Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel.

»Karneades! Wer war das?« fragte sich Don Abbondio auf seinem Lehnstuhl in einem der oberen Zimmer, mit einem kleinen aufgeschlagenen Buche vor sich, als Perpetua hereintrat, um ihm die Botschaft zu bringen. – »Karneades! Es ist mir wohl, als wenn ich den Namen schon einmal gehört oder gelesen habe. Es muß ein Mann von Gelehrsamkeit gewesen sein, ein großer Schriftsteller aus alten Zeiten; der Name klingt so; aber wer zum Teufel war es?« Der griechische Philosoph Karneades sprach als Gesandter in Rom für und gegen dieselbe Sache. So weit war der arme Mann von der Ahnung des Sturmes entfernt, welcher sich über seinem Haupte zusammenzog.

Man muß wissen, daß Don Abbondio sich damit unterhielt, täglich ein paar Zeilen zu lesen; ein benachbarter Pfarrer, welcher ein Stück von einer Büchersammlung besaß, lieh ihm ein Buch nach dem andern, immer das erste beste, das ihm gerade in die Hand kam. Bei dieser Lektüre war er gerade, als Perpetua Tonios Besuch meldete.

»Jetzt?« fragte, wie natürlich, auch Don Abbondio.

»Was wollen Sie? Es ist freilich unbescheiden, wenn man ihn aber nicht im Fluge faßt ...«

»Freilich, wenn ich ihn jetzt nicht fasse, so ist's eine Frage, wann er sich wieder fassen läßt. Laß ihn kommen. He, bist du aber auch sicher, daß er es ist, Tonio?«

»Teufel auch!« antwortete die Haushälterin, stieg hinunter, öffnete die Türe und sagte: »Wo seid Ihr?« – Tonio stellte sich ihr dar. Zugleich aber zeigte sich auch Agnese und grüßte Perpetuen mit Namen.

»Guten Abend, Agnese!« erwiderte diese. »Woher zu dieser Stunde?«

»Ich komme von ...,« sie nannte ein benachbartes kleines Dorf. – »Und wenn Ihr wüßtet,« fuhr sie fort, »ich habe mich just Euretwegen so lange dort aufgehalten.«

»Wieso?« fragte Perpetua und wandte sich nach den beiden Brüdern mit den Worten zurück: »Tretet nur hinein, ich komme auch gleich.«

»Ei,« erklärte Agnese, »so ein Weibstück, das nichts weiß und doch reden will, Ihr werdet's nicht glauben, die setzte sich's in den Kopf, zu behaupten, Ihr hättet Euch mit Joseph Suolavecchia und mit Anselm Lunghigna bloß darum nicht verheiratet, weil sie Euch nicht mochten. Ich aber behauptete dagegen, daß Ihr sie zurückgewiesen habt, den einen wie den andern.«

»Ganz gewiß. Die Lügnerin! die grobe Lügnerin! Wer war's denn?«

»Fragt mich nicht, ich mag kein Unheil stiften.«

»Sagt mir's, Ihr müßt mir's sagen. Die verdammte Lügnerin!«

»Genug, Ihr könnt aber gar nicht glauben, wie leid es mir tat, die ganze Geschichte nicht von Grunde aus zu wissen, um der schändlichen Person gehörig das Maul zu stopfen.«

»'s ist 'ne ausgemachte Lügenhexe,« rief Perpetua, »die niedrigste, die es auf Erden gibt. Der Joseph, alle wissen's und alle haben's sehen können ... He, Tonio, legt die Türe an und geht nur hinauf, ich komme nach.«

Tonio antwortete von innen, und die Haushälterin setzte ihre leidenschaftliche Erzählung fort. Don Abbondios Türe gegenüber öffnete sich zwischen zwei Hütten eine kleine Gasse, welche bald aufhörte und in Feldern endigte. Dorthin bewegte sich Agnese, als wenn sie sich, um freier reden zu können, ein wenig seitwärts zurückziehen wollte. Die Haushälterin folgte ihr. Als sie um die Ecke waren und nicht mehr sehen konnten, was vor dem Hause des Pfarrers vorging, hustete Agnese laut. Es war das Zeichen. Renzo verstand es und machte Lucien durch einen Händedruck Mut; beide wandten sich dann auch um ihre Ecke, schlichen geduckt die Mauer entlang, kamen an die Türe und öffneten sie behutsam. Nach einer Sekunde standen sie, ruhig und niedergebückt, in dem Hausflur, woselbst die beiden Brüder sie erwarteten. Renzo drückte leise die Klinke unter den Haken, und so stiegen alle vier die Treppe hinauf, ohne mehr Geräusch als zwei zu machen. Als sie oben angekommen, traten die beiden Brüder zur Türe des Zimmers, welches seitwärts von der Treppe lag; die Verlobten drückten sich an die Wand.

»Deo gratias,« sagte Tonio mit deutlicher Stimme.

»Tonio, ja? Herein!« antwortete die Stimme drinnen.

Der Hereingerufene öffnete den Türflügel kaum so weit, um mit seinem Bruder zugleich hineinzutreten. Tonio machte die Türe hinter sich zu; das Brautpaar blieb bewegungslos im Finstern stehen, horchte und hielt den Atem an sich; das stärkste Geräusch verursachten die Herzschläge der armen Lucia.

Don Abbondio steckte beim schwachen Schimmer einer kleinen Lampe, wie wir gesagt, in einem altfränkischen Lehnstuhl, gehüllt in einen abgetragenen Tuchmantel, den Kopf mit einer alten Kamelottmütze bedeckt, die sich wie ein Gesimse rings um das Gesicht zog.

»Ah, ah!« war sein Gruß, indem er sich die Brille abnahm und sie auf das kleine Buch legte.

»Der Herr Pfarrer werden sagen, ich sei spät gekommen,« begann Tonio und verneigte sich, was auch, nur plumper, sein Bruder tat.

