Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel.

Noch war die Sonne am Horizonte nicht ganz hervorgetreten, als Pater Cristoforo schon aus seinem Kloster zu Pescarenico trat und nach dem Häuschen, wo er erwartet wurde, seinen Weg nahm. Pescarenico ist ein kleines Flurgebiet auf dem linken Ufer der Adda oder eigentlich des Sees, wenige Schritte unterhalb der Brücke; ein spärlicher Haufe von Häusern, wo ringsumher, da Fischer ihn bewohnen, Netze zum Trocknen an Pfählen aufgespannt hängen. Das Kloster, dessen Mauerwerk noch jetzt dasteht, lag außerhalb, dem Eingang des Dorfes gegenüber, ziemlich auf halbem Wege von Lecco nach Bergamo.

Der Himmel war heiter und wolkenlos. Während die Sonne hinter dem Berge emporstieg, schien ihr Licht, von den Gipfeln der gegenüberliegenden Gebirge herniedersteigend, über Abhänge und Täler sich gleich einer Flut zu ergießen; ein leichter Herbstwind streifte die welken Blätter von den Zweigen des Maulbeerbaumes und wehte sie einige Schritte von seinen Wurzeln zur Erde. Zur Rechten und Linken funkelten an den schlanken Reben die Blätter, die in mannigfachem Rot spielten; die frischgepflügten Raine traten dunkelfarbig hervor, sich von den weißen Stoppelfeldern unterscheidend, welche im feuchten Nebel schimmerten. Das Schauspiel des Morgens lachte dem Wanderer in die Seele; jede menschliche Gestalt aber, die sich bewegte, trübte den Blick und die Gedanken. Jeden Augenblick begegnete man abgezehrten Bettlern in zerlumpten Kleidern, teils grau geworden in ihrem Handwerke, teils von der Not eben erst dahin gebracht, die Hände auszustrecken. Sie schritten ruhig an Pater Cristoforo vorbei, betrachteten ihn mit frommen Blicken, und obgleich sie von ihm nichts zu hoffen hatten, da ein Kapuziner niemals Geld bei sich trug, machten sie ihm dennoch für die Almosen, die sie bekommen hatten oder im Kloster sich holen wollten, eine tiefe Verneigung der Dankbarkeit. Der Anblick der Arbeiter, welche auf den Feldern zerstreut waren, wirkte gewissermaßen noch schmerzlicher. Einige streuten spärlich und mißmutig die Saat aus, als wagten sie einen drohenden Verlust dabei; andere führten den Spaten mit Anstrengung oder kehrten die Schollen gleichsam wider Willen um. Ein bleiches kränkliches Mädchen führte am Stricke ihre abgemagerte kraftlose Kuh zur Weide; es gab aufmerksam acht und bückte sich eilig zur Erde, um dem Tiere zur Nahrung für die Familie ein Kraut wegzustehlen; denn der Hunger hatte die Menschen gelehrt, ihr Leben damit zu fristen. Dem Mönche, welcher schon mit dem traurigen Vorgefühl im Herzen, er gehe, irgendein Unglück zu hören, seines Weges schlich, mußten Erscheinungen dieser Art den Trübsinn noch erhöhen.

Warum aber zeigte er für Lucien einen solchen Eifer? Warum hatte er sich bei der ersten Nachricht gleich so bekümmert auf den Weg gemacht, als hätte ihn der Pater Provinzial zu sich beschieden? Und wer war dieser Bruder Cristoforo? – Wir werden allen diesen Fragen Genüge zu leisten suchen müssen.

Pater Cristoforo von *** war ein Mann, näher an sechzig als an fünfzig. Sein geschorenes Haupt, dessen Mitte nur ein schmaler Streif von Haaren, nach der Sitte der Kapuziner, wie eine Krone umgab, erhob sich von Zeit zu Zeit mit einer Bewegung, in welcher sich etwas Stolzes und Unruhiges zugleich verkündigte; bald aber senkte es sich wieder zu demütigen Betrachtungen. Der graue lange Bart, der Wangen und Kinn bedeckte, ließ die sprechenden Züge der oberen Gesichtshälfte noch lebhafter hervortreten; diesen Zügen hatte eine schon zur Gewohnheit gewordene Enthaltsamkeit weit mehr Würde gegeben als Ausdruck genommen. Das hohle Augenpaar war meistens zur Erde gerichtet, blitzte aber bisweilen in plötzlicher Lebhaftigkeit auf, wie etwa zwei übermütige Rosse, von einem Kutscher gezügelt, mit welchem sie aus Erfahrung es nicht aufzunehmen wagen, dennoch hin und wieder einen wilden Sprung tun und ihn augenblicklich mit einem blutigen Peitschenhieb bezahlen müssen.

