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Vierzehntes Kapitel.

Die zurückgebliebene Menge fing an, sich zu zerstreuen, zur Rechten und Linken durch alle Straßen hin verlief sich die Flut. Dieser begab sich nach Hause, um auch endlich einmal nach seinen Geschäften zu sehen, jener machte sich davon, weil ihn danach verlangte, nach so vielen Stunden des Gepresses im Freien ein wenig zu verschnaufen; ein anderer suchte Bekannte auf, um über die großen Ereignisse des Tages sich gehörig auszuschwatzen.

Unser Renzo hatte das Vorwärtskommen der Kutsche, solange Hilfe nötig gewesen, unterstützt; er war hinter ihr zwischen den Soldatenreihen, wie im Siegeszuge, mit durchgeschritten und freute sich, als er sie außer Gefahr ungehindert hinrollen sah; darauf wanderte er einige Schritte mit der Menge und trat zur ersten Seitengasse hinaus, um gleichfalls ein wenig freie Luft zu schöpfen. Mitten im Drange so vieler Erscheinungen, so vielfacher Gemütsbewegungen, so vieler frischer, verworrener Eindrücke empfand er nach wenigen Minuten schon das Bedürfnis, seinen Hunger zu stillen und dann zur Ruhe zu gehen; er sah also zu beiden Seiten überall an die Häuser hinauf, ob sich kein Schild eines Gasthofes blicken ließe; denn zum Kapuzinerkloster zu gehen, war's schon zu spät. Indem er so mit erhobenem Kopfe hinschritt, stieß er auf einen der Haufen, die noch hier und da versammelt standen, um über den heutigen Tag zu disputieren; er stand still und hörte, wie von Vermutungen, von Entwürfen und Vorsätzen für den folgenden Tag gesprochen ward. Nachdem er einen Augenblick gehorcht hatte, konnte er sich nicht enthalten, auch seine Meinung zu sagen; er hielt dafür, daß ein Mensch, welcher sich's so sauer hatte werden lassen, ohne Unbescheidenheit sein Wörtchen drein sprechen dürfe. Was er den Tag über gesehen, hatte ihn mit der Überzeugung erfüllt, man dürfe, um etwas zu bewirken, den ersten besten, die über die Straße liefen, die Sache nur richtig vortragen. – »Meine Herren,« rief er daher mit einem Tone, als wollte er eine Predigt beginnen, »darf ich auch wohl meine dürftige Meinung sagen? Meine dürftige Meinung ist aber diese, daß die Ungerechtigkeiten keineswegs bloß in Angelegenheit des Brotes geschehen; nun hat man heute gesehen, daß sich jedwedes erlangen läßt, was recht ist, sobald man sich nur hören läßt; man muß also geradeswegs in der Manier fortfahren, bis für alle die übrigen Schurkereien ein Gegenmittel gefunden ist und es in der Welt endlich einmal ein bißchen christenmäßiger zugeht. Ist's nicht wahr, meine Herren, daß eine Hand voll Tyrannen vorhanden ist, welche die zehn Gebote ganz und gar umkehren, welche hinter den ruhigen Leuten, die nicht an sie denken, übermütig her sind, um ihnen allerlei Leid anzutun, und nachher immer Recht haben? Ja, wenn sie einmal einen recht erzboshaften Streich ausgeführt haben, dann tragen sie erst den Kopf weit höher, als ihn der Himmel ihnen auf die Schultern gesetzt hat. Auch hier in Mailand brüten gewiß solche Vögel.«

»Nur zu viele!« antwortete eine Stimme.