»Freilich ist's spät, spät in jeder Hinsicht. Wißt Ihr, daß ich krank bin?«

»Tut mir leid.«

»Ihr werdet's haben sagen hören, ich bin krank und weiß nicht, wann ich mich vor Leuten werde können sehen lassen. Aber warum habt Ihr denn den, den jungen Menschen da, hinter Euch herlaufen?«

»I nun, zur Gesellschaft, Herr Pfarrer.«

»Gut, wir wollen sehen.«

»Da sind fünfundzwanzig neue Silberstücke, solche mit dem heiligen Ambrosius zu Pferde,« sagte Tonio und zog ein Päckchen aus der Tasche.

»Wir wollen sehen,« antwortete Don Abbondio, griff nach dem Päckchen und setzte die Brille wieder auf die Nase. Dann wickelte er es auf, nahm die Silberstücke, kehrte sie um, kehrte sie wieder um, zählte sie und fand nichts dagegen einzuwenden.

»Nun,« sagte Tonio, »bitte ich um etwas Schwarz auf Weiß.«

»Auch das,« sagte Don Abbondio. »Alle Welt weiß es. Ei, wie die Leute doch jetzt voller Verdacht stecken! Habt Ihr kein Zutrauen zu mir?«

»Wie, Herr Pfarrer, ob ich Zutrauen habe? Sie tun mir unrecht. Aber sintemal mein Name im Buche steht, auf der Schuldseite ...«

»Gut, gut!« unterbrach ihn Don Abbondio. Dabei zog er ein Kästchen vom Tische nach sich hin, nahm Papier, Feder und Tintenfaß heraus, fing an zu schreiben und wiederholte sich mit lauter Stimme jedes Wort, wie es ihm aus der Feder floß. Darauf stellte sich Tonio und, auf seinen Wink, auch Gervaso gerade vor den Tisch, so daß sie dem Schreibenden die Aussicht auf die Türe benahmen, und schurrten, als geschähe es aus Ungeduld, mit den Füßen am Boden, dem Paare draußen das Zeichen des Eintritts zu geben und zugleich das Geräusch ihrer Fußtritte unhörbar zu machen. Don Abbondio sah, in sein Schreiben vertieft, auf nichts anderes. Beim Eintreten faßte Renzo einen Arm seiner Lucia, preßte ihn an sich, um ihr Mut zu machen, und schritt vorwärts, indem er sie nach sich zog; denn allein war das zitternde Mädchen kaum imstande zu gehen. Leise auf den Zehenspitzen traten sie herein, hielten den Atem an sich und stellten sich hinter die beiden Brüder. Indem war Don Abbondio mit seinem Schreiben fertig, er las die Worte noch einmal aufmerksam durch, ohne die Augen vom Papier zu erheben, faltete es und sagte: »Seid Ihr nun zufrieden?« – Zugleich nahm er sich mit der einen Hand die Brille von der Nase, reichte mit der andern das Blatt dem Tonio hin und hob das Gesicht in die Höhe. Tonio streckte die Rechte aus, um das Papier hinzunehmen, trat dann nach der einen Seite zurück, Gervaso, auf seinen Wink, nach der andern, und wie wenn der Hintergrund einer Schaubühne sich öffnet, standen Renzo und Lucia in der Mitte da.

Don Abbondio blickte hin, sah sie, erschrak, staunte, wollte wütend auffahren, sann nach und faßte einen Entschluß; alles das, während Renzo zu sprechen sich anschickte. – »Herr Pfarrer,« sprach der Jüngling, »in Gegenwart der beiden Zeugen, diese ist mein Weib!« – Seine Lippen hatten sich noch nicht geschlossen, als Don Abbondio schon den Zahlbrief fallen ließ, nach der Lampe griff, mit der andern Hand die Tischdecke faßte, sie gewaltsam an sich zog, Buch, Papier, Tintenfaß und Sandbüchse zu Boden warf, zwischen Sessel und Tisch sprang und auf Lucien losging. Die Arme hatte mit ihrer sanften zitternden Stimme kaum die beiden Worte hervorbringen können: »Und dieser ...« – als der Pfarrer ihr gewaltsam die Tischdecke an den Kopf und übers Gesicht warf und es ihr unmöglich machte, die Formel ganz auszusprechen. Augenblicklich ließ er dann die Lampe, die er in der andern Hand hielt, fallen und rief nun auch diese zu Hilfe, um das Gesicht des Mädchens, welches er fast erstickte, ganz und gar mit der Decke zu verhüllen; zu gleicher Zeit schrie er mörderlich wie ein verwundeter Stier: »Perpetua! Perpetua! Verrat! Hilfe!« – Das ersterbende Licht auf dem Boden warf einen matten schwankenden Schein auf Lucien, welche völlig verwirrt nicht einmal sich loszuwickeln suchte und sich mit einer modellierten Tonstatue vergleichen ließ, um welche der Künstler ein nasses Tuch geschlagen. Nachdem der letzte Schimmer des Lichtes erloschen, ließ Don Abbondio von dem armen Mädchen ab, suchte tappend die Tür, die nach einem andern inneren Zimmer führte, fand sie, trat hinein, schloß hinter sich zu und schrie in einem fort: »Perpetua! Verrat! Hilfe! Hier, in diesem Hause!« – Im andern Zimmer war indessen alles in Verwirrung; Renzo suchte den Pfarrer zu packen und strich mit den Händen umher, als spielte man Blindekuh; so erreichte er die Türe, klopfte und schrie: »öffnen Sie, öffnen Sie, machen Sie kein Geschrei!« – Lucia rief ihren Renzo mit matter Stimme und sagte flehend: »Laß uns gehen, laß uns gehen, um Gottes willen!« – Tonio fegte auf allen Vieren mit den Händen den Fußboden, um seinen Zahlbrief zu erwischen. Gervaso schrie und sprang wie besessen umher und suchte die Treppentür, um hinauszuschlüpfen und seine Haut zu sichern.

