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Zweites Kapitel.

Der Prinz von Condé ruhte, wie erzählt wird, während der Nacht, welche dem Tage von Rocroy vorherging, in tiefem Schlafe; indessen war er teils durch Anstrengungen sehr ermüdet, teils hatte er bereits alle nötigen Vorkehrungen getroffen und ausführlich angegeben, was am nächsten Morgen geschehen sollte. Unser Don Abbondio dagegen wußte für jetzt noch nichts weiter, als daß morgen ein Tag der Schlacht sein werde, und so war's kein Wunder, wenn ein großer Teil der Nacht in ängstlichen Beratschlagungen zugebracht wurde. Sich weder um die schurkenhafte Zumutung noch um die Drohungen zu kümmern und die Vermählung zu vollziehen, war ein Ausweg, welchen er nicht einmal in Erwägung ziehen mochte. Das Ereignis dem Renzo vertrauen und mit ihm vereinigt nach irgendeinem Mittel sich umsehen – der Himmel steh' uns bei! »Lassen Sie sich keine Silbe entschlüpfen, sonst –!« hatte der eine der beiden Bravi gesagt, und während dem guten Don Abbondio dieses schauerliche Sonst im Kopfe nachsummte, scheute er nicht bloß, solch eine Vorschrift zu überschreiten, sondern bereute auch schon, mit Perpetua nur davon geplaudert zu haben. Fliehen? Wohin? Und hernach? Wie viele Verwicklungen! Wieviel Rechenschaft zu geben!

Bei jedem Ausweg, den er verwarf, wendete sich der arme Mann auf die andere Seite. Endlich schien es ihm am rätlichsten, den Renzo durch halbe Versprechungen hinzuhalten. Auch fiel ihm höchst gelegen ein, daß an der gesetzmäßigen Zeit zur Vermählung noch einige Tage fehlten – »und kann ich nur diese wenigen Tage noch den jungen Menschen hinhalten, habe ich gleich zwei Monate für mich gewonnen, und in zwei Monaten können sich große Dinge ereignen.« – Nun ging's an eine Herzählung der Vorwände, die er ins Feld stellen wollte. Freilich kamen sie ihm selbst ein wenig fadenscheinig vor; indessen suchte er sich durch den Gedanken zu beruhigen, daß sein Ansehen ihnen einigen Nachdruck verleihen und seine vieljährige Erfahrung ihm über einen jungen unwissenden Menschen hinlängliches Übergewicht verschaffen werde. – Indem sich sein Gemüt bei dieser Erwägung ein wenig beruhigt hatte, konnte er endlich das Auge schließen. Aber welch ein Schlaf! Was für Träume! Bravi, Don Rodrigo, Renzo, enge Gassen, Felsen, Flucht, Verfolgung, Geschrei, Flintenschüsse – – Nach einem Unfalle und in bedrängter Lage ist das erste Erwachen ein gar bitterer Augenblick. Kaum zu sich selbst gekommen, wendet sich der Geist den gewohnten Gedanken des vorigen ruhigen Lebens zu; schnell aber tritt ihm die Vorstellung vom neuen Stande der Dinge unfreundlich entgegen, und diese augenblickliche Vergleichung erhöht den Unmut. Don Abbondio, welcher diesen Moment in seiner ganzen Schmerzlichkeit empfunden, ging alle seine nächtlichen Pläne noch einmal durch, hielt sich sorgsam bei jedem einzelnen auf, ordnete sie passender, erhob sich und erwartete Renzo mit Furcht und Ungeduld zugleich.