»Das sag' ich,« fuhr Renzo fort; »es gibt bei uns Geschichten genug davon zu erzählen. Und dann spricht auch die Sache von selbst. Wir wollen einmal annehmen, so einer lebt ein paar Tage in Mailand, ein paar Tage draußen; wenn er dort den Teufel macht, wird er hier, mein' ich, schwerlich den Engel spielen. Jetzt aber sagen Sie mir einmal, meine Herren, ob Sie so einen schon einmal hinter Kerkergittern gesehen haben? Und was das Schlimmste ist – ich kann's mit Recht versichern –, es sind gedruckte Verordnungen vorhanden, um sie zur Strafe zu ziehen, und das vortrefflich gesetzte Verordnungen, recht vernünftig, daß wir selber nichts Besseres ersinnen könnten; die Schurkereien deutlich aufgezählt, gerade wie sie aufeinander folgen, und für jedwede eine tüchtige Strafe. Und, es sei wer's sei, heißt es darin, schlichte Leute oder Vornehme. Nun geh' einer aber einmal hin zu den Doktoren, zu den Schriftgelehrten und Pharisäern, und verlange, daß sie ihm zur Gerechtigkeit verhelfen, wie's in der Verordnung geschrieben steht; sie geben ihm Gehör, wie der heilige Vater in Rom den Spitzbuben, daß ein ordentlicher Mensch auf der Stelle die Türklinke in die Hand nimmt. Man sieht also ganz klar, der König und die Leute, die an der Regierung stehen, die wollen, daß die Schurken bestraft werden; 's geschieht aber nichts, dieweil sie unter einer Decke stecken. Man muß sie also auseinanderjagen; man muß morgen früh zu Ferrer gehen, das ist ein Ehrenmann, ein Herr mit hilfreicher Hand; 's war ja heute zu sehen, wie's ihm Freude machte, sich unter den armen Leuten zu befinden, wie er sich die Gründe, die ihm vorgehalten wurden, aufmerksam sagen ließ und mit mildherziger Herablassung seine Antwort darauf gab. Zu Ferrer also muß gegangen werden, man muß ihm sagen, wie die Sachen stehen; und ich meinesteils, ich kann ihm schöne Geschichten erzählen; mit meinen eigenen Augen hab' ich 'ne gar scharf gespickte Verordnung gesehen, war von ihrer dreien ausgestellt, die's Wort im Lande führen; hatte jedeiner seinen Namen groß und breit drunter gesetzt, und Ferrer war eben einer davon, hab's mit meinen eigenen Augen gelesen; die Verordnung aber sprach ausdrücklich für mich, wie ein Vormund, und so ein Doktor, den ich um Beistand zur Gerechtigkeit ansprach, wie's die Meinung der drei Herren war – und Ferrer stand drunter –, der saubere Herr Doktor hatte mir die Verordnung selber gezeigt, das war's Schönste, schnitt aber ein Gesicht, als wenn ich aus dem Tollhause hergelaufen wäre. Ich bin gewiß, wenn der liebe alte Herr diese hübschen Geschichten hört – denn er kann nicht alles wissen, zumal was draußen geschieht – mein Wort darauf, er wird nicht wollen, daß es in der Welt länger so zugehe, und wird uns ein tüchtiges Mittel an die Hand geben. Und wollen die Übermütigen nicht klein nachgeben und spielen den tauben Trotzkopf, eh, so sind wir hier, um ihm unsere Arme zu leihen, wie's heute geschehen ist. Ich sag' nicht, daß er in der Kutsche herumfahren soll, um alle die Schurken, alle die Übermütigen und Tyrannen beim Kragen zu fassen: ei, da wär' eine Arche Noah vonnöten; er soll nur den rechten Leuten seine Befehle geben, und das nicht bloß in Mailand, sondern allerorten; sie sollen rein nach den Worten der Verordnungen verfahren, sollen allen, die sich einer Ungerechtigkeit schuldig gemacht haben, mit den Waffen der Gerechtigkeit zu Leibe gehen, und wo's heißt: Gefängnis – gut, Gefängnis; wo's heißt: Galeere – gut, Galeere; die Stadtvögte sollen ihre Schuldigkeit tun; wo nicht, läßt man sie laufen und setzt bessere an ihre Stelle – und dann, wie ich sage, sind wir ja auch in der Welt, um mit Hand anzulegen; den Doktoren muß befohlen werden, sie sollen die armen Leute anhören und ihre Feder fürs Recht einsetzen. Hab' ich recht, ihr Herren?«

Renzo hatte mit so vollem Herzen gesprochen, daß vom ersten Worte an ein großer Teil der Versammelten jedes andere Gespräch liegen ließ und sich hinwandte, um ihm zuzuhören; am Ende standen alle als seine Zuhörer da. Man rief ihm mit vielstimmigem Lärm Beifall zu und »Bravo; gewiß; er hat recht; 's ist nur allzu wahr« – scholl es beim Schluß seiner Rede. Indessen fehlte es auch an Tadlern nicht. »Ei ja,« sagte einer, »hört nur auf die Leutchen aus dem Gebirge; sind alle geborene Sachwalter.« Mit diesen Worten schlich er davon. – »Heutzutage,« brummte ein anderer, »will jeder Lumpenjunge seinen Senf dazugeben, und weil sie den Rinderbraten größer als den Ochsen haben wollen, bringen sie uns noch ums wohlfeile Brot; deswegen aber haben wir unsere Häuser nicht verlassen.« – Renzo vernahm nur die Artigkeiten; denn der eine faßte ihn bei dieser, der andere bei jener Hand: »Auf«Wiedersehen, morgen – Wo? – Auf dem Domplatz – Gut – Dabei bleibt's – Etwas wird geschehen – Etwas geschieht in jedem Fall.«