Da der Belagerte sah, daß der Feind keine Miene zum Weichen machte, öffnete er ein Fenster, das nach dem Kirchhofe hinausging, und rief auch hier: »Hilfe! Hilfe!« – In seinem schönsten Glänze stand der Mond am Himmel; der Schatten der Kirche und weiter hinaus der lange spitze Schatten des Glockenturms streckte sich in seinen deutlichen Umrissen braun und unbeweglich über die grasige beleuchtete Fläche des Kirchhofes hin; jeder Gegenstand ließ sich wie am Tage unterscheiden. Wohin aber der Blick auch fiel, es erschien kein Zeichen eines lebendigen Menschen. Mit der Seitenmauer der Kirche indessen zusammenhängend und gerade auf der Seite nach dem Pfarrhause hin, stand eine winzige Wohnung, ein Schlupfwinkel, in welchem der Küster schlief. Aufgestört durch das ungeheure Geschrei, sprang dieser im Bette empor, stieg eiligst hinaus, öffnete einen papiernen Fensterflügel, steckte, während seine Augenlider sich noch immer nicht recht voneinander gelöst hatten, den Kopf durch und fragte: »Was gibt's?«

»Lauft, Ambrogio! Hilfe! Leute im Haus!« schrie ihm Don Abbondio zu. – »Ich bin im Augenblick da,« antwortete der Küster, zog den Kopf zurück und machte das Fenster wieder zu. Obgleich er aber noch halb schlaftrunken und mehr als halb außer sich vor Schrecken war, fiel ihm dennoch alsobald ein Mittel ein, wie er weit mehr Hilfe leisten könnte, als von ihm verlangt worden war. Er griff nach den Beinkleidern, die er auf dem Bette liegen hatte, nahm sie in aller Geschwindigkeit unter den Arm wie einen Staatshut, und so ging's im Sprung eine hölzerne Treppe hinab; dann lief er nach dem Turm, faßte den Strick der größeren unter den beiden Glocken, die droben hingen, und läutete Sturm.

Ton, ton, ton, ton – die Bauern setzen sich plötzlich im Bette aufrecht, die Knechte, die auf den Heuböden hingestreckt schlafen, horchen auf und springen empor.

Ehe sie sich aber noch zurecht gemacht hatten, ja, ehe sie noch recht aufgewacht waren, war der Lärm zu den Ohren anderer Leute gelangt, welche angekleidet nicht weit davon auf den Beinen waren; zu den Ohren der Bravi auf der einen, zu Agnesens und Perpetuens Ohren auf der andern Seite. Wir erzählen ganz kurz, was jene seit dem Augenblick, da wir sie verlassen, teils in dem verfallenen Hause, teils in der Dorfschenke getan. Als die drei alle Pforten geschlossen und die Straße menschenleer sahen, gingen sie fort, taten, als wenn sie sich weit weg machten und zogen in aller Stille durchs Dorf, um sich zu überzeugen, ob alles zur Ruhe gegangen; wirklich begegneten sie keiner lebenden Seele mehr und vernahmen nicht das kleinste Geräusch. Auch gingen sie, und zwar noch leiser, vor dem Häuschen unserer Unglücklichen vorüber; das ruhigste Haus unter allen, da niemand mehr drin war. Dann nahmen sie geradeswegs ihren Weg nach dem verfallenen Gebäude und statteten daselbst dem Grauen Bericht ab. Alsbald setzte sich dieser einen großen schlechten Hut auf, warf einen Pilgermantel von Wachsleinen, mit Muscheln besetzt, um die Schultern, nahm einen Wanderstab in die Hand und sagte: »Vorwärts, wie beherzte Kerle; aber still und aufmerksam aufs Wort!« – Er ging voran, die andern folgten. Durch eine Straße, derjenigen entgegengesetzt, durch welche unsere kleine Schar, da sie gleichfalls ins Feld rückte, sich entfernt hatte, langten sie bald beim Häuschen an. Der Graue ließ den Trupp einige Schritte davon halten, ging allein voran und klopfte an die Hoftüre. Doch niemand antwortet; er klopft ein wenig stärker – nicht ein Laut. Darauf ruft er einen seiner Bravi zu sich, läßt ihn in den Hof hinübersteigen und heißt ihn inwendig die Nägel aus dem Riegel reißen, um Eintritt und Rückzug frei zu haben. Alles geschieht mit großer Vorsicht und glücklichem Erfolg. Nun ruft der Anführer die andern, befiehlt ihnen, mit hineinzukommen und sich bei dem ersten in einem Winkel zu verstecken; er legt behutsam die Türe der Pforte wieder an, stellt von innen zwei Schildwachen hin und geht gerade zur Türe des unteren Stockwerks. Er klopft auch hier; er wartet – und konnte lange warten. Auch aus dieser Türe werden leise die Nägel herausgerissen, aber keiner ruft ihm von innen ein: Wer da? zu; keiner läßt sich hören, besser kann's nicht gehen. Vorwärts also. Er zündet eine kleine Laterne an und durchsucht das untere Stockwerk, um sich zu überzeugen, ob niemand da sei. Niemand. Er kehrt zurück, geht nach dem Ausgang an der Treppe, schaut umher, spitzt die Ohren – Einsamkeit und Schweigen. Nun stellt er zwei andere Schildwachen im unteren Stockwerk auf, steigt mit seinen übrigen Kerlen leise hinauf und verflucht im Herzen jede Stufe, die unter ihm knarrt, und jeden Fußtritt seines Gefolges, der Geräusch macht. Endlich ist er oben. Hier muß der Hase liegen. Er stößt sanft an die Türe, die zum ersten Zimmer führt, sie gibt nach, und es entsteht eine Öffnung; er hält das Auge hin, es ist finster; er horcht, um zu vernehmen, ob inwendig einer schnarcht, atmet oder sich regt; nichts zu hören. Also vorwärts. Er nimmt die Laterne vor das Gesicht, um zu sehen, ohne gesehen zu werden, macht die Türe auf, wird ein Bett gewahr und tritt hin: das Bett ist gemacht, vollkommen in Ordnung, und die Decke liegt ruhig auf dem Kopfkissen. Er zuckt die Achseln, dreht sich nach den Gefährten um und bedeutet ihnen, er gehe nun, im andern Zimmer nachzusuchen, sie möchten ihm leise folgen. Er tritt auch dort hinein, nimmt dieselben Gänge vor und macht die nämliche Entdeckung. – »Was zum Teufel ist das?« sagte er nun laut, »hat irgendein Hund von Verräter den Spion gemacht?« Darauf spähen alle, schon mit weniger Behutsamkeit, umher, durchtasten jeden Winkel und drehen das ganze Haus um.

