmer oben, suchte nach einem Kruzifix, fand es, hängte es an den Querbogen eines Fensters, nahm über einem Bette zwei geweihte Lichter fort, steckte sie an und stellte sie zur Rechten und Linken vom Kruzifix auf die Brüstung. Das Volk guckt hinauf. In einem Mailand, das muß man sagen, ist noch immer Gottesfurcht vorhanden – sie gingen also in sich. Der größte Teil, will ich sagen; 's standen freilich Höllenkerle da, die um des Raubes willen selbst das Paradies in Brand gesteckt hätten; wie sie aber sahen, daß das Volk anders dachte, mußten sie wieder zurück und sich ruhig verhalten. Nun ratet einmal, wer dazukam! Alle geistlichen Herren vom Dom, in Prozession, mit aufgerichtetem Kreuze, in Chorkleidern; Seine Ehrwürden der Erzbischof fing von der einen Seite zu predigen an, Seine Ehrwürden der Oberbeichtvater von der andern, und dann wieder andre, hier und dort: ›Aber gutes Volk! Aber was habt ihr vor? Ist das das Beispiel, das ihr euren Kindern geben wollt? Geht nach Hause, ihr sollt wohlfeiles Brot haben; geht hin und seht, der feste Preis ist an die Ecken angeschlagen.‹«

»War's wahr?« fragten die Zuhörer.

»Wie? Ob's wahr war? Meint ihr etwa, die geistlichen Herren vom Dom wären in vollem Staatskleid hergekommen, um den Bürgern mit Märchen aufzuwarten?«

»Und die Leute? Was taten die?«

»Nach und nach gingen sie weg; sie liefen an die Straßenecken, und wer nur lesen konnte, der fand richtig die Taxe angeschlagen. Denkt euch mal, das Groschenbrot zu acht Unzen an Gewicht!«

»Das heißt ein Stich!«

»Der Gewinst ist schön; es kommt nur darauf an, ob er lange dauern wird. Wißt ihr, wieviel Mehl sie von gestern und heute früh verschleppt haben? Auf zwei Monate könnte man das ganze Herzogtum damit versehen.«

»Und für uns hier draußen ist kein gutes Gesetz gemacht worden?«

»Was für Mailand geschehen ist, das ist alles auf Kosten der Stadt geschehen. Ich kann euch weiter nichts sagen; für euch wird geschehen, was Gott will. Einstweilen hat's mit dem Lärm glücklich sein Ende; denn ich hab' euch noch nicht alles gesagt; jetzt kommt erst das Gute.«

»Was hat sich denn noch weiter begeben?«

»Gestern abend oder heute früh sind viele von den Rädelsführern festgenommen worden, und auf der Stelle hat man gewußt, daß viere an den Galgen kommen. Kaum lief das Gerücht herum, so machten sich die übrigen alle auf dem kürzesten Wege nach Hause, um nicht Numero fünf zu sein. Wie ich zum Tor herausritt, sah euch ganz Mailand gerade wie ein Mönchskloster aus.«

»Und werden sie sie wirklich aufhängen?«

»Gar kein Zweifel, und das bald,« antwortete der Kaufmann, »'s sind Kerle, die 's verdient haben, 's ist Gottes Schickung, seht ihr; 's war 'ne notwendige Sache. Hatten schon mit 'ner wahren Jubellust angefangen, in die Läden einzubrechen und sich zu nehmen, was da war, ohne mit der Hand in den Geldbeutel zu greifen; hätt' man ihnen den Zügel schießen lassen, so wär' nach dem Brot der Wein an die Reihe gekommen, und so eins nach dem andern ...; könnt also selbst denken, ob die Bösewichter eine so vorteilhafte Manier aus freiem Willen beiseitesetzen wollten, und ich kann euch versichern, für einen rechtschaffenen Mann, der seinen Laden offen stehen hat, roch der Spuk nicht nach Rosen.«

»Eh, sicher,« sagte einer der Zuhörer. – »Sicher, sicher,« wiederholten die übrigen in der Runde.