Lorenzo – oder, wie jedermann ihn nannte, Renzo – ließ nicht lange auf sich warten. Kaum schien es ihm Zeit, sich ohne Unbescheidenheit beim Pfarrer einfinden zu können, so begab er sich nach dem Hause desselben mit der fröhlichen Eile eines zwanzigjährigen jungen Mannes, welcher sich an dem nämlichen Tage mit der Geliebten seines Herzens zu vermählen gedenkt. Seit seinen Jünglingsjahren stand Renzo ohne Eltern da und gewann seinen Unterhalt durch die Seidenspinnerei, die in seiner Familie sozusagen erblich war; in vergangenen Zeiten ein sehr einträgliches Geschäft, heutzutage im Verfall, doch nicht in dem Grade, daß ein geschickter Arbeiter sich nicht noch immer sein anständiges Brot damit hätte erwerben können. Die Arbeit nahm allerdings von Tag zu Tag immer bedenklicher ab; doch die fortwährende Auswanderung der Arbeiter, die durch Versprechungen, durch Vorrechte und reichen Tagelohn sich nach den benachbarten Staaten locken ließen, war die Ursache, daß es auch denen, welche im Lande blieben, keineswegs daran fehlte. Überdies besaß Renzo ein kleines Landgut, welches er bearbeiten ließ oder zur Zeit, da die Seidenspinnerei ihm Muße gestattete, selbst zu bearbeiten pflegte, so daß man ihn bei seinem Stande wohlhabend nennen konnte. Obgleich nun dieses Jahr noch dürftiger als die vorhergehenden ausgefallen und sich schon eine eigentliche Teuerung bemerkbar machte, war Renzo dennoch hinlänglich mit Vorrat versehen; seit er die Augen auf Lucien geworfen, hatte er wie ein sorgfältiger Hausherr gewirtschaftet und brauchte sich um sein tägliches Brot nicht bange sein zu lassen. Er erschien vor Don Abbondio in hohem Staat: eine buntfarbige Feder schmückte seinen Hut, ein Dolch mit schönem Griffe steckte in der Seitentasche der Beinkleider; seine Miene hatte etwas Festliches, zu gleicher Zeit aber auch etwas Keckes an sich, wie man es damals selbst an den ruhigsten Menschen bemerkte. Mit dem fröhlichen und zuversichtlichen Benehmen des jungen Mannes stand der unsichere und geheimnisvolle Empfang auf Don Abbondios Seite in einem seltsamen Widerspruche.

Daß dem Pfarrer sich irgendein Gedanke im Kopfe eingesponnen, begriff Renzo im stillen sehr bald. – »Herr Pfarrer,« sagte er darauf, »ich bin gekommen, um nach der Stunde zu fragen, wo wir uns, nach Ihrer Bequemlichkeit, in der Kirche einfinden sollen.« –

»Welchen Tag meint Ihr?« fragte Don Abbondio.

»Wie, welchen Tag? Erinnern Sie sich nicht, daß eben heute der festgesetzte Tag ist?«

»Heute?« antwortete Don Abbondio, als wenn er zum erstenmal von der Sache sprechen hörte. »Heute, heute – Ihr müßt Geduld haben, aber heute kann ich nicht, heute nicht, heute nicht!«

»Heute können Sie nicht! Was hat sich denn ereignet?«

»Erstlich und hauptsächlich befinde ich mich nicht wohl, Ihr seht's.«

»Das tut mir leid,« entgegnete der junge Mann. »Aber was Sie dabei zu tun haben, ist so schnell abgemacht und strengt so wenig an –«

»Und dann, ferner –«

»Ferner, was ferner, Herr Pfarrer?«

»Und ferner ist die Geschichte ein verwickelter Handel.«

»Ein verwickelter Handel?« fragte Renzo. »Wo kann in aller Welt die Verwicklung da stecken?«

»Ihr müßtet Euch an meiner Stelle befinden, um einzusehen, wie viele Verdrießlichkeiten es in dergleichen Dingen gibt, und was unsereiner alles zu verantworten hat. Ich bin zu milden Herzens, ich denke nur daran, die Hindernisse aus dem Wege zu räumen, alles leicht zu machen, die Sachen nach dem Belieben anderer Leute einzurichten: dabei übersehe ich meine Pflicht, und dann setzt es Vorwürfe oder wohl noch was Schlimmeres.«

»Aber in des Heilands Namen,« rief Renzo, »spannen Sie mich nicht so auf die Folter, Herr Pfarrer, und sagen Sie mir endlich einmal rund heraus, wie es damit steht.«

»Wißt Ihr, wie viele und mancherlei Formalitäten nötig sind, um eine Ehe nach der Vorschrift zu vollziehen?«

»Ich muß wohl nachgerade etwas davon wissen,« sagte Renzo, indem er ein wenig in Heftigkeit geriet, »nachdem Sie mir die Tage her hinlänglich den Kopf damit warm gemacht haben. Und jetzt ist irgend etwas zu beschleunigen unterlassen worden? Ist nicht alles geschehen, was geschehen mußte?«

»Alles, möchtet Ihr meinen,« sagte Don Abbondio. »Habt Geduld; der Dummkopf bin ich, der ich meine Pflichten vernachlässige, um die Leute nicht zappeln zu lassen. Jetzt aber – genug, ich weiß, was ich sage. Wir armen Pfarrer liegen zwischen Hammer und Amboß. Ihr seid ungeduldig; ich bedaure Euch, armer Junge. Die Vorgesetzten aber – genug, es läßt sich nicht alles sagen. Ich bin's, der am übelsten dabei wegkommt.«