Pater Cristoforo war nicht immer so gewesen, noch hatte er von jeher Cristoforo geheißen; sein Taufname war Ludovico. Er war der Sohn eines Kaufmannes zu *** – diese Sternchen rühren von der Bedächtigkeit meines Anonymus her –, der gegen das Ende seines Lebens, da er sich ziemlich wohlhabend fühlte und nur diesen einzigen Sohn besaß, seinen Geschäften entsagt und als vornehmer Herr zu leben angefangen hatte. Seinen Sohn ließ er, nach der Sitte der Zeiten, soviel Gesetze und Herkommen ihm gestatteten, anständig erziehen; er hielt ihm Lehrer in den Wissenschaften und ritterlichen Übungen und hinterließ ihn, da er starb, als einen reichen jungen Mann. Ludovico hatte sich ein vornehmes Benehmen angeeignet, und die Schmeichler, unter denen er aufgewachsen, hatten ihn daran gewöhnt, sich mit aufmerksamer Achtung behandeln zu lassen. Sooft er sich aber zu den Edelleuten der Stadt gesellen wollte, fand er die Umstände gar sehr verändert; um, wie er es wünschte, in ihrer Gesellschaft zu leben, war's nötig, sah er ein, eine neue Schule von Geduld und Unterwürfigkeit durchzumachen, sich beständig im Hintergrunde zu halten und jeden Augenblick sich etwas gefallen zu lassen. Solche Lebensweise stimmte so wenig mit seiner Erziehung wie mit seinem Charakter überein. Erbittert entfernte er sich von ihnen. Aber nur ungern hielt er sich zurückgezogen; es schien ihm, daß diese Herren von Rechts wegen eigentlich seine Gefährten sein müßten, nur hätte er sie umgänglicher gewünscht. Indem er also, zwischen Neigung und Haß schwankend, nicht vertraulich mit ihnen verkehren konnte und doch auf irgendeine Weise mit ihnen zu schaffen haben wollte, fing er an, in Aufwand und Pracht mit ihnen zu wetteifern, und kaufte sich so für sein bares Geld Feindschaft, Neid und Spott. Seine tugendhafte, aber heftige Denkungsart verwickelte ihn mit der Zeit in einen weit ernsteren Wettkampf. Er empfand gegen Bedrückungen und Unrecht einen angeborenen und aufrichtigen Abscheu; dieser Abscheu steigerte sich bei Erwägung der Personen, welche sich täglich dergleichen zuschulden kommen ließen; denn es waren gerade dieselben, die er haßte. Um alle diese Leidenschaften mit einem Streich zu beschwichtigen oder zu unterhalten, nahm er gern für einen hilflosen Unterdrückten Partei, verpflichtete sich, einen Betrüger zur Rechenschaft zu zwingen, ließ sich in einen Zwist ein und zog sich auch einen anderen schon auf den Hals; allmählich stand er als ein Beschützer der Unterdrückten, als ein Rächer des Unrechts da. Das Amt hatte seine Schwierigkeiten; daß es dem guten Ludovico an Feinden, an Begegnissen und Bedenklichkeiten nicht fehlte, bedarf keiner Erwähnung. Außer diesem, Kampfe nach außen sah er sich zugleich unaufhörlich auch von inneren Widersprüchen geplagt; denn um eine Verbindlichkeit durchzusetzen – ohne von denjenigen zu sprechen; mit welchen er nicht zustande kam –, mußte er sich zu vielfachen Umtrieben und gewaltsamen Schritten bequemen, die hernach seine Gewissenhaftigkeit nicht billigen konnte. Er mußte sich eine ziemliche Anzahl Bravi halten, mußte sowohl um seiner Sicherheit als eines kräftigeren Beistandes willen die waghalsigsten, also die schurkenhaftigsten wählen und aus Liebe zur Gerechtigkeit mit Schelmen leben. Entmutigt nach einem traurigen Erfolge oder durch eine drohende Gefahr beunruhigt, überdrüssig, beständig auf seiner Hut sein zu müssen, und besorgt über eine dürftige Zukunft, da seine Mittel durch gute Werke und ritterliche Handlungen von Tag zu Tag sich immer mehr zersplitterten, hatte er mehr als einmal schon den Gedanken gehabt, Mönch zu werden, damals der gewöhnliche Weg, um sich aus verwickelten Umständen zu retten. Was aber wahrscheinlich sein ganzes Leben hindurch nur eine Grille geblieben wäre, wurde durch ein Ereignis, das ernsthafteste und schrecklichste, das ihm noch je begegnet, ein Entschluß.