»Wer von den lieben Herren zeigt mir denn wohl einen Gasthof,« fragte Renzo, »wo ich einen Bissen zu mir nehmen und als armer Bursche schlafen kann?«

»Ich kann Euch damit aufwarten, braver junger Mann,« sagte einer, der aufmerksam die Predigt mit angehört und bisher nicht ein einziges Wort drein gesprochen hatte. »Ich kenne gerade einen Gasthof, wie Ihr ihn braucht; werd' Euch dem Wirt empfehlen, er ist mein Freund und ein Ehrenmann.«

»Hier dicht bei?« erkundigte sich Renzo.

»Nicht eben weit,« erwiderte jener.

Die Versammlung ging auseinander, und unserem Jüngling drückten viele, die er nie gesehen, freundschaftlich die Hand. Er ging mit seinem Führer, indem er ihm für seine Gefälligkeit dankte.

Während sie weiterschritten, tat jener gesprächsweise bald diese, bald jene Frage. »Nicht aus Neugier, um mich in Eure Angelegenheiten zu mischen; aber Ihr scheint mir müde. Woher kommt Ihr?«

»Ich komme von Lecco her,« war Renzos Antwort.

»Von Lecco? Aus Lecco seid Ihr?«

»Aus Lecco, aus der Gegend da herum nämlich.«

»Armer Junge! Soviel ich aus Euren Reden gemerkt habe, haben sie Euch arg mitgespielt.«

»Ei, lieber Herr,« sagte Renzo, »ich hab' mit meinen Worten ein bißchen schlau haushalten müssen, um meine Angelegenheiten nicht vor aller Welt Augen bloßzustellen; aber ... genug, einmal soll alles ans Tageslicht kommen, und dann ... Aber da ist ja der Gasthof, und, meiner Treu, ich hab' nicht Lust, die Füße viel weiter noch aufzuheben.«

So trat er in eine Türe, über welcher der volle Mond als Gastzeichen hing.

»Gut,« sagte der Unbekannte, »ich will Euch hineinbringen.« Und so folgte er ihm.

»Nein, bemüht Euch nicht weiter,« bat Renzo. »Wollt Ihr aber,« setzte er hinzu, »so tut mir die Ehre, einen Becher mit mir zu leeren.«

»Ich nehm' die Gefälligkeit an,« erwiderte jener. Mit dem Hause bekannter, schritt er über einen kleinen Hof voran, ging an eine Türe mit Glasscheiben, drückte auf die Klinke, öffnete und trat mit seinem Gefährten in die Küche.

Dort brannten zwei Laternen, an zwei Stangen befestigt, die vom Querbalken der Decke herabhingen. Diesseits und jenseits eines schmalen Tisches, welcher die eine Seite des Zimmers fast gänzlich einnahm, saßen viele Leute in emsiger Geschäftigkeit auf Bänken; hier stand ein Gedeck und ein aufgetragenes Gericht; dort wurden Karten ausgespielt und eingezogen, weiterhin Würfel ergriffen und geworfen; Flaschen und Becher überall. Auch rollten Silberstücke, spanische Realen und Dreier über den Tisch hin; hätten sie sprechen können, würden sie vermutlich gesagt haben: Wir steckten heut morgen in der Schublade eines Bäckers oder in der Tasche eines Zuschauers beim Tumult. Ein junger Bursche lief in hastiger Eilfertigkeit hin und her, er hatte Esser und Spieler zu bedienen; unter dem Vordach des Kamins saß auf einer niedrigen Bank der Wirt und schien gedankenlos in der weichen Asche Linien zu zeichnen und wieder zu verschütten; indessen die Wahrheit zu sagen, war er auf alles, was um ihn her vorging, mit gespitzten Ohren aufmerksam. Beim Schall der Türklinke stand er auf und trat den Hereinkommenden entgegen. Nachdem er den Führer ins Auge gefaßt hatte, dachte er: Hol' dich der Geier, mußt du mir denn immer in den Wurf kommen, wo mich's am wenigsten nach dir gelüstet! – Darauf warf er einen flüchtigen Blick auf Renzo. Dich kenne ich nicht, sprach er zu sich selbst, da du aber mit so einem Jäger kommst, so wirst du wohl entweder ein Hund oder ein Hase sein. – Von diesem Selbstgespräche blitzte jedoch nicht der leiseste Schimmer auf dem Gesichte des Wirtes durch; es blieb unbeweglich wie ein gemaltes Bildnis; ein etwas feistes, glänzendes Gesicht, mit einem dichten rötlichen Bärtchen und zwei kleinen, aber hellen und starren Augen. »Was ist den Herren gefällig?« fragte er.