»Aber erklären Sie sich nur,« bat Renzo, »was für eine andere Formalität noch, wie Sie sagen, beobachtet werden muß, und sie soll auf der Stelle abgetan sein.«

»Habt Ihr einen Begriff davon, welches die Hindernisse sind, die eine Ehe ungültig machen?«

»Was soll ich von den Hindernissen wissen?«

Don Abbondio begann, an den Fingern abzählend:

»Error, conditio, votum, cognatio, crimen, Cultus disparitas, vis, ordo, ligamen, bonestas, Si sis affinis...« Lat.: Irrtum, Stand, Gelübde, Verwandtschaft, Ehebruch, Verschiedenheit der Religion, Gewalt, geistlicher Beruf, andere eheliche Verbindung, sittliche Integrität, wenn man verschwägert ist...

»Machen Sie sich einen Spaß mit mir, Herr Pfarrer?« unterbrach ihn Renzo. »Was soll ich mit Ihrem latinorum da anfangen?«

»Also, wenn Ihr von diesen Dingen keine Vorstellung habt, so ergebt Euch in Geduld und überlaßt Euch dem, der sie versteht.«

»Nun also?«

»Sachte, lieber Renzo, nur nicht gleich aufgebraust. Ich bin bereit, alles zu tun – alles, was von mir abhängt. Ich, ich wollte Euch gern zufrieden sehen, ich meine es gut mit Euch. Ei, wenn ich denke, wie Euch so wohl war. Was ging Euch ab? Und mit einemmal kommt Euch die Grille an, zu heiraten!«

»Was sind das für Reden, Herr?« brach Renzo los, indem Staunen und Entrüstung ihm auf dem Gesichte lagen.

»Ich will Euch nur sagen, habt Geduld, will ich sagen, habt Geduld. Ich möchte Euch herzlich gern zufrieden sehen.«

»Kurz –«

»Kurz, lieber Junge, ich habe keine Schuld: Ich habe das Gesetz nicht gemacht; ehe wir aber ein Paar miteinander verbinden, ist's unsre Schuldigkeit, viele Untersuchungen anzustellen, um gewiß zu sein, daß auch ja keine Hindernisse vorhanden sind.«

»Sagen Sie mir aber endlich einmal, was für ein Hindernis dazu gekommen ist, Herr Pfarrer!«

»Habt Geduld, das sind nicht Dinge, die sich so in einem Zug abfertigen lassen. Es wird sich nichts finden, hoffe ich; aber dem sei, wie ihm wolle, eine Untersuchung müssen wir anstellen. Der Text ist klar und deutlich: antequam matrimonium denunciet  ...«

»Ich habe Ihnen gesagt, ich will kein Latein!«

»Ich muß Euch doch aber erklären ...«

»Haben Sie denn diese Untersuchungen noch nicht vorgenommen?«

»Noch nicht alle, wie ich sollte, sag' ich Euch.«

»Warum haben Sie sich nicht beizeiten daran gemacht? Warum sagten Sie mir, daß alles fertig sei? Warum warteten Sie?«

»Sieh da! Wirft mir mein Übermaß an Güte vor! Ich hab' alles erleichtert, um Euch desto schneller zu dienen; aber – jetzt sind mir einige – genug, ich weiß es.«

»Was soll ich also tun?« fragte der Jüngling.

»Noch einige Tage Geduld haben. Einige Tage, guter Junge, sind keine Ewigkeit; habt Geduld!«

»Wie lange?«

Da stehen wir am Graben, dachte Don Abbondio bei sich selbst, und mit einer zierlicheren Gebärde, als sonst ihm eigen war, sagte er: »Ei nun, in vierzehn Tagen werde ich's zu machen suchen.«

»In vierzehn Tagen? Das nenn' ich wirklich eine Neuigkeit! Was Sie nur gewollt haben, ist geschehen, der Tag ist bestimmt, er kommt, und nun sagen Sie mir, ich solle vierzehn Tage warten. Vierzehn Tage!« wiederholte er mit einer höheren und entrüsteteren Stimme. Dabei streckte er den Arm aus und hielt die geballte Faust in der Luft; wer weiß, was noch geschehen wäre, wenn Don Abbondio ihn nicht unterbrochen und ihn mit furchtsamer geschäftiger Freundlichkeit bei der andern Hand gefaßt hätte. »Still, still!« rief er ihm zu; »um des Himmels willen, geratet nicht außer Euch. Ich werde sehen, ich will versuchen, ob in einer Woche –«

»Und was hab' ich Lucien zu sagen?« fragte Renzo.