Er ging eines Tages durch eine Straße der Stadt, von einem alten Ladendiener begleitet, den sein Vater in einen Haushofmeister verwandelt hatte. Zwei Bravi folgten. Der Haushofmeister, welcher Cristoforo hieß, ein Mensch von etwa fünfzig Jahren, war von Jugend auf dem Herrn, den er auf die Welt kommen gesehen, durch dessen Mittel und Freigebigkeit er selbst lebte und eine Frau mit acht Kindern am Leben erhielt, von ganzem Herzen ergeben. Ludovico sah von weitem so einen Herrn herkommen, einen anerkannt frechen Leuteplager; er hatte niemals mit ihm gesprochen, war ihm aber von ganzer Seele feind und hielt ihm gern das Gegengewicht; denn es gehört zu den Vorteilen dieser Welt, zu hassen und gehaßt zu werden, ohne daß man einander kennt. Jener hatte vier Bravi hinter sich, kam mit stolzem Schritte gerade daher, trug den Kopf hoch und ließ um den Mund Übermut und Verachtung spielen. Beide streiften dieselbe Mauer, doch Ludovico, wohl gemerkt, mit der rechten Schulter, und dies gab ihm, dem Gebrauch gemäß, das Recht – wohin treibt man doch das Recht! – sich von der Mauer nicht entfernen zu dürfen, um den andern, wer er auch sei, vorbeizulassen. Das war damals eine Sache von großer Wichtigkeit. Der andere behauptete dagegen, dieses Recht komme ihm, als einem Edelmanne, zu und Ludovico müsse weichen. Die beiden jungen Männer gingen einander entgegen, beide sich dicht an die Mauer haltend. Nachdem sie darauf Stirn gegen Stirn einander gegenüberstanden, maß der hochmütige Edelmann seinen Gegner mit gebieterischem Blicke und sprach in einem Tone, der zum Blicke stimmte: »Geht aus dem Wege hier!«

»Geht Ihr aus dem Wege,« entgegnete Ludovico. »Der Weg ist mein.«

»Mit Euresgleichen gehört der Weg jedesmal mir.«

»O ja, wenn die Keckheit von Euresgleichen auch immer ein Gesetz für meinesgleichen wäre.«

Das Gefolge war auf beiden Seiten, jedes hinter seinem Oberhaupte, stehen geblieben und sah, die Hände am Dolch, zum Kampfe bereit, wie grimmige Hunde einander an. Was gerade durch die Straße ging, zog sich zurück und stand in einiger Entfernung still, um den Handel mit anzusehen. Aber eben die Gegenwart dieser Zuschauer reizte den Ehrgeiz der beiden Kämpfer nur um so mehr.

»Fort mit dir, niedriger Handwerker, oder ich werde dich einmal die Höflichkeit lehren, die du einem Edelmanne schuldig bist.«

»Ihr lügt, ich bin kein niedriger Mensch.«

»Du lügst, wenn du mir eine Lüge vorwirfst –« und das war allerdings eine pragmatische Antwort. – »Wenn du ein Edelmann wärst wie ich,« fuhr er fort, »so würde ich dir mit Schwert und Mantel zeigen, daß du der Lügner bist.«

»Ein schöner Vorwand, wo Ihr die Unverschämtheit Eurer Worte nicht gerne durch die Tat behaupten mögt.«

»Werft den Schurken in den Kot!« rief jener, sich nach den Seinigen zurückwendend.

»Wir wollen sehen!« sagte Ludovico, trat plötzlich einen Schritt zurück und legte die Hand ans Schwert.