Während diese hiermit beschäftigt waren, hören die beiden vordersten Schildwachen durch die Pforte jemanden zum Dorf hereinkommen; es nähert sich, und dicht aufeinanderfolgende Tritte verraten kleine Füße. Die beiden glauben, es werde geradeswegs vorüberziehen; sie stehen ruhig, lassen es aber auf alle Fälle an Aufmerksamkeit nicht fehlen. Plötzlich bleibt's gerade vor der Pforte stehen. Es war Menico, der hastig ankam und vom Pater Cristoforo die Frauen benachrichtigen sollte, sie möchten um des Himmels willen sich augenblicklich aus dem Hause fortmachen und sich ins Kloster flüchten, denn ... wir wissen, warum. Er faßt den Griff des Riegels, um zu pochen, und fühlt ihn in der Hand schwanken, losgerissen und zerbrochen. Was ist das? denkt er und drückt erschrocken gegen die Türe; diese gibt nach, er tut in bangem Argwohn einen Schritt hinein und fühlt sich an beiden Armen zugleich ergriffen. Zur Rechten und Linken sagen ihm zwei leise Stimmen in drohendem Tone: »St! Schweig, oder du bist des Todes!« Der Knabe dagegen erhebt ein Geschrei; einer der beiden Raufer schlägt ihm mit der ungeheuren Faust auf den Mund, der andere greift nach dem Messer, um ihm Furcht einzujagen. Der arme Junge zittert wie Espenlaub und versucht kein Geschrei mehr; dagegen bricht plötzlich und in ganz anderm Tone der erste Schlag der Glocke los und dahinter ein Sturm von ununterbrochen wiederholten Schlägen. Wer in der Sünde steckt, trägt die Angst im Herzen, sagt ein mailändisches Sprichwort; die Schurken lassen die Arme des Knaben los, ziehen ihre eigenen hastig zurück, stehen mit offenem Munde da, starren einander an und laufen nach dem Hause, wo sich die Hauptschar der Bande befand. Menico springt hinaus und läuft, was er kann, nach dem Glockenturme zu, wo er auf jeden Fall einem Menschen zu begegnen hofft. Auf die andern Schurken, die durchs ganze Haus herumstöberten, machten die furchtbaren Glockentöne denselben Eindruck; sie geraten in Verwirrung, verlieren alle Fassung und stoßen sich wechselseitig: ein jeder sucht den kürzesten Weg, um sich nach der Türe zu drängen. Sie waren freilich geprüfte Kerle, gewohnt, jedem Abenteuer das Gesicht zu weisen; eine unerklärte Gefahr aber, welche vor dem Erscheinen sich durch kein Zeichen verraten, wagten sie nicht zu erwarten. Es war das ganze Ansehen des Grauen erforderlich, um sie beisammenzuhalten, damit man sich zurückzöge, aber nicht fliehe. – »Halt! halt! Die Pistolen in die Hand, die Messer stoßfertig; alle beisammen, und dann machen wir uns auf den Weg; so geht man. Wer will uns was anhaben, wenn wir uns gut beisammenhalten, Einfaltspinsel? Lassen wir uns aber einzeln erwischen, so können es auch die Bauern mit uns aufnehmen. Schämt euch! Hinter mir und einer neben dem andern!« – Nach dieser kurzen Anrede stellte er sich an die Spitze und trat zuerst hinaus. Das Haus stand, wie schon gesagt worden, am Ende des Dorfes; der Graue schlug die Straße ein, die daneben hinausführte, und alle hielten sich in guter Ordnung hinter ihm her.

Wir kümmern uns für jetzt nicht weiter um sie und kehren zu den beiden Frauen zurück, welche wir auf der andern Seite in dem kurzen Winkelgäßchen gelassen. Agnese hatte dafür gesorgt, Perpetuen so weit wie möglich vom Pfarrhause wegzuführen, und bis auf einen gewissen Punkt war ihr die List sehr wohl gelungen. Mit einemmal aber erinnerte sich die Haushälterin, daß die Türe offen geblieben, und wollte wieder zurück. Es ließ sich nichts dagegen sagen. Agnese mußte also, um keinen Verdacht in ihr entstehen zu lassen, mit ihr umkehren und ihr folgen; sooft sie indessen merkte, daß sie bei dem Bericht über die verunglückten Heiraten in Hitze geraten, blieb sie stehen und hielt die Erzählerin auf. Indem so bald stillgestanden, bald eine kleine Strecke weitergegangen ward, standen die beiden Alten nicht mehr weit von Don Abbondios Hause, sahen es aber der erwähnten Ecke wegen noch nicht; Perpetua hielt bei einem wichtigen Punkte ihrer Erzählung und hatte sich, ohne an«Widerstand zu denken, ja ohne es selbst zu merken, aufhalten lassen, als plötzlich durch den stillen Luftraum, durch das weit verbreitete Schweigen der Nacht jenes erste gewaltsame Zetergeschrei des Pfarrers: »Hilfe! Hilfe!« sich laut hallend hören ließ.

»Himmlische Barmherzigkeit! Was ist geschehen?« schrie Perpetua und wollte davonlaufen.

»Was gibt's? Was gibt's?« fragte Agnese und hielt sie am Kleide zurück.