»Daß ich mich dabei versehen habe.«

»Und das Gerede der Leute?«

»Sagt nur, daß ich einen Bock geschossen habe, aus zu großer Eilfertigkeit, aus zu gutem Herzen; werft nur die ganze Schuld auf mich. Kann ich besser mit Euch sprechen? Geht, in einer Woche –«

»Und dann sollen sich keine andern Hindernisse mehr finden?«

»Wenn ich Euch sage –«

»Nun gut. Ich will es ruhig eine ganze Woche hindurch anstehen lassen. Aber das sag' ich Ihnen, wenn die Woche vorüber ist, so lasse ich mich durch kein Gerede mehr abspeisen. Indessen meinen Respekt!«

Er ging, verneigte sich jedoch vor Don Abbondio nicht so tief wie gewöhnlich und warf ihm einen mehr bedeutenden als ehrfurchtsvollen Blick zu. Nachdem er aber auf die Straße gelangte und wider Willen sich nach dem Hause seiner Verlobten begab, kam er im Geiste, mitten in der Entrüstung, auf das Gespräch mit dem Pfarrer zurück und fand es immer seltsamer. Don Abbondios kalte und verlegene Aufnahme, die Anstrengung und Ungeduld, die sich in seinen gesuchten Reden verrieten, die beiden grauen Augen, welche, während er sprach, nach allen Seiten umherstreiften, als hätten sie Furcht, sich mit den Worten, die aus dem Munde kamen, zu treffen; die Unkunde, welche er über eine ausdrücklich verabredete Vermählung sich beilegte, vorzüglich aber das beständige Andeuten irgendeiner wichtigen Sache, worüber er sich jedoch mit keiner einzigen Silbe klar ausdrückte, alle diese Umstände, zusammengehalten, brachten Renzo auf den Gedanken, daß dahinter ein ganz anderes Geheimnis stecke, als Don Abbondio ihn verstehen zu lassen sich bemühte. Der Jüngling stand einen Augenblick im Zweifel da, ob er umkehren und dem Pfarrer zu Leibe gehen sollte, bis er sich deutlicher erklärt hätte; indem er sich aber umsah, bemerkte er Perpetuen, die vor ihm herging und wenige Schritte vom Hause in einen kleinen Küchengarten trat. Er rief ihr zu, sie möchte das Einlaßtürchen öffnen, verdoppelte seine Schritte, holte sie ein, hielt sie beim Pförtchen zurück und blieb stehen, um ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen. Denn es war sein Vorsatz, durchaus etwas Bestimmtes herauszubringen.

»Guten Tag, Perpetua,« begann er; »ich hoffte, wir würden heute beisammen sein.«

»Was Gott beschlossen hat, mein armer Renzo.« »Tut mir einen Gefallen, Perpetua; der Herr Pfarrer hat mich mit Gründen abgefunden, die ich nicht recht habe begreifen können; erklärt Ihr mir's besser, warum er heute uns nicht trauen kann oder will.«

»Ei,« erwiderte die Haushälterin, »meint Ihr, Renzo, ich wisse die Geheimnisse meines Herrn?«

Ich hab's gesagt, es steckt ein Geheimnis dahinter, dachte Renzo, und um dieses ans Licht zu fördern, fuhr er fort: »Frisch, Perpetua, wir sind Freunde; sagt mir, was Ihr wißt, steht einem armen Jungen bei!«

»Eine schlimme Sache, arm in die Welt zu treten, mein lieber Renzo!«

»Habt recht,« entgegnete der Jüngling, der sich in seinem Verdacht immer mehr befestigte und immer eifriger hinter der Nachfrage her war; »aber kommt es den Priestern zu, mit armen Leuten übel umzugehen?« :

»Hört, Renzo,« versicherte Perpetua, »ich kann nichts sagen, weil – ich nichts weiß; was ich Euch aber versichern kann, besteht darin, daß mein Herr keinem Unrecht tun will, weder Euch noch sonst jemandem. Er hat nicht schuld.«

»Wer hat denn also schuld?« fragte Renzo mit scheinbarer Unaufmerksamkeit, aber mit erwartungsvollem Herzen und gespitzten Ohren.