»Vor allem eine gute Flasche Wein,« sagte Renzo, »und dann einen Bissen zur Abendmahlzeit.«

Bei diesen Worten setzte er sich am Ende des Tisches auf eine Bank nieder und ließ ein lauttönendes »Ah!« hören; in dieser Silbe sprach sich die erquickende Empfindung aus, wenn man nach vielstündigem Umherlaufen endlich zum Sitzen kommt. Und doch fiel ihm zu gleicher Zeit der Tisch und die Bank ein, wo er zum letztenmale neben Lucien und Agnesen gesessen, und das plötzliche Herzweh lüftete sich in einem Seufzer. Er schüttelte jedoch bald den Kopf und suchte sich den Gedanken aus dem Sinne zu schlagen; währenddessen sah er den Wirt mit dem Wein kommen. Sein Begleiter hatte sich ihm gegenübergesetzt. Renzo schenkte ihm sogleich zu trinken ein und sagte: »Um die Lippen ein bißchen anzufeuchten.« – Darauf füllte er einen zweiten Becher und stürzte ihn in einem Zuge hinunter.

»Was gedenkt Ihr mir zum Essen vorzusetzen?« fragte er den Wirt.

»Wie wär's mit einem guten Stückchen Schmorfleisch?« sagte dieser.

»Gut, Herr, ein Stück Schmorfleisch.«

»Soll den Augenblick auf dem Tische stehen,« versicherte der Hausherr. »Aber Brot, Brot hab' ich heut nicht.«

»Für Brot hat der Himmel gesorgt,« sagte Renzo laut und lachte dazu. Dabei nahm er das dritte und letzte von den Broten heraus, die er unter der Kreuzsäule des heiligen Dionysius aufgelesen, hielt es in die Höhe und rief: »Hier ist das Brot vom Himmel!«

Bei diesem Ruf wandten sich viele nach ihm hin. Sie sahen die Siegesbeute in der Luft, und einer schrie: »Das wohlfeile Brot soll leben!«

»Wohlfeiles Brot?« fragte Renzo. »Nicht einen Heller kostet's, die reine Menschenliebe hat's an den Weg gelegt.«

»Desto besser, desto besser!«

Darauf brach Renzo zwei oder drei Bissen vom Brote ab, verzehrte sie, schickte einen zweiten Becher Wein nach und meinte: »Für sich allein will das Brot hier nicht recht rutschen. In meinem Leben hab' ich keinen so trockenen Gaumen gehabt. Daran ist das verdammte Schreien schuld!«

»Macht ein gutes Bett für den wackeren jungen Mann hier zurecht,« sagte der Begleiter; »er will hier schlafen.«

»Hier schlafen?« fragte der Wirt und trat zum Tisch hin.

»Versteht sich,« war Renzos Antwort. »Ein ordentliches Bett. Wenn's nur mit frischgewaschenem Linnen überzogen ist, so hat's weiter keine Not. Bin armer Leute Kind; Reinlichkeit aber bin ich gewöhnt.«

»O, was das betrifft,« sagte der Wirt; zugleich ging er nach einer Bank, die im Winkel der Küche stand, und kam zurück, in der einen Hand ein Tintenfaß und ein Stückchen unbeschriebenes Papier, in der andern eine Feder haltend.

»Was soll das heißen?« fragte Renzo, der eben ein Stück vom aufgetischten Schmorfleisch seinen Zähnen übergab, und lächelte dabei verwundert. »Ist das etwa eins von den frischgewaschenen Bettüchern?«

Der Wirt antwortete nicht, legte das Blatt auf den Tisch und setzte das Tintenfaß daneben. Dann bückte er sich, stützte auf denselben Tisch den linken Arm und die Spitze des rechten Ellenbogens, ließ die Feder in der Luft schweben, erhob das Gesicht gegen Renzo und sagte: »Seid so gut, mir Euren Namen, Zunamen und Geburtsort anzugeben.«

»Wie ist das gemeint?« fragte Renzo. »Was haben die Geschichten mit dem Bett zu schaffen?«