»Himmlische Barmherzigkeit!« sagte die andere, sich losreißend. »Habt Ihr denn nicht gehört?«

»Was gibt's denn? Was gibt's denn?« wiederholte Agnese und hielt sie beim Arme fest.

»Steckt der Teufel in Euch, Weib?« schrie die Haushälterin, stieß sie zurück, setzte sich in Freiheit und lief nach der Türe. In demselben Augenblick ließ sich, entfernter, undeutlicher und schneller, Menicos Geschrei vernehmen.

»Himmlische Barmherzigkeit!« schrie nun auch Agnese, und pfeilschnell sprang sie der Haushälterin nach. Sie hatten beide kaum die Füße erhoben, als die Glocke zu dröhnen begann; ein Schlag, ein zweiter, ein dritter, dann in einem fort; es wären ebenso viele Sporen gewesen, wenn die Frauen derselben bedurft hätten. Perpetua langte um zwei Schritte früher an; während sie aber die Hand an die Türe legt und sie aufstoßen will, wird sie gewaltsam schon von innen aufgerissen, und der Haushälterin entgegen stürzen auf der Schwelle Tonio, Gervaso, Renzo und Lucia. Sie hatten die Treppe gefunden, waren Hals über Kopf heruntergerannt, hörten dann das schreckliche Glockengeläute und liefen nun atemlos, um sich in Sicherheit zu bringen.

»Was ist denn? Was ist denn?« fragte Perpetua keuchend die beiden Brüder; aber diese antworteten ihr mit einem hastigen Stoße und schössen vorbei. – »Und ihr? Wie? Was macht ihr hier?« fragte sie darauf das andre Paar, nachdem sie es erkannt hatte. Aber auch diese schlichen, ohne ihr Rede zu stehen, fort. Die Haushälterin suchte dahin zu kommen, wo es am meisten not tat; sie fragte nicht weiter, stürzte wie außer sich in den Hausflur und eilte dann tappend der Treppe zu.

Die beiden Brautleute, auch jetzt, wie vorher, bloß ein verlobtes Paar, trafen sich mit Agnese, welche angstvoll und bekümmert herbeikam. – »Ach, ihr seid hier!« sagte sie, kaum imstande, das Wort hervorzustottern. »Wie ist's gegangen? Was will denn die Glocke? Es ist mir, als wenn ich gehört hätte ...«

»Nach Hause, nach Hause, ehe Leute kommen!« sagte Renzo. So machten sie sich auf den Weg. Ihnen entgegen kam gerade Menico gelaufen; er erkannte sie, trat vor sie hin und sagte, an allen Gliedern zitternd, mit halberstickter Stimme: »Wo wollt ihr hin? Zurück, zurück; dorthin, nach dem Kloster! Der Teufel steckt dort im Hause; ich habe sie gesehen, sie haben mich umbringen wollen. Pater Cristoforo hat's gesagt. Und Ihr auch, Renzo, sollt gleich mitkommen, hat er gesagt. Ich habe sie mit meinen Augen gesehen; 's ist Gottes Schickung, daß ich euch hier alle treffe; will euch schön mehr sagen, wenn wir erst draußen sind.«

Renzo, welcher am meisten Fassung behalten, sah ein, daß man nach einer oder der andern Seite sich auf der Stelle wenden mußte, bevor die Leute herbeiliefen. Er hielt es also fürs sicherste, dem Rate des Knaben zu folgen. Unterwegs, außerhalb des Getümmels und der Gefahr, ließ sich eine deutlichere Erklärung von dem Knaben herausbringen. – »Geh« voran,« rief er. – »Wir gehen mit ihm,« sagte er zu den Frauen. Sie wandten sich, eilten dem Gotteshause zu, liefen quer über den Kirchhof, wo glücklicherweise noch keine lebende Seele anzutreffen war und traten in ein Gäßchen zwischen der Kirche und dem Pfarrhause. Darauf ging's zur ersten Zaunöffnung, die sie fanden, hinein, und fort durch die Felder.

Sie konnten kaum fünfzig Schritte hinter sich haben, als die Leute nach dem Kirchhofe strömten und der Haufe sich dort mit jedem Augenblick vermehrte. Einer sah den andern an; jeder hatte eine Frage, keiner wußte Antwort zu geben. Die zuerst Gekommenen eilten nach der Kirchentüre; sie war verschlossen. Sie liefen also hinaus nach dem Glockenturm, und einer unter ihnen hielt den Mund an eine Öffnung, an eine Art von Schußloch in der Mauer, und schrie laut hinein: »Zum Henker, was gibt's denn?« – Der Küster hörte eine bekannte Stimme und ließ den Strick fahren. Nun zog er eilig die Rüstung an, welche er bisher unterm Arm gehalten, lief inwendig durch zur Kirchentüre und öffnete sie.

»Was soll denn all der Lärm bedeuten? – Was gibt's denn? – Wo denn? – Wer denn?«

»Was? Wer's ist?« fragte Ambrogio, während er mit der einen Hand einen Türflügel, mit der andern das Kleidungsstück hielt, in welches er allzu eilig hineingeschlüpft. – »Was? Ihr wißt es nicht? Leute im Hause des Herrn Pfarrers! Hinauf, Kinder! Helft!« – Den Augenblick wenden sich alle nach dem Hause hin, sehen sich um, drängen sich daselbst scharweise zusammen, sehen noch einmal hinauf, halten das Ohr hin – alles still. Andre laufen vorn nach der Haustüre, sie ist verschlossen und verriegelt; auch sie sehen hinauf – kein Fenster ist offen, nicht ein Laut ist zu hören.

»Wer ist denn da drinnen? – Heh! – Herr Pfarrer! – Herr Pfarrer!«

Don Abbondio war kaum die Flucht seiner Angreifer gewahr geworden, so hatte er sich vom Fenster zurückgezogen und es wieder zugemacht. Jetzt machte er mit halblauter Stimme die Haushälterin herunter, daß sie ihn in diesem Schreckensgewirr allein gelassen. Als er aber von der Menge sich laut gerufen hörte, mußte er von neuem ans Fenster treten; er sah die zahlreiche Hilfe und bereute, sie herbeigerufen zu haben.