»Wenn ich Euch sage, daß ich nichts weiß – zur Verteidigung meines Herrn kann ich reden; denn hören zu müssen, daß ihm schuld gegeben wird, er wolle irgendwem etwas Unangenehmes zufügen, das geht mir nah. Armer Mann! Wenn er fehlt, ist's seine allzu große Güte. Freilich gibt's in dieser Welt Schurken, gewalttätige Menschen, ohne Gottesfurcht –«

Gewalttätige Menschen! Schurken! dachte Renzo; das sind doch die Vorgesetzten nicht. – »Geht,« sagte er darauf, seine steigende Bewegung mit Mühe verbergend, »geht, sagt mir, was es gibt.«

»Ei, Ihr möchtet mir das Wort aus dem Munde spielen, und ich kann nicht reden, weil ich nichts weiß; wenn ich nichts weiß, ist's geradeso gut, als wenn ich geschworen hätte zu schweigen. Ihr könntet mich auf die Folter spannen und würdet kein Wort aus mir herausbringen. Lebt wohl, wir verlieren beide unsre Zeit umsonst.«

Mit diesem Bescheid trat sie eilig in den Garten und schloß das Türchen hinter sich zu. Renzo erwiderte ihren Gruß, und kehrte leise zurück, damit sie durch das Geräusch seiner Schritte nicht merken sollte, welchen Weg er nahm. Sobald er aber nicht mehr von ihr gehört werden konnte, ging er rasch zu; in einem Augenblick stand er an Don Abbondios Türe, trat hinein, lief geradewegs nach dem Saal, wo er ihn verlassen hatte, fand ihn dort und schritt mit kühner Gebärde, mit den rollenden Blicken der Entrüstung auf ihn zu.

»Nun, was gibt es denn schon wieder?« sagte Don Abbondio.

»Wer ist der gewalttätige Mensch?« fragte Renzo mit der Stimme eines Gastes, welcher entschlossen ist, sich eine entschiedene Antwort zu holen, »wer ist der gewalttätige Mensch, der nicht will, daß ich Lucien heirate?«

»Wie? Was?« stotterte der arme Pfarrer überrascht, und zugleich ward sein Gesicht weiß und schlaff wie ein Stück Zeug, das eben aus der Wäsche kommt. Während er aber stotterte, sprang er vom Lehnstuhl auf und wollte seinen Eilmarsch nach der Türe hin nehmen. Renzo dagegen, welcher die Bewegung hatte erwarten müssen und daher auf der Lauer stand, kam vor ihm bei der Türe an, verschloß sie und steckte den Schlüssel in die Tasche.

»Werden Sie jetzt sprechen, Herr Pfarrer?« fragte er. »Alle wissen, wie es um mich steht, nur ich nicht. Zum Wetter, ich will es auch wissen! Wie heißt der Mensch?«

»Renzo!« rief Don Abbondio, »beim Heiland, seht, was Ihr tut; denkt an Eure Seele!«

»Ich denke bloß, daß ich es sogleich wissen will, auf der Stelle!«

Während er das sagte, legte er, vielleicht ohne daran zu denken, die Hand an den Griff des Messers, das ihm aus der Tasche sah.

»Barmherzigkeit!« schrie Don Abbondio mit matter Stimme.

»Ich will es wissen!«

»Wer hat Euch gesagt –?«

»Nichts, nichts, keinen Firlefanz mehr! Rund heraus und auf der Stelle!«

»Wollt Ihr meinen Tod?«

»Ich will wissen, was ich ein Recht habe zu wissen!«

»Aber wenn ich rede, ist's mein Tod. Muß mir mein Leben nicht zur Last sein, Renzo ...?«

»Drum reden Sie!«

Dieses Drum war mit einem solchen Nachdruck ausgesprochen, Renzos Gesicht nahm einen so drohenden Ausdruck an, daß Don Abbondio nicht einmal an die Möglichkeit, ihm Gehorsam zu verweigern, denken konnte. »Versprecht mir,« sagte er, »schwört mir, mit niemandem davon zu sprechen, niemals zu sagen –«

»Ich verspreche Ihnen, daß ich einen wilden Streich begehe, wenn Sie mir nicht auf der Stelle seinen Namen sagen.«

Bei dieser neuen drängenden Beschwörung zog Don Abbondio ein Gesicht, als hätte er die Zange des Zahnbrechers im Munde; »Don –« stammelte er.

»Don?« wiederholte Renzo, als wollte er dem Schmerzenssohn das übrige hervorbringen helfen; er stand geneigt da, hielt das Ohr nach dem Munde des Pfarrers hin und schien mit Armen und Fäusten schlagfertig.

»Don Rodrigo!« sprach der Geängstigte eilig.