»Ich tue meine Schuldigkeit,« sagte der Gastwirt und sah dem Begleiter des Jünglings ins Gesicht; »wir Wirte sind verpflichtet, von jedem Gast, der eine Nacht unter unserm Dache zubringt, genauen Bericht zu erstatten; ›Name und Zuname, von welcher Nation, was für ein Geschäft ihn herführt, ob er Waffen bei sich trägt, wie lange er sich hier in Mailand aufzuhalten hat ...‹ So lautet die Verordnung.«

Ehe er antwortete, leerte Renzo einen andern Becher; das war der dritte, und nun haben wir Furcht, sie weiter nicht mehr zählen zu können. – »Ah, Ihr habt eine Verordnung,« sagte er dann. »Nun will ich einmal annehmen, ich bin ein Doktor der Rechte, so weiß ich den Augenblick, wie man mit den Verordnungen umzuspringen hat.«

»Ich red' im Ernste,« sagte der Wirt und blickte noch immer auf Renzos schweigenden Führer hin. Darauf ging er wiederum nach der Bank im Winkel, zog einen großen Bogen, ein vollständiges Exemplar der Verordnung, hervor und wickelte es vor Renzos Augen auseinander.

»Ah, da sieh!« schrie dieser, hob mit der einen Hand den neuerdings gefüllten Becher und streckte, sobald er ihn geleert hatte, die andere Hand nach der entfalteten Verordnung aus; »da ist das allerliebste Blatt aus dem Meßbuch! Hab' gar große Freude daran. Ich kenn' das Wappen, ich weiß, was das Gottesleugnergesicht, mit der Schlinge um den Hals, zu sagen hat. Über den öffentlichen Verordnungen pflegte damals das Wappen des jedesmaligen Statthalters zu prangen; im Wappen des Don Gonzalo Fernandez de Cordova war vorzüglich ein Mohrenkönig, mit einer Sklavenkette um den Hals, bemerkbar. Es gibt zu verstehen: wer kann, befiehlt, und wer da will, gehorcht. Wenn das Gesicht einmal einen gewissen Herrn Don ... auf die Galeere geschickt haben wird, wie's auf einem andern Meßblatt, dem hier ganz ähnlich, lautet; wenn das Gesicht einmal dafür gesorgt haben wird, daß ein junger ehrlicher Bursche ein junges ehrliches Mädchen, das seine Frau werden will, heiraten kann: dann werd' ich dem Gesicht meinen Namen sagen und will ihm noch obendrein einen Kuß auf die aufgeworfenen Lippen geben. Ich kann sehr gute Gründe haben, ihn nicht zu sagen, meinen Namen. – O vortrefflich! Wenn nun so ein vornehmer Spitzbube, der 'ne Schar von andern Spitzbuben zu seinem Befehl hat – denn wenn er allein wäre« – der Satz ward mit einer Gebärde vollendet – »wenn so ein garstiger Spitzbube wissen wollte, woher ich bin, um mir 'nen garstigen Streich zu spielen, wird sich das Gesicht hier, frag' ich, von der Stelle rücken, um mir Beistand zu leisten?«

Der Hausherr schwieg und sah wiederum auf den Führer, welcher noch immer nicht Miene zum Weggehen machte. Renzo – es tut uns weh, es sagen zu müssen – schlürfte einen andern Becher und fuhr fort: »Ich will dir 'ne Ursache angeben, mein lieber Schenkwirt, die dir den Kopf zurechtsetzen soll. Wenn die Verordnungen, die so vernünftig sprechen zugunsten guter Christen, nichts fruchten, so läßt sich mit solchen, die einfältig abgefaßt sind, noch weniger ausrichten. Nimm also den ganzen Bänkelkram da weg und reich' dafür 'ne andere Flasche her; denn die hier ist zerbrochen.« –- Er schlug, indem er so sprach, mit den Knöcheln der Hand leicht dagegen und fragte: »Hörst du, wie sie nach Spalten klingt?«

Renzos Reden hatten auch diesmal die Aufmerksamkeit der Gesellschaft gefesselt; als er geendet, ließ sich das Murmeln eines allgemeinen Beifalls vernehmen.

»Was hab' ich da zu tun?« sagte der Wirt und blickte dabei auf den Unbekannten, welcher für ihn indessen kein Unbekannter schien.

Dieser warf dem Gastwirt einen Blick zu und sagte: »Laßt ihn einmal nach seiner Weise gehen, stellt kein Ärgernis an und gebt Euch zufrieden.«

»Ich hab' meine Schuldigkeit getan,« sagte der Gastwirt mit lauter Stimme; im stillen dacht' er: nun bin ich gesichert und hab' 'ne Wand hinterm Rücken. – Er trug Schreibzeug und Verordnung wieder zurück und nahm die leere Flasche, um sie dem Burschen hinzugeben.