»Was ist vorgefallen? – Was hat man Ihnen getan? – Wer sind sie? – Wo stecken sie?« – So schrien fünfzig Stimmen zugleich.

»'s ist keiner mehr hier; ich danke euch; geht nur nach Hause.«

»Aber wer ist's denn gewesen? – Wohin sind sie gegangen? – Was hat sich denn eigentlich begeben?«

»Schlechtes Gesindel, Kerle, die nachts herumstreichen. Sie haben sich aber wieder davongemacht, geht nach Hause; 's ist vorbei. Ein andermal, Kinder; ich dank' euch für euren guten Willen.« – Mit diesen Worten trat er zurück und schloß das Fenster wieder. Da kam plötzlich einer atemlos hergelaufen und war der Sprache nicht mächtig. Dieser Mann wohnte unsern Frauen gegenüber; er hatte bei dem Lärmen sich ans Fenster gestellt und im Hofe drüben das Getümmel der Bravi bemerkt, als der Graue sie gerade mit Mühe zusammenbrachte. Er war kaum wieder zu Atem gekommen, so schrie er: »Was macht ihr hier, Kinder? Hier wimmelt die Hölle nicht, aber dort unten im Dorf, am Hause der Agnese Mondella; bewaffnete Kerle, sie stecken drin; ich glaube, sie wollen einen Pilger abschlachten.«

»Was? – Wie?« – Und nun begann eine stürmische Beratschlagung. – »Man muß gehen. – Wir müssen sehen. – Wieviel sind ihrer? – Wie stark sind wir denn? –- Wer sind sie? – – Der Schulze! Der Schulze!«

»Hier bin ich,« antwortete der Schulze schon mitten im Haufen. – »Hier bin ich; ihr müßt mir aber auch beistehen, müßt mir gehorchen. Geschwind! Wo ist der Küster? Nach der Glocke, nach der Glocke hin! Rasch! Einer nach Lecco, um Hilfe zu holen – kommt alle her!«

Man läuft herbei, man gleitet zwischen dem Gedränge hin, man schlägt sich durch; das Getümmel war groß, als ein anderer anlangte, welcher die bewaffnete Räuberbande in Eile hatte abziehen sehen. –- »Lauft, Kinder!« rief er, »'s sind Räuber, Mordgesellen, die mit 'nem Pilger davonjagen; sind schon außerm Dorf; nach! nach!« – Bei dieser Nachricht warten die Bauern den Befehl ihres Oberhauptes nicht ab, sie machen sich in Masse auf den Weg und strömen die Straße hinab; endlich langt der ordnungslose Schwarm bei der angezeigten Stätte an. Die Spuren des Einbruchs waren neu und deutlich; die Türe offen, der Riegel losgerissen, die Mordbande aber verschwunden. Man tritt in den Hof, man geht nach der Türe des untern Stockwerks; man öffnet, auch sie ist gewaltsam erbrochen; man fragt, man ruft: »Agnese! Lucia! Agnese! Lucia!« – Niemand antwortet. – »Sie haben sie mit fortgeschleppt, mit fortgeschleppt!« – Einige erhoben nun die Stimme und waren der Meinung, man müsse den Räubern nachsetzen; die Niederträchtigkeit sei unerhört, und eine Schande würde es für das Dorf sein, wenn jeder Schurke unbestraft hereinschleichen dürfte, um Frauen wegzuschleppen, wie der Weih die jungen Hühner aus einer unbewohnten Scheune. Eine neue, noch stürmischere Ratsversammlung; einer aber – man hat nie recht erfahren, wer es gewesen – schrie mit einemmal in den Haufen hinein, Agnese und Lucia hätten sich in ein Haus hineingerettet. Das Wort flog schnell von Mund zu Mund und fand Glauben; man sprach nicht weiter davon, den Flüchtlingen nachzusetzen; die Menge zerstreute sich, und jeder begab sich nach Hause, wo noch lange bis spät in die Nacht von dem Erlebnis gesprochen wurde.

Weiter geschah nichts. Am andern Morgen aber stand der Dorfschulze auf seinem Felde, hatte das Kinn auf beide Hände gestützt, die Hände auf dem Griff des halbeingesenkten Spatens und einen Fuß auf dem Tritt desselben; er sann den geheimnisvollen Ereignissen der vergangenen Nacht nach, überlegte, was man von ihm erwarte und was er zu tun habe, und sah plötzlich zwei Männer von rüstigem Ansehen auf sich zukommen, beide mit langen Haaren, wie zwei fränkische Könige aus dem ersten Geschlechte, übrigens genau dem Paare ähnlich, welches fünf Tage vorher auf Don Abbondio gelauert, wofern es nicht etwa die nämlichen waren. Ohne viele Umstände zu machen, banden sie ihm aufs Gewissen, dem Stadtvogt über das Vorgefallene durchaus nicht die geringste Meldung zu tun; wenn er in der Hoffnung lebe, durch eine Krankheit dereinst seinen Tod zu finden, so solle er die Wahrheit verschweigen, falls er gefragt würde; solle sich vor allem Plaudern in acht nehmen und dem Geschwätz der Bauern nicht etwa noch Vorschub leisten. –