»Verwegener!« schrie der Edelmann, indem auch er das Schwert zog, »ich werde den Stahl hier zerschmettern, sobald er mit deinem gemeinen Blute befleckt sein wird.« So ging einer auf den andern los. Die Diener stürzten von beiden Seiten zur Verteidigung ihrer Herren herbei. Das Treffen war durch die Zahl der Streitenden ungleich; auch suchte Ludovico mehr die Hiebe zu vermeiden und den Feind zu entwaffnen, als ihn zu töten, während dieser auf alle Weise seinen Tod wollte. Ludovico hatte mit dem linken Arme schon den Dolchstoß eines Bravo aufgefangen und eine leichte Streifwunde auf der Wange erhalten; der Hauptfeind stürzte sich auf ihn, um ihm den Rest zu geben, als Cristoforo, seinen Herrn in der äußersten Gefahr sehend, mit dem Dolch auf den Edelmann losging. Dieser wandte seine ganze Wut nun gegen ihn und durchrannte ihn mit dem Schwerte. Bei diesem Anblick stieß Ludovico, wie außer sich, das seinige dem Edelmann in den Leib; er fiel sterbend, in demselben Augenblick mit dem armen Cristoforo, zu Boden. Das Mordgesindel des Edelmanns ergriff, da es seinen Herrn hingestreckt am Boden liegen sah, übel zugerichtet die Flucht; Ludovicos Leute machten sich, geängstigt und verunstaltet, wie sie waren, auf der andern Seite davon; denn Gegner waren nicht mehr vorhanden, und mit dem herbeiströmenden Volke zusammenzugeraten, war mißlich. So sah sich Ludovico, die beiden traurigen Todesgenossen zu seinen Füßen, mitten im Haufen allein.

»Wie ist's abgelaufen? – 's ist einer. – Zwei sind's. – Wer hat dem den Bauch durchgerannt? – Wer ist umgebracht worden? – Der übermütige Bube da – heilige Maria, was für Mord und Totschlag! – Wer sucht, findet. – Ein Augenblick hat ihm alles bezahlt. – Auch mit dem ist's zu Ende. – Was für'n Hieb! – Das wird eine ernste Geschichte – Und der andre Unglückliche! – Himmlische Barmherzigkeit, was für ein Anblick! – Rettet ihn, rettet ihn! – Der ist auch gut daran! – Seht nur, wie er aussieht! ganz blutig. – Macht Euch davon, armer Mensch, macht Euch davon! Laßt Euch nicht greifen!«

Diese Worte, welche vor allen übrigen sich im verwirrten Lärm des Gedränges hören ließen, drückten den allgemeinen Wunsch aus; mit dem Rat kam auch die Hilfe. Das Ereignis hatte sich in der Nähe einer Kapuzinerkirche zugetragen; solch ein Gotteshaus war damals, wie jedem bekannt, ein Zufluchtsort, unzugänglich für die Häscher und für alles, was zur öffentlichen Gerechtigkeit gehörte. Hierhin wurde der verwundete Mörder, fast besinnungslos, von der Menge geführt oder getragen; die Mönche empfingen ihn aus den Händen des Volkes, welches ihn empfahl.

»Es ist ein rechtlicher Mensch der einen hochmütigen Schurken kalt gemacht hat,« hieß es; »er hat's zu seiner Verteidigung getan, bei den Haaren ist er herangezogen worden.«

Ludovico hatte bis zu jener Stunde niemals Blut vergossen, und obgleich der Mord damals etwas Alltägliches war, so machte dennoch der Anblick des Menschen, der für ihn, und des andern, der durch ihn gestorben, einen neuen und unbeschreiblichen Eindruck auf ihn; unbekannte Gefühle rangen sich in seinem Busen los. Das Hinstürzen seines Feindes, der jähe Übergang von der Drohung und der Wut zur Bewegungslosigkeit und feierlichen Ruhe des Todes waren Erscheinungen, welche mit einem Streich das Gemüt des Mörders verwandelten. Nach dem Kloster geschleppt, wußte er kaum, wo er war noch was mit ihm vorging; als er zu sich selbst gekommen, fand er sich in einem Bette des Krankenzimmers, unter den Händen des Bruder Wundarztes – die Kapuziner hatten gewöhnlich einen in jedem Kloster –, welcher die beiden Wunden, die er bei der Begegnung empfangen hatte, mit Scharpie und Leinwandstreifen verband.