»Der Hund!« brüllte Renzo. »Und wie hat er es gemacht? Was hat er Ihnen gesagt, um –«

»Wie er es gemacht hat?« entgegnete Don Abbondio mit fast unwilliger Stimme; denn nach einem so großen Opfer dünkte er sich gewissermaßen der Gläubiger geworden zu sein. »Wie er es gemacht hat? Ich wollte, Ihr hättet so wenig Lust gehabt, Euch in die Geschichte zu mischen, wie ich; so wären Euch wahrhaftig nicht so viele Grillen im Kopfe sitzen geblieben.«

Und nun malte er die unheimliche Begegnung mit schrecklichen Farben. Während er erzählte, empfand er immer deutlicher den Zorn, der bis dahin in seiner Furcht verborgen und gleichsam eingewickelt gelegen; zugleich bemerkte er, wie Renzo, zwischen Entrüstung und Verwirrung, mit gesenktem Kopfe unbeweglich vor ihm stand. Daher nahm seine Rede einen mutigeren Schwung.

»Ihr habt einen hübschen Streich gemacht! Habt mir einen schönen Dienst erwiesen! Auf einen anständigen Mann, auf Euren Pfarrer, in seinem eigenen Hause so loszugehen! Wahrhaftig, da habt Ihr eine schöne Geschichte angestellt! Mir mit Gewalt mein Unglück, Euer Unglück, aus dem Munde zu reißen, was ich aus Klugheit, zu Eurem eigenen Frommen, verschwiegen hielt! Und jetzt, da Ihr es wisset? Ich möchte doch sehen, was Ihr mir noch – Um Himmels willen! Es ist kein Spaß. Es handelt sich nicht um Recht und Unrecht; um Gewalt handelt es sich. Als ich Euch diesen Morgen eine gutgemeinte Vorstellung machte ... eh, den Augenblick in Wut! Ich ging wie ein Mann von Vernunft zu Werke, für Euch und für mich. Aber was ist zu tun? Öffnet wenigstens; gebt mir den Schlüssel!«

»Ich kann unrecht getan haben,« sagte Renzo mit gedämpfter Stimme, in welcher jedoch der Grimm gegen den entdeckten Feind sich verriet, »ich kann unrecht getan haben; aber greifen Sie in Ihre eigene Brust, und denken Sie sich an meine Stelle.«

Mit diesen Worten hatte er den Schlüssel aus der Tasche gezogen und ging, die Türe zu öffnen. Don Abbondio folgte ihm auf den Fuß, und während jener den Schlüssel im Schlosse herumdrehte, stellte er sich ihm zur Seite, hielt ihm mit ernstem, ängstlichem Gesichte die drei ersten Finger der rechten Hand vor die Augen und sagte: »Schwöret wenigstens –«

»Ich kann unrecht getan haben, und Sie müssen mich entschuldigen,« antwortete der Jüngling, indem er die Türe in die Hand nahm und sich auf den Weg machen wollte.

»Schwöret!« wiederholte Don Abbondio und faßte ihn mit zitternder Hand beim Arm.

»Ich kann unrecht getan haben,« rief Renzo und machte sich von ihm los. Wie ein Pfeil schoß er hinaus und brach auf diese Weise die Unterhaltung ab.

»Perpetua! Perpetua!« schrie Don Abbondio, nachdem er den Davoneilenden vergebens zurückgerufen hatte. Perpetua antwortete nicht. Don Abbondio wußte nicht mehr, wo er war.

Es ist wohl öfters Personen von weit höherem Stande als Don Abbondio begegnet, in so peinlichen Bedrängnissen, in einer solchen Ungewißheit der notwendigen Schritte sich zu befinden, daß sie es für die beste Zuflucht hielten, sich mit Fieber zu Bett zu legen. Diese Zuflucht brauchte Don Abbondio nicht zu suchen, sie kam ihm von selbst entgegen. Die Furcht vom vorigen Tage, die peinlichbange Schlaflosigkeit der Nacht, die Angst vor der Zukunft, die eben hinzugekommenen Schrecken äußerten vollkommen ihre Wirkung. Bekümmert und verwirrt warf er sich in seinen Lehnstuhl, er empfand einen kalten Schauer in allen Gliedern, besah sich seufzend die Nägel und rief von Zeit zu Zeit: »Perpetua!« mit zitternder und heftiger Stimme. Sie kam endlich mit einem mächtigen Kohlkopf unter dem Arm, geschäftiger Miene, als wenn nichts vorgefallen wäre. Die Wehklagen und die Mitleidsbezeugungen, die nun erfolgten, die Anklagen und die Verteidigungen, während es auf der einen Seite: »Du allein hast sprechen können,« auf der andern: »Ich habe nicht gesprochen,« hieß, kurz, das ganze Gewirre dieses Gespräches soll dem Leser hier verschwiegen werden. Genug, Don Abbondio befahl seiner Dienerin, die Haustüre gut zu verschließen und keinen Fuß hinauszusetzen; wenn jemand klopfen würde, sollte sie aus dem Fenster zur Antwort geben, der Pfarrer habe sich mit Fieber niedergelegt. Sodann ging er langsam die Treppe hinauf, sagte bei jeder dritten Stufe: »Ich hab mein Teil,« und legte sich wirklich zu Bette, in welchem wir ihn einstweilen liegen lassen.