Ohne ein Wort zu sprechen, wanderten unsere Flüchtlinge eine Strecke rasch vorwärts. Bald wandte sich der eine, bald der andere um und sah, ob ihnen nicht etwa jemand folgte; alle niedergeschlagen durch die Mühseligkeit der Flucht, durch die heftigen Gemütsbewegungen, die sie erduldet, durch den Verdruß über den schlechten Erfolg ihres Beginnens, wie durch die ahnungsvolle Furcht vor neuer, noch unentwickelter Gefahr. Die Wanderer sahen sich auf einem unbewohnten Felde, wurden weit und breit keinen menschlichen Laut gewahr und fingen an, langsamer fortzuschreiten. Agnese schöpfte zuerst wieder Atem, brach das Stillschweigen und fragte Renzo, wie es gegangen sei, fragte Menico, was für ein Teufel im Hause gesteckt habe. Renzo gab von seiner traurigen Geschichte einen kurzen Bericht, und so wandten sich alle drei zum Knaben, welcher nun umständlicher den Bescheid des Paters mitteilte und seinen entsetzlichen Strauß mit den beiden Räubern erzählte. Eben dieser bestätigte den Bescheid des guten Mönchs nur allzusehr; die Zuhörer begriffen mehr, als Menico zu sagen wußte. Bei dieser Entdeckung aber durchrieselte sie ein neuer Schauder; sie standen alle drei einen Augenblick mitten auf dem Felde still, sahen einander mit den Blicken des Schreckens an und liebkosten zu gleicher Zeit, als wäre es verabredet worden, den Knaben, indem der eine ihm die Hand auf den Kopf, der andere auf die Schulter legte. Sie schienen ihm schweigend zu danken, daß er ihr Rettungsengel gewesen, sie bezeugten ihm das Mitleid, welches sie empfanden, und baten ihn gleichsam um Verzeihung, da er für ihr Heil so viele Angst erduldet und in so großer Gefahr geschwebt hatte. – »Jetzt geh' nach Hause zurück, mein lieber Menico,« sagte Agnese, »damit deine Eltern sich nicht länger um dich abängstigen. Bete zu Gott, daß wir uns bald wiedersehen mögen, und dann ...« – Renzo aber gab ihm ein neues glänzendes Silberstück und schärfte ihm ein, beileibe niemandem etwas von dem Auftrage des Paters zu erzählen; Lucia liebkoste ihn von neuem und grüßte ihn mit gerührter Stimme; der Knabe erwiderte wehmütig den Gruß und kehrte zurück.

Nun setzten sie gedankenvoll ihren Weg fort, die Frauen voran und dicht hinter ihnen, wie eine Schutzbegleitung, Renzo.

Endlich langten sie auf einem Platze vor der Kirche des Klosters an. Renzo trat zur Kirchentüre hin und klopfte. Sie öffnete sich wirklich, und das Mondlicht, welches durch die Öffnung fiel, beleuchtete das bleiche Gesicht und den Silberbart des Bruders Cristoforo, der harrend dastand. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß keiner fehlte, spendete er ihnen seinen frommen Gruß und hieß sie hereintreten.

»Kinder,« sagte er, »danket dem Herrn, daß er euch aus einer großen Gefahr gezogen. In diesem Augenblick vielleicht ...« Und nun erzählte er ausführlich, was er durch den kleinen Boten nur anzudeuten vermocht hatte; denn er konnte sich nicht denken, daß sie bereits mehr als er davon wußten, und setzte voraus, Menico habe sie, noch ehe die Raufbolde angekommen, friedlich in ihrem Hause getroffen. Keiner mochte ihm seinen Irrtum nehmen, nicht einmal Lucia, wiewohl sie solch eine Verstellung gegen solch einen Mann mit heimlichem Widerwillen verwünschte; es war aber einmal eine Nacht der Verwirrung und der Verstellung.

»Demnach seht ihr wohl ein, Kinder,« fuhr er fort, »daß jetzt das Dorf für euch nicht geheuer ist. Es ist euer Wohnort, ihr seid darin geboren, ihr habt euch gegen niemanden versündigt; aber Gott will es so. Es ist eine Prüfung, Kinder; ertragt sie mit Geduld, mit Vertrauen, ohne heimlichen Groll, und ihr werdet sehen, es kommt eine Zeit, wo es euch um all das erlittene Drangsal gar nicht leid tun wird. Ich bin darauf bedacht gewesen, euch einen Zufluchtsort für die ersten paar Stunden zu suchen. Ich hoffe, ihr werdet bald ohne Gefahr nach eurem Hause zurückkehren können; in jedem Fall wird Gott für euer Bestes Sorge tragen, und da er mich zu seinem Diener erwählt hat, um euch guten gequälten Leuten behilflich zu sein, so werde ich mich gewiß bemühen, seine Gnade mit menschlichen Kräften zu unterstützen. Ihr,« fuhr er fort, sich zu den beiden Frauenzimmern wendend, »könnt euch in Monza aufhalten. Dort seid ihr hinlänglich außer aller Gefahr und zugleich von eurem Hause nicht allzu weit entfernt. Fragt dort nach unserem Kloster, lasset euch den Pater Guardian herausrufen und übergebt ihm das Schreiben hier; er wird euch ein zweiter Bruder Cristoforo sein. Und du, mein Sohn, du mußt dich jetzt vor anderer Leute Wut und vor deiner eigenen in Sicherheit bringen. Nimm diesen Brief nach unserem Kloster beim Tore gegen Morgen in Mailand und händige ihn dem Pater Bonaventura aus Lodi ein. Er wird dich wie seinen Sohn halten, wird dich leiten und Arbeit für dich finden, bis du heimkehren kannst, um hier ruhig wieder zu leben. Geht nach dem Seeufer, dicht an die Mündung des Bione« – eines Sturzbaches nicht weit vom Kloster – »dort werdet ihr einen stillstehenden Kahn finden; rufet nur: Barke! Und fragt man euch: Für wen? so antwortet: San Francesco. Die Barke wird euch aufnehmen und nach dem andern Ufer hinüberführen, von wo euch ein Karren geradeswegs nach Monza bringt.«

Man könnte fragen, wie Bruder Cristoforo so schnell diese Beförderungsmittel zu Wasser und zu Lande für seine Zwecke in Bereitschaft gesetzt; dann hat man aber von der Macht eines Kapuziners, welcher im Ansehen eines Heiligen stand, keine Vorstellung.