Kaum war Ludovico wieder imstande, seine Gedanken zu sammeln, so ließ er einen Bruder Beichtvater kommen und bat ihn, sich nach der Witwe des Cristoforo zu erkundigen; er möchte sie in seinem Namen um Verzeihung bitten, daß er, wenn auch wider Willen, die Ursache dieses Jammers geworden, zugleich aber auch ihr die Versicherung geben, daß er die Sorge für die Familie gänzlich auf sich nähme. Indem er darauf seine eigenen Umstände überlegte, fühlte er den Gedanken, Mönch zu werden, der ihm wohl sonst schon durch den Kopf geflogen, lebhafter und ernster wieder aufkeimen; es deuchte ihm, als hätte ihn Gott selbst auf den Weg gebracht und ihm durch diesen Eintritt in das Kloster unter solchen Umständen ein Zeichen seines Willens gegeben. So ward der Entschluß gefaßt. Er ließ den Guardian zu sich kommen und teilte ihm seinen Plan mit. Die Antwort war, man müsse sich vor übereilten Entschlüssen in acht nehmen; wenn er indessen dabei beharrte, so würde man's ihm nicht abschlagen. Darauf ließ Ludovico einen Notar holen und schenkte gerichtlich alles, was ihm geblieben – noch immer ein stattliches Erbteil –, der Familie des Cristoforo; eine Summe der Witwe, als würde ihr ein eheliches Gegenvermächtnis festgesetzt, und das übrige den Kindern.

Den Brüdern des Klosters, welche seinetwegen sich in ziemlicher Verlegenheit befanden, kam sein Entschluß sehr zustatten. Ihn aus dem Kloster zurückzuschicken, ihn also der Gerechtigkeit, das heißt, der Rache seiner Feinde preisgeben, daran durfte nicht einmal gedacht werden; es hieß den eigenen Vorrechten entsagen, das Kloster bei allem Volk um sein Ansehen bringen, die Rüge aller Kapuziner auf Erden sich zuziehen, weil man das Recht aller verletzt, und sich auflehnen gegen alle geistlichen Gewalten, welche sich damals als Schützerinnen dieses Rechtes betrachteten. Auf der andern Seite hatte die Familie des Getöteten, mächtig wie sie war und durch Anhang verstärkt, sich Rache zu fordern bereitet und jeden, welcher hierin ihr Hindernisse in den Weg legen würde, als ihren Feind erklärt. Die Geschichte sagt nicht, ob es ihr eigentlich um den Getöteten sehr leid tat, noch ob in der ganzen Verwandtschaft eine Träne um ihn vergossen worden; sie erzählt bloß, daß alle vor Begierde brannten, den Mörder lebend oder tot in Händen zu haben. Indem dieser nun das Kapuzinerkleid anlegte, glich er alles wieder aus; er betätigte gewissermaßen eine Buße, legte sich eine Strafe auf, bekannte sich, ohne es ausdrücklich zu sagen, für den Schuldigen und zog sich von jedem ferneren Wettkampf zurück; mit einem Worte, er ward ein Feind, welcher die Waffen niedergelegt hat. Auch konnten dann die Verwandten des Toten glauben und nach Gefallen damit öffentlich prahlen, er sei aus Verzweiflung, aus Schrecken vor ihrem Grimme Mönch geworden. Der Pater Guardian erschien vor dem Bruder des Toten mit ungekünstelter Demut und beteuerte tausendmal die Achtung, die er gegen das erlauchte Haus hegte, wie den Wunsch, demselben in allen möglichen Stücken gefällig zu sein; dann sprach er von Ludovicos Reue und seinem Entschlusse, ließ höflich merken, daß das Haus damit zufrieden sein könne, und erklärte endlich mit noch artigerer Schlauheit, daß es nun einmal nicht anders geschehen könne, es möge ihren Beifall haben oder nicht. Der Bruder brach in tobenden Zorn aus, welchen der Kapuziner verrauchen ließ, indem er von Zeit zu Zeit bemerkte, der Schmerz sei nur allzu gerecht. Jener erklärte, seine Familie würde in jedem Falle sich eine Genugtuung zu verschaffen gewußt haben, wozu der Kapuziner, was man auch davon denken mochte, nicht nein sagte. Endlich ward verlangt und als eine Bedingung aufgestellt, der Mörder müßte wenigstens auf der Stelle die Stadt verlassen. Der Kapuziner, bei welchem das bereits feststand, versprach, es solle geschehen, und ließ den andern, nach Belieben, einen Schritt des Gehorsams darin erkennen. So ward alles verabredet, und alle waren zufrieden. Einen Augenblick betrübte Ludovico der Verdacht, daß sein Entschluß der Furcht zugeschrieben würde; bald aber tröstete er sich mit dem Gedanken, daß dieses ungerechte Urteil ihm gleichfalls zur Kasteiung, zum Sühnmittel dienen könnte. So hüllte er sich zu dreißig Jahren in das Bußkleid, und da er nach dem Gebrauch seinem Namen entsagen und einen andern annehmen mußte, wählte er denjenigen, welcher ihn an die Tat, die er abzubüßen hatte, beständig erinnern sollte, und nannte sich Bruder Cristoforo.