»Und die Sache war seit langer Zeit angelegt,« fuhr der Kaufmann fort, sich den Bart mit dem Tischtuch abwischend, »'s war 'ne Verbrüderung, wißt ihr?«

»Eine Verbrüderung?«

»Eine Verbrüderung, ja. Lauter Kabalen, die von den Navarrinern ausgingen, von dem Kardinal dort in Frankreich, der 'nen halb türkischen Namen hat und tagtäglich eine neue List zusammenspinnt, um der Krone von Spanien eins auszuwischen.«

»Der Tausend!«

»Wollt ihr den Beweis sehen? Die das meiste Gepolter getrieben haben, das waren Fremde; es schlichen Gesichter herum, die man nimmermehr in Mailand gesehen hatte. Da hab' ich eben euch eine Geschichte zu erzählen vergessen, welche mir als ganz sicher mitgeteilt wurde. Die Gerechtigkeit hatte einen in einem Wirtshause ertappt ...« Renzo, welcher kein Jota von dem ganzen Gespräche verloren, wurde beim Berühren dieser Saite von einem Schauder überrieselt und zuckte auf, ehe er daran dachte, sich ruhig in Schranken zu halten. Indessen ward es keiner gewahr, und der Redner sprach, ohne seine Erzählung einen Augenblick zu unterbrechen, weiter. – »Man weiß noch nicht eigentlich, aus welcher Gegend er hergekommen, von wem er geschickt worden oder was für 'ne Art Kerl es gewesen; aber auf jeden Fall war er eins von den Häuptern. Schon gestern hatte er, mitten im Getümmel, den Teufel gespielt, und damit nicht zufrieden, hatte er zu predigen angefangen und so eine lustige Artigkeit in Vorschlag gebracht: den hohen Herren nämlich sollte allen der Hals abgeschnitten werden. Der Spitzbube! Wer täte den armen Leuten zu leben verschaffen, wenn die hohen Herren umgebracht würden? Die Gerechtigkeit war hinter ihm her und packte ihn beim Kragen; ein ganzes Paket von Briefen fanden sie bei ihm, und so zogen sie ins Gefängnis mit ihm ab. Aber was geschah? Seine Spießgesellen, die um den Gasthof als Wache standen, kamen in großer Masse an und setzten ihn in Freiheit, den Halunken.«

»Und was ist aus ihm geworden?«

»Man weiß nicht,« erklärte der Kaufmann. »Er wird sich aus dem Staub gemacht haben oder in Mailand versteckt sitzen, 's sind Kerle, die weder Dach noch Fach haben, und finden allerorten ein Unterkommen, um sich zu verkriechen; aber nur solange der Teufel kann und ihnen beistehen mag; wenn sie's nachher am wenigsten sich vermuten, fallen sie ins Netz; denn wenn der Apfel reif ist, so fällt er an die Erde. Für jetzt weiß man gewiß, daß die Briefe in den Händen der Gerechtigkeit zurückgeblieben und die ganze Kabale darin auseinandergesetzt ist: man sagt, es werden viele Menschen daran müssen. Geschieht ihnen recht, haben halb Mailand umgewälzt und führten noch was Schlimmeres im Schilde.« Unserm Flüchtling war das schmale Abendbrot in giftige Pillen verwandelt. Tausend Jahre deuchten es ihm, ehe er aus dem Gasthofe, aus dem Dorfe hinauskam und sich erst weit davon befand; mehr als zehnmal hatte er zu sich selbst: Laß uns gehen, laß uns gehen! gesagt. Aber die Besorgnis, Anlaß zum Verdachte zu geben, welche soeben über alle Maßen gestiegen und die Tyrannin aller seiner übrigen Gedanken geworden war, hielt ihn immer noch wie an die Bank festgenagelt zurück. In dieser Verlegenheit dachte er, der Schwätzer würde damit endigen, von sich selbst zu sprechen; sobald er also merken würde, daß ein andres Gespräch angeknüpft wurde, wollte er augenblicklich sich aufmachen.

»Ich,« sagte einer aus dem Haufen, »der ich weiß, was für 'ne Wendung dergleichen Geschichten nehmen und wie übel es um rechtschaffene Leute beim Aufruhr steht, ich hab' mich nicht von der Neugier übermannen lassen und bin hübsch ruhig in meinen vier Pfählen geblieben.«

»Und hab' ich mich denn gerückt?« fragte ein anderer.

»Ich,« fügte ein Dritter hinzu, »wenn ich mich zufällig in Mailand befunden hätte, hätte jedes Geschäft halbabgetan liegen lassen und mich schnell hierher nach Gorgonzola aufgemacht. Hab' Weib und Kinder, und dann, die Wahrheit zu sagen, so ein Getümmel kann mir nicht behagen.«

Hier ging der Wirt, der ebenfalls ein fleißiger Zuhörer gewesen, nach der andern Seite des Tisches, um nach dem Fremden zu sehen. Renzo benutzte die Gelegenheit, winkte ihn herbei, fragte nach seiner Rechnung und zahlte, ohne Umstände zu machen. Er sprach kein Wort weiter, ging in gerader Richtung dem Ende der Straße zu, sah sich wohl vor, nicht dorthin, woher er gekommen, wieder zurückzukehren, und hielt sich, die Vorsehung zur Führerin wählend, nach der entgegengesetzten Seite.


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