Es blieb also bloß noch übrig, für die Sicherheit der Häuser Vorkehrungen zu treffen. Der Pater nahm die Schlüssel derselben zu sich und verpflichtete sich, sie denjenigen zu übergeben, welche Renzo und Agnese ihm nennen würden. Diese seufzte, indem sie den Schlüssel hinreichte, aus tiefer Brust; es fiel ihr ein, daß in diesem Augenblick das Haus offen stand, daß der Teufel drin gehaust und wohl schwerlich etwas zu bewachen übriggelassen habe.

»Ehe ihr euch aufmacht,« sagte Bruder Cristoforo, »wollen wir miteinander zum Herrn beten, daß er auf diesem Wege und immer mit euch sei; daß er vor allem euch Kraft verleihe, euch Gottesfurcht einhauche, um das zu wollen, was er beschlossen.« – Bei diesen Worten kniete er mitten in der Kirche nieder; die übrigen alle taten desgleichen. Nachdem sie einige Sekunden schweigend gebetet hatten, stand Bruder Cristoforo auf und sagte: »Geht, Kinder; wir dürfen keine Zeit weiter verlieren; Gott schirme euch, sein Engel begleite euch; geht!« – Und während sie sich in jener Gemütsbewegung, die keine Worte findet und ohne sie sich offenbart, auf den Weg machten, setzte der Mönch mit gerührter Stimme hinzu: »Mir sagt's das Herz, wir werden uns bald wiedersehen!«

Gewiß, wer auf sein Herz hört, dem hat es immer etwas über die Zukunft zu sagen. Aber was weiß das Herz? Kaum ein wenig von dem, was schon geschehen ist.

Ohne Antwort zu erwarten zog sich Bruder Cristoforo mit raschen Schritten zurück; die Reisenden begaben sich fort und machten sich unverdrossen nach dem angezeigten Ufer; sie sahen den Kahn, gaben und empfingen das Merkwort und stiegen hinein. Der Fährmann drückte mit dem Ruder gegen das Ufer und stieß ab; dann nahm er ein zweites, ruderte mit beiden Armen und steuerte über den offenen Spiegel des Sees dem gegenüberliegenden Gestade zu. Nicht ein Lufthauch wehte; glatt und eben lag der weite See vor dem Auge da und hätte bewegungslos geschienen, wenn das Lichtbild der Mondesscheibe, welche vom hohen Himmel herab sich darin spiegelte, auf der Oberfläche nicht gezittert und in leichten Kräuselwellen geflimmert hätte. Nichts war zu vernehmen als die tote träge Welle, wie sie an den Kieseln des Ufers sich brach, das entferntere Getöse des Wassers, welches zwischen den Pfeilern der Brücke hindurchschäumte, und das gleichförmige Schlagen der beiden Ruder, welche, die dunkelblaue Ebene des Sees durchschneidend, zu gleicher Zeit triefend hervorkamen und wieder untertauchten. Während die Welle vom Kahn geteilt ward und am Heck wieder zusammenfloß, bezeichnete ein gekräuselter Streif, der vom Ufer sich immer weiter entfernte, den zurückgelegten Weg. Die schweigenden Pilger hatten das Gesicht zurückgewandt und blickten nach den Gebirgen und der umherliegenden Ebene, wo das mondhelle Nachtstück hier und dort in weiten Schatten dunkelte. Sie erkannten die Dörfer, die Häuser, die Hütten; sie erkannten Don Rodrigos Palast mit seinem flachen Turme, sich über die Häuserhaufen am Abhange des Vorgebirges erhebend, gleich einem Wilden, der auf ein Verbrechen sinnend über einer Schar von liegenden Schläfern in der Dämmerung aufrecht dasteht. Lucia sah ihn und schauderte; sie ließ ihr Auge über den Abhang hin nach ihrem Dorfe schweifen, blickte angestrengt bis zum äußersten Ende, sah ihr Häuschen, sah das dichte Laub des Feigenbaumes, der über die Mauer des Hofes emporragte, sah das Fenster ihres Zimmers, und wie sie auf dem Boden des Fahrzeugs da saß, legte sie den Ellenbogen auf den Bord, senkte die Stirne darauf, als wollte sie schlafen, und weinte heimlich.

So lebt denn wohl, ihr Berge, die ihr emporsteiget über das Gewässer und zum Himmel euch erhebt; ihr wechselnden Gipfel, dem Sohne des Landes, der unter euch aufgewachsen, bekannt und seinem Geiste eingeprägt wie die Gestalten seiner vertrautesten Lieben; ihr Wildbäche, deren Wogenhall er unterscheidet wie den Klang der Stimmen im Vaterhause; ihr schimmernden Landhäuser, auf den Abhängen der Felsen zerstreut wie Herden des weidenden Viehes, lebt wohl! Wie traurig ist der Schritt eures Pflegekindes, wenn es von euch sich entfernt! – Leb wohl, väterliches Haus, wo ich, in stillen Gedanken sitzend, in geheimnisvollem Bangen harrend, unter den Fußtritten der Menge den Fußtritt des Geliebten unterschied. Und auch du lebe wohl, bis jetzt mir noch ein fremdes Haus, nach welchem ich so oft, wenn ich vorüberging, nicht ohne Erröten flüchtig geblickt, in welchem ich so gern mir ein ruhiges ewiges Paradies der Ehe malte. Leb wohl, du Kirche, wo die Andacht so oft mich mit heiterm Seelenfrieden erfüllte, wenn ich das Lob des Herrn sang; wo ich meinem Lieben versprochen und der ewige Bund vorbereitet ward; leb wohl! Er, welcher mir euch mit so freundlichem Zauber geschmückt, ist allerorten, und wenn er die Freude seiner Kinder trübt, so gedenkt er ihnen eine größere und sicherere zu bereiten.

Von dieser Art, wenn auch nicht genau dieselben, waren Luciens Gedanken; wenig verschieden die Gedanken der anderen beiden Pilger. Währenddessen näherte sich das Fahrzeug dem rechten Ufer der Adda.


 << zurück weiter >>