Renzo ging indessen mit raschen Schritten nach Hause, ohne mit sich im reinen zu sein, was er zu tun hätte; doch kochte die Wut in ihm, etwas Außerordentliches und Schreckliches zu begehen. Renzo war ein friedfertiger, offenherziger Jüngling, ein Feind jeder Nachstellung, von blutigen Handlungen weit entfernt; in jenen Augenblicken aber schlug sein Herz nur für den Mord, war seine Seele nur mit dem Ersinnen eines heimtückischen Streiches beschäftigt. Er hätte auf der Stelle nach dem Hause des Don Rodrigo laufen mögen, den Schurken bei der Gurgel fassen und – er besann sich aber, daß dieses Haus eine wahre Festung sei, von Bravi innen verteidigt und außen bewacht, daß die Hausfreunde nur und die wohlbekannten Diener freien Eintritt daselbst hätten. Darauf dachte er sich, er könnte sein Gewehr nehmen, sich hinter eine Hecke stellen und abwarten, ob sein Mann vielleicht allein vorüberginge; indem er mit rachgieriger Lust diesem Gemälde der Einbildungskraft nachhing, glaubte er schon die Tritte zu hören, Don Rodrigos Tritte, hob leise den Kopf in die Höhe, erkannte den Bösewicht, legte das Gewehr an, nahm das Korn, brannte los, sah ihn fallen und im Todeskrampfe zucken, donnerte ihm noch einen Fluch zu und machte sich eiligst auf den Weg nach der Grenze, um sich in Sicherheit zu bringen. – Und Lucia?

Kaum hatte dieses Wort durch das Gewühl der gewalttätigen Vorstellungen getönt, so kehrten die besseren Gedanken, an welche des Jünglings Sinn gewöhnt war, zurück. Mit Schrecken erwachte er aus dem blutigen Traume, mit Gewissensbissen, zugleich aber auch mit einer Art von Freude, daß er das Entsetzliche nur gedacht, nicht begangen. Aber der Gedanke an Lucia, wie manchen andern Gedanken rief er hervor! So viele Hoffnungen, so viele Versprechen, ein Tag, nach welchem man so geseufzt, eine Zukunft, die man so liebeselig herbeigewünscht und so zuverlässig erwartet hatte! Und wie, mit welchen Worten sollte er ihr eine solche Neuigkeit verkünden? Zu welchem Mittel seine Zuflucht nehmen? Auf welche Weise zu ihrem Besitz gelangen, ohne der Gewalt des mächtigen Widersachers zu erliegen?

Von diesen Gedanken erfüllt, ging er an seinem Hause, das mitten im Dorfe lag, vorüber und begab sich nach Luciens Wohnung am andern Ende. Das Häuschen hatte einen kleinen Vorhof, welcher es von der Straße schied und mit einer leichten Mauer umgeben war. Renzo trat in den Hof und hörte ein verworrenes fortwährendes Schreien, welches aus einer der oberen Stuben herabtönte. Er bildete sich ein, das seien Freundinnen und Gevatterinnen, die gekommen wären, um sich Lucien zur Brautbegleitung anzubieten; er fühlte, wie seine böse Nachricht ihm in den Gliedern zitterte und auf dem Gesichte geschrieben stand, und so hatte er keine Lust, sich auf dem Weibermarkte da oben sehen zu lassen. Ein kleines Mädchen aber, welches auf dem Hofe spielte, lief ihm entgegen und rief: »Der Bräutigam! der Bräutigam!«

»Still, Bettina, still!« rief Renzo. »Geh hinauf zu Lucia, nimm sie beiseite und sag ihr ins Ohr, aber daß keine es hört! Es, darf niemand etwas davon gewahr werden – sag ihr, hörst du? sag ihr, daß ich sie sprechen will und sie dort in der Stube unten erwarte. Sie soll den Augenblick kommen.« – Die Kleine lief eilig zur Treppe hinauf, fröhlich und stolz, mit einem heimlichen Auftrag beehrt worden zu sein.