»Die nämliche Sorte,« sagte Renzo, »'s ist ein vortrefflicher Gesell, Euer Wein, und wir wollen ihn, wie den andern, zur Ruhe bringen, ohne ihn weiter um Namen und Zunamen zu fragen, oder was er hier zu schaffen hat, und wie lange er sich in der Stadt aufzuhalten gedenkt.«

»Von demselben!« befahl der Wirt dem Burschen, reichte ihm die Flasche hin und setzte sich wieder unter das Vordach des Kamins. – Freilich ein Hase! dachte er hier, während er wiederum die Asche mit seinen Zeichnungen schmückte – und in was für Hände bist du gefallen! Der einfältige Esel! Wenn du ersticken willst, so ersticke; der Wirt zum vollen Mond aber wird sich hüten, um deiner Narrheit wegen seine Haut dabei zu wagen.

Renzo dankte seinem Führer sowie allen übrigen, welche ihm recht gegeben hatten. – »Wackere Freunde!« sagte er, »jetzt seh' ich recht eigentlich, daß rechtschaffene Leute einander die Hände reichen und sich unterstützen.« – Darauf streckte er die Rechte hoch über den Tisch aus, nahm von neuem eine Rednerstellung an und rief: »Daß die Leute, die am Ruder sitzen, doch bei allen Gelegenheiten mit Papier, Tinte und Feder angestiegen kommen! Immer den Gänsekiel strichfertig! Haben ein großes Gelüst, mit der Feder auf dem Papier herumzufahren!«

»Ei, mein fremder junger Herr,« sagte lachend einer von den Spielern, welcher soeben im Gewinnen war, »wollt Ihr die Ursache wissen?«

»Laßt hören!« antwortete Renzo.

»Die Ursache ist,« erklärte jener, »die hohen Herrschaften essen alle Gänse weg, und da haben sie denn so viele Federn, so viele Federn liegen, daß sie doch etwas damit anfangen müssen.«

Alle, bis auf den verlierenden Nachbar gegenüber, lachten.

»Aber die wahre Ursache will ich Euch sagen,« fuhr Renzo fort. »Sie sind's, welche die Feder in der Hand führen; was sie also selbst reden, das verfliegt und ist bald verdunstet; die Worte dagegen, die ein armer Mensch in den Mund nimmt, aufmerksam stehen sie dabei, spießen sie mit solcher Feder den Augenblick auf und nageln sie aufs Papier fest, um zur gehörigen Zeit Gebrauch davon zu machen. Und dann haben sie noch eine Bosheit an sich: wenn sie gern in schlimme Händel einen armen Burschen verwickeln möchten, der keinen Buchstaben kennt, aber sein bißchen Verstand hat – und wenn sie merken, daß er von dem Schurkengespinst Wind hat, paff, schmeißen sie sogleich ein paar lateinische Brocken ins Gespräch, dadurch soll er den Faden verlieren und den Degen aus der Hand fallen lassen, soll den Kopf vor Wirrwarr nicht mehr zu tragen wissen. Genug, derlei Mißbräuche verdienen abgeschafft zu werden. Heut ist alles recht glücklich abgemacht worden, und der Gemeinste hat's begreifen können, wie's zugegangen, ohne Papier, ohne Feder und Tintenfaß; und morgen, wofern die Leute wissen, wie sie sich zu benehmen haben, wird's noch besser hergehen, ohne aber einem auch nur ein Haar zu krümmen, alles auf dem Wege der Gerechtigkeit.«

Währenddessen hatten einige der Gäste ihr Spiel wieder fortzusetzen begonnen, andere ließen sich's schmecken, viele schrien durcheinander; verschiedene gingen weg, manche kamen dazu; der Wirt hörte bald nach diesem, bald nach jenem hin; lauter Dinge, die mit unserer Geschichte nichts weiter zu schaffen haben. Wann Renzos unbekannter Begleiter weggehen würde, ließ sich nicht absehen; er hatte, wie es wenigstens schien, in dem Hause nichts zu tun, und dennoch mochte er sich nicht empfehlen, ohne mit seinem Gefährten noch einmal unter vier Augen ein wenig geplaudert zu haben. Er wandte sich zu ihm, knüpfte das Gespräch vom Brot wieder an, und nach verschiedenen Redensarten, welche seit einiger Zeit gang und gäbe geworden, rückte er mit seiner eigenen Meinung heraus.