Nachdem die Zeremonie der Einkleidung vorüber, kündigte ihm der Guardian an, er werde sein Noviziat in ***, sechzig Miglien weit, machen und müsse am nächsten Tage abreisen. Der neue Mönch verneigte sich tief und bat um eine Gunst.  –

»Erlaubt mir, Pater,« sagte er, »bevor ich von dieser Stadt abreise, wo ich das Blut eines Menschen vergossen, wo ich eine entsetzlich beleidigte Familie zurücklasse, ihre Schmach wenigstens zu mildern; ich möchte zeigen, wie schmerzlich es mir zu Herzen geht, den Schaden nicht wieder gutmachen zu können; ich möchte den Bruder des Getöteten um Verzeihung bitten und ihm, so Gott will, den Groll aus der Seele nehmen.« – Dieser Schritt hatte nicht bloß, als eine an sich gute Handlung, den Beifall des Guardians; durch ihn ließ sich auch die Familie noch inniger mit dem Kloster versöhnen. Und so begab sich der Guardian geradeswegs zu jenem Bruder und trug ihm die Bitte des Bruder Cristoforo vor. Bei einem so unerwarteten Vorschlag empfand der Mann, mit der Verwunderung, augenblicklich auch ein Wiederemporsteigen des Zornes, den jedoch gefälliges Wohlwollen bald entwaffnete. Nachdem er einen Augenblick nachgesonnen, sagte er, er möge morgen kommen, und bestimmte die Stunde. Der Guardian kehrte zurück und brachte dem neuen Mönche die gewünschte Erlaubnis.

Je feierlicher und lärmender diese Unterwerfung geschähe, desto bedeutender, besann sich der Edelmann, würde sein Ansehen bei der ganzen Verwandtschaft und beim Volke steigen; es würde, um es mit einer Redensart heutiger Zierlichkeit auszudrücken, ein glänzendes Blatt in der Familiengeschichte werden. Eiligst flog die Nachricht zu allen Verwandten: sie möchten morgen, gegen Mittag, die Gefälligkeit haben, sich bei ihm einzufinden, woselbst sie eine gemeinschaftliche Genugtuung erhalten würden. Mittags darauf wimmelte der Palast von Herrschaften jeden Alters und Geschlechtes. Bruder Cristoforo sah diese Zurüstung; er erriet ihren Beweggrund und empfand eine leichte Aufwallung; eine Sekunde darauf aber sprach er zu sich selbst: Es ist recht so; ich habe ihn öffentlich ums Leben gebracht, in Gegenwart so vieler seiner Feinde; jenes war das Ärgernis, dies die Wiedergutmachung. – So ging er, den Blick zur Erde gesenkt und einen begleitenden Bruder zur Seite, durch die Türe des Hauses, schritt über den Vorhof durch einen Haufen, der ihn nicht eben mit bescheidener Neugier maß, und stieg die Treppe hinauf durch einen zweiten vornehmen Haufen, welcher bei seinem Durchgange zu beiden Seiten sich reihte. Endlich gelangte er, von hundert Augen verfolgt, in die Nähe des Hausherrn, welcher, von den nächsten Verwandten umgeben, mitten im Saale stand; obgleich sein Blick erdwärts geneigt war, hielt er das Kinn dennoch emporgehoben, umfaßte mit der Linken das Heft des Schwertes und rückte mit der Rechten den Halskragen des Mantels auf die Brust.