Lucia kam eben vollständig geputzt aus den Händen der Mutter. Die Freundinnen rissen sich um die Braut, jede wollte mit Gewalt sie beschauen. Das Mädchen wehrte sich mit der etwas derben Sittsamkeit der Bäuerinnen, bedeckte das Gesicht mit den Ellenbogen wie mit einem Schilde, senkte die Stirn und runzelte ein wenig die langen schwarzen Augenbrauen, während jedoch der Mund sich zum Lächeln öffnete. Das schwarze jugendliche Haar, über der Stirn durch einen zarten weißen Scheitel geschieden, schlang sich am Hinterkopfe in vielfachen Lockenwindungen und war, wie es noch jetzt die Art der mailändischen Bäuerinnen ist, mit einer Menge von langen Silbernadeln geheftet, die rings in einem Kreise, wie die Strahlen eines Heiligenscheines gestellt, sich reihten. Um den Hals trug sie eine Schnur von Granaten, die mit goldenen Knöpfchen von Drahtarbeit abwechselten; gewirkte Blumen schmückten das Schnürleibchen, während die offenen Nähte der Ärmel durch schöne Bänder zusammengehalten wurden; ein kurzes Röckchen von gesponnener Seide mit dichten und kleinen Falten, karmesinfarbene Strümpfe, Pantöffelchen von gestickter Seide vervollständigten den Aufputz. Was aber die Braut am Hochzeitstage ganz besonders schmückte, war der Zauber, den alltäglichen Reiz einer bescheidenen Schönheit durch die verschiedenen Gemütsbewegungen, welche sich auf ihrem Gesichte malten, gesteigert und verklärt zu sehen; die Freude des Herzens durch eine leichte Bestürzung gedämpft, jener sanfte Kummer, der sich in der Miene einer Braut verrät und, ohne die Schönheit zu entstellen, ihr einen ganz eigentümlichen Ausdruck gibt. – Die kleine Bettina schlich sich unter die Menge, trat zu Lucia hin, gab ihr schlau zu verstehen, daß sie ihr etwas zu vertrauen habe, und raunte ihr darauf ihr Wörtchen ins Ohr.

»Ich gehe auf eine Minute hinaus, bin aber gleich wieder hier,« sagte Lucia zu den Frauen und stieg eilig hinab. Sie sah Renzos verwandeltes Gesicht, seine unruhige Haltung und sagte nicht ohne Vorgefühl des Schreckens: »Was geht vor?«

»Lucia,« antwortete Renzo, »heut ist nichts anzufangen, und Gott weiß, wann wir Mann und Weib werden können.«

»Wie?« sagte das Mädchen ganz außer Fassung. Renzo erzählte ihr in aller Geschwindigkeit, was diesen Morgen vorgefallen; sie hörte ihm mit Beklemmung zu, und als sie den Namen Don Rodrigo vernahm, rief sie zitternd und errötend: »Himmel, bis so weit!«

»Du wußtest also ...« sagte Renzo.

»Nur zu gut,« antwortete Lucia; »aber so weit!«

»Was wußtest, du?«

»Laß mich jetzt nicht reden, laß mich nicht weinen. Ich will geschwind die Mutter rufen und die Frauen wieder nach Hause schicken. Wir müssen allein sein.«

»Du hast mir nie etwas gesagt,« murmelte Renzo, während sie sich auf den Weg machte.

»Ach Renzo!« rief das Mädchen, indem es sich umwandte, doch ohne still zu stehen. Renzo begriff sehr wohl, daß sein Name, in solch einem Augenblicke, mit solch einem Tone ausgesprochen, in Luciens Munde sagen wollte: Kannst du zweifeln, daß ich bloß geschwiegen, weil ich meine gerechten und tadellosen Ursachen dazu hatte?

Die gute Agnese indessen, so hieß Luciens Mutter, hatte das Ohrenflüstern des kleinen Mädchens mit dem plötzlichen Verschwinden der Tochter verglichen; es wandelten sie Verdacht und Neugier an, sie kam herab und wollte mit eigenen Augen sehen, was da unten vorging. Die Tochter ließ sie neben Renzo zurück, eilte zu den versammelten Weibern, gab ihrer Miene und ihrer Stimme, soviel sie vermochte, den Anschein der Gleichgültigkeit und sagte: »Der Herr Pfarrer ist krank, es kann also heut nichts vorgenommen werden.« – Mit diesem Bescheide stattete sie allen eiligst den Abschiedsgruß ab und ging wieder hinunter.

Die Weiber gingen auseinander und zerstreuten sich. Sie erzählten den Vorfall und suchten sich zu überzeugen, ob Don Abbondio wirklich krank sei. Die Wahrheit der Sache hob mit einem Streich alle Vermutungen auf, die schon in ihren Köpfen zu gären anfingen und sich in ihren geheimnisvollen abgebrochenen Reden verkündigten.


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