»Wenn ich zu befehlen hätte,« sagte er, »so würde ich das Mittel schon finden, um alles wieder in der gehörigen Ordnung gehen zu lassen.«

»Was wolltet Ihr vornehmen?« fragte Renzo, sah ihm dabei mit einem etwas allzu glänzenden Augenpaar ins Gesicht und zog den Mund ein wenig seitwärts, gleichsam um sich so aufmerksam wie möglich darzustellen.

»Was ich vornehmen wollte?« entgegnete der andere. »Es müßte Brot für alle vorhanden sein, fürs arme Volk so gut wie für die Reichen.«

»Ah, so läßt sich's hören,« meinte Renzo.

»Hört an, wie ich's machen würde. Ein rechtschaffener Preis, wobei jedweder bestehen kann. Und dann das Brot nach Verhältnis der Esser verteilt. Wie das anstellen? Ich denke so: Jede Familie kriegt, nach Verhältnis der Köpfe, einen Zettel und kann damit hingehen, sich vom Bäcker Brot zu holen. Mir zum Beispiel müßten sie einen Zettel ausfertigen, der etwa so lautete: Ambrogio Fusella, Schwertfeger von Handwerk, mit seinem Weib und vier Kindern, sämtlich schon herangewachsen, um Brot essen zu können – paßt wohl auf – erhält soundsoviele Brote, wofür er soundsoviele Groschen zu zahlen hat, 's muß aber allezeit gerecht dabei zugehen, immer nach Anzahl der Köpfe. Bei Euch, wollen wir einmal annehmen, müßten sie einen Zettel ausstellen für ... wie ist doch Euer Name?«

»Lorenzo Tramaglino,« sagte der Jüngling. Denn ganz und gar von dem neuen Plane bezaubert, bemerkte er nicht, daß er gleichfalls auf Papier, Feder und Tintenfaß gegründet war, daß, um ihn ins Werk zu setzen, vor allen Dingen die Namen der Personen aufgenommen werden mußten.

»Ganz gut,« sagte der Unbekannte; »aber habt Ihr Frau und Kinder?«

»Ich sollte eigentlich ... Kinder, nein – 's wär' zu zeitig; aber 'ne Frau – wenn's in der Welt zuginge, wie's sollte ...«

»Ah, Ihr seid unverheiratet! Also Geduld; kriegt demnach eine kleinere Portion.«

's ist billig,« sagte Renzo. »Aber wenn nun bald, wie ich hoffe, und mit göttlicher Hilfe ... Genug, wenn ich nun mich verheiraten täte?«

»Wird der Zettel gewechselt und die Portion steigt,« antwortete der Unbekannte und erhob sich von der Bank. »Wie ich gesagt habe: immer nach Verhältnis der Köpfe.«

»So laß ich's gelten,« rief Renzo, indem er wiederholt mit der Faust auf den Tisch schlug. »Und warum machen sie nicht ein Gesetz nach dieser Manier?«

»Was soll ich Euch für 'nen Bescheid darauf geben?« fragte jener. »Indessen sag' ich Euch gute Nacht und mache mich auf; ich denk' mir, mein Weib und meine Kinder lauern schon eine ganze Zeit auf mich.«

»Noch 'nen kleinen Schluck, 'nen kleinen Schluck noch!« schrie Renzo und füllte ihm geschwind den Becher. Dabei sprang er auf, faßte ihn bei einer Bauchfalte des Wamses und zog ihn mit Gewalt zum Sitzen zurück. – »Noch einen kleinen Schluck, tut mir das nicht zuleide!«

Der Freund aber machte eine rasche Wendung und entschlüpfte. Auf alle Bitten und Vorwürfe, in welche Renzo sich ergoß, antwortete er bloß noch einmal gute Nacht und ging. Als er schon auf dem Wege war, hielt ihm Renzo sein Unrecht noch vor und warf sich sodann auf die Bank. Er sah mit starren Blicken den Becher an, der voll vor ihm stand, und sagte mit langsamer, feierlicher Stimme, daß sich die Worte ganz eigen anhören ließen: »Hier, 's war für den braven Mann eingeschenkt, voll, von einem Rand zum andern, wie man's einem Freund anbietet; er hat's aber nicht gewollt. Die Leute haben manchmal wunderliche Grillen unterm Schädel sitzen. Ich hab' getan, was ich konnte; meinen guten Herzenswillen hat er sehen können. Jetzt also, da die Sache einmal geschehen ist, muß einer Gottes Gabe nicht zugrunde gehen lassen.« – Nachdem er so gesprochen, nahm er den Becher und trank ihn auf einen Zug aus.