Es liegt bisweilen in der Miene und der Gebärde eines Menschen ein so unmittelbarer Ausdruck, ein solcher Erguß seines inneren Gemütszustandes, möchte man sagen, daß selbst bei einer Menge von Zuschauern das Urteil über seine Gesinnung gleichlautend ausfallen wird. Die Miene und die Gebärden des Bruder Cristoforo verkündeten allen Anwesenden, daß er nicht aus menschlicher Furcht ein Mönch geworden noch aus menschlicher Furcht zu dieser Erniedrigung sich einstellte, und dies versöhnte ihm bald alle Herzen. Als er den Beleidigten erblickte, beschleunigte er seinen Schritt, beugte das Knie, kreuzte die Hände auf der Brust und senkte sein geschorenes Haupt mit den Worten:

»Ich bin der Mörder Ihres Bruders. Gott weiß, ob ich ihn auf Kosten meines eigenen Blutes Ihnen wiedergeben möchte; da mir aber nichts als wirkungslose und späte Entschuldigungen bleiben, so bitte ich Sie beim ewigen Richter, sie anzunehmen.« – Alles umher war Ohr, aller Augen unbeweglich auf den neuen Mönch und auf den Herrn gerichtet, zu welchem er sprach. Als Bruder Cristoforo schwieg, verkündigten sich durch den ganzen Saal leise Worte des Mitleids und der Achtung. Der Edelmann, der in gezwungener Herablassung und unterdrücktem Zorne dastand, ward durch diese Worte bewegt; er neigte sich gegen den Knieenden und sagte mit leidenschaftlichem Tone:

»Stehet auf! Freilich die Tat... die Beleidigung... aber das Gewand, das Ihr tragt... nicht das nur, sondern auch um Euch... Steht auf, Pater! Mein Bruder, ich kann es nicht leugnen, er war ein Edelmann, ein Mann... ein wenig ungestüm, ein wenig lebhaft. Es geschah aber alles nach Gottes Verhängnis. Kein Wort weiter. Aber nicht länger in dieser Stellung, Pater!« – Er nahm ihn beim Arm und hob ihn auf. Aufrecht stehend, aber mit gesenktem Haupte, fragte Bruder Cristoforo:

»Ich darf also hoffen, daß Sie mir Ihre Verzeihung bewilligen? Und habe ich sie von Ihnen erhalten, von wem dürfte ich sie nicht hoffen? O könnte ich aus Ihrem Munde das Wort Verzeihung hören!«

»Verzeihung?« fragte der Edelmann. »Sie bedürfen ihrer nicht mehr. Doch da Sie es wünschen, gewiß, gewiß, ich verzeihe Ihnen von Herzen, und alle ...«

»Alle, alle!« riefen mit einer Stimme die Umherstehenden. Das Gesicht des Mönches erschloß sich einer dankbaren Freude; doch blickte noch immer ein demütiges zerknirschendes Martergefühl der Missetat hindurch, welche keine menschliche Verzeihung wieder gutmachen konnte. Von diesem Anblick überwältigt und fortgerissen von der allgemeinen Rührung, schlang der Edelmann seine Arme dem Bruder Cristoforo um den Hals und gab und empfing den Friedenskuß. – »Schön! Vortrefflich!« hallte es von allen Seiten des Saales her; alles geriet in Bewegung und drängte sich um den Mönch. Währenddessen kamen Diener mit Erfrischungen herbei. Der Edelmann trat zu unserem Cristoforo, der eben Miene machte, sich beurlauben zu wollen, und sagte: »Nehmen Sie eine Kleinigkeit an; geben Sie mir diesen Beweis Ihrer Freundschaft.« – Mit diesen Worten bot er ihm früher als allen andern etwas an.

Bruder Cristoforo trat mit einer Art von freundschaftlichem Widerstreben zurück. – »Dergleichen ist nicht mehr für mich,« sagte er; »aber verhüte der Himmel, daß ich Ihre Geschenke verschmähe. Geruhen Sie, mir ein Brot bringen zu lassen, auf daß ich sagen kann, ich habe mich Ihrer Liebe erfreut, Ihr Brot gegessen und ein Zeichen Ihrer Verzeihung in Händen gehabt.«

Der gerührte Edelmann befahl, daß also geschähe. Augenblicklich erschien der Haushofmeister in vollem Prachtstaat, brachte in einem silbernen Becken ein Brot und reichte es dem Mönche hin. Dieser nahm es, dankte und tat es in seinen Korb. Darauf bat er um Entlassung, umarmte noch einmal den Hausherrn und alle diejenigen, die, ihm näher stehend, sich seiner einen Augenblick bemächtigen konnten, und entriß sich ihnen mit Mühe. Selbst im Vorzimmer ward es ihm schwer, sich von den Dienern und sogar von den Bravi, welche ihm den Saum des Kleides, Strick und Kapuze küßten, loszuwinden; er sah sich auf der Straße wie im Triumph getragen, ward von einem zahlreichen Volkshaufen bis zum Tore der Stadt, durch welches er gehen mußte, begleitet und trat dann zu Fuß den Weg zum Orte seines ersten Klosterdienstes an.