Hier will's die ganze Liebe, welche wir zur Wahrheit hegen, um mit umständlicher Treue fortzufahren, wo die Erzählung für eine so wichtige Person wie Renzo, für das wichtigste Glied unserer Geschichte, ließ sich beinahe sagen, so wenig ehrenvoll zu werden anfängt.

Eine unwiderstehliche Lust zum Sprechen wandelte plötzlich unsern Helden an; an Zuhörern oder an umhersitzenden Menschen wenigstens, die er dafür nehmen konnte, fehlte es nicht; hin und wieder waren ihm auch recht passende Worte in den Mund gekommen und hatten sich in ziemlicher Ordnung aneinanderreihen lassen. Allmählich aber zeigten sich bei dem Geschäfte, die angefangenen Sätze faßlich durchzuführen, mächtige Schwierigkeiten. Und in solcher Verlegenheit verführte ihn ein falscher Trieb, wie er gar oft die Menschen dem Verderben zuleitet, seine Zuflucht gerade zu der unglücklichen Flasche zu nehmen. Was für Hilfe ihm aber unter solchen Umständen die Flasche gewähren konnte, sagt sich jeder, der seinen gesunden Verstand hat, selbst.

»He, Wirt, Wirt!« fing Renzo wieder an, indem er mit den Augen um den Tisch umherwanderte und dann unter das Vordach des Kamins hinblickte; bisweilen richtete er auch den Blick starr dahin, wo gerade der Kamin nicht war, und sprach in einem fort mitten im Lärmen der Gesellschaft: »Du bist ein schöner Wirt! Ich krieg ihn nicht klein, deinen Streich da mit Namen, Zunamen und Geschäft. Einem Menschen wie mir! Hast dich nicht gut aufgeführt. Was find'st du denn für 'ne Freude, was für 'nen Vorteil, für 'nen Geschmack dran, einen armen jungen Kerl zu Papier zu bringen? Hab' ich recht, Ihr Herren? Gerade an die braven jungen Kerle sollten sich die Schenkwirte halten. – Ferrer und der Pater Crrr ... das sind ein Paar Ehrenmänner, ich weiß es. Die Alten taugen weit weniger als die Jungen, und die Jungen ... die sind noch schlimmer als die Alten. Ich bin aber doch zufrieden, daß es kein Menschenleben gekostet hat; eh, das sind Unmenschlichkeiten, die für den Schinder gehören. Brot, das ja. Ich hab' tüchtige Stöße bekommen; aber – ich hab' auch welche ausgeteilt. Frisch auf! Überfluß! Vivat! Aber auch der Ferrer – alle Augenblick ein lateinisches Mummelwort ... Sies baraos trapolorum. Verdammt sei die Bosheit! Die Gerechtigkeit soll hochleben! Und das Brot! Ha, das sind die rechten Worte! Das wollen die Herren hier auch ... Wie das verdammte ton ton ton mit einemmal losbrach, und dann wieder ton ton ton ... 's macht sich einer nicht umsonst auf die Beine. Ich sollt' ihn nur hier haben, den Herrn Pfarrer ... eh, ich weiß recht gut, was ich im Sinne habe.«

Bei diesen Worten senkte er den Kopf und stand einige Zeit wie im Anschauen eines plötzlich aufgestiegenen Bildes verloren; dann seufzte er tief auf, im emporgehobenen Gesicht waren zwei tränende Kinderaugen zu sehen, eine seltsame, fremdartige Bekümmernis sprach sich in seinen Zügen aus, und gut war's, daß diejenige, welche der Gegenstand derselben war, sie nicht zu sehen bekam. Die nichtswürdigen Kerle aber, welche schon angefangen hatten, mit Renzos leidenschaftlicher, verworrener Beredsamkeit ihren Spaß zu treiben, machten sich nun über sein kummervolles Aussehen noch lustiger. Bald war er das Spottziel der liederlichen Gesellschaft. Freilich waren auch sie nicht alle bei ganz nüchternem Verstande; indessen hatte keiner so arg wie unser armer Renzo über die Schnur gehauen, und überdies war er ein Fremdling. So machten sie sich daran, ihn der Reihe nach mit einfältigen, plumpen Fragen, mit spottlustigen Gebärden aufzuziehen. Renzo verriet bald seinen Unwillen darüber, bald nahm er den Spaß auf die lustige Seite, bald ließ er sich das ganze Gerede nichts anfechten und sprach von ganz andern Dingen; manchmal antwortete er, manchmal fragte er, immer aber sprungweise, ohne Zusammenhang.


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