Der Bruder des Gemordeten und die ganze Verwandtschaft hatten an diesem Tage die traurige Freude des Stolzes zu genießen gemeint; statt dessen sahen sie sich von der heiteren Freude der Verzeihung und des Wohlwollens erfüllt. Die Gesellschaft blieb noch einige Zeit beisammen; es herrschte eine glückliche Laune und eine ungewohnte Herzlichkeit; es wurden Gespräche geführt, auf welche keiner, da er gekommen, vorbereitet gewesen. Nachdem die Gesellschaft sich zerstreut, wiederholte sich der Hausherr, noch ganz bewegt, mit Verwunderung, was er gehört und was er selbst gesagt hatte. – »Ein Teufel von Mönch!« murmelte er zwischen den Zähnen – wir müssen indessen seine eigentlichen Worte hier ein wenig anders wiedergeben –: »ein Teufel von Mönch! Wenn er noch drei Minuten so auf den Knien dalag, so hätte ich ihn am Ende um Verzeihung gebeten, daß er mir meinen Bruder kaltgemacht!« – Unsere Geschichte bemerkt ausdrücklich, daß der Mann seit jenem Tage etwas weniger stürmisch und dagegen etwas leutseliger gewesen sei.

Pater Cristoforo wanderte indessen mit einem Trostgefühle, welches er seit jenem schrecklichen Tage, für dessen Sühne sein ganzes Leben bestimmt sein sollte, noch nie empfunden hatte, und langte in seinem Kloster an. – Es ist unsre Absicht nicht, eine Geschichte seines Klosterlebens zu entwerfen; wir bemerken nur, daß er jederzeit die Geschäfte, welche ihm gewöhnlich angewiesen wurden, die Predigt und den Beistand am Sterbebette, mit Willigkeit und Sorgfalt verwaltete, vorzüglich aber niemals eine Gelegenheit vorübergehen ließ, um zwei andre Pflichten zu üben, die er sich selbst vorgeschrieben hatte: die Beilegung der Zwistigkeiten und die Beschirmung der Unterdrückten. Zu diesem Hange gesellte sich, ohne daß er selbst es gewahr ward, zum Teil seine alte Gewohnheit und ein Überbleibsel des kriegerischen Mutes, den weder die Erniedrigungen noch die Anstrengungen gänzlich zu ersticken vermocht hatten. Seine Sprache war durch Angewöhnung sanft und demütig geworden; sobald es sich aber um Gerechtigkeit oder um bekämpfte Wahrheit handelte, beseelte sich plötzlich die alte Heftigkeit; da nun diese durch einen feierlichen Nachdruck, welche ihm durch das Amt der Predigt geworden, ihre dämpfende Mäßigung erhielt, so gab sie seinen Worten einen ganz eigentümlichen Charakter. Das ganze Betragen wie der Anblick des Mannes verkündigten einen langen Kampf zwischen einem heftigen leidenschaftlichen Naturell und einer entgegenstrebenden Willenskraft, welche, durch Gewohnheit siegreich, immer auf der Hut, durch höhere Beweggründe und Einflüsse gelenkt wurde. Wenn also irgendein armes unbekanntes Mädchen in Luciens traurigem Falle um die Hilfe des Pater Cristoforo gebeten hätte, so würde er augenblicklich herbeigeeilt sein. Was aber Lucia betraf, so kam er mit um so größerer Bekümmernis, da er ihre Unschuld kannte und bewunderte, ihrer Gefahren wegen schon gezittert hatte und die schnöde Verfolgung, deren Gegenstand sie geworden, mit lebhaftem Unwillen betrachtete. Da er ihr nun selbst als das beste geraten, nichts lautbar werden zu lassen und sich ruhig zu verhalten, fürchtete er jetzt, der Rat könne irgendeine traurige Wirkung erzeugt haben; zur bekümmerten Barmherzigkeit, die ihm wie angeboren war, gesellte sich also hier jene ängstliche Gewissenhaftigkeit, welche oft die Guten martert.

Während wir aber die Schicksale des Pater Cristoforo erzählten, ist er angekommen und zeigt sich an der Türe; die Frauen lassen den Griff der Haspel, die sie rauschend herumschwangen, los, stehen auf und rufen zugleich: »Ah, Vater Cristoforo! Gottes Segen mit Ihnen!«


 << zurück weiter >>